POLITSEKTEN 3
Wir waren die stärksten der Parteien
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Eine kleine Auswahl der Kritik:

Beschlußdemokratie, Versammlungskommunismus und ein Bad im vereisten Grunewaldsee - Bericht einer Gruppe aus der KHG

Für die Partei des Proletariats an der Uni - Selbstbefragung eines umerzogenen Intellektuellen

Der Parteibeamte

Frühe Unordnung und spätes Leid - Ein Antiautoritärer aus der Provinz wird "Parteikader"


Vorwort


Nach dem Scheitern der kurzatmigen APO-Strategien entsprang aus der revolutionären Ungeduld der Studentenbewegung die trügerische Hoffnung, eine revolutionäre Arbeiterbewegung sozusagen von außen entfachen zu können. Der Avantgarde Anspruch der APO, der sich immerhin noch an der Mobilisierung von konkreten Interessen gemessen hatte versteinerte im Augenblick seines Scheiterns zu den Stellvertreter-Ritualen der "marxistisch-leninistischen" Vorhutparteien (oder K-Gruppen, wie sie in der Linken abgekürzt tituliert werden).

Die meisten derjenigen Genossinnen und Genossen, die am Ende der Studentenbewegung in die neuen Parteien und Zirkel geströmt sind, haben heute diesen Organisationen den Rücken gekehrt. Die anfängliche Euphorie, nun endlich "das todsichere Rezept" zur Gesellschaftsveränderung gefunden zu haben, erwies sich als frommer Wunsch und der hektische Aufbruch der vielen endete oft im Katzenjammer der einzelnen. Wer nach zwei, drei, vier oder auch sieben Jahren politischer Tätigkeit "absprang", hatte nicht selten mit massiven psychischen Konflikten, persönlicher Ratlosigkeit, Resignation und Zweifel über Sinn und Zweck politischer Arbeit überhaupt zu kämpfen.

Doch ganz im Gegensatz zum propagandistischen Getöse der K-Gruppen drangen die Erfahrungen der ehemaligen Mitglieder nicht an die Öffentlichkeit, waren nicht Bestandteil des politischen Lernprozesses innerhalb der Linken.

Ganz im Gegenteil: Durch das Erlebnis, mit seiner ganzen Existenz in eine politische Sackgasse geraten zu sein, fühlten sich viele als Opfer einer Vergangenheit, die sie verdrängten wie der Oberlehrer den Unterleib: darüber spricht man nicht - höchstens am Biertisch und dann in Zoten.

Mit diesem Buch wollen wir solch doppelbödige Sprachlosigkeit durchbrechen. Unsere Auseinandersetzung mit den K-Gruppen hat aber nichts zu tun mit der ritualisierten Form irgendeiner "Linien"-Kritik: dies wäre vergeblich Liebesmüh angesichts der schon vorliegenden Kritiken dieser Art und der fortwährenden und kaum mehr registrierbaren Linienkorrekturen und politischen Wendungen der betreffenden Sekten.

Unsere Absicht ist auch nicht Denunziation - denn unsere Vergangenheit, die ein Stück von uns selbst ist, überwinden wir nicht mit Weißwäschermethoden oder Dreckschleuderei. Damit ist weder denen geholfen, die sich in diesen Sekten noch immer mit denselben Problemen herumschlagen, die auch wir am eigenen Leib und im eigenen Kopf erlebt haben. Noch denen, die inzwischen jede politische Orientierung verloren haben.

Wir wollen mit unseren Beiträgen über unsere politische Vergangenheit aus subjektiver Sicht berichten, über das, was wir waren, wie wir es geworden sind und was zu kritisieren wir auch heute für wichtig halten. Unsere Vergangenheitsbewältigung ist nicht unser Privatproblem, sondern Teil der Kritik an jenem falschen Poltikverständnis, das auch heute noch in der Linken mächtig ist: Nicht nur, weil die K-Gruppen aus ihren Fehlern nichts gelernt haben, sondern vor allein, weil die gesellschaftlichen Grundlagen weiterbestehen, die solche Politikauffassung fördern. Der Kampf gegen Sektiererei, Stellvertretermentalität, Diskriminierung von Frauen, Schwulen u. a., Mißachtung konkreter Bedürfnisse usw. wird auch weiterhin eine aktuelle politische Aufgabe der Linken bleiben.

Konkreter Anlaß für dieses Buch waren Tonbandaufzeichnungen von Gesprächen, die Freunde des Verlages mit einem ehemaligen "Kader-Gymnasiasten" geführt hatten. Nachdem Kontakte mit anderen ehemaligen Mitgliedern von K-Gruppen aufgenommen waren, entstand eine Arbeitsgruppe von Autoren und Verlagsmitgliedern, die dieses Buch und die individuellen Beiträge inhaltlich und formal (Erfahrungsbericht, Interviews usw.) konzipiert und auch gemeinsam diskutiert, bearbeitet und zusammengestellt haben.

Das Interview mit dem Kader-Schüler steht auch am Anfang dieses Bandes, weg aus ihm beängstigend deutlich wird, wie tief Persönliche Erfahrungen in solchen Organisationen auch nach der Trennung fortwirken und das Handeln, Denken und Empfinden der ehemaligen Mitglieder bestimmen. In krasser Form macht dieses Interview deutlich, wie verhängnisvoll die Linke vor ihren schlichtesten Ansprüchen versagt, wenn sie nicht einmal versucht, diese "psychischen Kosten" der ML-Bewegung sichtbar zu machen und die daraus entstehenden Probleme wenigstens ansatzweise zu bewältigen.

Was uns an diesem Beispiel deutlich wurde, war Teil eines Lernprozesses während des gesamten Projekts. Erst durch unsere gemeinsame Arbeit wurde uns klar, daß wir seit unserem Absprung aus diesen Politischen Organisationen ungeheuer viel aus unserem Bewußtsein verdrängt haben, was wir erst jetzt richtig wahrnehmen und problematisieren können.

Auch stellten wir uns immer wieder die Frage, ob das, was wir zu berichten haben, nicht durch unser heutiges politisches Verständnis überlagert wird. Vieles von dem, was wir im Rahmen der K-Gruppen gemacht haben, erscheint uns heute selbst als fremd und unverständlich. Daß wir uns inmitten einer so kunstvoll wie künstlich aufgebauten Organisationswelt eingerichtet hatten, und daß diese Kunstwelt uns nicht nur eine illusionäre Wahrnehmung der "Außenwelt" - der gesellschaftlichen Realität - vermittelt, sondern uns auch eine ebenso künstliche Identität übergestülpt hat: dies haben wir erst heute voll begriffen.

Der Ausbruch aus der "Welt" der K-Gruppen war also zugleich ein mühsamer Prozeß von Identitätszerstörung und Identitätsfindung, der in unserem eigenen Bewußtsein viele Brüche und Verzerrungen hinterlassen hat, der aber vor allem ein befreiender Lernprozeß war, bei dem viel überflüssiges Gerümpel auf der Strecke blieb.

Wir haben jedenfalls die Erfahrung gemacht, daß wir erst über einen kritischen Nachvollzug unserer eigenen Entwicklung herausfinden konnten, was für ein verstümmeltes und realitätsfernes Verständnis von Politik wir entwickelt und praktiziert haben. Diese Erkenntnis hat es uns ermöglicht, nach und trotz unserer Vergangenheit wieder politisch aktiv zu werden. Vielleicht helfen unsere Erfahrungen anderen.

Daß sich die in diesem Buch zusammengefaßten Berichte weitgehend auf die KPD und ihre Unterorganisationen bzw. auf den KBW beziehen, ist mehr oder weniger zufällig. Wir sind ziemlich sicher, daß wir mit diesen Erfahrungsberichten (die fast alle aus umfangreicheren Manuskripten und Interviews herausdestilliert wurden) ein Bild vermitteln, das für das ganze Spektrum dieser Organisationen gültig ist. Auch sollte man die in den einzelnen Beiträgen beschriebenen Momente politischen Realitätsverlustes, die die subjektiven und objektiven Bedingungen sektiererischer Politik am konkreten Beispiel verdeutlichen, keinesfalls nur auf die verschiedenen K-Gruppen verrechnen. Wir zumindest entdecken ähnliche Züge auch noch bei unserer heutigen Tätigkeit außerhalb der K-Gruppen. Die Überwindung von Sektierertum bleibt in einer gesellschaftlich noch immer relativ isolierten Linken eine permanente Aufgabe.

Wir sind übereingekommen, unsere Beiträge als anonymes Antorenkollektiv zu veröffentlichen. Um die Identifizierung von Personen zu verhindern, wurden bestimmte Details bewußt unscharf gehalten oder verändert. Man kann allerdings davon ausgehen, daß die Spitzel der politischen Polizei ohnehin weit besser über interne Vorgänge in den K-Gruppen Bescheid wissen als deren einfache Mitglieder.

Unsere Autorenhonorare stellen wir für politische Zwecke, insbesondere dem Aktionskomitee gegen Berufsverbote an der FU Berlin zur Verfügung.

Berlin, Juli 1977

Quelle: anonym: Wir warn die stärkste der Partein..., S. 5, Rotbuch Verlag Berlin 1977


Beschlußdemokratie, Versammlungskommunismus und ein Bad im vereisten Grunewaldsee - Bericht einer Gruppe aus der KHG

Eintritt

Wir lernten uns in einem Schulungskurs der KHG kennen. In diesem Schulungskurs sollten an einer Mitarbeit in der Organisation interessierten Leuten die Grundprinzipien und wichtigsten theoretischen Vorstellungen des KBW und der KHG beigebracht werden. Wir merkten bald, daß wir eine ähnliche Vergangenheit, ähnliche Ansprüche an die Schulung und die Organisation hatten und ähnliche Vorstellungen darüber, was wir im KBW machen wollten.

Dies ergab sich aus der Tatsache, daß wir 1967/68 die erste Phase unserer Politisierung in der Schüler- und Studentenbewegung erlebt hatten und vor dem Eintritt in die KHG alle schon einmal Mitglieder anderer ML-Gruppen waren. Wir kannten die theoretischen Publikationen der KBW-Vorläufer und fanden die Bestrebungen unterstützenswert, daß sich linke Gruppen mit ähnlichen Vorstellungen einigen wollten, ohne gleich mit dem Anspruch aufzutreten, die Partei zu sein.

Die Sammlungsbewegung für eine später eventuell zu gründende kommunistische Partei schien eine offene Diskussion politischer Anschauungen zu garantieren und auch die Möglichkeit, eigene Vorstellungen einzubringen und umzusetzen. Besonders die damals in vielen KBW/NRF-Veröffentlichungen geäußerten Ideen und Prinzipien wie: Förderung der Selbständigkeit der Unterdrückten und Ausgebeuteten, ihre Interessen wahrzunehmen, Eintreten für die Selbstverwaltung der gesellschaftlichen Institutionen und Basisdemokratie, Erstreben gemeinsamer Aktionen mit allen fortschrittlichen Kräften und die noch offene Diskussion ob Kader- oder Massenpartei ließen uns hoffen, daß eine vernünftige Organisation entstehen könnte.

