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Maries Briefe 

Der 1. Brief aus London

Theures Leben. – Definition vom Proletarier. – Vergnügungslosigkeit. – Der moralische Ruf. – Alte Jungfern. – Züchtige Frauen. – Männer und junge Leute. 
Vielleicht ist es einem Engländer in London wohl möglich, wie einem Deutschen in Berlin, mit wenigen Mitteln ein ganz angenehmes Leben zu führen. Ich weiß das nicht, obwohl ich es bezweifle. Einem Deutschen wenigstens scheint es doch nicht möglich zu sein, wenn gleich freilich immer das[,] was man unter Annehmlichkeit versteht, sehr verschieden ist. In Berlin kann sich der Proletarier, wenn er nicht gerade zur ärmsten Klasse gehört, mit seinem Schilling manches Vergnügen machen. In London reicht man mit einem Schilling nicht bis an Vergnügungen, und wenn auch, so dürfte sich der bloße Schillingsbesitzer die Zeit dazu nicht nehmen; denn ist die Zeit auch überall ein kostbar Ding, so ist sie doch vielleicht nirgends so kostbar als gerade hier. Ein Proletarier – Du mußt aber wissen, daß ich mir vom Proletarier meine eigene Definition gebildet habe und nicht bloß die untere arbeitende Klasse, sondern alle Leute darunter verstehe[,] die mühsam arbeiten müssen[,] um zu leben, und daß ich also sogar die Klasse von Leuten dazu rechne, die wir in Deutschland vielleicht reich nennen würden – ein Proletarier von der nicht armen Art (später werde ich wohl auch von der letzteren Näheres erfahren) steht Morgens um 7 Uhr auf, nimmt um 8 Uhr sein Frühstück zu sich und fährt dann gegen 9 Uhr in die City. Denn nur wenige, außer den ärmeren Shopkeepers, wohnen in der City selbst; meistens haben sie nur ihr Office dort. Je nach den Umständen kehren diese Familienversorger nun entweder frühestens um 7 Uhr oder bis gegen 10 Uhr, ja wohl erst um 12 Uhr zurück und sind dann müde oder haben noch andere kleine Geschäfte zu Hause zu besorgen. Sie haben dann schon in der Stadt gegessen, da sie, um ihr Essen in der Familie einzunehmen, zu weit entfernt sind. Wollte ein Familienvater, nachdem er seine Geschäfte abgethan hat, in Gesellschaft seiner Frau oder etwa erwachsener Kinder außer dem Hause ein Vergnügen suchen, so giebt es hierzu zunächst außer den Theatern und sonstigen Schauwürdigkeiten keine eigentlichen öffentlichen Vergnügungsorte für beide Geschlechter; dann aber kann er auch nicht einmal mir nichts dir nichts zu einem Freunde gehen, bei dem er sich nicht zuvor hat anmelden lassen. Unangemeldeter Zutritt ist gegen alle englische Sitte, und auf ihre Sitte halten die Engländer wo möglich noch mehr als auf ihre Religion. Man kann hier vielleicht den Ruf eines halben Atheisten haben und wird, wenn man sonst nur empfehlende Eigenschaften besitzt, vollkommen geachtet; aber eine in dem Rufe, auch nur halb unmoralisch zu sein, stehende Person, wird aus der Gesellschaft gestoßen. – So geht nun also Mister N. um 10 Uhr mit Mistress N. zu Bette. Ich habe nirgends nach Verhältniß so viel unverheiratete Leute gefunden. Die Engländer sind sonst nicht verlegen, allen ihren Waaren Absatz zu verschaffen, aber alte Jungfern sind in London ein Artikel[,] für den Markt sehr beschränkt ist. Alte Junggesellen habe ich, wenigstens in den Gesellschaften[,] die ich bisher besuchte, weniger bemerkt, doch meine ich, daß sie auch nicht selten sein werden. Da der Engländer für seinen Tagelohn gern eine comfortable Einrichtung seines Hauses haben mag, so scheint man sich hier nicht so leicht zu verheiraten als in Deutschland: der Mann wartet gelassen auf eine reiche Partie. Indessen diese findet sich in der Klasse der Gentry oder, nach meiner obigen Definition, der vornehmen Proletarier nicht häufig, und so verblühen hier die schönsten Mädchen, ohne einen Mann zu finden, oder richtiger, ohne von einem Manne gefunden zu werden. Glückt es ihnen aber, gegen gute Bezahlung den geistlichen Segen zu erhalten, so entwickelt sich dafür auch die zurückgehaltene Natur in voller Leidenschaftlichkeit. Ich glaube fast, es giebt nirgends eine größere Fruchtbarkeit; Familien mit sechs, sieben, auch wohl zehn bis zwölf erwachsenen Söhnen und Töchtern sind nichts Seltenes.
Die Frauen leben eingezogen und häuslich genug, besonders, was man so nennt, züchtig. Wie es mit den Männern steht, weiß ich Dir nicht zu sagen. Sie sind ja übrigens, wie schon gesagt – und Du mußt dabei nicht vergessen, daß ich nur von der sogenannten Gentry spreche – fast den ganzen Tag von Hause abwesend. Im Uebrigen glauben ihre Frauen das Beste von ihnen. Die jungen Leute vergnügen sich hier wie überall, müssen sich aber doch, wenn sie nicht allzuviel ausgeben können, auf eine gewisse Gegend beschränken, da das späte Fahren sehr theuer zu stehen kommt. Nach 12 Uhr fährt kein Omnibus mehr und ein Wagen kostet mitunter 6 Schilling. Nun Ade, ich muß jetzt auch in den theuren Wagen, denn ich bin zu einem Balle eingeladen.

Quelle: Feuilleton Nr. 15. [Beilage zu Nr. 74.] Berliner Zeitungs-Halle, Nr. 74. Montag, den 29. März. 1847, pp. 71/72.




 

 

 

 

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