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Marie und der Einzige
Maries Dulk-Rezension

 

über Marie > Marie und der Einzige

Marie Dähnhardts Weihnachten

Wie erlebte man Weihnachten und die Winterfreuden zur Zeit Stirners? Eine kleine Vorstellung davon können vielleicht die Briefe aus der Feder von Stirners zweiter Ehefrau vermitteln. Sie stammen aus dem Stirner-Roman: Die Sonne hat keinen Eigentümer
von Sabine Scholz

Berlin, Dezember 1840

Die Nachricht, dass man bei Euch schon mit den Weihnachtsvorbereitungen
angefangen hat, erfüllt mich ein bisschen mit Heimweh. Bestimmt werdet Ihr 
dieses Jahr weiße Weihnachten haben, und ich bin nicht dabei. 
Wenn ich an das gemütliche Feuer in Eurem Ofen denke, an
dem wir uns mit glühenden Nasen die halb erfrorenen Füße wärmten,
nachdem wir stundenlang im Schneegestöber herumgetobt hatten, würde
ich am liebsten gleich meinen Koffer packen und nach Gadebusch zurückkehren.
Doch das ist unmöglich.
So werdet Ihr dieses Mal allein den großen Tannenbaum in der guten
Stube schmücken und leckere Zuckerwaren an die Zweige hängen.
Vor kurzem habe ich eine nette Bekanntschaft gemacht. Du kannst
ganz ruhig bleiben, diesmal ist es kein Mann, sondern ein weibliches Wesen!
Sie heißt Mary Foster, ist zweiundzwanzig Jahre alt und Engländerin.
Wir lernten uns auf der Eislaufbahn kennen, wo sie mir sofort wegen
ihrer kunstvollen Pirouetten aufgefallen war.
Nach langen Wochen trüben Wetters hatte sich der Himmel endlich
aufgeklärt, und ein gewaltiger Frost ließ alle Wasser hier in Berlin in
einer einzigen Nacht zufrieren. Gudrun lieh mir ihre Stahlschuhe, und
ich begab mich freudigen Herzens auf die spiegelglatte Fläche, die schon
von anderen Eisläufern rege besucht war, die vergnügt auf und abfuhren.
Überall an den überfrorenen Böschungen und im Gebüsch hatte der Winter
Milliarden von Kristallen hinterlassen. Die Luft zum Atmen war so
kalt, dass ich mir einen Schal vor den Mund binden musste.
Trotzdem gab es für mich in diesem Moment kein größeres Vergnügen,
als sorglos auf den Kufen dahinzugleiten, während das Eis unter mir oft
seltsam krachte, als ob es unter meinem Gewicht einbrechen wollte.
Mary war von allen die Beste. Sie lief mit den jungen Männern um die
Wette und erwies sich jedes Mal als schneller. Ich klatschte ihr laut Beifall,
und so kamen wir ins Gespräch. Die Kälte hatte im Laufe des Nachmittags
noch zugenommen, und deshalb beschlossen wir, uns bei einem
Glas Tee mit Zitrone aufzuwärmen. Dabei erzählte sie mir, dass sie aus
London stamme und sich hier ihren Lebensunterhalt als Gouvernante bei
einem englischen Maschinenfabrikanten verdiene. Sie spricht ein sehr
gutes Deutsch mit jenem typisch englischen Akzent, den ich überaus
sympathisch finde. Sie ist außergewöhnlich schön. Ihr schwarzes, dichtes
Haar trägt sie in geringelten, die Schläfen bedeckenden Locken. Neben
ihr wirke ich wie eine Landpomeranze. Ihre dunklen Augen glühen
und üben eine magische Wirkung auf alle männlichen Wesen aus. Doch