Wir fühlten uns bald als Gruppe mit politischen Ansichten und Vorhaben, die wir gegen die schon etablierten Meinungen und Praktiken in der Organisation durchsetzen wollten. Dies hielten wir für möglich, weil diese gerade erst ihren Formierungsprozess begonnen hatte. Allein, als Einzelner wäre wohl keiner von uns eingetreten. Wie wenig isolierte Kritik auszurichten vermochte, wußten wir aus den Erfahrungen in anderen Organisationen. Als Gruppe von Leuten, die sich gegenseitig unterstützen konnten, hofften wir genügend stark zu sein, um entweder bestimmte Positionen mit Erfolg zu vertreten oder falls es schiefgehen sollte, den Absprung ohne große persönliche Verluste zu schaffen. - Neben den drei Verfassern dieses Berichtes machten noch vier andere Typen in der Schulungsgruppe mit. Von diesen sieben sind sechs nach etwa 1 1/2-jähriger Mitgliedschaft wieder aus der KHG ausgetreten.

Obwohl wir uns beim Eintritt in die KHG als Gruppe gefühlt und verhalten haben, durchliefen wir den Prozess der teilweisen Identifikation mit dem KBW wie auch die zunehmende Entfremdung und Ablösung weitgehend individuell. Das zeigt sich am augenscheinlichsten daran, daß wir, trotz häufigen gemeinsamen Diskussionen, ob's noch einen Sinn hätte in der KHG zu bleiben und wenn ja, unter welchen Bedingungen, schließlich individuell ausgetreten sind. Deshalb sind im weiteren oft persönliche Erlebnisse und Reflektionen nebeneinandergestellt, die jeder für sich machte, die wir aber für symptomatisch für unsere gemeinsame Situation halten.

Wir hatten von Anfang an zum KBW ein kritisches, mehr praktisch-instrumentales Verhältnis. Dennoch ist es interessant im Nachhinein festzustellen, wie weit wir von der Organisation vereinnahmt worden sind, wie weit wir trotz kritischer Distanz ein Stück Identifikation entwickelt und ihre Verhaltensvorschriften übernommen haben. Sonst hätten wir kaum Sachen mitgemacht , die uns heute unsinnig erscheinen, weil sie schlicht uneffektiv und nutzlos sind für die Entwicklung einer sozialistischen Bewegung.

Vielleicht scheint unser Optimismus, mit dem wir in die KHG eintraten, nicht recht verständlich. Zumal als von ML-Erfahrungen gebrannte Kinder hätten wir eigentlich wissen müssen, daß... Wir wußten nicht.

Zwar hatten wir Zweifel, ob der KBW/KHG nicht doch nur wieder eine Sekte wie gehabt werden würde. Diskussionen mit Mitgliedern bestärkten unsere Zweifel. Auch im Programm fanden wir schon einige dogmatische Sprüche und irrige Forderungen enthalten, aber im großen Ganzen stimmte es mit unserer Vorstellung von Marxismus-Leninismus überein.

Einige von uns warfen zwar die Frage auf, ob es überhaupt Sinn hätte, der KHG beizutreten. Ein Teil war entschieden gegen einen Eintritt. Der andere Teil argumentierte, wenn unsere Kritik ernsthaft und konstruktiv sein will, müssen wir auch ändernd eingreifen, was uns nur der Mitgliederstatus mit allen Rechten und Pflichten ermöglichte.

An diesem Punkt gab es auch die ersten Auseinandersetzungen zwischen uns und der Organisation. Wir wollten für die ganze Organisation den Kandidatenstatus abgeschafft sehen, da wir schon erlebt hatten, wie Kooptations- und Selektionsmechanismen dazu beitrugen, aus einer politischen Gruppe eine abgeschlossene Sekte werden zu lassen. Daß wir uns mit dieser Forderung - vorübergehend - durchsetzten, bestätigte unsere Hoffnungen, es würde möglich sein, in der KHG andere Meinungen als die etablierten zu vertreten und auch durchzusetzen.

Der zwangsläufig wirkenden Tendenz der Organisation, unser praktisches Handeln wie unser politisches Denken mehr und mehr auch gegen unsere ursprünglichen Absichten zu vereinnahmen und zu deformieren, kam dabei zugute, daß wir allenfalls eine eigene idealistische ML-Konzeption entwickelt hatten, die mit Vorstellungen durchdrungen war, die wir in ganz anderen Bereichen politischer Theorie und Praxis gewonnen hatten. So hielten wir uns in dem neuen Bereich an die uns vorgesetzten Doktrinen und versuchten zunächst nur, in unserem Sinne an ihnen rumzubasteln. Erst im Ablösungsprozeß von der Organisation, worunter wir auch den gedanklichen Auflösungsprozeß verstehen, der uns zwei Jahre dort mitarbeiten ließ, wurde uns die zentrale Bedeutung der Befangenheit in Vorstellungen klar, die zu einer allein seligmachenden Welterklärung zusammengekittet wurden.

Im folgenden wollen wir einige Stationen des fortschreitenden Prozesses der Vereinnahmung von Denken und Handeln der Mitglieder durch die Organisation schildern.

KVZ-Verkauf

Die KVZ (Kommunistische Volkszeitung) ist das Zentralorgan des KBW. Sie hat in der Vereinigung der regionalen Zirkel und Gruppen zum KBW eine wichtige Rolle gespielt. Heute ist der KVZ-Verkauf zum Hauptinstrument der politischen Arbeit geworden, mit dem erklärten Ziel, die reformistisch orientierte Arbeiterklasse durch Agitation und Propaganda für den Kommunismus zu gewinnen. Studenten sollen durch den KVZ-Verkauf in unmittelbaren Kontakt zu den Volksmassen treten und auf diesem Wege in die Volkskämpfe mit einbezogen werden.

Wir verkauften wöchentlich einmal im Stadtteil und einmal vor einem Betrieb, in dem eine Betriebszelle des KBW arbeiten sollte, die unsere Grundeinheit zu unterstützen hatte. Die Notwendigkeit des Verkaufs der Zeitung war klar. KVZ, Zentralorgan, Propagierung der richtigen Ansicht,Vorschläge für den konsequenten Kampf um Forderungen, die Ausdruck der objektiven Interessen der Arbeiterklasse und des Volkes sind usw. usw. Aus der Sicht des einzelnen KVZ-Verkäufers sieht das aber so aus, wie es einer von uns aus eigener Erfahrung schildert:

So stand ich also um 5.30 Uhr vor dem Betrieb. Nicht direkt davor, die Arbeiter und Angestellten sollten ja nicht beim Kauf vom Pförtner gesehen werden. Also stand ich ungefähr auf der Mitte zwischen Betrieb und Bahnhof. Im Hinterkopf das letzte Verkäufertruppgespräch, auf dem nochmals die entscheidende Bedeutung der Aufklärung über diese und jene Maßnahme des bürgerlichen Staatsapparats, die Betrugsmanöver der DGB-Bonzen und ähnliches betont worden war. Auch, daß man offensiv auftreten müsse, kühn voranschreiten, vor allem nicht nuscheln, wenn man die Parolen ruft. Die 10 Zeitungen auf dem Unterarm mit der Hand von unten umfassend, mit der anderen nochmals zurecht gestaucht, damit der Kopf der Zeitung und vielleicht noch die Hauptüberschrift gut erkennbar ist. Trotzdem dieses ungeheuer flaue Gefühl im Magen.

Und schon sah ich eine Gruppe Menschen auf mich zu kommen. Ich bemerkte gar nicht mehr die morgendliche Kühle, die Spannung stieg. Meine Gedanken waren schon weiter: Was soll ich antworten, wenn einer der Arbeiter/innen oder Angestellten mich anspricht? Wie werde ich es angehen, beim ersten Zeitungskauf die Käufer noch auf wichtige Artikel und ihre Bedeutung hinzuweisen? In Gedanken legte ich mir schon zurecht, wie ich die Käufer/innen zu unseren Lesertreffs einladen würde. War die Gruppe noch 8 - 5 m von mir entfernt, erhob ich meine Stimme zum Ausrufen der Parolen. Der entscheidende Augenblick war gekommen.

Es ist schwer vorstellbar, wie schnell 20 - 30 Menschen an einem vorüber sind, wenn sie frühmorgens zur Arbeit gehen. Die an mir Vorbeirasenden dürften vielleicht zwei Worte, wenn überhaupt irgendwas von meiner Parole mitbekommen haben. Nachdem ich mir nach den ersten Malen noch den Kopf zerbrach: sollte ich mich besser placieren?, früher mit dem Ausrufen beginnen?, kurze Strecken mitlaufen?, kam ich doch schnell auf die Idee, daß es an etwas anderem liegen muß, als daß man es mit einem technischen Herangehen lösen könnte. Was ich da rief und anbot waren nicht ihre Probleme, es waren nicht die Angelegenheiten, die sie beschäftigten. Bald war ich mir der Sinnlosigkeit eines solchen Vorhabens voll bewußt. Doch ich ging immer wieder hin. Manchmal als einziger, weil gerade diejenigen, die in der Grundeinheit für mehrmaliges Verkaufen in der Woche plädiert hatten, von ihrer ideologischen Klarheit so besoffen waren, daß sie morgens verschliefen und nicht kamen.

Vielleicht kam bei mir noch ein romantischer Reiz hinzu. Die Bilder, die tief in meiner Erinnerung stecken, aus den russischen Revolutionsfilmen, die ich als Schüler statt Hausaufgaben zu machen immer um 13.30 im DDR-Fernsehen gesehen hatte. Der aufrechte Bolschewik, der in aller Herrgottsfrühe die illegal gedruckten Flugblätter verteilt. Es kostet jedesmal neue Überwindung, aber wenn ich von der Frage nach irgendeinem Sinn meines Tuns absah, blieb immer noch ein Gefühl der Selbstbestätigung, ein bißchen über den eigenen Schatten gesprungen zu sein, seinem den anderen vorgehaltenen Anspruch selbst entsprochen zu haben. Im Nachhinein ist mir natürlich klar, daß ich genausogut im Winter im Grunewaldsee baden gehen könnte. Auf dieser Ebene etwa liegt ein solcher Akt der Selbstüberwindung.

Am Tag darauf hatten wir immer Verkäufertruppbesprechung. Ab und zu mit einem Mitglied der Betriebszelle. In unserem Falle war es immer die gleiche Genossin, da unsere Betriebszelle wohl nur ein Mitglied hatte - aber richtig durchgestiegen sind wir da nie, denn die Politik der Betriebszelle wurde uns nur andeutungsweise oder gar nicht erklärt. Einer nackten Frau kann man auch nicht in die Tasche fassen. Bei solchen Sitzungen unterhielten wir uns ernsthaft zwei Stunden über die Strategie zur Steigerung des Verkaufs, oder besser gesagt: zur Aufnahme des Verkaufs. Denn die drei abgesetzten Exemplare waren Verkäufe an unmittelbare Sympathisanten, die sich die Zeitung auch woanders hätten holen können. Wurde einmal die Vergeblichkeit allen noch so offensiven Verkaufseinsatzes angesprochen, verwies die Anleitungsgenossin auf die zu verbessernde Betriebsarbeit der Zeile, dann würde sich auch der Verkauf vor dem Tor verbessern - als ob die Betriebsarbeit zur Erhöhung der Verkaufszahlen diente! Das letzte Argument blieb immer der Satz von der allgemeinen Notwendigkeit von Agitation und Propaganda und von der erforderlichen Präsens der Kommunisten an allen Orten.

