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Marie Dähnhardts Briefe und der "Einzige"
von Sabine Scholz

Vor kurzem fand ich Marie Dähnhardts "Vertrauliche Briefe" (1) in der Berliner Staatsbibliothek. Erfreut erhoffte ich, aus diesen bisher verschollenen Dokumenten Aufschluss über das Zusammenleben der Eheleute Stirner zu gewinnen. In diesem Aufsatz werde ich Maries Zeugnisse mit denen von Stirner vergleichen. Gibt es Gemeinsamkeiten oder gar Streitpunkte? 
Setzt sich Marie vielleicht doch implizit mit ihrem verflossenen Mann auseinander, da wir keine expliziten Bezüge vorfinden, in denen Stirner namentlich erwähnt wird. Dieser Artikel versucht, der Idee nachzugehen, dass sich die Symbiose der beiden Eheleute auf Maries schriftstellerische Arbeiten ausgewirkt hat. 
Nachdem Marie Stirner 1846 nach einer zweieinhalbjährigen Ehe verlassen hatte, ging sie nach London, wo sie eine Stelle als Lehrerin in Aussicht hatte. Stirner blieb in Berlin zurück. In London gab Marie Privatstunden in deutscher Sprache, was hinreichte, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie war ein beliebtes Mitglied der deutschen Flüchtlingskolonie. Durch ihren Charme erwarb sie sich einen Freundeskreis, der dem Berliner in seiner Zusammensetzung von interessanten Menschen nicht nachstand: Louis Blanc, Freiligrath, Herzen und andere gehörten zu ihnen. Von London aus versuchte sie sich auch schriftstellerisch, indem sie für die Julius'sche "Zeitungshalle" in Berlin eine Reihe von "Vertraulichen Briefen aus England" schrieb, die aber nicht ihren Namen tragen. Es sind im Ganzen sieben und sie erschienen von März bis November 1847 in der "Berliner Zeitungs-Halle".(2) 
Als erstes wird es der Leser vielleicht verwunderlich finden, dass im Titel das Beiwort "vertraulich" vorkommt. Was haben "vertrauliche Briefe" in einer öffentlichen Zeitung zu suchen? Schließt nicht die Tatsache, dass sie veröffentlicht wurden aus, dass sie vertraulich, also privat sind? Doch wenden wir uns diesem Problem später zu. Schon im 1. Brief fällt Marie Dähnhardts unkonventionelle Definition von "Proletarier" auf, die an Stirners eigenwilligen Umgang mit der Welt erinnert: Die Welt ist mein Eigentum, also "Proletarier ist, was ich darunter verstehe, d.h. jemand, der mühsam arbeiten muss, um zu leben, worunter nicht bloß die arbeitende Klasse fällt, sondern auch Leute, die man vielleicht reich nennen könnte."(3)
Marie missachtet hier absichtlich die übliche Kategorie des "Proletariers". Offensichtlich teilt sie Stirners Ablehnung kommunistischer Thesen. Wen hat man sich unter dem "Du" vorzustellen, an das sich die Briefschreiberin wendet? Anfangs nahm ich an, es würde sich um eine Freundin handeln. Dass dem nicht so ist, wird sich im Folgenden herausstellen. Dieses wiederholte "Du" scheint mehr als ein journalistischer Trick zu sein, um die Texte authentischer wirken zu lassen. Existiert dieses "Du"?
Ich denke schon. Deutlich wird dies in dem folgenden Ausschnitt, wo Marie beschreibt, wie sie Herrn F. auf einem Ball kennen lernt. Es könnte sich dabei um den Dichter Freiligrath handeln, der sich damals in London aufhielt. Marie schildert ihn als ein bisschen "blöde"(4), weshalb sie es vorzieht ihn nicht namentlich zu nennen. Natürlich konnte jeder gebildete Leser damals sehr leicht dabei Freiligrath identifizieren. Sie möchte also indiskret sein! Dann fährt sie fort: "Unsere Introduction zu einem langen Gespräche warst Du; dann kamen andere, ihm und mir bekannte Personen an die Reihe..."(5).
Bei dem genannten "Du" muss es sich also um eine Person handeln, die jener "F". kennt. Ist es zu weit hergeholt, zu vermuten, dass sie von Stirner sprachen? Suchen wir nach weiteren Indizien! Mit Stirner teilt Marie die Missachtung der Religion, was sie sehr witzig folgendermaßen ausdrückt: "Als ich heute aufwachte, war stiller Freitag, und ich hatte ein dickes Gesicht und leidliche Zahnschmerzen. So kam ich um die Kirche, was mir Gott und die Engländer sonst nicht verziehen hätten."(6)
