Stirner Forum
Ueber Stirner Ueber Marie Theaterstueck Drehbuch Fotos Links Home
Neues Textforum Gaestebuch
   
Maries Biographie
Maries Briefe
Brief 1
Brief 2
Brief 3
Brief 4
Brief 5
Brief 6
Brief 7
Marie und der Einzige
Maries Dulk-Rezension

 

über Marie > Brief 3

Maries Briefe 

Der 3. Brief aus London

Stiller Freitag. – Winter und Frühling. ­– Sonnenactien – Wozu sind Nachschriften in der Welt? – Eine tugendhafte Mutter. – Hungertode. – Lady und Lord Gordon. – Der verlorene Character. – 

Als ich heute aufwachte, war stiller Freitag, und ich hatte ein dickes Gesicht und leidliche Zahnschmerzen. So kam ich um die Kirche, was mir Gott und die Engländer sonst nicht verziehen hätten. Mittags aßen wir Stockfisch, das allgemeine Gericht an diesem Tage in den meisten englischen Familien. Seit Du mir gesagt hast, daß der Stockfisch, um recht mürbe zu werden, in die Erde gegraben und reichlich mit Urin begossen werden müsse, habe ich, obgleich ich nicht daran glaube[,] daß man so verfährt, doch keinen sonderlichen Appetit zu diesem Essen. Den stillen Freitag habe ich also ganz würdig zugebracht unter lauter Leiden: geschwollenes Gesicht, Zahnweh, unterdrückte Phantasie am Mittagstisch und hinuntergewürgter Stockfisch. 
Seit einigen Tagen ist hier wieder vollkommen Winter eingetreten; es ist so kalt, wie ich’s kaum einmal im Winter fand. Dieser Winter soll übrigens so streng gewesen sein, wie man ihn seit vielen Jahren hier nicht erlebt haben will. Gegen Ende des Februar bis gegen Ende März hatten wir das prächtigste Frühlingswetter: es war so schön, daß ich jeden Tag daran dachte, mein Caminfeuer auszulöschen, um den Himmel die Kosten der Erwärmung tragen zu lassen. Ende Februar begannen die Bäume zu knospen und es gab schon Veilchen. Jetzt sind viele Bäume ganz grün, aber es ist von Neuem kalt geworden. Nichts desto weniger singen die Vögelchen schon so hübsch des Morgens und wecken mich aus meinem süßen Schlummer, oft auch aus schrecklichen Träumen. Ach, du schönes Wetter, was auch geschwätzige Dichter und idyllische Phantasten von dem Genusse der Armen fabeln mögen, den du ihnen bereiten sollst, es ist nicht wahr! Auch Du bist, wie alle Erdengüter, nur für die Besitzenden, die sich in Dir vergnügen können, nicht für die Armen, die in Dir hungern, sorgen, arbeiten und schwitzen müssen. Sie Sonne ist so eigentlich kein irdisches Gut und kann bei der Theilung der Erde doch keinem Eigenthümer zugewiesen worden sein. Nicht wahr, die Sonne hat keinen ausschließenden Proprietaire? O ihr lügnerischen Rechenmeister! Laßt nur einen Menschen, der kein Proprietaire einer Sonnen-Actie ist, einmal an der Sonne als seinem lieben Eigenthum sein Recht geltend machen, gleich wird es heißen: was, der faule Schlingel, darf er sich rekeln in der Sonne, hat er ein Recht[,] sich in der Sonne herumzutreiben, während es noch alle Hände voll zu thun giebt? Dieses Recht auf die Sonne hat nur, wer schon was hinter sich gebracht hat, und wer das nicht hat und doch in der Sonne steht[,] der steht uns in der Sonne und vergreift sich an unserem Sonneneigenthumsrecht. Ich glaube, mein Lieber, Du hast mich angesteckt; ich weiß sonst nicht, wie ich zu dieser ganzen Tirade gekommen bin. Sie verleidet mir alles weitere Schreiben, und ich bin für heute fertig. 
Eine Nachschrift muß aber sein, denn wozu gäbe es sonst Nachschriften in der Welt, wenn sie nicht geschrieben werden sollten? Sie ist überdies von etwas späterem Datum und betrifft nur zwei Geschichten, die eben erzählt wurden, und eine Notiz. Die Noth ist groß, und in dieser Noth stiehlt eine arme Frau in einem Bäckerladen ein Brot und bringt es ihren Kindern. Ein Policeman, der den Diebstahl entdeckt, geht mit ihr in ihre Wohnung, um sich von ihrer Noth zu überzeugen, und bringt sie dann, ich weiß nicht weshalb, wieder zum Bäcker, der der Armen nun noch mehr Brot für ihre hungernden Kinder giebt. Als sie zurückkommt, findet sie ihre Kinder sterbend und todt. Der hastige Genuß des Brotes hatte die ausgehungerte[n] Kinder getödtet. Als dies heut hier erzählt wurde, sagte eine der Damen, sie würde lieber ihre Kinder verhungern lassen, als ein Brot zu stehlen. Und diese Dame ist Mutter von sechs Kindern. Die übrige Gesellschaft fand diese Tugendhaftigkeit der Mutter von sechs Kindern ganz in der Ordnung. O puritanisches Alt-England! 
Erzählt wurde[n] unter anderen Schaudergeschichte des Tages auch von einer Frau, die ihr verhungertes Kind auf dem einen Arme und ihr erst halb verhungertes auf dem anderen hinausging, um das erstere einzuscharren. Als das Loch groß genug war, um ein Kind hineinzulegen, stirbt auch das zweite, und die Mutter purrt das Loch größer und geht – allein von dannen. Zu Deiner Notiz diene, daß Lady Duff-Gordon jetzt Weils Dorfgeschichten, und ihr Mann Lord Gordon Varnhagens Denkwürdigkeiten übersetzt. Das Uebersetzen, dessen man sich in Deutschland fast schon zu schämen anfängt, gilt hier für etwas Großes und als ehrenvoll für einen Großen. Wie übrigens Lady Gordon durch die Uebersetzung der Bernsteinhexe ihren „Charakter“ in England verloren haben soll – sie hat dieß angeblich selbst geäußert, – verstehe ich nicht, da ich das Buch nicht kenne. Aber was den Verlust des „Charakters“ betrifft, so ist in England freilich alles möglich. Kein kitzlicheres Ding hier, als der Character.

Quelle: Feuilleton Nr. 22. [Beilage zu Nr. 119]. Berliner Zeitungs-Halle, Montag, den 24. Mai. 1847, p. 113.




 

 

 

Hosted by www.Geocities.ws

1