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Maries Briefe 

Der 7. Brief aus London

Eine Conversation-party. - Ein Chartist (1)

Mitte September war ich in einer Art von Privat-Meeting, Conversation-party genannt. Diese Gesellschaft hat sich dadurch einen gewissen Namen gemacht, dass ihr Stifter, früher Prediger der englischen Kirche, zur Secte der Unitarier, die man etwa mit unseren deutschen Nationalisten vergleichen kann, übergetreten ist. Die Tendenz jener Party ist, wie der Zusatz Conversation bezeichnet, Unterhaltung, aber ästhetische. Sie versammelt sich alle Monate einmal, wo dann diejenigen ihrer Mitglieder, die einiges Rednertalent zu haben glauben, von den minder redekundigen ein Wort oder einen Satz bekommen, um in der nächsten Conferenz darüber zu sprechen. Da mir’s nicht möglich war, gleich beim Beginne der Versammlung um sieben Uhr Abends zugegen zu sein, und ich erst gegen 11 Uhr in den „Salon“ (ein Stübchen würden wir Deutsche das Ding nennen) eintrat, so hatte ich vieles versäumt.Inmitten meiner tiefen Verbeugung fasste mich ein Gentleman ziemlich unsanft beim Arme, bedeutete mir Schweigen und zog mich auf einen Stuhl. Die Ursache erkannte ich bald: es saß in der Mitte des Salons ein Herr mit einem Blatte in der Hand, von dem er etwas ablas; es war der Prediger und ich hatte das Unglück gehabt, die Predigt zu hören. „Er ist gleich fertig,“ flüsterte die liebenswürdige Gastgeberin mir zu, indem sie mir einen würdigeren Platz neben einer grauen Matrone anwies. Die Graue aber, wahrscheinlich voll gerechten Unwillens über meine Störung, drehte mir den Rücken zu und so blieb ich unter, wie gewöhnlich bei solchen Gelegenheiten, nur auf mich gerichteten Blicken sitzen, bis ich das erlösende Amen hörte. Abermalige Wechselung des Platzes: ich ward in das offenstehende Cabinet zu der Jugend spedirt. Der Priester hatte über Edward Jerrold, den schwarzen Gentleman, über den ich Dir ein andermal schreiben werde, gesprochen und ich hatte den Rest davon genossen. Nach ihm nahm eine Dame den Rednerstuhl ein, der wahrscheinlich das Wort Bull als Thema gegeben worden war; denn sie erzählte ein Kindergeschichtchen von dem Zusammentreffen eines Mädchens mit einem Bullen. Damit hatte sie den Geschmack der Gesellschaft getroffen und erntete großen Beifall. Es folgte ein Herr, der sich über das Abenteuerliche ausließ und die Furcht aussprach, dass die schnelle Beförderung auf Eisenbahnen und Dampfschiffen alle Abenteuer verdrängen müsse, wobei er indeß vergaß, dass die Coupees und mitunter auch die Stationen, wo man gerade wegen der „schnellen Beförderung“ unerwartet und unfreiwillig sitzen bleibt, ein wahres Wunderland für ritterliche Abenteuer sind. Den Redner über Abenteuer löste eine Erquickung durch Kaffee und Thee ab. Es war Mitternacht; aber Kaffee, so schlecht er auch ist, gilt hier für eine Delicatesse, die man, wie bei uns den Wein, zu jeder Zeit genießen kann. Das Schreckliche war der Schluß: eine musikalische Unterhaltung. Den ganzen Abend über war mir ein Herr aufgefallen, der, obwohl Engländer, durch ein nicht recht englisches Aeußere hervorstach und bei der Musik vor Entzücken fast zerschmolz. Gegen das Ende der Versammlung trat er zu mir heran und bot mir und meiner englischen Gesellschafterin, die sich allerdings fürchten mochte, mit mir allein in später Nacht eine gute Stunde Weges zurückzulegen, seine Begleitung an. Das Anerbieten ist so wenig englisch, dass ich mir sogleich dachte, es müsse seine besondere Bedeutung haben. Wir waren auch kaum einige Schritte auf der Straße gegangen, als der Gute mit nicht zu verkennenden proselytischen Absichten hervorrückte. Dennoch wurde mir’s anfänglich schwer, aus seinen Aeußerungen seine Religion zu erkennen oder die Secte zu errathen, der er angehörte. Plötzlich jedoch ging mir ein Licht auf und ich rief unwillkürlich aus: „Jetzt hab ich’s, Sie sind ein Chartist!“ Seine Antwort war jenes entzückte Lächeln, womit er der Musik zugehört hatte. Er meinte, ich sei wohl nicht weit davon entfernt, sagte aber weder Ja noch Nein.Die Chartisten oder vielmehr der Name „Chartist“(denn die meisten gebildeten Leute kennen weiter nichts von ihnen als den Namen) sind hier so anrüchig, dass es schon gewagt ist, von ihnen Näheres zu wissen, und so hatte ich neben meiner Begleiterin nicht recht das Herz, ihn scharf auszufragen. Seine Ansichten, die er fließend aussprach, hatten etwas Fasettiges (2) und Gehaltloses; immerhin aber überrascht es, einen Engländer ganz frei und offen Ansichten äußern zu hören: denn in der Regel, glaube ich, hat er gar keine Ansichten, und wenn er welche hat, so hält er damit zurück. In der Gesellschaft, aus der wir eben kamen, wußte man sicherlich von diesem Manne nicht, dass er Chartist sei, denn sie hält eifersüchtig auf ihren guten Ruf, wie die Unitarier überhaupt sich der strengsten Sittenreinheit befleißigen und auf ihre reine Moralität noch mehr Gewicht legen, als darauf, dass sie die „wahrhaft Aufgeklärten“ sind, und dass selbst die Königin, die doch von Amtes wegen die reinste Anglikanerin sein muß, ihre Bücher und Predigten lesen soll.Unser Chartist ließ sich auf unserem Heimwege ungefähr so aus: „Ich und wir alle sind die Kinder eines allmächtigen, allweisen, überschwänglich gütigen Vaters, der uns in die Welt gesetzt und mit Millionen von Wohlthaten überhäuft hat. Aber wir sind nicht dankbar genug gegen ein solches Uebermaß von Wohlthaten und Güte; wir sind nicht dankbar, weil wir durch unsere Erziehung, die uns diese Wohlthaten nicht genießen und würdigen lässt, verdorben sind. Wir können keinen Verbrecher, keinen Atheisten, keinen Jesuiten, Niemanden verdammen; sie sind alle nur Produkte ihrer schlechten Erziehung. Laßt uns uns selbst und die Welt durch Liebe, durch Menschen-, durch Bruderliebe reformiren! Gott der Allmächtige ist die Liebe, er regiert durch Liebe, seine Welt ist ein Wunderwerk der Liebe: und wir, seine Kinder, sollten nicht wieder durch Liebe regieren und leben? Wir sind die Priester und Könige! Jesus Christus hat uns nach Offenbarung 1,6. zu Königen und Priestern gemacht. Wir brauchen keine andere Macht, als die Macht der großen Liebe über uns; alles Uebrige ist unnatürlich. Wir werden aber die Zeit erleben, wo die Mächtigen fallen und wo jedes Individuum durch Liebe herrscht und beherrscht wird. Ich, des allmächtigen, gütigen Gottes Kind, will diese Wohlthat des himmlischen Vaters genießen; denn er wird uns den Besitz der Welt schenken; und das Mittel zu diesem Besitze ist die Liebe. Ihr Frauen könntet die Welt reformiren, durch Menschenliebe, aber ihr seid gleich den Männern feige Memmen! Keiner will den Anfang machen, keiner will zuerst vorwärts, und so ereilt uns der Tod, ehe wir unsere Lebensaufgabe, die Menschenliebe, gelöst haben!“ In dieser Weise radotirte (3) er eine Stunde fort. „Oh, Sie müssten unseren Prediger hören!“ sagte nun die Miß. (Dieser Prediger hat nämlich in seinem Viertel einen über alle Beschreibung gehenden Ruf unter der Damenwelt; er ist jung, unbeweibt und predigt - zum Entzücken.) „Ich gehe niemals in eine Kirche,“ versetzte der Chartist mit determinirtem Ernste. „Ihr Prediger kann Ihnen nichts Besseres sagen, als was ich eben jetzt gesagt habe!“Die Miß schwieg; ein nicht in die Kirche gehender Engländer, das war zu viel.


