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Drehbuch
MAX
STIRNER UND DIE WILDEN JAHRE DER PHILOSOPHIE
DOKUMENTARFILM
ZU MAX STIRNERS 200. GEBURTSTAG
von
Sabine Scholz
Wissenschaftliche Mitarbeit: Paul Jordens
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Poster
© Brigitte Scholz
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DATEN ZUM FILM
DAUER: 20 Minuten
REGISSEUR
KAMERAMANN
TONTECHNIKER
INTERVIEWER
SPRECHER
SCHAUSPIELER: Max Stirner - Marie Dähnhardt (Stirners Ehefrau)- der
letzte Papst in historischen Kostümen
LEUTE AUF DER STRASSE - SCHÜLER - KINDER
AUFNAHMEN IN BAYREUTH: Stirnerhaus - Fußgängerzone - Altes Rathaus
- Neues Schloss - Evangelische Stadtkirche "Heilige
Dreifaltigkeit" - Die frühere "Königlich Bayrische
Studienanstalt" Friedrichstraße 14 - Haus Friedrichstraße 15:
Gedenktafel von Maria Anna Tekla Mozart --- Schlossturm: Aufnahmen
von oben - Büchergeschäft - Max-Stirner-Straße -
Richard-Wagner-Museum - Festspielhaus
AUFNAHMEN IN BERLIN: Ostberlin - Humboldt-Universität - Unter den
Linden - Stirners Grab auf dem Sophienfriedhof
Archivaufnahmen - Historische Fotos Berlins, Bayreuths, Erlangens
und Königsbergs aus dem 19. Jahrhundert- Bilder einer Mädchenschule
aus dem 19. Jahrhundert - Dokumente aus Stirners Zeit - Bilder von
der Revolution in Berlin - Bilder von einem Milchvertrieb um 1840 -
Fotos vom Alten Stirnerhaus - Fotos des Gymnasiums "Christian-Ernestinum"
aus dem 19. Jahrhundert - Die Stirnerkarikaturen von Friedrich
Engels - Phantombilder Stirners - Gästebucheintragungen im
Stadtarchiv Bayreuth - Zeitungsausschnitte aus der "Rheinischen
- Zeitung" und der "Leipziger Allgemeinen Zeitung"
aus Stirners Zeit - Alte Fotos von Stirners Grab - Bilder von Hegel,
Darwin, Wagner, Jean Paul, Nietzsche, Dostojewski, Bakunin, John
Henry Mackay - Bilder von Mackays Stirnerbiographie - Bilder von Bücherverbrennungen
der Nazis
SOUND: Klassische und Moderne Musik je nach Szene - Klaviermusik -
auch Rockmusik
SZENE 1
MAN SIEHT DIE STIRNERKARIKATUREN VON FRIEDRICH ENGELS UND
PHANTOMBILDER STIRNERS, ZWISCHENDURCH HISTORISCHE AUFNAHMEN
BAYREUTHS UND BERLINS AUS DEM 19. JAHRHUNDERT
MAX STIRNER SITZT IN EINEM LEHNSTUHL AN EINEM OFFENEN KAMIN, IN DEM
DAS FEUER FLACKERT, MAN HÖRT ES KNISTERN. WÄHREND DER SPRECHER ERZÄHLT
NÄHERT SICH DIE KAMERA STIRNER, BIS SIE SCHLIESSLICH VOR SEINEM
GESICHT IN GROSSAUFNAME ZUM STILLSTAND KOMMT - MAN SIEHT BILDER VON
NIETZSCHE, DOSTOJEWSKI, BAKUNIN
ERZÄHLER
Max Stirner ist vergessen worden. In den meisten
Philosophiegeschichten des 19. Jahrhunderts wird sein Name nicht
einmal erwähnt. Warum hat man beschlossen, diesen wichtigen Denker
zu ignorieren, dessen Geburtstag sich am 25. Oktober 2006 zum 200.
Mal jährt?
Eine Antwort ist vielleicht, dass er für viele unbequem ist, ein
erbarmungsloser Religionskritiker, ein Nihilist, ja sogar ein
Anarchist. Davor fürchtet man sich.
Doch ist sein Werk deswegen wertlos? Ist z.B. nicht auch Nietzsche
ein Nihilist und wird er nicht trotzdem als einer der wichtigsten
Denker angesehen?
Oder Dostojewski. Beide haben Stirner sehr geschätzt. Mit
Raskolnikow hat Dostojewski eine stirnerianische Figur geschaffen,
die ihm zu Weltruhm verholfen hat. Bakunin hat Stirner
wahrscheinlich 1848 in Berlin getroffen. Stirners theoretischer
Anarchismus ist durch Bakunin zur konkreten politischen Aktion
geworden. Keiner wird behaupten, dass Dostojewski und Bakunin
deswegen weniger wichtig wären.