Am Karfreitag isst man in England traditionellerweise Stockfisch. Offensichtlich hat ihr jenes mysteriöse "Du" gehörig den Appetit verderben wollen: "Seit Du mir gesagt hast, daß der Stockfisch, um recht mürbe zu werden, in die Erde gegraben und reichlich mit Urin begossen werden müsse, habe ich, obgleich ich nicht daran glaube[,] daß man so verfährt, doch keinen sonderlichen Appetit zu diesem Essen."(7) 
Einem von Stirners Hauptthemen, dem Eigentum und seinem Eigentümer, widmet Marie folgende ironische Reflexionen über das Wetter. Dichter und Phantasten hätten davon fabuliert, welchen großen Genuss das schöne Wetter den Armen bereiten würde. Das sei nicht wahr, denn auch dieses Erdengut sei nur für die Besitzenden da, die sich darin vergnügen könnten. Die Armen müssten in ihm hungern, arbeiten und schwitzen. Da bliebe nur die Sonne: "Nicht wahr, die Sonne hat keinen ausschließenden Propretaire?"(8) Und doch erlaube man nur dem, der seine Arbeit hinter sich gebracht habe, sich in der Sonne zu rekeln. Und wer es täte, ohne etwas geleistet zu haben, der vergreife sich an unserem "Sonneneigenthumsrecht".(9) 
An dieser Stelle nun finden wir den ersten, genauereren Hinweis darauf, um wen es sich bei jenem "Du" handeln könnte, an das sich Marie immer wieder wendet. Es ist ein Mann, denn sie schreibt: "Ich glaube, mein Lieber, Du hast mich angesteckt; ich weiß sonst nicht, wie ich zu dieser ganzen Tirade gekommen bin."(10) 
Wer hätte sie denn mit seinen Tiraden anstecken können, wenn nicht Stirner? In seiner Nähe hatte sie sicherlich ständig seine endlosen Reden darüber, dass die Welt sein Eigentum ist, ertragen müssen. Jetzt revanchiert sie sich. Aber sie tut es auf sympathische Weise, indem sie zeigt wie lächerlich es ist zu behaupten: "die Welt ist mein Eigentum!" Das wäre genauso wie die Sonne als Eigentum zu deklarieren. Mit "mein Lieber" wendet sie sich an ihn, der genauso wie ihre Leser in Berlin sitzt.
Steht Marie noch im Kontakt mit Stirner? Sie nennt ihn nicht "mein Liebster, denn sie hat ihn ja verlassen. Das hindert sie aber nicht daran, mit ihm ein freundschaftliches Verhältnis zu behalten. Wenn wir uns jetzt wieder an die am Anfang gemachten Überlegungen erinnern, wo uns das Beiwort "vertraut" bei offenen Briefen verwundert hat, wird uns klar, welchen Zweck sie haben: Marie möchte um jeden Preis erreichen, dass Stirner ihre Artikel liest. Vielleicht hat er ihr die persönlich an ihn gerichteten Briefe ungeöffnet zurückgeschickt. Deshalb greift Marie zu diesem Mittel der öffentlichen Kommunikation. Aber zugleich macht sie deutlich, dass es sich eigentlich um private, also "vertrauliche" Mitteilungen handelt. 
Der 4. Brief beginnt mit folgender Feststellung: "Du weißt, ich bekam ein Billet zur Jenny Lind geschenkt"(11).Es ist anzunehmen, dass Stirner über eine dritte Person davon erfahren hat. Nun wendet sich Marie dem Jenni-Lind-Enthusiasmus zu. Ganz London läge ihr zu Füßen, was sich auch finanziell sehr auszahlen würde. 2000 Pfund nähme die Lind wöchentlich ein. Stirners Reaktion auf diese Überlegungen kennt sie schon: "Du wirst lachen, daß ich mir etwas habe aufbinden lassen"(12). 
Marie lässt es sich auch nicht nehmen, Stirner eifersüchtig zu machen, denn wie könnte man sonst die folgenden Bemerkungen erklären: "ich sah neulich im Omnibus einen jungen Mann, wie ich mein Lebtage keinen so schönen Mann gesehen habe: ich konnte mich gar nicht satt an ihm sehen, und er merkte es auch; es fehlte nicht viel, so hätt' ich's ihm gesagt."(13) Wen, wenn nicht den verlassenen Stirner, könnten diese "skandalösen" Gedanken seiner Exfrau empören? Für den emanzipierten, freigeistigen Berliner Leser schreibt sie dies bestimmt nicht! 
Meint man nicht, eine wehmütige Erinnerung an gemeinsam am Kamin verbrachte Abende zu vernehmen, an denen Marie Max etwas vorgesungen hat, bei der folgenden Stelle: "Du kannst Dir einen Begriff davon machen, wenn ich Dich ernstlich versichere, daß meine Stimme noch um vieles besser ist, als die manches Engländers, der sich öffentlich in einer großen Gesellschaft hören läßt."(14) 
