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Maries Briefe 

Der 4. Brief aus London

Her Majesty’s Theatre. – Der Jenny Lind-Enthusiasmus. ­– Die calculirenden Briten. – Wie’s einem der Enthusiasmus sauer macht. – Ballet. – Sehnsucht nach dem Versagten. – Das Stimme-Machen. – Die Musical party. – Concerte. – Schauspiel. 

Du weißt, ich bekam ein Billet zur Jenny Lind geschenkt und ging den 25. Mai nach Her Majesty’s Theatre, wie die älteste italienische Oper heißt. So sehr in diesem Hause alles aufs Aeußere berechnet ist, vermißt man doch jede größere, ja selbst eine einfache Eleganz. Es ist auch an diesem Gebäude, wie es den Stempel der Abgeschlossenheit trägt, der englische Charakter nicht zu verkennen. Jede Loge besteht wie eine kleine Stube so sehr für sich, daß sie bloß von einer bestimmten Familie als deren ausschließliches Eigenthum benutzt wird. Wer gegenüber oder im Parterre sitzt, kann nur die im Vordergrunde sich bewegenden brillant, aber nicht eben geschmackvoll gekleideten Damen sehen, während ihm die Herren das Dunkel des Hintergrundes verbirgt. Der Jenny-Lind-Enthusiasmus – wenn man so etwas Enthusiasmus nennen kann – ist unbegrenzt. Plätze des ersten und zweiten Ranges sollen an den ersten Abenden, an denen die Lind auftrat, bis zu sieben Pfund Sterling bezahlt worden sein. Die Blätter sind voll davon, daß die Künstlerin halb London mad (toll) gemacht habe, und die Männer wissen sich vor übergroßer Rührung nicht mehr anders zu helfen, als daß sie sich in das entzückende Wesen, die Jenny Lind –schneuzen. So sehr dieser Lindwurm auch überall gefeiert wurde, über den Londoner Triumph geht doch nichts. Nur Eine Stimme, nur Eine Bewunderung; die Frauen kürzen sogar ihr Sektengespräch ab, um von dem „Engel“ Jenny sprechen zu können, und die Journalisten geben Beschreibungen ihres „tugendhaften Lebens“. Selbst mit der Königin in der Königlichen Loge will man sie gesehen haben; nur bei Gott im Himmel hat sie noch kein Engländer zu sehen gewagt. Etwas Aehnliches aber, wie den stürmischen und anhaltenden Applaus, der ihr zu Theil wurde, habe ich in Deutschland niemals gehört, und es gehören die starken englischen Nerven dazu, um solchen Lärm und solches Trampeln – letzteres schien mir vorzugsweise die weibliche Beifallsbezeugung zu sein – zu ertragen. Uebrigens habe ich es von Engländern selbst zu wiederholten Malen gehört, daß die Lind nicht ihres G[l]eichen gehabt haben soll hinsichtlich der Bewunderung und Auszeichnung und Verehrung und Tollmachen u. s. w. Das wird ihr, sagen die calculirenden Briten, ein schönes Sümmchen Geld einbringen, von dessen Zinsen sie später in Deutschland oder in ihrem „armen“ Vaterlande ein angenehmes Leben führen kann. Rechnet man ihr doch nach, daß sie für zwei Concerte, die sie außerdem wöchentlich giebt, 2000 Pfund einnehme. Du wirst lachen, daß ich mir etwas habe aufbinden lassen; aber was kann ich dafür, wenn die Engländer solche Rechnungen anstellen, auf die ich keine Probe machen kann? Im Geldpunkte ist hier zu Lande das Unwahrscheinliche nicht unwahrscheinlich. Auch allerlei Anekdötchen cursiren über die „Elephantin des Drury-Lane-Theaters“, wie sie Punch spöttelnd nennt. So soll sie sich in einen armen Studenten verliebt haben und ihn heiraten wollen. Wiederum nicht unmöglich; denn auch im Punkte der Schönheit leisten die Engländer Unglaubliches, und ich sah neulich im Omnibus einen jungen Mann, wie ich mein Lebtage keinen so schönen Mann gesehen habe: ich konnte mich gar nicht satt an ihm sehen, und er merkte es auch; es fehlte nicht viel, so hätt’ ich’s ihm gesagt. Nun mußt Du auch noch erfahren, auf welche