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Maries Briefe 

Der 6. Brief aus London

Was der Hof anhatte.- Man geht in die Provinz. – Wie man sich einrichtet. – Interessen der „Guten Gesellschaft“. – Die unwidersprechlich erwiesene Tugend und Jenni Lind. – Der Bischof von Norwich und wie er gerechtfertigt wird. – Bulwer und wie ihm die Rechtfertigung nichts hilft. 

Du musst auch etwas aus dem Modejournal haben und wissen, wie es bei Her Majesty’s visit to Scotland (bei dem königlichen Besuche in Schottland) war. Die Königin hatte – die großen Journale berichten hier dergleichen auch, und immer sehr gewissenhaft – einen weißen Hut mit Federn und schlüsselblumenfarbigen Bändern auf, ein blau und weiß karrirtes Kleid an, eine schwarze Mantille und ein schottisches Cravattentuch mit den königlichen Farben der Stuarts. Prinz albert trug einen schwarzen Ueberrock, weißen Hut und graue Pantalons. Der Prince of Wales hatte einen blauen Anzug und eine braune Stallmütze (foraging cap) mit einer Collegiumstroddel oder etwa Studententroddel (College Tassel heißen sie, weil die jungen Leute auf der hohen Schule schwarze Mützen mit vier Ecken tragen, die auf der einen Seite mit einer langen schwarzen herabhängenden Troddel zusammengefasst sind). Die Prinzessin war in einem erbsengrünen Spencer und hatte einen enganschließenden ländlichen Strohhut mit primelfarbigen Bändern auf. London ist jetzt still und ruhig. Mit der Schließung des Parlaments hat die Saison der fashionablen Welt aufgehört, und wer darauf hält fashionable zu sein, darf sich jetzt nicht mehr hier sehen lassen. Er muß wenigstens auf einige Wochen in die Provinz gehen, etwa zu einem Freunde. Hierin thut’s, so verschieden auch sonst die Gebräuche der Noblesse von denen der Gentry sind, diese der Noblesse doch gleich. Alles reist fort, und wer zurückbleibt, ist, er müsste denn einen sehr respectabeln Geschäftsgrund haben, ein anrüchiger gentleman oder gentlewoman. Die Noblesse bleibt bis Ende des Winters oder Anfang des Frühlings fort; die Gentry fliegt nur auf einige Wochen oder ein paar Monate davon und vermiethet unterdessen womöglich ihr Haus, wie die Noblesse ihr zahlreiches Dienstpersonal. Bei der unglaublichen Sparsamkeit der Engländer, die oft an Geiz grenzt, werden alle Vortheile wahrgenommen, und sie machen auch kein Hehl daraus. „Wir Aristokraten,“ sagte eine Aristokratin zu mir, „lieben es, lange auf dem Continente zu leben, weil wir dort billiger leben können.“ „Die Saison war diesmal sehr langweilig“, hörte ich Lady °° sagen. „Nur der einundzwanzigjährige Marquis B. brachte einigen Witz in die Gesellschaft, indem er um fast alle jungen Damen warb und seinem Vater tausend Unannehmlichkeiten bereitete. Da die Saison schon vierzehn Tage vor der Parlamentsschließung zu Ende war, so gelang es den nicht sehr bekannten Lady A. und Lady C. nicht, noch einen Ball zu arrangiren: denn alles eilte nach Vauxhall, um die berühmte Reiterin Mlle. Caroline zu sehen, die sehr anständig ist und bei der man lauter bekannte Gesichter sieht.