Der 5. Brief schließt mit einer Bemerkung über die jüngste deutsche Philosophie, zu der ja auch Stirners "Einziger" gehört: "Doch will ich Dir zum Schlusse die Offenbarung eines hiesigen Gelehrten mittheilen, die er vielleicht mir allein vertraut hat. Ihr wißt wahrscheinlich nicht, wer der Vater oder vielmehr die Väter der jüngsten deutschen Philosophie sind. Diesem Bastardenthum muß abgeholfen werden. Locke und Bacon sind diese Väter, und "das ist ein gutes Zeichen für diese Philosophie!""(15) 
Locke gilt als der Vater der modernen Erkenntniskritik. In seinem Werk zeigt er auf, dass es keine angebornen Ideen gibt. Dasselbe gilt auch von den sittlichen Geboten. Der gesamte Inhalt des Bewusstseins stammt hiermit also nur aus der Erfahrung. Sie ist die wahre Quelle des Wissens. Marie sieht in Stirner also den Epigonen des englischen Empirismus. Seine Kritik an der Idealisierung der Menschheit, seine Moralkritik und Sprachkritik sind nicht so originell, wie Stirner glaubt, sondern er hat auch "Väter", so sehr er das auch immer abgestritten hat. Interessant wäre es, etwas über Stirners Reaktionen auf diese Provokationen zu erfahren.
Im 7. und letzten Brief befasst sich Marie mit einer "Conversation-party". Es handelte sich dabei um ein privates Treffen, das der ästhetischen Unterhaltung gewidmet war, eine Art Rednerduell. Man versammelte sich ein Mal im Monat und die redegewandten Besucher bekamen ein Wort oder einen Satz, über die sie bei der nächsten Versammlung sprechen sollten. Bei so einer Abendunterhaltung fiel Marie ein Gast auf, der beim Hören der Musik vor Entzücken fast zerschmolz. Dieser Herr bot sich später an, Marie und eine Freundin nach Hause zu begleiten. 
Man beginnt sich zu fragen, was sich wohl zwischen diesem Herrn und Marie anspinnen wird. Wird sie Stirner wieder durch eine ihrer berühmten heftigen Flirts auf die Palme bringen? Nein, es kommt ganz anders. Der galante nächtliche Begleiter entpuppt sich als "Chartist!"(16) 
Die Chartisten kann man als Vorläufer der modernen Arbeiterbewegung bezeichnen. Der Chartist will sich offensichtlich bei der hübschen Marie einschmeicheln, indem er ihr von seinem Wunsch vorschwärmt, die Welt durch Liebe zu verbessern. Welche Art von Liebe ihm da vorschwebte, kann sich der Leser wohl denken! Und Stirner sicher auch, der sicherlich vor Eifersucht bebte: "Ihr Frauen könntet die Welt reformiren, durch Menschenliebe, aber ihr seid gleich den Männern feige Memmen! Keiner will den Anfang machen, keiner will zuerst vorwärts, und so ereilt uns der Tod, ehe wir unsere Lebensaufgabe, die Menschenliebe, gelöst haben!"(17) 
Ist nun aus Marie und dem Schwärmer etwas geworden? Wir wissen es nicht, denn Marie schließt mit der kurzen Bemerkung, dass er nicht einmal in die Kirche ginge! Ihre Begleiterin hätte betroffen geschwiegen: "ein nicht in die Kirche gehender Engländer, das war zu viel."(18) 
Was hätte Stirner wohl auf Maries Provokationen geantwortet? Er hat es eigentlich schon vorher getan, in einem Kapitel des "Einzigen", wo er sich über die "Gesellschaft" auslässt. Etymologisch käme das Wort "Gesellschaft" von "Sal". Viele Menschen in einem Saal machten eine Gesellschaft aus und es käme höchstens zu Salon-Redensarten, zu leeren Höflichkeitsphrasen. Auch Stumme oder Statuen befänden sich in Gesellschaft. Wenn es zu persönlichem "Verkehr" käme, dann geschähe dies unabhängig von der Gesellschaft. Stirner definiert es so: "Verkehr ist Gegenseitigkeit, ist die Handlung ...zwischen mir und dir."(19) Und weiter schreibt er: "Hier muß der Egoismus, der Eigennutz entscheiden, nicht das Prinzip der Liebe, nicht die Liebesmotive, wie Barmherzigkeit, Mildtätigkeit, Gutmütigkeit oder selbst Gerechtigkeit und Billigkeit (denn auch die iustitia ist ein Phänomen der - Liebe, ein Liebesprodukt): die Liebe kennt nur Opfer und fordert "Aufopferung"."(20)
Egoismus ist die Unfähigkeit, sich den Anderen vorzustellen, sich in den Anderen hineinzuversetzen. Ich glaube, Marie hat schon lang begriffen, dass sie eigentlich Menschen wie den Chartisten Stirner vorzieht.