Warum hat gerade Stirner so viel Unwillen erregt, dass man seinen
Namen aus der Philosophiegeschichte getilgt hat, wãhrend Nietzsche
unangefochten als Klassiker gilt?
Im Laufe dieses Films versuchen wir eine Antwort auf diese Frage zu
geben.
Lassen wir Stirner selbst zu Wort kommen. Vielleicht gelingt es ihm,
unsere festen Überzeugungen ein wenig zu erschüttern, indem wir
erkennen, wie viel wir unkritisch von anerkannten Autoritäten übernommen
haben. Bilden wir uns selbst ein Urteil, ob uns Stirner etwas zu
sagen hat oder nicht!
Um das zu tun, wollen wir uns jetzt ein bisschen mit seinen Theorien
auseinandersetzen.
SZENE 2
AUSZÜGE AUS STIRNERS HANDSCHRIFTEN - EINE HAND SCHREIBT MIT DER
FEDER - MAN HÖRT DAS KRATZEN AUF DEM PAPIER
STIRNER EMPHATISCH (DER TEXT LÄUFT ZUM MITLESEN ÜBER DEN
BILDSCHIRM)
Was soll nicht alles meine Sache sein! Vor allem die gute Sache,
dann die Sache Gottes, die Sache der Menschheit, der Wahrheit, der
Freiheit, der Humanität, der Gerechtigkeit; ferner die Sache meines
Volkes, meines Fürsten, meines Vaterlandes; endlich gar die Sache
des Geistes und tausend anderer Sachen. Nur MEINE Sache soll niemals
meine Sache sein. Pfui über den Egoisten, der nur an sich denkt!
SZENE 3
MAN SIEHT DIE ERSTAUSGABE VON STIRNERS HAUPTWERK "DER EINZIGE
UND SEIN EIGENTUM" - MAN SIEHT BILDER HEGELS
ERZÄHLER
Mit diesen Worten beginnt Max Stirner sein Hauptwerk: DER EINZIGE
UND SEIN EIGENTUM, das 1844 erschienen ist. Wovon handelt es? In
erster Linie stellt es eine kritische Auseinandersetzung mit der
Hegelschen Philosophie dar. Hegel war zu Beginn des 19. Jahrhunderts
DER intellektuelle Führer Deutschlands, eine Art Philosophiepapst,
an dem keiner vorbeikam.
Nach Hegel schafft das Denken die Realität. Das nennt man
Idealismus, d.h. für Hegel zählen nur die ewigen absoluten Ideen
wie Freiheit, Gerechtigkeit, Wahrheit und Schönheit. Die irdischen
Dinge sind vergänglich und interessieren ihn nicht.
Stirner bezeichnet diese Ideen als Hirngespinste, als Traumwelt
eines Phantasten und verurteilt Hegels absoluten Geist als Gespenst,
das keinerlei Grundlage in der Realität besitzt.
Darüber hinaus unterzieht Stirner die christliche Religion einer
scharfen Kritik.
SZENE 4
STIRNER ZERREISST EIN ENG BESCHRIEBENES BLATT - MAN SIEHT BILDER
DARWINS
ERZÄHLER
Stirner ist nicht der einzige, der sich von Hegels Idealismus und
dem blinden Glauben an einen transzendenten Gott abwendet. Mit
Stirner entdecken gleichzeitig viele andere Denker die Realität als
etwas, das eine eigene Existenz besitzt, unabhängig vom Geist oder
von Gott, der sie schafft. Die Wissenschaft beginnt den Menschen als
Naturwesen zu studieren und als Lebewesen, das von bestimmten Umständen
abhängig ist. Darwins 1859 erschienenes Werk, DIE ENTSTEHUNG DER
ARTEN, geht von den biologischen Tatsachen der Veränderlichkeit der
Lebewesen aus. Zwischen den Lebewesen kommt es zum "Kampf ums
Dasein". Nur die besten überleben und geben ihre Erbanlagen an
die nächste Generation weiter.
SZENE 5
BAYREUTH: AUFNAHMEN DER STADT- FESTSPIELHAUS - RICHARD-WAGNER-MUSEUM
- PLAKATE - STADTMUSEUM - BILDER WAGNERS UND JEAN PAULS
ERZÄHLER
Die alte Markgrafenstadt Bayreuth ist vor allem als "Richard-Wagner-Stadt"
bekannt. Jedes Jahr finden hier zu Ehren des berühmten Komponisten
die "Wagner-Festspiele" statt. Alles, was sich zur
besseren Gesellschaft zählt, nimmt daran teil. Die Eintrittskarten
sind sündhaft teuer und müssen monatelang vorbestellt werden.