Weise es mir gelang[,] ins Theater zu dringen. Mein Billet galt für den Pit, was wir Parterre nennen; deshalb mußte ich mich zeitig hinbegeben, um noch einen Sitzplatz zu erwischen, und fuhr mit *** zwei Stunden vorm Oeffnen hin. Wir fanden bereits eine große Masse wie Häringe zusammengepökelt vor der Thür des Opernhauses und schlossen uns, Arm in Arm, dieser Masse an. Kaum fünf Minuten mochten wir am Orte sein, als wir uns unversehens nicht mehr hinten, sondern in der Mitte einer immer wachsenden Menge befanden und kaum noch ein Glied bewegen konnten. Ich hielt meine Tasche zu und suchte Uhr, Uhrkette und Lorgnette so gut zu wahren, als es gehen wollte. So verging eine Stunde unter Schnaufen, Schwitzen und Drücken. Plötzlich aber gab es einen gewaltigen Ruck, der Rock wurde mir zerrissen, der Hut fiel herunter und wurde mir ohne Zuthun wieder aufgestülpt: es war die Vorderthür des Theaters geöffnet worden und wir standen nun, immer weiter geschoben, in einer engen Halle vor einer zweiten Thür. Hier galt es nochmals eine Stunde zu verbringen, ohne sich rühren und anders als stoßweise Athem schnappen zu können. Endlich erschloß sich die Thür und wir platzten hinein. Und denke Dir, nach einer so qualvollen Arbeit bekamen wir nicht einmal einen Sitzplatz mehr und mußten den ganzen Abend über stehen. Ich dachte daran, daß der rüstige Arbeiter nach vierzehnstündiger oder, wenn es überaus menschenfreundlich hergeht, nach zehnstündiger Arbeit, auch nur sein Strohlager findet. Jedem das Seine – suum cuique – ist wohl irgendwo ein Sprichwort oder ein Stichwort. Jenny Lind hat gealtert und ist mager geworden, aber ihre Stimme ist schön geblieben. Nachdem sie gesungen hatte, kam ein Ballet. Im Allgemeinen macht sich der Engländer nicht viel aus dem Tanze, und es entfernte sich ein großer Theil, vielleicht aus Princip und Sittlichkeitsgefühl; wenigstens tragen die englischen Chortänzerinnen weit längere Kleider als die deutschen. Als Haupttänzerin trat die Grisi auf. Diese Grazie, diese Jugendfrische, dieses nicht schöne aber höchst liebliche Gesicht, dieser herrliche volle Körper, der durch das durchsichtige, kaum über die Knie reichende Kleidchen alle runden schönen Formen zeigte, das kindliche ungekünstelte Wesen; ich konnte mich nicht abwenden von diesem lieblichen Bilde. 
Aber es war spät, sehr spät geworden. Wir verpaßten den Omnibus, und da wir nicht, wie die Jenny, für die Saison zwölftausend Pfund bekommen, so war uns ein Cab zu theuer und wir gingen zu Fuß nach Hause, wo wir gegen zwei Uhr in der Nacht ankamen. 
So viel Schwärmerei für Musik, wie hier, habe ich selbst in Deutschland nicht gefunden, und doch müßte man blind und taub sein, um nicht zu merken, daß England kein musikalisches Talent und Urtheil hat, und z. B. auch die Lind nicht mit solchem Furore aufnehmen würde, wenn ihr nicht ihr Ruf von anderwärts her voranginge. Die Natur hat den Segen der Musik nicht über Britannien ausgegossen; aber schadenfroh und böswillig wie sie zuweilen ist, hat sie ihm das begehrliche Verlangen und die Sehnsucht nach dem versagten Segen angeboren. Vom Gassenbuben bis zur Königin will jeder was vorgespielt haben: die Königin hält sich eine Deutsche bloß zum Vorspielen. Musik und besonders Gesang auf den Straßen ist über die Maßen schlecht, weil schlechter als bei uns; aber andächtig und mit lauschender Aufmerksamkeit steht das Straßenkind daneben, hält der Bäcker seinen Karren an und macht die Parcel Mail Halt, um zuzuhören. Eben so schlecht ist der Gesang in der Kirche, und doch habe ich zu verschiedenen Malen bemerkt, daß Herren sich Noten mitgebracht hatten, um darnach zu