aus ihrem roten Mund hörte ich den köstlichsten Satz, seit ich hier in Berlin bin, 
und dabei sagt man doch immer, die Berliner hätten die frechste
Schnauze. Während sich ihre jugendlichen Anbeter um sie scharten
und darauf warteten, dass sie sich endlich wieder ihnen zuwandte, sagte
sie, so dass es alle Anwesenden hören konnten: „Ich kann nur denjenigen
lieben, den ich aus tiefstem Herzen verachte!“ Danach waren wir sofort
Freundinnen.
„Nichts geht mir mehr auf die Nerven, als wenn so ein eingebildeter
Pinsel glaubt, ich hätte nur auf ihn gewartet, um in den glücklichen Hafen
der Ehe einzulaufen. Wer mich haben will, der muss sich erst einmal
einem Zweikampf unterziehen. Leidenschaftliche Szenen gibt es bei mir
nur auf dem Schlachtfeld, denn nur wer mir unterlegen ist, hat überhaupt
eine Chance ein paar Streicheleinheiten von mir abzubekommen!“ sagte
Mary.
„An welche Art von Kampf denkst du da?“ fragte ich.
„Da gibt es ganz verschiedene Möglichkeiten, z.B. das heiße Gefecht
der Eroberung. Ich liebe es nicht, wenn ein Mann vom ersten Augenblick
an in mich verliebt ist. Ein Mann, der mir von Anfang an zu Füßen liegt,
langweilt mich schrecklich! Ich bin dagegen ganz scharf auf Männer, die
sich drehen und winden und alles Mögliche versuchen, damit ich ihnen
nur nicht zu nahe komme. Den zweiten Platz besitzen die treuen Ehemänner.
Meist erzählen sie mir stundenlang, wie sehr sie ihre Gattin lieben
und dass sie noch nie etwas ohne sie unternommen hätten. Da beiße
ich sofort an. Natürlich gibt es auch die, die nur scheinheilig daherreden
und in Wirklichkeit gierig auf die erste Gelegenheit warten, ihre Ehefrau
zu betrügen. Da gibt es einen einfachen Test: Wer es, sobald wir allein
sind, sofort zulässt, dass ich Hand an ihn lege, ist durchgefallen! Bei den
anderen dauert es oft Wochen bis sie nachgeben. Zentimeterweise nähere
ich mich ihrer verbissen verteidigten kostbaren Haut. Jede noch so
geringe Berührung, ein zufälliges Streifen ihrer Hand oder ein fast unmerklicher
Kontakt mit ihrem Bein unter dem Tisch versetzt mich in eine
himmlische Erregung. Von Tag zu Tag steigert sich mein Begehren, und
wenn ich ihnen direkt in die Augen sehe, und sie dann vergeblich versuchen,
mir aus dem Weg zu gehen, dann bin ich wie ein Spürhund auf ihrer
Fährte. Ich lasse mit meinen Blicken und sachten Berührungen nicht
eher locker, bis das Wild erlegt ist!“
„Das müssen ungeheuer intensive Gefühle sein! Ich kann bei diesem
Thema zu meinem Bedauern noch nicht mitreden, da ich mich am Anfang meiner Liebeskarriere befinde. Ich habe leider erst einen Mann besessen.
Mir fehlt der nötige Vergleich“, sagte ich.
„Dann musst du unbedingt auf Jagd gehen. Hier in Berlin gibt es phantastisches
scheues Wild, dem man auflauern kann! Wir sollten wirklich
einmal zusammen ausgehen, dann bringe ich dich schon auf die richtige
Fährte“, erwiderte Mary. Wir liefen noch eine Stunde in der Abenddämmerung
auf dem Eis hin und her, bis uns die Kälte in die Kleider drang.
Dann entschlossen wir uns zum Heimgehen. So viel für heute.
Lebe wohl und schreibe bald!