Wir interessieren uns jedoch für einen Außenseiter, der durch den
Glanz von Richard Wagner völlig ins Abseits gedrängt worden ist, für
den kleinen Flötenmacherssohn Max Stirner aus der Maxstraße 31,
den man selbst im Stadtmuseum vergebens sucht. Ein Kenner drückte
dies folgendermaßen aus: "Mit Wagner verbindet Bayreuth der
Geldsack, an Jean Paul erinnert es sich noch, an Stirner nie."
Stirners Lebensbeschreibung beginnt mit einer Überraschung. Max
Stirner hatte nämlich in Wirklichkeit einen ganz anderen bürgerlichen
Namen. Er hieß Johann Caspar Schmidt. Das uns geläufigere
Pseudonym hatten seine Jugendfreunde erfunden. Sie spielten dabei
auf seine auffallend hohe Stirn an. Lateinisch heißt "sehr
groß" maximus, woraus "Max" entstanden ist. Max Stirner
heißt
also nichts anderes als "Der Mann mit der hohen Stirn".
Als Stirner wurde er von seinen Freunden angeredet, als Stirner veröffentlichte
er seine Arbeiten.
SZENE 6
BAYREUTH, MAXIMILIANSTRASSE 31, STIRNERS ALTES UND NEUES
GEBURTSHAUS: (FOTOS VOM ALTEN STIRNERHAUS) - GEDENKTAFEL - ALTES RATHAUS - BILDER
VON JOHN HENRY MACKAY - DIE KAMERA ZEIGT EINIGE GÄSTEBUCHEINTRAGUNGEN
ERZÄHLER
In diesem Haus an der Südseite des in der Stadtmitte gelegenen
Marktplatzes von Bayreuth begann Max Stirner am 25. Oktober 1806
seine Erdenwanderung. Eine kleine Gasse trennt Stirners Geburtsstätte
von dem benachbarten alten Rathaus, in dem sich heute das
Kunstmuseum befindet. Stirner-Interessierte stellen sofort erfreut
fest, dass die im Jahre 1907 auf Initiative des Stirner-Biographen
John Henry Mackay angebrachte Gedenktafel mit der Inschrift "Dies
ist das Geburtshaus Max Stirner´s" gut sichtbar in Augenhöhe
an der dem alten Rathaus zugewandten Fassade angebracht worden ist.
Doch leider ist der Text der Tafel nur mehr ein Anachronismus. Denn
das heutige Gebäude Maximiliansstraße 31 ist ein Neubau, errichtet
im Jahre 1971 nach dem vom damaligen Eigentümer veranlassten Abriss
des baufällig gewordenen alten Stirnerhauses. So blieben vom
Geburtsthaus Max Stirners - außer Mackays Gedenktafel - nur die
Reliefplatten aus dem Erker übrig, die man an gleicher Stelle in
das äußerlich dem alten Gebäude nachempfundene neue Haus
einfügte.
Um 1930 befand sich in dem Haus eine Gaststätte, aus der
kurioserweise ein Gästebuch erhalten blieb mit Eintragungen aus den
Jahren 1930 bis 1934. Wer dieses originelle Zeitdokument mit
allerlei mehr oder minder geistvollen Huldigungen an Stirner, die
gute Küche des Hauses, das erfrischende Bier, an Franken und an
Bayern, ab 1933 dann schon mal an das "neue Deutschland"
durchblättern möchte: es ist im Stadtarchiv Bayreuth,
Maximilianstraße 64 auf Anfrage einzusehen.
SZENE 7
DIE KAMERA WENDET SICH DANN DEM REGEN LEBEN AUF DER
MAXIMILIANSTRASSE ZU - DIE BAYREUTHER MACHEN EINKÄUFE, PROBIEREN
KLEIDUNG AN - EIN PAAR TOURISTEN MIT FOTOAPPARAT GEHEN VORBEI -
KINDER BLEIBEN NEUGIERIG STEHEN - EIN LINIENBUS SCHLEICHT LANGSAM
VORBEI - NIEMAND SCHEINT ES EILIG ZU HABEN
ERZÄHLER
Fragen wir doch einfach einige Passanten, ob ihnen der Name Stirner
etwas sagt.
INTERVIEWER MIT MIKROPHON
Entschuldigen Sie, kennen Sie Max Stirner?
PASSANT
……………
INTERVIEWER MIT MIKROPHON
Sagt Ihnen der Name Max Stirner etwas?