singen. Die Engländer wissen zwar, daß sie nicht so gut singen und spielen, wie die Leute auf dem Continent, aber sie lassen sich gleichwohl hören. Du kannst Dir einen Begriff davon machen, wenn ich Dich ernstlich versichere, daß meine Stimme noch um vieles besser ist, als die manches Engländers, der sich öffentlich in einer großen Gesellschaft hören läßt. Sie sind nämlich fast durchgängig Natursänger, insofern sie sich einbilden, daß jeder Mensch Stimme habe und es nur von seinem Willen abhänge, sie auszubilden. Die Stimme kann man lernen, das ist ihre Meinung; und als ich einem Engländer sagte, daß ich nicht singe, fragte er mich ganz im Ernste, ob man denn nicht in Deutschland wie in England Stimmen machte. 
Eine sogenannte musical party gehört gewöhnlich zu den gräßlichsten Dingen, die man erleben kann. Man denkt nicht daran, sich vorher einzuüben, und so kamen zwanzig bis dreißig Personen zusammen und singen im Chor irgend ein beliebiges Stück, zu dem gerade Noten da sind, ganz taktlos und unrichtig, ganz ohne Stimme. Es greift die Nerven an, so etwas, das kannst Du mir glauben. Die Opern und Concerte sind allerdings besser besetzt, als eine musical party; aber ich vermisse überall die vollen Brusttöne und höre zu viele schreiende, quikende Stimmen. In The Queen’s Concert Room, Hannover Square, wo die besten Concerte gegeben werden, wohnte ich neulich einem Concerte bei, welches Miß Macironi (von Italienern abstammend, aber eine Engländerin von Geburt) gab. Es war nur mittelmäßig. Nur Mad. Dorus Gras, eine Französin, und Herr Pischeck (ein deutscher Böhme) entschädigten – jene durch ihre eben so liebliche als starke und reine Stimme, dieser durch seine cultivirte Löwenstimme, die herrlich ausgebildet ist – für die untergeordneten Sänger und Sängerinnen. Signor Salvator Tamburini unterhielt das Auditorium mit einer fast unhörbaren Stimme; sie ist nicht blos dünn wie ein Zwirnsfaden, sondern wie ein Spinnenfaden. Die Miß Macironi, deren Concert es war, sang gar nicht, sondern begleitete nur auf dem Piano. Sie ist Componistin, aber nur Chorsängerin. Auch war eine Art von Komiker da, Mr. John Parry, der einen ähnlichen Applaus erntete wie Jenny Lind. Er spielte Clavier, sang und sprach dazu und war in Folge des großen Beifalls genöthigt[,] nach dem ersten Stücke They called her Lallah Rockh, or Tulip Cheek-what a bouquet of a name noch ein zweites vorzutragen, das er extemporirte. Lachen und Klatschen nahm kein Ende. – Das war nun ein Morning concert. Die Sänger erschienen in langen dicken Oberröcken, die mir wie Flauschröcke vorkamen, und in weißen Glaceehandschuhen; das Local glich fast einer Dorfkirche, mit ihrer Orgel im Hintergrunde und seiner schmucklosen Einrichtung. Stehen die Engländer nun im Musikalischen hinter uns zurück, so sind sie uns hingegen im Schauspiel überlegen. Was mich in Deutschland oft sehr unangenehm störte, das Coquetiren der Schauspieler mit dem Publicum, davon war hier keine Spur: man nimmt die Sache ernster, d. h. man ist mehr bei der Sache. Unter Denen, die ich jetzt sah, sprachen mich besonders Miß Romer und Mrs. Keeley an. Die Romer ist auch Sängerin, als solche aber nur mittelmäßig; die Keeley mag zwar im Spiel die Romer übertreffen, ist aber keine so anmuthige Erscheinung. Mademoiselle Rose Cheri, die im französischen Theater Gastrollen giebt und sehr gefeiert wird, steht meiner Meinung nach hinter den genannten englischen zurück. (Fortsetzung folgt.)

Quelle: Feuilleton Nr. 29. [Beilage zu Nr. 166.] Berliner Zeitungs-Halle, Montag, den 19. Juli. 1847. pp. 147/148




 

 

 

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