(1) Marie Dähnhardt, Vertrauliche Briefe aus England, Feuilleton der Berliner Zeitungs-Halle, März bis November 1847; siehe unter "Stirner-Forum" www.geocities.com/marieundmax >>> Maries Briefe
(2) vergl. John Henry Mackay, Max Stirner. Sein Leben und sein Werk, Mackay-Gesellschaft, Freiburg/Br., 1977
(3) aus dem 1. Brief: Feuilleton der Berliner Zeitungs-Halle, Nr. 15. [Beilage zu Nr. 74]. Montag, den 29. März 1847, p. 71
(4) aus dem 2. Brief: : Feuilleton der Berliner Zeitungs-Halle, Nr. 15. [Beilage zu Nr. 74]. Montag, den 29. März 1847, p. 71
(5) ebenda
(6) aus dem 3. Brief: Feuilleton der Berliner Zeitungs-Halle, Nr. 22. [Beilage zu Nr. 119]. Montag, den 24. Mai 1847, p. 113.
(7) ebenda 
(8) ebenda
(9) ebenda
(10) ebenda
(11) aus dem 4. Brief: Feuilleton der Berliner Zeitungs-Halle, Nr. 29. [Beilage zu Nr. 166]. Montag, den 19. Juli 1847, p. 147.
(12) ebenda, p 148.
(13) ebenda
(14) ebenda 
(15) aus dem 5. Brief: Feuilleton der Berliner Zeitungs-Halle, Nr. 30. [Beilage zu Nr. 191]. Sonnabend, den 24. Juli 1847, p 152.
(16) aus dem 7. Brief: Berliner Zeitungs-Halle, Nr. 280. Montag, 
den 29. November 1847, p. 3.
(17) ebenda
(18) ebenda
(19) Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Reclam, Stuttgart 1981, pp.239, 240
(20) ebenda, p. 285
Copyright © Sabine Scholz
Zeitgleich veröffentlicht in: Der Einzige. Vierteljahresschrift des Max-Stirner-Archivs Leipzig, 
Heft 1-2/2001.



 

 

 

 

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