“ – Außer diesen und ähnlichen Interessen bilden noch Jenni Lind und Andersen, Prinz Waldemar und Großfürst Constantin den Gegenstand der täglichen aristokratischen Gespräche, während die Gentry Vorkehrungen zu ihren kleinen Sommerreisen trifft: denn sie geht nicht nach Vauxhall und dergleichen Orten, die einen zweideutigen Ruf haben. Wenn man hier ein Buch liest, so ist stets die Tugend der ins Breite und Langweilige getretene Stoff darin. Und langweiliger als in den Büchern ist sie noch im Leben; denn nirgends macht sich die Tugend so breit, als in dem sündenreichen England. Wo ich hinkomme, muß ich von der „jetzt unwidersprechlich erwiesenen Tugend“ der Jenni Lind hören, und ergreife ich ein englisches Blatt, so ist die Jenni Lind und ihre unwidersprechlich erwiesene Tugend da. Die Sache ist aber auch so ächt oldenglisch, dass ich Dir einen Auszug aus The Inquirer nicht ersparen kann, der unter dem Titel „Der Bischof von Norwich und Jenni Lind“ folgenden Aufsatz liefert. (Die Veranlassung dazu ergiebt sich aus dem Aufsatze selbst): „Jenni Lind geht nach Norwich, um dort in zwei Concerten zu singen; der Bischof von Norwich hat sie voll Bewunderung ihres Talentes und aus Achtung vor ihrem hohen Charakter eingeladen, während ihres dortigen Aufenthaltes in seinem Pallaste zu wohnen. Hierüber ziehen gewisse unter unsern Tagesblättern wüthend zu Felde und schwingen als Waffen Phrasen wie: „die Heiligkeit der Religion“ und „das Ansehen der Kirche“. Ein Bischof bewirthet eine Schauspielerin, eine Opernsängerin! Wahrlich, die Kirche ist fast ebenso in Gefahr, als sie es bei einer frühern Gelegenheit war, wo derselbe hochwürdige Prälat im Geiste der Freundschaft und Liberalität auf einen Band Predigten subscribirte, die der gute, ehrwürdige Mr. Turner herausgab. Wehe uns, dass es noch so wenig Seelenverständnis und Hochherzigkeit giebt, die doch einer Nation wahre Ehre und Glorie sind!“ Darnach beruft sich der Verfasser auf den Apostel Paulus, der von einem Bischof Gastfreundlichkeit verlange, und beweist daraus, dass der Bischof von Norwich durch die Einladung der Jenni Lind nur eine seiner höchsten, zu seinem Amte gehörigen Pflichten erfüllt habe. – Wozu doch der Apostel Paulus zu brauchen ist! Nun fällt dem Verfasser aber doch ein, dass der Apostel wohl nur eine Gastfreundlichkeit „mit Unterschied“ befohlen habe, und er geht daher zu der Untersuchung über, „ob die Jenni Lind auch ein geeigneter Gegenstand für eine solche Gunstbezeigung sei.“ „Wir finden keinen Grund, weshalb Jenni Lind nicht in der allerreligiösesten Familie ein Gast sein dürfte. Freilich erscheint sie auf der Opernbühne; aber ehe wir sie verdammen, laßt uns fragen, was wir von ihr wissen. Was sagt der dänische Dichter Andersen, der sie in ihrem öffentlichen wie in ihrem Privatleben gesehen hat?“ – „Ihre Erscheinung“, sagt er, „war eine neue Offenbarung in dem Reiche der Kunst. Sie zeigte mir die Kunst selbst in ihrem Heiligthum, während ich vorher nur eine ihrer Vestalinnen erblickt hatte.“ – Was wollen wir ferner gegen das Zeugnis der Friederike Bremer einwenden, die die Lind in Stockholm auftreten sah und mit ihr persönlich bekannt wurde? Sie schreibt an einen Freund: “Was Jenni Lind als Sängerin betrifft, stimmen wir beide vollkommen überein: sie steht so hoch als nur irgend ein Künstler unserer Zeit stehen kann, aber Du kennst sie noch nicht in ihrer ganzen Größe. Sprich mit ihr über Kunst und Du wirst Dich über den Umfang ihres Geistes wundern und ihr Gesicht von Begeisterung strahlen sehen. Unterhalte Dich dann mit ihr über Gott und die Heiligkeit der Religion, so wirst Du Thränen in diesen unschuldigen Augen sehen. Sie ist groß als Künstlerin, aber größer ist sie noch in ihrem reinen menschlichen Wesen.