Eine weitere Erklärung für mein rastloses Durchhalten war die empfundene Solidarität und Verpflichtung gegenüber den anderen Genossen/innen. Man übernahm Aufgaben und führte sie durch, weil man wußte, daß die anderen vielleicht genausowenig Lust hatten, oder genausowenig Sinn darin sahen und es trotzdem taten. Und da wir uns das nicht gegenseitig offen eingestanden, war der Weg der kollektiven Gegenwehr versperrt. So ging ich immer wieder hin, so sinnlos es auch war. Nur innerhalb des organisatorischen Zusammenhangs erhält es einen Sinn. Ein gutes Beispiel, wie im Laufe der Zeit die Eigenidentität durch die Identität mit der Organisation ersetzt wird, ja notwendig wird, um nicht an sich selbst zu verzweifeln. Das erschwert dem Einzelnen das Brechen mit der Organisation ganz ungemein, denn das bedeutet zunächst Identitätsverlust, das Eingeständnis, monate- oder jahrelang Sinnlosigkeiten betrieben zu haben.

Der Sprachcode

Eine wichtige Funktion bei der Abkapselung der Mitglieder de s KBW von der Umwelt, von Kontakten und Beziehungen mit anderen Menschen hatte die Organisationssprache. Man mußte eine bestimmte Sprache sprechen, gewisse Worte, Kürzel und Redewendungen benutzen. Der Sprachcode wurde oben festgelegt - die zentralen Publikationen (Zeitung, Broschüren und Erlasse der Leitung) waren in einem Sprachstil gehalten, der zwar einzelnen Personen der Führung zuzuordnen ist und deren Art des persönlichen Ausdrucks sein mag, sich aber doch unverkennbar an"geheiligten Vorbildern" orientiert, etwa an Lenin oder am katastrophalen Deutsch der Peking Rundschau.

Den Sprachstil dieser zentralen Publikationen nahm sich der überwiegende Teil der Genossen zum Vorbild. Anstatt in ihrer bisherigen Alltags- und Umgangssprache zu reden und zu schreiben übernahmen sie Redewendungen und Diktion des Vorbildes. So hatte ein führendes Mitglied der Organisation zur Bekräftigung von irgendeiner gewichtigen Äußerung die Sprechblase "und dann ist das gut und nicht schlecht" gebraucht. Das nichtssagende Sätzlein machte schnell die Runde. Kaum eine Beschlußvorlage, kein längerer Artikel eines Fachbereichsinfos konnte auf die Verwendung der Phrase verzichten. Manche Genossen konnten "und dann oder: und deshalb ist das gut und nicht schlecht" mehrmals während einer Sitzung zur Unterstreichung ihrer Ansichten verwenden. Andere benutzten es mit liebevoller Ironie; ihnen war klar, daß es sich um die nichtssagende rhetorische Wendung eines Organisations-Führers handelte und in der leicht ironischen Verwendung schwang jenes Quäntchen Kritik mit, das man sich offen nicht leisten konnte. Aber viele Genossen benutzten die Redewendung mit tiefem Ernst, bis sie durch eine neue Sprachschöpfung eines ZK-Mitglieds abgelöst wurde.

Besonders auffallend war die Organisations-Einheitssprache immer bei geschriebenen Texten. Das lag sicher daran, daß man sich, wenn man einen Artikel schrieb, zuerst die zentralen Veröffentlichungen zu dem Thema nebst alten Flugblättern u.ä. durchlas und das dann paraphrasierend in einen eigenen Text umarbeitete bzw. mit den entsprechenden Einfügungen für das Zielpublikum (Termin und Ort einer Veranstaltung, Demonstration) versah.

Nach einer gewissen Zeit als KBW-Mitglied hörte sich auch die gesprochene Rede vieler Genossen an, als würden sie eine Broschüre oder ein Flugblatt der Organisation auswendig aufsagen. Angefangen hat diese Sprachdeformation meistens bei der Agitation in der Öffentlichkeit, beim Flugblattverteilen und Zeitungsverkaufen. Denn die persönliche Identifikation mit dem Agitationsziel war fast immer oberflächlich. Zwar hatte einem die sogenannte "politische Bedeutung des Kampfes" durch Artikel aus dem Zentralorgan und Diskussionen in der Grundeinheit klar zu sein, außer diesen Richtlinien hatte man aber meist kaum eine Ahnung von den Problemen und Konflikten, über die man agitierte, geschweige denn war man persönliche davon betroffen. Deshalb leierte die Agitatorin oder der Agitator einfach die paar Sätze runter, die sie/er sich gemerkt hatte, natürlich mit dem entsprechenden Erfolg. Für die Erarbeitung von fundierteren Kenntnissen über einen bestimmten Problemkreis fehlte schlicht die Zeit. Genauere Kenntnisse zu haben, eine eigene Meinung zu äußern war als "Spezialistentum" verpönt. Der richtige Kommunist hatte umfassend gebildet zu sein und überall die vorantreibenden Vorschläge zu machen - in dem Sinne, daß er jederzeit die entsprechende Einschätzung des Zentralorgans wiedergeben konnte.

Viele Genossen lasen kaum etwas außer den eigenen Publikationen, den "Klassikern des ML" und der fürs Studium absolut unentbehrlichen Literatur. Wenn sie sich mal anders bildeten, lasen sie "proletarische Romane" aus der Weimarer Zeit, sahen sich aufbauende Filme aus der VR-China oder ähnliches an. Dieser Mangel an Auseinandersetzung mit "bürgerlicher Literatur", mit "unpolitischen" Filmen, die Tatsache, daß die meisten Genossen nie in Popkonzerte gingen (Popmusik war laut KVZ bloß ein Mittel der Bourgeoisie, die Arbeiterjugendlichen vermittels dekadenter Kultur vom Kampf gegen Ausbeutung und Staat abzuhalten), dieses ständige Eingeschlossenbleiben im keimfreien Milieu des von der ML-Ideologie desinfizierten Dunstkreises der Organisation, trug wesentlich bei der Herausbildung eines Sprachcodes, der mit seinen Begriffen, seinen apodiktischen Kategorien gar nicht mehr zu ließ, differenzierte Fragen zu stellen bzw. Erklärungen reale rProbleme zu suchen. Eine spontane Neugier und Aufgeschlossenheit anderen Ansichten, neuen gesellschaftswissenschaftlichen Theorien gegenüber mußte damit verkümmern. Die Wirklichkeit war generell durch die Brille und nach dem Interpretationsmuster der von der KBW-Führung legalisierten ML-Glaubenssätze zu betrachten. Die eigene Erfahrung zählte nichts.

Mit der Zeit wurde der Sprachcode zur Umgangssprache jedes Mitglieds. Es verlernte, so zu sprechen, daß Nicht-Mitglieder es noch verstanden. Und es verlernte, von anderen Menschen geäußerte, nicht im Code gehaltene Aussagen zu verstehen. Alles was nicht Code war wurde von ihm als falsch oder "bürgerlich" abgelehnt. Wenn man mit anderen nicht mehr diskutieren kann, diskutiert man nicht mehr mit ihnen. Weil man sich nicht mehr mit anderen auseinandersetzt, verliert man den Bezug zur Realität.

Beschlußdemokratie

Die Ortsleitung hatte beschlossen, man müsse das Programm der Arbeiterklasse zur Wahl stellen, an den Landtagswahlen teilnehmen. Obwohl von Haustür zu Haustür gegangen wurde, gelang es bis kurz vor Weihnachten nicht, auch nur für einen Kandidaten die gesetzlich erforderliche Unterschriftenanzahl zusammenzubekommen. Auf einer schnell einberufenen Mitgliederversammlung teilte der Zentrale Ausschuß der KHG mit, die Weihnachtsferien würden für alle Mitglieder gestrichen, wir hätten bis Anfang Januar 75 die erforderlichen Unterschriften im Einsatz rund um die Uhr zusammenzusuchen.

Viele sonst sehr linientreue Genossinnen und Genossen murrten und sprachen gegen diesen Beschluß. Ein großer Teil der KHG-Mitglieder wohnte nicht in der Stadt und viele wollten über Weihnachten nach Hause fahren oder für einige Tage verreisen. Das war die Situation, die einer von uns so erlebt hat:

Ich hatte mir überlegt, was ich auf der Mitgliederversammlung sagen wollte. Für mich war die kurzfristige Ansetzung der Unterschriftensammlung ein weiterer Beweis für die organisatorische Unfähigkeit der Ortsleitung. Zudem zeigten gerade die Schwierigkeiten, die erforderlichen Unterschriften zusammenzubekommen, wie mangelhaft die Organisation noch verankert war - ein Hinweis darauf, wie schlecht der KBWW bei den Wahlen abschneiden würde. Beide Argumente bestärkten mich in meiner schon früher geäußerten Ansicht, eine Wahlteilnahme sei für eine so schwache Gruppe ohnehin nicht sinnvoll.

Abgesehen davon war ich entschlossen wegzufahren. Ich hatte seit einem Monat eine neue Beziehung und war sehr verliebt, wir wollten zusammen wegfahren. Ich erlaubte mir zwar manchmal auf Zellensitzungen, mit persönlichen Bedürfnissen zu argumentieren, stieß damit aber regelmäßig auf die Ablehnung der Genossen, die die "Politik an erste Stelle" setzten. Auf einer Mitgliederversammlung wagte ich das nicht, hier zählten nur politische Gründe und verliebt zu sein war kein politischer Grund. Ich konnte mir das Unverständnis und die Kommentare der linientreuen Genossen vorstellen: kleinbürgerliches Individuum, das persönliche Bedürfnisse über die Notwendigkeiten des Klassenkampfs stellt. Mich vor vielen Leuten bloßstellen konnte ich nicht, ich hatte schon genug Schwierigkeiten, vor einer unüberblickbar großen Menge Menschen überhaupt zu reden.

Als ich meine kurzen Argumente den etwa 200 versammelten Genossinnen und Genossen vorbrachte, hatte ich das Gefühl, überhaupt nicht gehört zu werden. Ich war kein guter Redner, meine Argumente gingen unter.

Der nach mir sprechende Genosse des ZA malte die Alternative aus zwischen "kleinbürgerlichem Zurückweichlertum" oder "Erfüllen der Notwendigkeiten, die der Klassenkampf an die Kommunisten stellt". Weil das ZK des KBW und die Ortsleitung so beschlossen hatten, war die Wahlbeteiligung und damit das Sammeln der Unterschriften eine Notwendigkeit des Klassenkampfs.

Dann sprach ein eigens hierfür angereister Mann des ZK des KBW. Komischerweise beeindruckte mich, was er sagte. Vielleicht lag das daran, daß er der Ortsleitung Vorwürfe machte wegen der schluderigen Vorbereitung. Solche Kritik aus dem Mund eines Typs, dem die Genossen zuhörten, fand ich schon mal gut. Er zeigte auch Verständnis für die Sorgen der Genossen, die wegfahren wollten, erwähnte auch junge Genossen, die sich in verständlichem Konflikt mit ihren bürgerlichen Familienbanden" befänden. Er appellierte an unser Bewußtsein als Kommunisten, die politische Lage erfordere, unsere persönlichen Bedürfnisse hintanzusetzen. Er appellierte an unser Solidaritätsgefühl mit den Genossen der KBW-Gruppe, die alle hierblieben und Unterschriften sammelten. Und an unser Solidaritätsgefühl mit den politisch hochbewußten Genossen der KHG, die sich schon ebenso entschieden hätten. Großer Applaus.

Obwohl er mit keinem Satz darauf eingegangen war, ob die Wahlbeteiligung überhaupt sinnvoll war, hatte er auch mich indem Moment fast überzeugt, es sei vielleicht doch richtig hierzubleiben und Unterschriften zu sammeln. Irgendwie fand ich es nun auch unsolidarisch, wenn ich einfach wegfahren würde, während die anderen alle hierblieben. Eine große Mehrheit stimmte für hierbleiben. Ich enthielt mich der Stimme und fuhr mit meiner Freundin weg. Dem KBW brachte die Wahlbeteiligung nebst etwa 0,1 % der Stimmen, etliche Entlassungen und Berufsverbote für die kandidierenden Genossen.