NÄCHSTER PASSANT ETC.
…………….
ERZÄHLER
Probieren wir es doch mal in einem Büchergeschäft!
SZENE 8
IN EINEM BÜCHERGESCHÄFT
MANN MIT MIKROPHON ZU EINEM VERKÄUFER
Guten Tag! Haben Sie was von Max Stirner?
VERKÄUFER
………..
SZENE 9
BAYREUTH - STIRNERS GYMNASIUM AM JEAN-PAUL-PLATZ FRIEDRICHSTRASSE 14
- KAMERAFAHRT ÜBER DEN PLATZ - UM DAS JEAN-PAUL-DENKMAL HERUM -
HISTORISCHE FOTOS DES GYMNASIUMS AUS DEM 19. JAHRHUNDERT
ERZÄHLER
Am Jean-Paul-Platz gegenüber dem Denkmal des Dichters befindet sich
das Gymnasium "Christian-Ernestinum". Es wurde 1664 von
Marktgraf Christian Ernst gegründet und 1804 hierher verlegt.
In dieser traditionsreichen einstigen markgräflich-bayreuthischen
Kaderschmiede schlug sich der Gymnasiast Max Stirner von 1819 bis
1826 wacker und mit gutem Erfolg durch die königlich bayrischen
Lehrpläne. Seit 1966 hat das Gesundheitsamt hier seinen Sitz.
Reminiszenzen an den bekannten Schüler der Anstalt sucht man an und
in dem Gebäude leider vergebens. Dafür künden vis-à-vis am Haus
Friedrichstraße 15 - Ehre, wem Ehre gebührt! - goldene Lettern
davon, dass Maria Anna Tekla Mozart, das "Augsburger Häsle-Bäsle"
Wolfgang Amadeus Mozarts - hauptsächlich bekannt geworden als Empfängerin
der reichlich mit Anspielungen auf "unterirdische" Körperorgane
und -vorgänge gespickten "Bäsle-Briefe" ihres berühmten
Verwandten - von 1814 bis 1841 dort gewohnt hat.
Spaß beiseite, hören wir mal, wie Stirner über das damalige
Schulsystem dachte:
SZENE 10
KAMERAFAHRT IM EHEMALIGEN GYMNASIUM - DIE KAMERA FOLGT MAX STIRNER,
DER UNS DURCH DAS GEBÄUDE FÜHRT
INTERVIEW MIT EINIGEN BAYREUTHER SCHÜLERN AUF DER STRASSE - STIRNER
SPICHT MIT IHNEN - VIDEOCLIPP VON KINDERGESICHTERN
STIRNER (DER TEXT LÄUFT ZUM MITLESEN ÜBER DEN BILDSCHIRM)
Die Schulen und Universitäten machen seit Jahrhunderten aus den Schülern
passive Geschöpfe, die sie dressieren wollen, anstatt sie zu
kreativen Menschen heranzubilden. Der Unterrichtsstil der Lehrer ist
dogmatisch, sie halten sich für unfehlbar. Durch die Unterdrückung
der Persönlichkeit des Schülers hoffen sie brauchbare Untertanen
zu erzeugen…
So kann auch das letzte Ziel der Erziehung nicht mehr das Wissen
sein, sondern das aus dem Wissen geborene Wollen, und der sprechende
Ausdruck dessen, was sie zu erstreben hat, ist: der persönliche
oder freie Mensch. Die Wahrheit selbst besteht in nichts Anderem,
als in dem Offenbaren seiner selbst, und dazu gehört das Auffinden
seiner selbst, die Befreiung von allem Fremden, die äußerste
Abstraktion oder Entledigung von aller Autorität, die
wiedergewonnene Naivetät. Solche durchaus wahre Menschen liefert
die Schule nicht; wenn sie dennoch da sind, so sind sie es trotz der
Schule. Diese macht uns wohl zu Herrn über die Dinge, allenfalls
auch zu Herrn über unsere Natur; zu freien Naturen macht sie uns
nicht.
SZENE 11
INTERVIEWER
Hat Stirner auch heute noch Recht, dass die Schüler zu brauchbaren
"Untertanen" erzogen werden sollen, die sich anpassen und
möglichst nicht protestieren sollen?
SCHÜLER
…………….