“ – Und was hören wir von Allen, die sie gesehen haben? Es ist fast nur Ein Urteil nicht nur über ihre unübertrefflich reizende Stimme und ihr herrliches Spiel, sondern auch über den unvergleichlichen Zauber ihres Charakters: besonnene Männer, welche an gewöhnlichen theatralischen Aufführungen keinen Geschmack finden, versichern uns, dass sie nicht allein entzückt, sondern gebessert und erhoben zurückkehrten. So einfach und natürlich ist sie in allem was sie thut, so heilig und glühend sind die Ergüsse ihrer Seele. – So viel von ihr als Künstlerin. Da aber niemand von ihr als bloßer Künstlerin sprechen kann, so dürfen wir’s auch nicht. Von allen Seiten fühlt man’s, dass sie, hoch wie sie unter den Künstlern dasteht, am glänzendsten als Weib erscheint. Fräulein Bremer konnte nicht umhin, von der Größe derselben in ihrem rein menschlichen Wesen zu sprechen; Andersen musste zu dem was wir schon angeführt haben, noch hinzufügen: „Auf der Bühne erhebt sie sich über Alle; zu Hause in ihrem Zimmer ist sie ein sinniges Mädchen mit der Bescheidenheit und Frömmigkeit eines Kindes.“ – Sie glänzt in ihrer Kunst, weil die Kunst selbst so schön und erhaben ist, aber ganz besonders glänzte sie in ihr nach unserer Meinung damals, als die Kunst sie in Stand setzte, durch eine unentgeltliche Vorstellung eine Gesellschaft sehr wesentlich zu unterstützen, deren Zweck ist, unglückliche Kinder, die von ihren Eltern gemißhandelt und zum Betteln und Stehlen gebraucht werden, diesen zu entziehen und in eine bessere Lage zu bringen.- Das ist Jenni Lind, derentwegen der Bischof von Norwich, da er sich gastfreundlich gegen sie zeigte, so viel Unwillen erregte. Wir können aus voller Seele rufen: „Glücklich, dreimal glücklich der Bischof, der niemals in schlechtere Gesellschaft kommt!“ Dann folgt ein Lob des Bischofs und eine Vertheidigung des Theaters, von dem „man genau scheiden soll, was gut und was schlecht ist, um es aus seinem jetzigen schlechten Zustande herauszuheben. Das Volk will Unterhaltung, und es ist recht und schön, dass es sie will. Für jetzt gehört das Theater zwar noch zu denjenigen Unterhaltungen, die einen sehr verderblichen Einfluß ausüben, aber es bedarf nur der verständigen Anstrengung und Ausdauer unserer großen und wahren Menschen, um ihm seinen Platz unter den segensreichsten Unterhaltungen zu sichern.“ Nachdem hierfür noch eine bedeutende Autorität citirt worden ist, schließt der Aufsatz mit dem Wunsche: „Recht viele solche Charaktere, wie Jenni Lind, unter unseren Schauspielern, und dann solche Männer, wie der Bischof von Norwich, die jene in ihr Haus aufnehmen und ihnen sowohl als der Welt zeigen, wie hoch sie den Genius schätzen, wenn er mit den edleren Eigenschaften des Geistes und Herzens vereinigt ist und sich ernstlich der Bildung und dem Fortschritt der Menschheit widmet!“ Solch eine Schwulst ist hier nöthig, um einen Bischof zu rechtfertigen, der etwas höchst Unschuldiges gethan hat. Mußte doch auch Bulwer sich neuerdings in einer Broschüre über seine Moral rechtfertigen, ohne dass es ihm viel geholfen hat. Die Lind hat übrigens ihre Rolle als Schauspielerin hier vortrefflich gespielt und England wacker ausgesogen. Mit dem Director des Drurylane-Theaters, Mr. Bunn (der beiläufig gesagt auch Poet ist und Sachen für sein Theater verfertigt, wilde Thiere aufs Theater bringt und dem Punch zum Stichblatt dient), brach sie ihren Contract, weil ihr Mr. Webster, der Director der ersten italienischen Oper, mehr bot. Sie wird übrigens ihr Vampirgeschäft mit dem besten Erfolge noch länger fortsetzen, denn sie ist für sechs Saisons engagirt. Der gute Engel wird für seine Frömmigkeit und unvergleichlichen Tugenden himmlisch bezahlt, während Hr. Andersen nur mit hohen und höchsten Feten sich abspeisen lässt.

Quelle: Nr. 244, Berliner Zeitungs-Halle. Montag, den 18. October. 1847, pp. 2/3.




 

 

 

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