Berlin, am Heiligen Abend 1840

Meine liebste Cousine!
Heute ist Weihnachten, und ich möchte am liebsten sterben! Nichts kann
mich trösten, nicht einmal die Aussicht auf die Bescherung im Kreis der
netten Goldschmiedfamilie, die sich mit den Vorbereitungen seit Tagen so
große Mühe gegeben hat. Gudrun hat sogar ein Stück am Klavier eingeübt,
das sie uns vorspielen möchte, wenn alle Lichter am Baum brennen.
Doch ich vergieße bittere Tränen, weswegen dieser Brief leider an
manchen Stellen verwischt ist. Bitte verzeih mir diesen Mangel an Selbstkontrolle! 
Meine englische Freundin, diese Giftschlange, hat mich
verraten! Naiv und glücklich über meine neue reizende Bekanntschaft
kam ich ihrem brennenden Wunsch nach, ihr doch endlich meinen Geliebten
vorzustellen, nachdem ich ihr so viel von ihm erzählt hatte. Ahnungslos
nahm ich den Vorschlag Marys an, gemeinsam mit ihr und meinem
Geliebten ein bekanntes Etablissement aufzusuchen. Alle Welt
rühmt es als „Eheanbahnungsinstitut Nummer eins“, während es sich für
mich als Hinrichtungsstätte entpuppte. Zabel starrte mich entsetzt an, als
ich ihm in Kavalierskleidung entgegentrat.
„Aber Marie, in diesem Aufzug wecken Sie ja meine Aufmerksamkeit
wie ein angezündetes Licht am Tage!“
Meine gute Laune war dahin: „Was haben Sie dagegen ? Wo bleibt Ihr
berühmter Charme?“ „Doch wir wollen uns diesen Abend nicht verderben.
Steigen Sie ein, und lassen Sie uns zu ihrer famosen Engländerin
fahren!“
Mary trat aus dem Portal eines massiven Hauses. Links und rechts
thronten zwei Löwen aus Stein, die ihrem Auftritt noch zusätzlich etwas
Wildes verliehen. Voller Vergnügungseifer sprang sie in die Kutsche und
konnte es gar nicht abwarten, endlich nach Herzenslust zu tanzen. Zabel
folgte ihrer Rede ganz fasziniert.
„Ich schwöre, ich habe Stunden gebraucht, mich anzukleiden, um ein
so fabelhaftes Dekolleté hervorzuzaubern! Diese Perlenkette ist ein Erbstück
meiner Großmutter!“ Sie wandte sich an Zabel und riss provozierend
ihre Samtmantille zur Seite, während sie mich mit einem intriganten
Blick ansah.
„Meine Liebe, ich schwöre, Sie haben kein Blut, sondern Feuer in den
Adern!“ erwiderte Zabel hingerissen.
Mir blieb nichts anderes übrig, als mit einem erzwungenen Lächeln
den Dingen ihren Lauf zu lassen. Ich hatte zwar bei George Sand allerhand
über die verheerende Kraft der Eifersucht gelesen, doch ahnte ich
nicht, dass sie bei mir so maßlos schmerzhaft sein würde. Hätte sich dieses
Unglück doch an einem anderen Ort zugetragen, vielleicht bei einer
Beerdigung oder bei einem ähnlich traurigen Anlass. Dann wäre es sicher
nicht so tief in meine wehrlose Seele eingedrungen.
Das Etablissement befindet sich vor dem Brandenburger Tor. Während
wir zu dritt auf den hellerleuchteten Saal zugingen, aus dem uns bereits
laute Musik entgegenschallte, ließ Zabel seine Augen keine Sekunde 
von Marys Gestalt, wie ein Traumwandler, der einem Engel nachjagt. Mary
betrat den prachtvollen Saal mit dem sicheren Gang einer Frau von Welt,
während ich wie ein Lakai hinter ihr herstolperte.
Inmitten einer Gruppe von Ankömmlingen schälten wir uns aus unseren
Mänteln und gaben sie an der Garderobe ab. Zabel und Mary verschwanden
im Gewühl.
Fanny, in diesem Moment habe ich meine Neigung zu männlichen
Kleidungsstücken ehrlich verflucht! Die einzige Chance, Zabel und Mary
auseinander zu bringen, wäre gewesen, selbst mit ihr die ganze Nacht
zu tanzen.
Die Paare bewegten sich durch die Säle, die von tausend Gasflammen
glänzten und von den fröhlichen Klängen des Orchesters erfüllt waren.
Da ich Mary und Zabel aus den Augen verloren hatte, beschloss ich, eine
der Logen aufzusuchen, von wo aus man einen guten Überblick über das
Geschehen hatte. Die Klänge eines Ländlers, einer Polka, einer Mazurka
und einer Polonaise erfüllten den Raum, und ich musste zu meinem Bestürzen
beobachten, dass Mary und Zabel keinen Tanz ausließen. Während
einige andere Herren zwischen ihre Hand und den entblößten Rücken
ihrer Dame dezent ein Taschentuch getan hatten, nutzte Zabel die
Gelegenheit aus, seine bloße Hand immer tiefer an Marys nackter Haut
hinabgleiten zu lassen.
Ich war zu weit entfernt, um nähere Einzelheiten erkennen zu können,
also schnappte ich mir ein Glas Champagner, leerte es in einem Zug,
ohne den Geschmack überhaupt wahrzunehmen, und stieg wieder hinab
in das tobende Gemenge.