SZENE 12
STIRNER SPAZIERT DURCH BAYREUTH, MUSTERT DIE LEUTE, DIE IHM BEGEGNEN
(EVENTUELL PUNKS UND INTERSSANT AUSSEHENDE PASSANTEN)
ERZÄHLER
Max Stirner war kein Revoluzzer um jeden Preis. Seine Kleidung und
sein Benehmen waren unauffällig, ruhig und überaus korrekt. Viele,
die schon damals Individualität mit Schrillheit und Profilneurosen
verwechselten, sollen ihn deshalb für einen "Stutzer"
gehalten haben. Stirner als "Kulturrevolutionär", als
"Paradiesvogel", als "Punk" - diese Vorstellung
hätte er für sich selbst vermutlich mit einem stillen, hintergründigen
Lächeln abgetan. Denn ein solches Gehabe wäre eben nicht die ihm
gemäße Weise gewesen, Souveränität, Individualität, "Eigenheit"
zu leben. Dezidiert verwahrt sich Stirner gegen eine schonungslose
kulturrevoluzzerhafte Destruktivität. Nicht die radikale Abnabelung
von den Früchten jahrtausendelanger Kulturentwicklung ist der
Selbstkonstituierung des Individuums förderlich, sondern im
Gegenteil die "An-Eignung" und "Ver-Wertung"
dessen, was die Jahrhunderte der Bildung uns erworben haben und
wovon auch der "Einzige" nichts wegwerfen und aufgeben
will, was ihm zu Nutzen, Erkenntnis oder auch schlichtweg zur Freude
dient.
SZENE 13
THEATERSTÜCK: MAX STIRNER UND DER LETZTE PAPST
PERSONEN: MAX STIRNER - MARIE (STIRNERS EHEFRAU) - DER LETZTE PAPST
BÜHNENBILD: STIRNERS SCHLAFZIMMER MIT EINEM BETT, EINEM
SCHREIBTISCH VOLLER BÜCHER UND BLÄTTER
MAX STIRNER LIEGT IM BETT UND SCHLÄFT. ER WÄLZT SICH UNRUHIG HIN
UND HER. ER HAT EINEN ALPTRAUM.
ES KLOPFT AN DER TÜR.
STIRNER WACHT AUF.
STIRNER
Herein!
MARIE FÜHRT DEN LETZTEN PAPST INS ZIMMER.
MARIE
Max, du hast Besuch. Steh' auf!
STIRNER MUSTERT DEN UNERWARTETEN GAST ERSTAUNT, MACHT ABER KEINE
ANSTALTEN AUFZUSTEHEN. STATTDESSEN SETZT ER SEINE BRILLE AUF, UM DEN
BESUCHER BESSER BETRACHTEN ZU KÖNNEN.
DER LETZTE PAPST
Guten Abend, Herr Stirner. Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen.
MARIE HOLT UNTERDESSEN EINEN STUHL, DAMIT DER PAPST AN STIRNERS BETT
PLATZNEHMEN KANN
MARIE
Bitte schön, Eure Heiligkeit, nehmen Sie Platz.
STIRNER
Marie, willst du mir unseren Besucher nicht erst einmal vorstellen?
MARIE
Aber sicher doch, Max, dieser eindrucksvolle Herr ist der letzte
Papst!
STIRNER
Der letzte Papst? Was soll denn das bedeuten? Ich verstehe überhaupt
nichts mehr. Wahrscheinlich habe ich zu viel getrunken und außerdem
bin ich schrecklich überarbeitet, ja das wird's sein!
DER LETZTE PAPST
Ich freue mich sehr, endlich persönlich Ihre Bekanntschaft zu
machen, Herr Stirner.
DER PAPST STRECKT STIRNER DIE HAND ENTGEGEN UND BEGINNT STIRNERS
HAND ENERGISCH ZU SCHÜTTELN: DANN SETZT ER SICH AUF DEN ANGEBOTENEN
STUHL.
STIRNER
Also ich muss zugeben, dass ich ziemlich überrascht bin über Ihren
unerwarteten Besuch. Wenn Sie vielleicht so freundlich wären, mir
das Motiv Ihres Besuches zu erklären. Es tut mir aufrichtig leid,
dass meine Behausung äußerst bescheiden ist…
DER LETZTE PAPST
Mein lieber Sohn, das macht doch überhaupt nichts. Im Gegenteil,
ich fühle mich nur in einfachen, bescheidenen Räumen so richtig
wohl.
Um Ihnen mein Kommen zu erklären, muss ich allerdings etwas
ausholen. Ich weiß nicht, ob die schreckliche Nachricht, die mich
aus dem Vatikan vertrieben hat, schon an ihr Ohr gedrungen ist?
STIRNER UND MARIE IM CHOR
Welche schreckliche Nachricht?
DER LETZTE PAPST
Nun, die schreckliche Nachricht, dass der alte Gott, an den einst
alle Welt geglaubt hat, nicht mehr lebt.