Veranstaltungen

Es wird zum soundsovielten Male eine Veranstaltung zu einem beliebigen Thema angesetzt, Referate werden ausgearbeitet und vordiskutiert, Flugblätter verfaßt, zu Tausenden gedruckt und verteilt, Plakate entworfen, hergestellt und geklebt, Räume ausfindig gemacht, angemietet und ausgeschmückt und vielleicht sogar noch im Seminar/Betrieb für den Besuch dieser Veranstaltung geworben. Insgesamt eine Wahnsinnsarbeit, um möglichst viele Leute für die Veranstaltung zu agitieren. Am Abend der Veranstaltung muß man feststellen, daß man außerhalb der eigenen Organisation niemanden mobilisiert hat. Daß ein paar hundert Mitglieder der Organisation erschienen sind, ist nur dem Beschluß zu verdanken, der von jedem einzelnen verlangt, sämtliche Veranstaltungen der Organisation zu besuchen. Damit wird für ein solches Ritual wenigstens der äußere Schein von Sinnhaftigkeit erzeugt. Dieser Beschluß schreibt auch vor, dem Referenten und der Diskussion aufmerksam zuzuhören, die Veranstaltung nicht etwa vorzeitig zu verlassen (vor dem Absingen der Internationale) oder zwischendurch mit Bekannten zu quatschen, hin- und herzurennen, Terminverlagerungen vorzunehmen, oder gar Mitgliederbeiträge einzutreiben. Das war in der Vergangenheit allzu häufig vorgekommen und hatte nach Ansicht der Leitung die wenigen nicht der Organisation oder konkurrierender Sekten angehörigen Individuen vorzeitig von der Veranstaltung vertrieben.

Nicht etwa, daß man sich in der Organisation danach gefragt hätte, ob vielleicht das Thema oder der Anlaß der Veranstaltung ungeeignet gewesen ist. Ob es womöglich niemanden interessiert, "was die Kommunisten dieser Stadt" dazu zu sagen haben und daraus entsprechende Konsequenzen zieht. Nein, die objektive Notwendigkeit gerade an diesem "Punkt" Agitation und Propaganda zu entfalten, leitet sich ja aus der Analyse der bestehenden Weltlage ab, wie man sie erst jüngst von J. S. in der KVZ lesen konnte.

Die "Diskussion" in der Grundeinheit spitzt sich dann auch ziemlich schnell darauf zu, daß die Veranstaltung nicht offensiv genug propagiert worden ist, nicht genug Flugblätter mit ideologisch klarerem Inhalt gemacht wurden usw. Und, entscheidendes Argument: daß bestimmte Genossen entweder "zurückweichlerisch" im Seminar aufgetreten sind und die Veranstaltung nicht angesagt haben, beim Zeitungsverkauf nicht andauernd laut gerufen haben oder gar nicht erst zur Veranstaltung gekommen sind. Das sei Ausdruck von kleinbürgerlicher Disziplinlosigkeit, die nur in harter politischer und ideologischer Erziehungsarbeit überwunden werden könne. Nur rückhaltlose "Kritik und Selbstkritik" könne ihnen die proletarische Anschauung durch harte und geduldige Arbeit in "schwieriger" Situation vermitteln, in denen die Volksmassen "noch" den "Spaltungs-" und "Betrugsmanövern" der Bourgeoisie und ihrer "Lakaien" aufsitzen. Mit knapper Mehrheit wurde eine Beschlußvorlage verabschiedet, die die Leitung kritisiert, die Veranstaltung zu kurzfristig angesetzt zu haben.

Nach unserem Austritt kommen uns solche Situationen unwirklich vor. Was hat uns und was bringt heute noch so viele dazu, die Absurdität ihres Handelns überhaupt nur so begrenzt wahrzunehmen, welches sind die Mechanismen, die solche erlebten Situationen in einer Weise uminterpretieren, die eine radikale Kritik an der Organisation unmöglich machten? Wichtig für die Erklärung ist sicherlich die totale zeitliche, psychische und physische Beanspruchung des einzelnen durch die Organisation, die sich als relative Isolierung von seinem eigentlichen und ursprünglichen Lebenszusammenhang auswirkt. Nur durch den totalen Einsatz der Genossen kann die Organisation ihre nicht nur zahlenmäßige Schwäche notdürftig ausgleichen. Nur dadurch kann sie ihre "Politik" aufrecht erhalten, die verlangt, überall dort "einzugreifen", wo die Volksmassen in "Bewegung kommen" oder zu geraten scheinen. "Eingreifen" heißt dann, diese vermeintliche Bewegung mit Agitation und Propaganda zu überschütten und zu versuchen, sie in eine Richtung gegen den Staat und den Kapitalismus insgesamt zu bewegen. Diese Politik verlangt nicht nur ständige Einsätze der Genossen, sondern auch einen umfangreichen technischen Apparat, der den immensen Ausstoß an Papier und die Koordinierung der verschiedenen Tätigkeiten erst ermöglicht.

Arbeitsbelastung

Was das für das einzelne Mitglied dieser Organisation heißt, können wir einmal aus eigener Erfahrung aufzählen:

An der Uni: 1 mal wöchentlich 4 - 5 Stunden Grundeinheitsplenum, dazu die Zeit der Vor- und Nachbereitung (Texte, Zeitung lesen, Protokoll). 1 mal wöchentlich 2- bis 3stündige Schulung. Zusätzlich eine Unzahl von Sonderterminen zur Diskussion von diversen Rechenschaftsberichten des ZK bis zur GE-Leitung.

Tagesdienste: in der Uni Büchertisch machen bzw. Anwesenheit im Raum der Organisation zwecks Entgegennahme von Flugblättern und neuer Direktiven, Ausführen technischer Arbeiten (wöchentlich 1 mal 10 - 14 Uhr) Zeitungsverkauf, Flugblätter im Institut und vor der Mensa verkaufen bzw. verteilen. Übernahme einer speziellen Funktion: "info"-Herstellung, "Botendienst", Druckereidienst.

Im Stadtteil: 1 mal pro Woche einen Nachmittag lang Zeitungsverkauf, Flugblattverteilen, Plakate kleben; Sitzung mit der zuständigen Stadtteilzelle.

Vor dem Betrieb: Zeitungsverkauf mindestens 1 mal die Woche, morgens 2 -3 Stunden; abends oder darauffolgenden taags: Sitzung mit der "Zelle", zusätzlich Verteilen von Flugblättern in unregelmäßigen Abständen. Ortsgruppe: Bürodienst, d. h. einen halben Tag im Büro der Ortsgruppe, sämtliche anfallenden Tätigkeiten erledigen; Nachtdienst, d. h. von 18.00 bis 5.00 das Gleiche: Tippen der Mitgliederbriefe, drucken, legen, zusammenheften. Aufräumen etc. 14-täglich.

Sonstiges: Pflicht für jeden, in einem der zahlreichen Komitees mitzuarbeiten, pro Woche eine Sitzung plus "Fraktions"treff.

Außerplanmäßiges: Veranstaltungen aller Art vorbereiten, Redebeiträge verfassen, Ordner bei Demos stellen, Artikel, Berichte und Wandzeitungen schreiben, Hausbesuche im Wahlkampf und danach, Seminarkollektive, Delegiertenkonferenzen, Demonstrationen und Veranstaltungsbesuche obligatorisch.

Natürlich durfte man nur 3 Wochen im Jahr in Urlaub fahren nicht ohne zum Urlaubsort Propagandamaterial mitzunehmen und dort zu vertreiben.

Eigentlich war man mindestens 40 Stunden in der Woche für die Organisation auf den Beinen, und das als Mitglied einer Massenorganisation.

Der zeitliche Aufwand allein spiegelt jedoch noch nicht das erschreckende Maß der Vereinnahmung durch die KHG wider. Ein genaueres Bild ergibt erst der Inhalt der Tätigkeiten, die Art und Weise, wie diese geplant und innerorganisatorisch vergeben wurden. Kennzeichen für die Inangriffnahme einer neuen Aufgabe war immer, daß sie von höheren Instanzen beschlossen und vorher in der GE nie diskutiert wurde. Die Beschlüsse trugen das Zeichen ihrer Unumstößlichkeit schon bei ihrer Verkündung, denn der "demokratische Zentralismus" verlangt ihre unbedingte Ausführung. Auf inhaltliche Vermittlung wurde kein Wert gelegt, Zustimmung oder Ablehnung hat ja erstmal keine Bedeutung. Damit soll nicht behauptet werden, daß die Beschlüsse nicht begründet wurden. Aber diese Begründungen hoben immer die "objektiven Notwendigkeiten" hervor, nie hingegen die individuellen oder kollektiven Fähigkeiten und Schwierigkeiten, die bei ihrer Durchführung entstehen könnten. Fast jeder Beschluß begann mit den Worten: "Die Lage erfordert..." "Die Klassenkampfsituation zwingt zu..." "Die Weltlage erhöht die Anforderungen an die Kommunisten." Der "subjektive Faktor" wird in der Weise einbezogen, daß stillschweigend von der Fiktion einer kommunistischen Organisation ausgegangen wird, die ex definitionem in der Lage ist "allseitig" und "umfassend" den angeblichen Erfordernissen gemäß zu reagieren - eine blanke Selbsttäuschung, denn ein Beschluß galt z.B. für jede GE in gleicher Weise, egal ob sie groß oder klein war und ohne Rücksicht auf besondere Bedingungen.

Jedes Anzweifeln der neuen Beschlüsse mußte daher gegen die doppelte Autorität der jeweiligen Leitung und der sich aus der angeblichen "Realität" ergebenden "objektiven Notwendigkeiten" ankämpfen. Doch wie soll man die Begründung in Frage stellen, wenn einem selbst nur ein Ausschnitt dieser "Realität" bekannt ist, weil die Verallgemeinerung per Erfahrungen nur vertikal aber nicht horizontal stattfindet? Der Einwand, ein bestimmter Beschluß sei im eigenen Bereich nicht durchführbar, wurde mit dem Hinweis auf die "Realität" anderer Bereiche vernichtet. Insofern stand man den Beschlüssen ohnmächtig gegenüber. Wollte man seinen Ausschluß nicht riskieren, mußte man sich fügen. Man kann dann nur noch versuchen, sich mit irgendwelchen Entschuldigungen um die Lasten einer solchen Politik zu drücken, deren Sinn man nicht einsah. Die Arbeit selbst war aber gekennzeichnet durch andauernden Mißerfolg. Der Aufwand stand in keinem Verhältnis zu den Ergebnissen, die erzielt wurden.

Schließlich macht es die totale Absorption des Einzelnen durch die Organisation unmöglich, anderen Interessen nachzugehen, die einen höheren Grad an Selbstverwirklichung bringen könnte. Man war oft nicht mal mehr in der Lage, ins Kino zu gehen oder andere als die vorgegebene Pflichtlektüre zu lesen. Man konnte sich gerade für den nächsten Einsatz erholen. Die vielfältigen Eindrücke, Anregungen und Erfahrungen, die einem aus der Beschäftigung mit anderen Dingen erwachsen könnten, blieben aus, eine aktive Auseinandersetzung mit anderen Dingen ging verloren oder konnte sich erst gar nicht entwickeln.