Dem Erstbesten, der mich zum Tanz aufforderte, war ich richtig
dankbar. Es war ein Gardeleutnant mit kahler Stirn, der mir mit lautem
Hackenklappen seinen Schneid beweisen wollte und meinen Kopf mit
Gewalt gegen seine harte Schulter presste. Mit ernster Miene raunte er
mir halb betrunken ins Ohr, wie viele Lokale er schon an diesem
Abend besucht hatte, ohne sich auch nur ein bisschen müde zu fühlen.
Ich übernahm die Führung und dirigierte ihn in Richtung des treulosen
Paares.
„Wollen wir etwas trinken gehen?“ fragte er mich, als wir gerade fünf
Meter vom Ziel meines alleinigen Interesses entfernt waren. Zabel und
Mary schienen sich vor meinen Blicken offensichtlich in Sicherheit zu
wiegen.
„Wie bitte? Was meinen Sie?“ antwortete ich gequält. Mir wurde
schrecklich schwindlig wie von einem bösartigen Fieber. Die Welt um
mich herum versank, ich spürte nur noch einen Impuls, Zabel aus ihren
Armen in die meinen zu zerren, bevor ich ohnmächtig niedersank. Es riss
mich mit sich fort wie ein Strom, der in einen dunklen Abgrund stürzt.
Etwas Hartes, Eiskaltes tauchte mich immer wieder unter, ich rang nach
Luft. Das Schicksal verfährt überhaupt nicht ökonomisch: Wenn es einen
Floh wie mich knicken will, dann braucht es doch keinen Berg auf mich
fallen zu lassen!
Jemand tätschelte mir auf die Wangen, eine bleiche kahle Stirn neigte
sich über mich, und ein Mund stieß hervor: „Na, geht’s etwas besser?“
„Wo bin ich? Bin ich tot?“ fragte ich verwirrt.
Ich griff nach einem Strohhalm im schwankenden Meer und ließ es zu,
dass mir mein Kavalier mit den zwei linken Füßen wieder auf die Beine
half. Wo blieb Zabel? Hatte er nicht gesehen, dass mir schlecht geworden
war? Unruhig blickte ich mich um, doch ich konnte ihn nirgends entdecken.
Glücklich über die Besserung meines Zustands führte mich mein
Kavalier hinaus an die frische Luft.
„Und jetzt tief durchatmen! Sie werden sehen, das hilft immer“, sagte
er. Er hatte Recht. Meine Lungen füllten sich mit der frischen Nachtluft,
bis mir der Atem erneut stockte. Etwa zehn Meter entfernt, hinter einer
Tanne, hielt mein nichtswürdiger Verführer meine beste Freundin in den
Armen! Verzweifelt griff ich mir etwas gefrorenen Schnee, rieb mir damit
das Gesicht ein und spürte erst ein wenig Linderung, als die scharfen
Kanten meine Wangen aufzureißen begannen.
„Jetzt ist mir besser!“ sagte ich zu meinem Begleiter. „Liegt es an mir?
Habe ich etwas Falsches gesagt?“ stammelte er.
„Ich verstehe das nicht. Gut, ich habe zuviel getrunken. Aber ich wüsste
nicht, dass ich ... äh, ich meine, ich bin Ihnen doch nicht etwa zu nahe
getreten?“
Wie unheilbar krank, ohne Aussicht auf Trost, wünschte ich mir ein
Erdbeben herbei. Es würde mich überhaupt nicht rühren, wenn die Erde
das ganze Etablissement zusammen mit Zabel, Mary und dem tollpatschigen
Gardeleutnant verschlingen würde.
„Sie haben ja ihr hübsches Gesicht völlig zerkratzt!“ brachte er hervor.
„Das geht Sie überhaupt nichts an! Machen Sie, dass Sie wegkommen!“
herrschte ich ihn an.
„Wenn Sie darauf bestehen, dann werde ich gehen ...“
„Ja, hauen Sie schon ab!“ rief ich, und die so lange zurückgehaltenen
Tränen ergossen sich aus meinen brennenden Augen.
Er zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und legte es sacht in
meine Hand, bevor er sich langsam entfernte. Ich wischte mir damit das
Gesicht trocken. Es duftete angenehm nach Eau de Cologne.
Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich Mary auf und zog mich in einen
der Säle, wo man ein Gesellschaftsspiel veranstaltete.
„Marie, du siehst irgendwie abgekämpft aus. Was ist mit deinem Gesicht
passiert? Hat dein Kavalier dich etwa in seinem Rausch mit zu
Boden gerissen?“ fragte sie scheinheilig. Ich beschloss, ihr nicht die Genugtuung
eines Triumphes zu geben, doch meine Verzweiflung ließ mich
jede Art von Selbstkontrolle verlieren. Es kam mir so vor, als ob ich nie
wieder lachen könnte.
Schnee und Sturm wüten gegen mein Fenster, während ich hier allein
sitze und Dir diese schmerzhaften Zeilen schreibe. Ab und zu nehme ich
Zabels Zigarrenetui in die Hand, das ich ihm geklaut habe, um ihn immer
in meiner Nähe zu haben, aber es hilft ja nichts.
Gesegnete Weihnachten und sei nicht traurig meinetwegen!

Deine Marie

aus dem Stirner-Roman: Die Sonne hat keinen Eigentümer
von Sabine Scholz






 

 

 

 

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