Quelle: Nr. 280, Berliner Zeitungs-Halle. Montag, den 29. November. 1847. p. 3.

1 Chartisten” ist abgeleitet von dem englischen Wort “charte”. Es ging diesen Vorläufern der sogenannten modernen Arbeiterbewegung darum, daß bestimmte Rechte der ArbeiterInnen in der Verfassung der englischen Gesellschaft festgeschrieben werden sollten. Dafür wurde viel und lange und mit sehr großem Anhang in der arbeitenden Bevölkerung demonstriert (mit welchem Erfolg, weiß ich jetzt nicht mehr). Die Führer dieser Bewegung waren großen Drangsalierungen seitens des Staates ausgeliefert, kamen ins Gefängnis usw. Marx und Engels z. B. hatten Kontakt zu einigen dieser Führer. Letztere versuchten sie, zu ihrer neuen Lehre (dem Marxismus) hinüberzuziehen. Inwieweit es ihnen gelang, entzieht sich jetzt meiner Kenntnis. Man kann m. E. die Chartistenbewegung als einen Vorläufer des gewaltlosen Widerstandes bezeichnen. Wie in einem bürgerlichen Politik-Buch geschrieben steht: sie entwickelte neue, bis dahin völlig unbekannte Formen der Solidarität. Die Massenaufmärsche werden hier bezeichnet als Ansatz und Form proletarischer Öffentlichkeit.
2 fasettig (“seine Ansichten.... hatten etwas Fasettiges und Gehaltloses”) fasettig - ich würde es in Verbindung bringen wollen mit “facettenartig”; die Schreibweise ist fast identisch; der Inhalt paßt in den Text-Zusammenhang. (Bei solchen Texten muß immer mitgedacht werden, daß entweder der Autor/die Autorin das eine oder das andere Wort nicht richtig geschrieben hat oder das beim Abdruck ein Setzfehler gemacht wurde.
3 “radotiren” (“in dieser Weise radotirte er eine Stunde fort”) Dies Wort kommt von “Radotage” und bedeutet: leeres Geschwätz, (dreiste) Faselei. Im 19. Jahrhundert wurde bei solchen Verben u. a. das “e” weggelassen. Heute schreiben wir: radotieren.




 

 

 

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