Als Student wird nun durch die ständige Arbeit für die Organisation zusehends entrückt, man besuchte Lehrveranstaltungen wenn überhaupt - nur noch, um was anzusagen und politische Diskussionen vom Zaune zu brechen.

Arbeitszusammenhänge oder Gruppen mit anderen, nichtorganisierten Studenten kommen nur selten zustande, die unumgänglichen werden mit minimalstem Aufwand durchgezogen. Anderen Studenten konnte man sich nur noch über abstrakte Phrasen und leeres Geschwafel annähern.

Kommunikation

Zwangsläufig müssen im Zuge der Vereinnahmung durch die Organisation auch Bekanntschaften und engere persönliche Beziehungen verkümmern, die nicht im Organisationsrahmen stattfinden. Mitglieder anderer Organisationen werden zu Gegnern oder Feinden, Nichtorganisierte zu mit Agitation und Propaganda einzudeckendem Material. Da die meisten Organisationen nur mit ihresgleichen persönlich verkehrten, isolierten sie sich „freiwillig", hatten keine Gelegenheit mehr, ihre eigenen Ideen, Theorien und politischen Konzepte mit anderen zu konfrontieren.

Aber auch im Innern des KBW gab es kaum einen Austausch von Ideen und Erfahrungen, oder gar persönliche Gespräche und Kontakte über die Grundeinheit hinaus. Die Beschränkung der Freizeit ließ es gar nicht zu, daß solche Kontakte zustandekamen.

Die einzigen informellen Kommunikationszusammenhänge waren Cliquen, die sich um einzelne angesehene führende Genossinnen und Genossen herum, häufig auch im Umkreis von KBW-Wohngemeinschaften bildeten. In diesen Cliquen fanden sich die Leute zusammen, die ohnehin, mit allem einverstanden waren, was im Verein lief. Hier wurden politische Linien festgelegt, Pöstchen verschoben, Nachwuchs gezogen, auch die neuesten Gerüchte über führende Genossen ausgetauscht.

Einer von uns machte die Erfahrung, daß die Bereitschaft, für die Organisation zu arbeiten, besonders dann stark ausgeprägt war, wenn gerade eine Beziehung in die Brüche gegangen war. In solchen Situationen bietet die in sich fest geschlossene Organisation das trügerische Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit. Auf unüberbietbare Weise drängt einem die Organisation die Möglichkeit auf, in der Arbeit "aufzugehen", seine Probleme nicht etwa zu lösen, sondern zu kompensieren. In ihr findet man seine trügerische Stabilität.

Ausstieg

Da sich der einzelne in der Organisation nicht zur Wehr setzen kann, bleibt nur noch die Alternative: einzutauchen in den Nebel politischer Umnachtung und totaler Realitätsblindheit, also strammes Mitglied der Organisation zu werden - oder sich auszuklinken. Je mehr sich die KHG verfestigte, je weniger echte Diskussionen möglich waren, um so unwohler fühlten wir uns.

Durch die negativen Erfahrungen in der KHG lernten wir, daß auf die Art und Weise wie diese Organisation wirkte, der Aufbau einer sozialistischen Bewegung nicht laufen kann. Der Austritt war nur Endpunkt einer logischen Entwicklung.

Eine Zeitlang nach unserem Austritt stellten wir uns die Frage, ob wir nicht persönlich versagt hätten und ob wir nicht durch größeren persönlichen Einsatz, durch klügeres taktisches Verhalten die Organisation in der von uns angestrebten Richtung hin hätten ändern können. Heute sind wir sicher, daß dies weder möglich war, noch einen Sinn gehabt hätte. Im Gegenteil, diese anfänglichen Zweifel an unserem eigenen Verhalten, ob "persönliches Verschulden" unsererseits vorlag, weisen auf die noch nach dem Austritt fortdauernde Befangenheit hin, auf ein Weiterdenken in von der KHG gesetzten Kategorien. War doch schon unser Versuch fehlgeschlagen, durch "vorbildliches Verhalten", durch Zuverlässigkeit bei der Ausführung übertragener Aufgaben bei den dogmatischen Genossen Respekt und Anerkennung zu finden.

Wir ließen uns damit ein auf die gegebenen Verhältnisse und erlagen mit der Zeit den Mechanismen der Organisation in einer anderen, aber genauso verzückten Weise wie die Genossen, die mit allem von oben einverstanden waren. Die hatten Angst, als kleinbürgerliche Zurückweichler entlarvt zu werden, uns beschlich beim "Zurückweichen" vor politischen Aufgaben das schlechte Gewissen, unserem eigenen Anspruch als "zuverlässige Genossen" nicht entsprochen und deshalb unsere Meinung nicht durchgesetzt zu haben. Wir wurden damit doch wieder hinterrücks in die organisatorischen Mechanismen der Sekte gebannt.

Heute meinen wir, daß diese Organisationen nicht etwa an sich richtige theoretische Vorstellungen in falscher Weise praktisch umsetzen. Ihre Praxis ist vielmehr die Umsetzung des Marxismus-Leninismus. In diesem Sinne können wir sagen, daß die Erfahrungen in der KHG uns vom Marxismus-Leninismus abgebracht haben. Wir suchen nach gangbaren Alternativen einer sozialistischen Theorie und einer sozialistischen Organisierung.

Quelle: anonym: Wir warn die stärkste der Partein..., S. 50, Rotbuch Verlag Berlin 1977

Für die Partei des Proletariats an der Uni - Selbstbefragung eines umerzogenen Intellektuellen

Du bist seit 1972 beim KSV, dem Studentenverband der KPD gewesen. 1975, im Zusammenhang der Übernahme der chinesischen Linie der Vaterlandsverteidigung, hast du diese Organisation verlassen. Wie schätzt du zurückblickend deine Mitgliedschaft im KSV ein?

Zuerst muß ich sagen, daß der KSV nicht die erste Organisation war, der ich angehörte. Meine Entscheidung, zum KSV zu gehen, und nicht zur SEW - das war für viele einmal die große Alternative, weil man sie als die Partei ansah, die die meisten Arbeiter organisieren konnte - halte ich auch heute noch nicht für falsch. Ich bedaure diese Entscheidung keineswegs, obwohl meine KSV-Mitgliedschaft mir heute, wenn ich mich um eine Anstellung bemühe, sicherlich hinderlich sein kann. Ich verleugne politisch meine ehemalige KSV-Mitgliedschaft nicht, ich stehe zu ihr als der Zeit, in der ich politisch ungeheuer viel gelernt habe.

Heißt das, daß du heute noch - trotz deines Austritts aus dem KSV - ähnliche Positionen wie im KSV vertrittst?

Keineswegs. Vielmehr ist der Lernprozeß, den ich eben angesprochen habe, ein Prozeß des kritischen Lernens. Einmal habe ich mir eine Reihe organisatorischer und technischer Fertigkeiten angeeignet, die sehr nützlich sind. Ich möchte diese Erfahrungen nicht missen und kann sie immer wieder nutzbringend in der Bürgerinitiative, in der ich jetzt in Norddeutschland arbeite, anwenden. Der andere' Aspekt ist die Überwindung der sektiererischen Positionen des KSV. Nur dadurch, daß ich erlebt habe, was Sektierertum in jeder Hinsicht bedeutet, kann ich mich heute für eine Politik gegen die Berufsverbote einsetzen. die frei von sektiererischen, dogmatischen Tendenzen ist und mit der unsere Bürgerinitiative erfolgreich arbeitet.

Allerdings hat meine Ablehnung der K-Gruppen auch zu keinem pauschalen anti-organisatorischen Vorbehalt geführt, der etwa jede Form von organisierter Interessenvertretung und deren politische Durchsetzung über Bord wirft. Das ist für mich ein Irrweg und macht es den Sekten gerade möglich, als einzige organisierte Kraft weiterhin ihr Unwesen zu treiben.

Mir fällt bei deiner Argumentation auf, daß du deine KSV-Mitgliedschaft nur als objektiv abgelaufenen Lernprozeß zum Besseren hin beschreibst, als Entwicklung in der du selbst gar nicht als Lernender auftrittst. Mir ist äußerst unklar, warum Du über drei Jahre bei dieser Organisation geblieben bist. Man kann nicht solange in einer Organisation sein, wenn man nicht auch ihre Ziele und Methoden anerkennt, d.h. gerade die Sektiererei, von der du sprichst.

Das ist richtig, ich war überzeugter KPD-Anhänger. Ich habe diese Politik mitgemacht, mitgetragen und als Person verteidigt.

Du warst also durch und durch Sektierer und die Sektiererei legt man doch nicht so einfach beiseite, wenn sie sich zu einem vollständigen, dichten Weltbild herausgebildet hat. Wenn man beinahe für sie lebt, ist es doch fast unmöglich, sich über die Schranken des eigenen Weltbildes hinwegzusetzen.

Das stimmt schon. Gelernt habe ich aus der Sektiererei erst recht spät, als sich meine einzelnen Vorbehalte verdichteten und mein Verhältnis zum KSV in eine Krise geriet. Der Auslöser war, daß die KPD im Frühjahr 1975 plötzlich die These aufstellte, die UdSSR sei der Hauptfeind, man müsse sich mit Teilen der eigenen Bourgeoisie gegen sie verbinden, die NATO müsse gestärkt werden usw. Das war nicht nur ein einfacher Linienschwenk, sondern das Eingeständnis einer schweren inneren Krise. Die KPD und mit ihr der KSV hatten vorher jahrelang versucht, mit einer radikal-aktionistischen Agitation Politik zu machen und ihre Basis zu verbreitern. Diese Politik war gescheitert. So blieb nur der Ausweg, über die außenpolitische Fixierung an China die innere Stabilität wieder zu gewinnen. Das erklärt auch, warum die Linie der Vaterlandsverteidigung so schnell und so hart im KSV durchgesetzt werden konnte. Alle diejenigen, die vorher schon Bedenken hatten, ob die KPD-Politik überhaupt sinnvoll ist, nahmen diese neue Politik zum Anlaß, die alten Fehler endlich zu diskutieren und nicht einfach durch eine neue Linie in Vergessenheit geraten zu lassen. So kritisierte ich einerseits die antimarxistische Supermächte-Theorie, andererseits formulierte ich meine Bedenken gegen die Sektiererei in dem Zusammenhang einmal zusammenhängend - mit der Konsequenz, endlich auszutreten.

Die Supermächte-Theorie war also nur der Anlaß? Das, was du als kritischen Lernprozeß bezeichnet hast, ist offensichtlich weitergehend. Kannst du dafür einige Beispiele nennen?

Sicherlich. Irgendwann fängt man an, sich Gedanken zu machen über seine totale gesellschaftliche Isolierung als Mitglied dieser Organisationen. Nicht nur physisch, sondern auch im Denken und Regieren stellt die Organisation einen Absolutheitsanspruch, der den parolenmäßig propagierten 'Zusammenschluß mit den Massen' völlig unmöglich macht. Ideologisch begründet wird diese Beschlagnahme der ganzen Person in der Forderung nach Umerziehung. Umerziehung bedeutet für den KSV, daß der Student, der Kleinbürger und Intellektuelle, sich nach dem Vorbild der Arbeiterklasse umzuformen hatte, genauso wie die revolutionäre Arbeiterklasse denken und handeln sollte. Das Problem liegt aber darin, daß diese revolutionäre Arbeiterklasse nur ein abstrakt konstruierter Begriff ist, daß es sie politisch greifbar und erkennbar gar nicht gibt. Deshalb bedeutet die Umerziehung für die Mitglieder des KSV, sich dem konstruierten Willen der Arbeiterklasse unterzuordnen, der sich angeblich in der Partei verkörpert.