STIRNER
Aber ich bitte Sie, das ist doch eine gute Nachricht, wenn nicht
sogar die schönste Nachricht, die mir je einer überbracht hat.
DER LETZTE PAPST
Für mich dagegen ist diese Nachricht eine Katastrophe, denn ich
diente diesem alten Gott bis zu seiner letzten Stunde. Nun aber bin
ich außer Dienst, ohne Beschäftigung. Was soll ich nur tun?
STIRNER
Das fragen Sie gerade mich? Wissen Sie denn nicht, dass ich die
Religion der schärfsten Kritik unterzogen habe in meinem Hauptwerk
"DER EINZIGE UND SEIN EIGENTUM"?
DER LETZTE PAPST
Doch, natürlich weiß ich das. Deswegen bin ich ja hier, denn ich
suche den Frömmsten all derer, die nicht an Gott glauben, und das
sind Sie!
STIRNER SPRINGT AUS DEM BETT UND BEGINNT DEN PAPST ZU WÜRGEN, WÄHREND
ER SEINEN MONOLOG SPRICHT
Wir sind leider Sünder, genau das ist es, was mich an der Lehre der
Kirche so aufregt! Hat die Religion den Satz aufgestellt, wir sind
leider Sünder, so behaupte ich: Zum Glück sind wir vollkommen!
Denn wir sind jeden Augenblick alles, was wir sein können, und
brauchen niemals mehr zu sein. Da kein Mangel an uns haftet, so hat
auch die Sünde keinen Sinn. Zeigt mir doch noch einen Sünder in
der Welt, wenn es keiner mehr einem Höheren rechtzumachen braucht!
Von nun an brauche ich es nur mir rechtzumachen, also bin ich kein
Sünder,
wenn ich es mir selbst nicht recht mache, da ich in mir keinen
Heiligen verletze.
DEM PAPST GELINGT ES, SICH AUS STIRNERS GRIFF ZU BEFREIEN.
STIRNER
Das ist der pure Wahnsinn! Sie glauben im Ernst, dass ich fromm bin?
DER LETZTE PAPST
Ich glaube es nicht nur, sondern ich bin ganz sicher, mein lieber
Sohn. Ich bete täglich für Ihre Seele.
MARIE LACHT
MARIE
Hochwürden, das ist sehr nobel von Ihnen, doch wenn ich ehrlich
sein darf, dann würde uns in unserer miesen finanziellen Situation
eher eine Geldspende von Seiten der Kirche nützen.
DER LETZTE PAPST
Sind Sie auch dieser Meinung, Herr Stirner? Im Gegensatz zu Ihnen
sind wir Männer der heiligen Kirche keine Egoisten und
Materialisten. Ich lasse mich durch nichts davon abbringen, das
Richtige auch weiterhin zu tun. Ich werde Sie auch heute wieder in
meine Gebete miteinschließen. Gott liebt diejenigen besonders, die
sich weit von ihm entfernt haben, die Sünder wie Sie.
STIRNER, AUFBRAUSEND
Soll ich dagegen fromm sein, so muss ich es Gott recht machen, soll
ich menschlich handeln, so muss ich es dem Menschen rechtmachen,
d.h. der Idee des Menschen. Was die Religion den "Sünder"
nennt, das nennt die Moral den Egoisten. Der Egoist, vor dem die
Moralisten schaudern, ist genauso wie der Teufel ein Spuk: Er
existiert nur als Schreckgespenst im kranken Gehirn der
Autoritätssüchtigen.
DER LETZTE PAPST
Mein Sohn, Sie sprechen da hässliche Worte. Doch Gott verzeiht
Ihnen auch diesmal. Sie sind der gottlose Max Stirner und sind davon
überzeugt, dass niemand gottloser sein kann als Sie. Doch Sie täuschen
sich. Denn wer Gott am meisten liebte und besaß, der hat ihn auch
am meisten verloren. Sehen Sie, ich selber bin wohl von uns beiden
jetzt der Gottlosere!
STIRNER
Ich wusste gar nicht, dass Päpste auch Witze machen!
DAS THEATERSTÜCK WIRD ABGEBROCHEN
SZENE 14
MAN SIEHT BILDER, DIE NIETZSCHE DARSTELLEN - BILDER VON BÜCHERVERBRENNUNGEN
DER NAZIS
ERZÄHLER ABSCHLIESSEND
In Friedrich Nietzsches "Übermenschen" erblicken viele
eine Art "missratenen" Neffen des Stirner´schen "Einzigen".