Bei Mitgliedern des KSV ist es besonders einfach, die Identität von Arbeiterklasse und KPD vorzuspielen, weil die Studenten über die Partei relativ wenig wissen und ihnen kaum Einblick in die Arbeitsweise der KPD gewährt wird. Die KPD tritt dem KSV immer nur als konspirativer Geheimbund gegenüber. Abgesehen davon, daß sich in dieser Partei fast nur Intellektuelle befinden, wird so jede Kritik mit dem Argument abgeblockt, der Kritisierende müsse sich erst noch umerziehen, Selbstkritik üben, den Standpunkt der Arbeiterklasse einnehmen, bevor er überhaupt Kritik äußern darf. Mit dem Hinweis auf die Umerziehung wird jede theoretische Auseinandersetzung und praktische Kritik unterdrückt. Nur diejenigen, die sich flexibel der jeweils zentral ausgegebenen Linie anpassen, steigen in die Leitungsebenen auf.

Ich selbst habe lange Zeit die Bedeutung dieses Konzepts für das ausgeprägte Sektierertum unterschätzt. Mein Unbehagen begann vielmehr dort, wo ich sah, daß wir bei den Arbeitern nicht "ankamen". Ich habe oft vor einem Betrieb Flugblätter verteilt und Zeitungen verkauft. Die Flugblätter wurden von höchstens einem Viertel der Belegschaft genommen. Ob sie auch gelesen wurden, ist fraglich. Beim Zeitungsverkauf war es ebenso katastrophal. Da blieb nur die Flucht in die absurde These, das wichtigste sei, daß die politische Linie der Partei stimmt; die Massen kämen später schon dahinter.

Aber kein politisch klar denkender Mensch kann davon lange überzeugt sein, die Widersprüchlichkeit dieser Konzeption springt doch ins Auge.

Nein. Der Gegensatz von Anspruch und Wirklichkeit - Partei der Arbeiterklasse sein zu wollen, faktisch aber von der Arbeiterklasse ignoriert zu werden - führt dazu, daß man ungeheuer stark nach innen, innerhalb der Organisation denkt und lebt und in ihr den Ersatz für die fehlende Außenwirkung sucht. Die Welt, in der man lebt, schrumpft auf innerorganisatorische Termine und das vorgegebene politische Weltbild. Die sogenannte Massenarbeit, Verkaufen, Flugblätter verteilen und Studenten agitieren, korrigiert das innerorganisatorische Weltbild überhaupt nicht, weil man vor anderen immer nur als Aufklärer, als Standpunktprediger auftritt, der den Massen erst das richtige Bewußtsein beibringen muß. Ich habe oft genug in Seminaren gesessen und bin dort mit großen Reden als Agitator aufgetreten. Aber kein Student wurde von den ,abstrakten politischen Stellungnahmen überzeugt. Ich konnte zwar meistens ausreden, aber einen Einfluß auf den politischen Willensbildungsprozeß der Studenten hatte das kaum. Die Studenten haben deutlich gespürt, daß nicht einer von ihnen zu ihnen spricht, sondern daß sie in oberlehrerhafter Weise belehrt werden sollen.

Dabei spiegelt der oberlehrerhafte Ton, mit dem KSV, KPD und andere K-Gruppen, übrigens auch die DKP und SEW, auftreten, nur die innere Diskussionsweise wider. Von oben her werden alle Entscheidungen gefällt und durchgesetzt, die Mitglieder dürfen nur noch beraten, wie sie diese Entscheidungen am besten umsetzen. Ich möchte diese beinahe totalitär zu nennende Methoden am Beispiel der Frage erläutern, wie der KSV die Kritik an der bürgerlichen Wissenschaft Mitte 1974 verwarf. Nachdem man jahrelang in den Seminaren versucht hatte, auch zu fachlichen Themen einen sozialistischen Standpunkt zu vertreten - so beschränkt und verkürzt er auch immer gewesen sein mag - hieß es plötzlich: durch die Kritik der bürgerlichen Wissenschaft könne kein Student zum Kommunisten umerzogen werden, man solle deshalb nur noch reine Agitation für die Parteikampagnen treiben. Die Begründung las sich so: "Die Wissenschaft gehört dem Volk. Die Wissenschaft, das ist der Marxismus-Leninismus und seine Weltanschauung des dialektischen und historischen Materialismus, die Wissenschaft der Arbeiterklasse. Die Studenten sind somit - als künftige Wissenschaftler betrachtet - Träger der bürgerlichen Wissenschaft, Träger der einzigen Wissenschaft ist die Arbeiterklasse und ihre Partei." Damit waren alle Studenten einschließlich der KSV-Mitglieder als Träger bürgerlicher Wissenschaft abgestempelt und die Beschäftigung mit dem Studium diskreditiert. Allen Genossen wurde so praktisch ein Studienverbot auferlegt. Nur noch die direkte Parteiarbeit, das ständige Herumwirbeln mit Flugblättern und innerorganisatorische Termine, konnten den ideologischen Anforderungen im KSV standhalten. Denjenigen, die die Notwendigkeit eines einigermaßen ordentlichen Studiums und Examens betonten oder praktisch angingen, wurde bürgerlicher Karrierismus vorgeworfen.

Begründet wird dies damit, daß die Revolution nun einmal Kommunisten erfordere und nicht eine irgendwie fortschrittliche Studentenbewegung. Aber hinter dieser Begründung steckt mehr: Diejenigen Genossen, die aus der Studentenbewegung zum KSV kamen, hatten fast alle einen breiten Fundus an Wissen und Erfahrungen, wie man sein Studium bewältigen kann. Später kamen neue Generationen von Studenten in den KSV, die die Studentenbewegung nicht mehr kennengelernt hatten, deren politische Sozialisation sich im Umkreis des KSV selbst vollzog. Für sie gab es nur noch das KSV-Weltbild. Sie gingen vollkommen in der Organisationshuberei auf. Diesen Studenten war es sehr recht, daß die Wissenschaftskritik aus der Aufgabenstellung des KSV gestrichen wurde. Sie fanden sich im normalen Unibetrieb, mit den Denk- und Lernweisen der Studenten und in einer sorgfältigen Auseinandersetzung um die Wissenschaft sowieso nicht zurecht.

Wenn du jetzt alles auf solche "objektiven" Tendenzen schieben willst, stellt sich für mich die Frage, wieso du nicht frühzeitig gegen diese Tendenzen vorgegangen bist und wieso du selbst ein Sektierer gewesen bist. Denn du hast die Endphase der Studentenbewegung ja persönlich mitgemacht.

Ich war lange Zeit von der Richtigkeit der KPD-Linie überzeugt, ich war aber nie vollkommen in dem KPD-Weltbild verfangen. Ich glaube, daß. ich immer ein bißchen über die Grenzen dieses Weltbildes hinausgeschaut habe. Ich konnte auf früheres Wissen zurückgreifen und ich habe zudem neben meiner politischen Aktivität relativ viel privat gelesen. Das ging, weil ich mir bestimmte Anspruche und Eingriffe der Organisation vom Hals gehalten habe. Und ich habe relativ viel mit Freunden innerhalb der Organisation, vor allem in meiner Wohngemeinschaft, diskutiert. Dadurch war ich auch viel genauer über die politischen "Erfolge" der Partei informiert als ein normaler Leser der "Roten Fahne".

Heißt das, daß das durchschnittliche Mitglied des KSV über die eigene Organisation schlecht informiert ist?

Ja. Wer nicht auf einer höheren Leitungsebene saß, bekam aus der eigenen Organisation nur sehr gefilterte Informationen, Niederlagen wurden vertuscht und allgemein wurde ein ständiges Vordringen der Partei für selbstverständlich gehalten. Obwohl z.B. jeder von sich wußte, wie wenig Exemplare der Roten Fahne oder anderer Zeitungen er verkaufte, glaubte jeder an ihren ungeheuren Einfluß auf die Arbeiterklasse und die fortschrittliche Bewegung in unserem Land. Die Broschüren der KPD werden immer an dieselben Leute verkauft, die in der Organisation oder in ihrem Umkreis arbeiten. Dennoch war jedes Mitglied stolz auf die ständige Broschürenproduktion und bildete sich ein, mit diesen Heften wirklich breite Teile der Bevölkerung zu erreichen. Diese Realitätsferne ist das Produkt der selbstgeschaffenen Welt, die den KSV und jedes einzelne Mitglied bewegen, seien überhaupt die weltbewegenden Fragen.

Deshalb können die K-Gruppen die wirklichen Interessen z.B. der Studenten und auch anderer Bevölkerungsteile, in deren Namen sie auftreten, gar nicht ausdrücken, das ist von ihrem ideologischen System her unmöglich. Wer in einer so geschlossenen Welt lebt, der verliert über kurz oder lang dazu jede Möglichkeit. Ich erinnere mich noch sehr deutlich daran wie in den Grundeinheiten des KSV die Diskussion geführt wurde und wird. Jede Woche flattert dem Zellenverantwortlichen das Rundschreiben der jeweils höheren Ebene auf den Tisch. Solche Rundschreiben haben Direktivencharakter, sie sind also Befehle. Sie können in der Diskussion faktisch nicht in Frage gestellt werden, weil das sofort als Angriff auf die Politik des Verbandes und damit der Partei gewertet wird. Die Direktiven sind meist sehr konkret, sie beschreiben genau die Aufgabe der Grundeinheit für einen bestimmten Zeitabschnitt, sie ordnen an zu welchen Themen und mit welchen Argumenten die Mitglieder in der Öffentlichkeit aufzutreten haben. Dagegen ist kein Widerspruch möglich. Die Zelle spricht nur darüber, wie diese Direktive am Besten zu verwirklichen ist. So gehen äußerer Zwang und innere Selbstbeschränkung zusammen und führen zu einer Perversion einer offenen Diskussion. Der repressive Diskussionsprozess kehrt in einem gedanklichen Zirkel immer wieder zu seinen eigenen Voraussetzungen zurück, zu den Direktiven, und nimmt nach außen die Form des abstrakten Propagandistentums an. Die einzelnen Mitglieder stehen in dieser Zirkellogik und können nicht mehr über deren Grenzen hinausschauen.

Wie ist es dir denn gelungen, das Gefangensein in der Ideologie und Organisation des KSV zu durchbrechen?

Auf allgemein-theoretischer Ebene ist mir dies anfangs kaum möglich gewesen. Dazu habe ich trotz aller politischen Mißerfolge der KPD, trotz Cliquenwirtschaft und sinnloser Organisationshuberei viel zu sehr an den Marxismus-Leninismus als richtige Theorie geglaubt.

Man darf nicht vergessen, daß ich selbst für lange Zeit aktiver Träger des repressiven Diskussionsprozesses nach innen und nach außen gewesen bin. Auch ich war einer derjenigen, die andere Genossen mit moralischen Argumenten an die Wand gedrückt haben und nach außen die Politik vehement vertreten haben. Erst langsam und vorsichtig keimten in mir Zweifel, die sich aber nicht an der Gesamtpolitik festmachten, sondern an einzelnen, kleinen taktischen Fragen, wie z.B. der, ob es richtig ist, jede Woche relativ beliebig die Solidaritätskampagnen mit Griechenland, Spanien, Angola und Vietnam miteinander auszuwechseln.

Als ich solche Punkte vorsichtig in den Zellendiskussionen thematisierte, stieß ich sofort auf den frontalen Widerspruch anderer KSV-Mitglieder. Sie waren nicht bereit solche Fragen auch, nur zu diskutieren, und machten mir den Vorwurf, versteckt die Linie der Partei angreifen zu wollen. In solchen Situationen kann man dann zurückstecken - und das tat ich oft genug - oder die Auseinandersetzung auf der Ebene aufnehmen, die einem aufgezwungen wird, was heißt, die "unanfechtbare Linie der Partei" in Frage stellen. Wer sich davor scheut und ich tat dies lange Zeit, der wird relativ hilflos in der Organisation herumtaktieren und daran mitwirken, daß andere Genossen in Auseinandersetzungen fertig gemacht und entmündigt werden.

Auch ich habe lange Zeit den Fehler gemacht, auf der Sympathisantenrunde meiner Zelle entweder vornehm zu schweigen oder die offizielle Linie entgegen meinen eigenen Vorbehalten zu verteidigen. Das wurde dann dazu benutzt, mir Doppelzüngigkeit vorzuwerfen - was mir sehr erschwert hat, den Sympathisanten meinen Austritt zu verdeutlichen. Der repressive Diskussionsprozess hat durch eigenes Verschulden, in meinem Schweigen, noch einen letzten Sieg über mich davongetragen. Es ist mir nicht gelungen, meinen Austritt so zu begründen, daß weitere Genossen von meinen Argumenten überzeugt wurden.

Was hat sich durch deinen Austritt aus dem KSV in deinem persönlichen Leben verändert?

Viel, sehr viel. Glücklicherweise wohnte ich damals nicht mehr mit anderen KSV-Leuten zusammen. Das hat mir alles sehr erleichtert. Ich weiß von anderen, daß der politische Bruch auch erhebliche Konsequenzen in den gemeinsamen Wohnungen hatte. Ausgetretenen wurde gekündigt, Papiere und Unterlagen wurden ihnen gestohlen, man versuchte sie durch Denunziationen zu erpressen, unsaubere Finanzmethoden waren an der Tagesordnung. So wurden z.B. Kredite an die Organisation nicht zurückgezahlt. Einige Mitglieder, die ich bis dahin zu meinen festen Freunden rechnen konnte, brachen mit mir; die fadenscheinigsten Vorwände mußten dazu herhalten. Zurückblickend bedauere ich das nicht, denn Freundschaft mit solchen Gestalten stellte sich so als eine Art übler Kumpanei heraus.

Nach allem, was du über die innere Verfassung des KSV berichtet hast, fällt es mir schwer, deine anfängliche Einschätzung zu verstehen, daß du deine ehemalige KSV-Mitgliedschaft auch heute noch nicht für falsch hältst.

Man muß den Akzent anders setzen. Ich bedauere die Entscheidung für den KSV nicht unter der Alternative KPD oder SEW. Insgesamt war meine KSV-Zeit jedoch ein großer Umweg, ein Weg, der bei vielen anderen Genossen in der Resignation oder im abstrakten Ethos des Berufsrevolutionärs endete. Ich habe in den letzten Jahren gesehen, wie viele Leute zerbrochen sind, zu intellektuellen Kümmerlingen geworden sind. Besonders betroffen machen mich dabei diejenigen, die die KPD oder vergleichbare Gruppierungen immer noch für "die Kommunisten" halten, von sich selbst jedoch sagen, daß sie die nötige Kampfkraft und das Durchhaltevermögen nicht aufbringen. Diese Leute haben noch heute den Kopf voll mit dem ML-Schrott.

Ich persönliche glaube, daß meine KSV-Zeit zwar ein Umweg war, aber ein Weg, den ich heute nicht wegzaubern und nicht fortleugnen kann. Jeder Versuch, dies zu tun, würde mit Verdrängungsmechanismen gepflastert sein, die meine Identität in Frage stellen. Ich kann gar nicht anders handeln, als ich es jetzt tue. Denn wer beraubt sich selbst gerne einiger Jahre seines Lebens?

Quelle: anonym: Wir warn die stärkste der Partein..., S. 74, Rotbuch Verlag Berlin 1977
 
Der Parteibeamte

Eine Szene an der FU Berlin: Nach einem go-in zum Präsidialamt treffen sich die Studenten in der Cafeteria. Kurz wird besprochen, welche weiteren Schritte unternommen werden sollen. Treffpunkte werden bekanntgegeben, man unterhält sich, trinkt Kaffee: gemeinsame Entspannung nach der Aktion. Plötzlich tritt ein selbstbewußter Mann vor die Versammelten. Das Jackett seines Tweedanzugs auseinandergeschlagen, die Fäuste in die Hüften gestemmt, die Beine gespreizt, als wolle er Wurzeln schlagen: keiner soll ihn wegkriegen. Mit ungewöhnlich lauter Stimme verkündet er, er spreche im Namen des Kommunistischen Studentenverbandes. Das tut er dann auch eine Viertelstunde lang. Der Inhalt seiner Rede hat außer einigen einleitenden Sätzen nichts mit der Aktion zu tun: er berichtet von der Gefährlichkeit des Sozialimperialismus und seiner Agenturen, jongliert mit Zahlen, Zitaten und Ereignissen. Er gebraucht rhetorische Techniken, wie man sie von Parlamentsdebatten her kennt. Er stellt nichts zur Diskussion, breitet nur seine Überzeugung aus. Belohnt wird er durch dünnen Beifall seiner Genossen. Die Konkurrenz vom KBW sieht sich herausgefordert, sagt auch was. Die Angegriffenen, die ADSen, sind ohnehin nicht anwesend. Die Studenten, die alles über sich ergehen ließen, fliehen in verschiedene Richtungen. Diskussion und Versammlung sind beendet. Der Redner zieht mit seiner Gefolgschaft in einen leerstehenden Seminarraum, zu einem Termin - intern.

Der, der da im Namen des KSV sprach, war ein Kader in leitender Position. Solche Auftritte sind für ihn zur Routine geworden. Heute redet er bei den Germanisten, morgen bei den Psychologen, übermorgen vielleicht in Westdeutschland. Dazwischen bewältigt er eine ungeheure Menge von Sitzungen, führt Gespräche, liest Protokolle, schreibt Protokolle, organisiert Einsätze, liest Direktiven, schreibt Direktiven - sein Wasser ist die Politik, darin schwimmt er wie ein Fisch, fern von den trockenen Ufern des Alltags: ein Professional, ein Berufspolitiker also.

Als Typ ist er mir heute fremd und doch vertraut. Denn ich war selber mal ein linker Berufspolitiker an der Hochschule, kommunistischer Kader. Wie kam das?

Als ich endlich aus der verhaßten Schule raus war und an der Uni die große Freiheit zu genießen hoffte, merkte ich bald, daß dort das gleiche öde Räderwerk von Anpassung und Karrieremachen funktionierte, das die Einzelnen in isolierende Konkurrenz treibt. Die Studentenbewegung kam wie ein Befreiungsschlag, Konkurrenz und Isolation wurden stellenweise durchbrochen, uns in Haufen zusammenrottend wurde alles diskutiert, hinterfragt. Wenn wir ausschwärmten, vertraten wir nicht eine Sache, sondern uns selbst und unser Bedürfnis zu verändern. Als am Ende der Bewegung die Geschichte der großen Opposition der Arbeiterbewegung, ihre Erfahrungen und Theorien breit rezipiert wurden, lernten wir, daß allein eine Bewegung von Intellektuellen die Gesellschaft nicht ändern kann. Die Arbeiterbewegung, mit der wir uns hätten verbünden können, war nicht vorhanden. Also fanden Parteigründungen statt, um die Organisationen zu schaffen, die eine revolutionäre Arbeiterbewegung wieder aufbauen konnte. Die Gründer waren natürlich fast durchweg ehemalige Aktivisten der Studentenbewegung. Und sie repräsentierten natürlich nicht die Arbeiterklasse, sondern bloß sich selbstund ihren erschlichenen Avantgarde-Anspruch. Auch an der Uni war man als Kader nicht mehr Teil der Massen, sondern für Führer, denn man repräsentierte "die Arbeiterklasse" unter den Studenten. Als Kader war man nicht mehr Student, man war Kommunist. Dieser hohe Anspruch mußte eine materielle Basis kriegen, damit die Avantgarde ihre Überzeugung nicht verliert. Er verwirklichte sich in Form unzähliger Zusammenkünfte, auf denen "die Linie" auf die Wirklichkeit aufgesetzt wurde. Da jeder Kader auf allen möglichen Ebenen zu tun hatte, ergab dies eine Unmenge von "Terminen".

Als ich im KSV aufgenommen wurde, hatte ich das wichtigste Requisit des Kaders bereits kennengelernt: den Terminkalender. Als ich entschlossen war auszutreten, schob ich das Ding mit Genuß in den Ofen: ich hatte es hassen gelernt wie mein Schulmäppchen. Als kleines Licht in der Organisation hatte ich ein, zwei Termine am Tag gehabt. Wochenende frei. Das änderte sich jedoch im Laufe meiner "Qualifizierung" und mit dem Anwachsen des KSV. Mit der Übernahme größerer Verantwortlichkeiten kam auch ein Rattenschwanz von Terminen und Nebenterminen. In "Kampfzeiten" konnte der Terminkalender den Terminwust nur bei äußerst sparsamer Ausfüllung des Raumes aufnehmen.

Bei soviel Hektik gewöhnt man sich Routine an. Man achtet darauf, daß Diskussionen den Rahmen des vorgeplanten Tagesablaufs nicht sprengen, zieht das politisch wesentlich Erscheinende durch, organisiert schnell, redet nicht lange mit den andern. Widersprüche werden erst mal abgewiegelt: als "Nebenwidersprüche". Erst wenn sie sich zu "Hauptwidersprüchen" ausgewachsen haben, beraumt man einen Gesprächstermin an. Die Aufgaben werden pflichtgemäß erledigt, weil kein Raum ist für spontane Initiative, vor allem keine Zeit. Diese routinierte Bewältigung der politischen Arbeit schafft eine spezifische Form der Wahrnehmung, die der Beamtenmentalität sehr ähnlich ist.

Aber das ist kein Wunder: Nicht mehr man selbst sein, sondern etwas "Höheres" repräsentieren, sich als funktionierenden Teil eines Apparats verstehen, das Ganze im Rahmen des Kleinbürgertums und dann auch noch in Deutschland - da muß ja der Beamte herauskommen!

Die meisten Kader-Zellen rekrutierten sich auf der Basis des Cliquenwesens. Mit der Blüte der Verbeamtung, die dazu führte, daß sich die Einzelnen immer weniger kannten, entwickelte sich ein Ritual des Kennenlernens: die etwa halbjährlich stattfindende "Ka-Es-Ka" (Kritik/Selbstkritik)-Diskussion, auf der es Näheres über den unbekannten Mitkader zu erfahren gab. Da gab es zwei Verfahrensweisen: Entweder hatte der Delinquent Glück, dann wurde über seine politische Arbeit gesprochen, hierzu Passendes aus dem Privatleben lobend erwähnt. Das hatte den Charakter von Konfirmation oder Ordensvergabe - Weihrauch eingeschlossen. Oder er hatte Pech: Aggressionen entluden sich in Unterstellungen, inquisitorisch und auf schmerzende Wirkung abzielend. Dann war das Ganze wie eine Demontage, auch in der Intimsphäre wurde Unpassendes entdeckt - der Bedauernswerte wurde geknetet, bis er für jede Reue weich war. Manche suchten diese Demontage zu unterlaufen, indem sie gleich alles herauskotzten was ihnen auf der Seele lag. Meist waren dann die Mitkader verunsichert, zogen vorsichtig Schubladen auf, um die Probleme des Betreffenden unterzubringen.