Dies verhalf Stirner zu der zweifelhaften "Ehre", im
Nietzsche verehrenden und dabei wacker missverstehenden NS-Staat
nicht zu den Verfemten und Verbrannten geworfen worden zu sein.
SZENE 15
HISTORISCHE AUFNAHMEN BERLINS, ERLANGENS UND KÖNIGSBERGS, BESONDERS
VON DEN UNIVERSITÄTEN - DANN DAS HEUTIGE OSTBERLIN - STIRNER
SPAZIERT DURCH DAS HISTORISCHE BERLIN - BILDER VON HEGEL UND
SCHLEIERMACHER
ERZÄHLER
1826 neigte sich Max Stirners Jugendzeit in Bayreuth dem Ende zu. In
den folgenden Jahren sudierte Stirner in Berlin, Erlangen und Königsberg
Philosophie und Philologie, doch das Examen für das höhere Lehramt
machte er in Berlin. Zu seinen Lehrern gehörten der Philosoph Georg
Wilhelm Friedrich Hegel und der Theologe Friedrich Ernst Daniel
Schleiermacher.
Nach seinem Studienabschluss gelang es Stirner leider nicht, eine
staatliche Anstellung als Gymnsasiallehrer zu finden. Das Unglück
schien ihn auch in häuslichen Dingen zu verfolgen, denn eine Ehe,
die er 1837 eingegangen war, fand schon nach kurzer Zeit ein
tragisches Ende. Die Frau erlitt eine Frühgeburt und starb im
Kindbett.
SZENE 16
BILDER EINER MÄDCHENSCHULE AUS DEM 19. JAHRHUNDERT - MAN SIEHT
AUSGABEN DER "RHEINISCHEN ZEITUNG" UND DER "LEIPZIGER
ALLGEMEINEN ZEITUNG" AUS STIRNERS ZEIT
ERZÄHLER
Im Jahr 1839 nahm er schließlich eine Stelle an einer privaten
Berliner Mädchenschule an, wo er bis 1844 tätig war.
Daneben betätigte er sich auch journalistisch. Die "Rheinische
Zeitung" und die "Leipziger Allgemeine Zeitung" veröffentlichten
Beiträge aus seiner Feder.
SZENE 17
BILDER VON DER REVOLUTION IN BERLIN - MAX STIRNER UND MARIE DÄHNHARDT
SPAZIEREN ARM IN ARM DURCH OSTBERLIN - BILDER VON EINEM
MILCHVERTRIEB UM 1840 - MARIE FÜLLT MILCH IN FLASCHEN, WÄHREND
STIRNER DANEBEN SITZT UND LIEST - STIRNER SITZT EINSAM VOR EINEM
AUFGESCHLAGENEN BUCH - MARIE REIST NACH ENGLAND
ERZÄHLER
Kurz vor Erscheinen des "Einzigen" gab Stirner seine
Lehrerstelle auf, vermutlich weil er staatliche Sanktionen gegen
sich befürchtete, die entweder seine Verhaftung oder seine Kündigung
zur Folge hätten haben können. Das Werk hatte keinen großen
Erfolg, denn die Revolutionsunruhen hatten auch Berlin erreicht und
lenkten das öffentliche Interesse in andere Bahnen. Auch finanziell
stellte es sich als Misserfolg heraus.
Ein neues Arbeitsfeld versuchen sich Max Stirner und seine zweite
Frau Marie Dähnhardt, die er im Kreis der "Freien" kennen
gelernt und 1843 geheiratet hatte, zu erschließen, indem sie einen
Milchvertrieb für Berlin aufzubauen begannen. Doch das mangelhaft
organisierte Unternehmen der beiden als Geschäftsleute wohl allzu
unbedarften "Schöngeister" scheiterte und verschlang
vollends das beachtliche Vermögen, das Marie Dähnhardt als Mitgift
in die Ehe gebracht hatte. Nicht lange darauf, im April 1846,
zerbrach die Ehe.
Stirners finanzielle Schwierigkeiten wuchsen.
Stirners Leben wurde immer trüber. Vereinsamt musste er von Wohnung
zu Wohnung flüchten, immer darauf bedacht, sich einer Schar von Gläubigern
zu entziehen.
Und selbst die Schuldhaft blieb ihm nicht erspart.
SZENE 18
MAN SIEHT DEN SOPHIENFRIEDHOF IN BERLIN - STIRNER STEHT AN SEINEM
GRAB - GRABPLATTE - DIE STIRNERKARIKATUREN VON FRIEDRICH ENGELS -
PHANTOMBILDER STIRNERS - ALTE FOTOS VON STIRNERS GRAB - BILDER
MACKAYS - SEINE STIRNERBIOGRAPHIE
ERZÄHLER
Am 25. Juni 1856 starb Max Stirner in Berlin im Alter von nur 50
Jahren an einer Blutvergiftung - Folge der unsachgemäßen
Behandlung eines Karbunkels, der seinerseits vermutlich durch einen
Insektenstich hervorgerufen worden war. Stirner, der ohne Nachkommen
geblieben war, wurde am 28. Juni 1856 auf dem Berliner
Sophienfriedhof in einem Armengrab beigesetzt. Sein Nachlass wurde
in alle Winde verstreut und muss größtenteils als verloren gelten.
Nicht einmal ein gutes Porträt ist überliefert; es existieren
lediglich zwei Karikaturen von Friedrich Engels, der Stirner im
Kreis der "Freien" persönlich kennen gelernt hatte, sowie
spätere "Phantombilder" an Hand verbaler Beschreibungen
Stirners. Die bis heute maßgebliche Biographie Stirners verfasste
der Schriftsteller und individualistisch-anarchistische
Programmatiker John Henry Mackay in fünfundzwanzigjähriger Arbeit.
Er ließ 1892 auch eine Grabplatte setzen.
SZENE 19
STADTPLAN VON BAYREUTH - MAX-STIRNER-STRASSE - STIRNER SPAZIERT IN
DER MAX-STIRNER-STRASSE
ERZÄHLER
Damit wären wir also am Ende unserer Spurensuche. Doch halt! Es
soll hier nicht unerwähnt bleiben, dass die Stadt Bayreuth ihren
"verlorenen Sohn" sogar einer eigenen Straße für würdig
erachtete. Wer auf dem Stadtplan fleißig sucht, findet das
Sträßchen
im Süden der Stadt. Diese Max-Stirner-Straße ist dabei genau
genommen ein "Abfallprodukt" der "Bewältigung
unserer jüngsten Geschichte". Etliche Siedlungen an der
Bayreuther Peripherie waren nämlich während des Dritten Reiches
angelegt worden und hatten dem Zeitgeist entsprechende Straßennamen
erhalten: zumeist Reminiszenzen an irgendwelche in der "Kampfzeit"
der NSDAP gefallene oder sich sonstwie profiliert habende "Helden
der Bewegung", für die wohl nur allzuoft ein ordentliches
Denkmal zu teuer gekommen wäre, oder an allerlei "ruhmreiche"
Schlachten. Nach 1945 mussten für alle diese Straßen natürlich
"unbelastete" Bezeichnungen her, und dem so entstandenen
"Namensnotstand" ist es wohl zu verdanken, dass erstmals
in der Bayreuther Geschichte ein - ehedem nach der Schlacht bei
Langemarck benanntes - Sträßchen für Max Stirner abfiel. Und wer
weiß - vielleicht wäre der stille, unauffällige und zurückgezogen
lebende Einzelgänger Stirner mit "seiner" ruhigen,
abgelegenen kleinen Straße in der Nähe einer Parkanlage sogar ganz
zufrieden.
SZENE 20
STIRNER (DER TEXT LÄUFT ZUM MITLESEN ÜBER DEN BILDSCHIRM)
ERZÄHLER
Stirner beendet sein Hauptwerk "DER EINZIGE UND SEIN EIGENTUM"
mit folgenden Worten:
Man sagt von Gott: "Namen nennen dich nicht". Das gilt von
mir: kein Begriff drückt mich aus, nichts, was man als mein Wesen
angibt, erschöpft mich; es sind nur Namen.
SZENE 21
EIN ZUSAMMENSCHNITT VON DEN WICHTIGSTEN AUFNAHMEN DES FILMS
ERZÄHLER
Mit diesen Worten nehmen wir Abschied von Max Stirner, dem
kompromisslosen Annullierer jeder Art von Wahn und fixen Ideen, von
Heiligkeit, Moral und Ideologien. Kurt Tucholsky schrieb einmal:
"Man besucht ja nur sich selbst, wenn man zu den Toten geht."
An Max Stirner wird er dabei wohl nicht gedacht haben - aber genau
dies ist das Leitwort, unter dem jedes Wandeln auf Stirners Spuren
stehen muss.
ENDE
Der Film
basiert auf:
Paul Jordens: Der Einzige und seine Heimatstadt. Max Stimers
Bayreuth - und was davon geblieben ist. Verlag Max-Stirner-Archiv
Leipzig 2004
John Henry Mackay: Max Stirner. Sein Leben und sein Werk,
Mackay-Gesellschaft, Freiburg/Br., 1977
Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und
keinen. Vierter und letzter Teil. Außer Dienst
Copyright
© 2005 Sabine Scholz
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