So war das Ganze verkrampft, ritualisiert, fruchtbarer Boden für Doppelmoral aller Art. Unfähig, die Beziehungen solidarisch zu gestalten, weil Solidarität nur als Solidarität mit politischen Ansichten, aber nicht mit Individuen verstanden wurde, wurden die Bedürfnisse der Einzelnen mißachtet, sprachlos in den Untergrund bürgerlicher Privatheit abgedrängt. Gab es im Kader-Alltag ein Ventil, eine Möglichkeit, sich Luft zu machen, spontane Kritik zu äußern? Der alltägliche Frust entlud sich vor allem in der Feindschaft mit den andern, den Konkurrenten, Agenten und Drahtziehern - bis auf einen Kanal, der nicht organisierbar, nicht registrierbar war, dafür aber umso reichlicher floß: der Tratsch. Verarmt in der Erlebnissphäre des Normalalltags konzentrierten sich die Feierabend­ und Pausengespräche vor allem auf die Skandale, Abweichungen, Fehlhandlungen, den Privat- und Bettbereich der oberen Kader. Dieser Kader-Tratsch unter der Beamten-Gürtellinie trug, genau die Merkmale geduckter und krummer Opposition, auf der der Erfolg der Sensationspresse aufbaut: dem Bedürfnis, hinter dem entfremdeten Vorgang der Politik die Subjekte sichtbar zu machen, sie in den Bereich des Bekannten zu holen, sie zu "vermenschlichen" - und damit kritisierbar zu machen.

Der Organisation konnte das Privatleben ihrer Kader vor allem unter zwei Aspekten nicht gleichgültig sein. 1. Wie kann die Arbeitsproduktivität des Einzelnen voll ausgeschöpft werden? 2. Welche dieses Ziel störenden Einflüsse sind auszuschalten? Das führte dazu, daß sich verkaderte Mitbewohner oft in Denunzianten verwandelten: der Genosse habe den halben Tag im Bett gelegen, sei auf ein kleinbürgerliches Fest gegangen, hätte vor dem Fernseher gesessen - anstatt Wache zu schieben, das Protokoll zu schreiben, auf der Veranstaltung anwesend zu sein. In Kader-Wohngemeinschaften verständigte man sich entweder augenzwinkernd auf der Ebene der Doppelmoral oder man lebte wie in einer Polizeikaserne, immer überwacht und auf Rechtfertigung jeder Handlung trainiert. Manche Genossen entwickelten in solchen Situationen artistische Fähigkeiten: sie jumpten, im Halbschlaf auf dem Bett liegend, zum Schreibtisch, um pausenloses Arbeiten vorzutäuschen, wenn sich ein Mitbewohner dem Zimmer näherte.

Am Tag nach dem faschistischen Putsch in Chile hatten wir abends Zellensitzung. Ich war sehr aufgebracht, weil noch nichts von uns geschehen war und schlug vor, die vorgesehene Tagesordnung sausen zu lassen, um zu überlegen, was wir tun könnten. Die Folge dieser Unbotmäßigkeit war eine Belehrung über kommunistische Disziplin, demokratischen Zentralismus und die Wichtigkeit der Tagesordnung (die nur Hochschulpolitisches und den üblichen Routinekram enthielt). Als schließlich Chile kurz zur Diskussion stand, wurde die Entfachung einer Kampagne vorgeschlagen. Ein Zellengenosse, führend in der antiimperialistischen Massenorganisation tätig und daher Repräsentant des Proletarischen Internationalismus, sagte dazu etwa folgendes: Sicher, es sei schrecklich, was da in Chile geschehe. Aber als Marxist müsse man sehen, daß die Konterrevolution überall zuschlage und im übrigen gelte es, den beschlossenen Kampagnenfahrplan durchzuziehen, der nun mal hauptsächlich Oman und Dhofar und Kambodscha vorsehe.

Am erschreckendsten war dabei der bürokratische Habitus, seine beamtete Abgebrühtheit, die den Verlust emotionaler Empörung mit sich bringt. Leute wie er, die sich zum Wutanfall über Nebensächlichkeiten wie z.B. das Verhalten anderer Organisationen steigern konnten, reagierten angesichts der faschistischen Barbarei mit kühler Beamtenroutine. Auch auf mich traf das zu: Gewiß, ich war empört, aber ein Großteil meiner Empörung richtete sich dagegen, daß unsere Organisationen die "günstige Situation" nicht ausnutzten, sich nicht "an die Spitze" der Solidaritätsbewegung stellten, indem sie die Initiative ergriffen. Diese zynische Berufspolitikerhaltung resultierte auch aus der Antipathie, die wir gegen die als revisionistisch verseucht angesehene Allende-Regierung hegten. Der Verdacht liegt jedoch nah, daß mit diesem Beamtenverhalten vor allem Herrschaftsbedürfnisse befriedigt werden.

Betrachtet man die Entwicklung des KSV, so kann man die Entstehung von Elementen eines Staatsapparats verfolgen, deren Charakter nicht wesentlich sich vom gewohnten Bild solcher Institutionen unterscheidet: Nichtöffentlichkeit von Gremien (untere Chargen haben auf Sitzungen höherer Funktionäre nichts zu suchen), Finanz- und Personalabteilung, die zu bestimmten Sprechzeiten geöffnet haben und zu denen man hinzitiert wird, Wachund Sekretärsdienste (Innendienst), Agitpropdienst (Außendienst) für die beamteten Kader u.a. Mit dem Anwachsen des KSV begann dieser Verwaltungsapparat ("typisch deutsch" in seinem Perfektionismus und in der kalten Wut seiner Sachwalter) mehr und mehr anzuschwellen, die Arbeitszeit der Kader verschlingend. Nicht nur, daß sich Unmengen beschriebenen Papiers durch die Instanzen der Organisation wälzten, auch der Ausstoß nach außen war enorm. Es war durchaus keine Seltenheit, wenn ein Tagestrupp fünf oder mehr Flugblätter zu verteilen hatte. Kein Wunder, daß sich riesige Stapel nicht verteilter Aufrufe in den Räumen des KSV häuften. Dazwischen bewegten sich die Sekretäre und leitenden Kader, die man als Personen schon gar nicht mehr wahrnahm, so sehr waren sie bereits zum Inventar geworden. Einige Genossen schienen aus ihren Kunstlichträumen überhaupt nicht mehr herauszukommen, ihre Gesichtsfarbe war grau wie ihr Beamtenalltag. Für einfache Kader war das Betreten solcher Räumlichkeiten immer ein gewagtes Unternehmen: ständig mußte man gewärtig sein, von einem plötzlich aus einer Tapetentür tretenden Oberfunktionär zu irgendeinem Zusatzdienst verdonnert zu werden. Nur der notariell beglaubigte Nachweis eines wichtigen anderen Termins konnte einen retten.

Die Beamten- und Repräsentantenmentalität der Kader führte zu skurrilen Erscheinungen. So wurde es Mode, sich statt einer Aktentasche ein schwarzes Diplomaten-Köfferchen zuzulegen und prall gefüllt mit sich herumzutragen. Solch ein Kader-Set enthielt neben grundlegenden Dokumenten von KPD, KSV und Bruderparteien, aktuelle hauseigene Schriften, Protokolle und wichtige Aufzeichnungen, gegnerische Flugblätter und andere nützliche Dinge. Bei Sitzungen wurde der Koffer geöffnet, ein Großteil des Inhalts turmartik aufgeschichtet, um nach der Sitzung wieder verpackt zu werden. In einer Wohnung erkannte man ein Kader-Zimmer an der langen Reihe von Aktenordnern, die meist ziemlich alles Gedruckte des Organisationstrust enthielten.

Die schöne Sitte, die die KPD mit ihrem Parteitag einführte, ihre Kader mit dem goldenen, verdiente Sympathisanten mit dem silbernen Parteiabzeichen zu schmücken, machte es den KSV-Kadern leicht, bei jeweiligen Zusammenkünften auf den ersten Blick die Rangordnung der Anwesenden abzuschätzen. Mit der Ausgabevon em blernverzierten Spendenbüchern gab die KPD auch dem Spendenvorgang, bis dahin ein eher nüchterner Vorgang, etwas Weihevolles. Ein Kader der Zelle erhielt die Aufgabe, Spendenmarken auszuschneiden und sie in die Spend enbücher der übrigen Zellenmitglieder einzukleben. Ein Zellengenosse meiner Zelle war während der Sitzungen mit dieser Aufgabe stundenlang und akribisch beschäftigt. Ich beobachtete, wie sehr ihm das genaue Plazieren der Marken ins Rabattbuch Spaß machte. War er fertig, so ging er alles nochmal durch; wenn alles seine Ordnung hatte, plazierte er die akkurat gestapelten Rabattbücher vor sich auf den Tisch, um sie am Ende der Sitzung an die einzelnen Genossinnen und Genossen auszuteilen.

Glanzlichter und Höhepunkte des verkaderten Beamtentums bildeten die Tätigkeiten der "Ausrichter". Ein Ausrichter war ein höherer Kader, der von oben in eine Zelle geschickt wurde, um diese im Sinn der höheren Ebene politisch auf Vordermann zu bringen, sie "auszurichten". Unsere Zelle, die sich durch Kritik nach oben hervorgetan hatte, verdächtigerweise auch noch eine sehr große Massenbasis am Fachbereich besaß, geriet schnell in den Geruch des "Rechtsopportunismus". So saß er also eines Abends unter uns, im grauen Anzug, mit rosa Hemd und modischer Krawatte: unser Ausrichter. Einige kannten ihn zwar vom Sehen, man wußte, daß er irgendwann in eine höhere Etage aufgestiegen war - von ihm selbst wußte man nichts und er ließ es dabei. Seine Aufgabe sah er darin, nach einiger Zeit die ideologische Hauptfrage in die Diskussion zu bringen: Wie steht dein Vorschlag zur Arbeiterklasse und ihrer Partei? Wie stehst du selbst zur Arbeiterklasse und ihrer Partei? Was tust du für die Arbeiterklasse und ihre revolutionäre Partei? Dabei setzte er sich bequem, machte sich breit, stellte den Kamm auf wie ein Hahn im Revier, kritisierte ziemlich unflätig manche Genossen, die sich aufopferten und weit mehr taten als er. Doch alle duckten sich, verpflichteten sich zu Gehorsam. Wir schrieben ein neues, kleines Kapitel der deutschen Misere - keiner warf ihn hinaus. Als er im Windscchatten einer Generalausrichtung des Gesamtverbandes seine Tätigkeit beendet und die Hälfte der Sympathisanten weggegrault hatte, bekundete er nur noch kurze Zeit seine entschiedene Haltung für Arbeiterklasse und Partei: plötzlich war er weggetaucht, trat aus dem KSV aus und schlug vermutlich eine richtige Beamtenlaufbahn ein, für die er so fleißig geübt hatte.

Der Verwaltungs- und Agitationsapparat produzierte einen unversiegbaren Flugblattregen, der wie ein unaufhörliches Gebrabbel auf die Leute herniederging. Überlegungen wurden angestellt, wie diese Monotonie durch besondere Effekte durchbrochen werden könne, vor allem, wie man sich angesichts schwindender Sympathie von der Konkurrenz abheben könne. Kurzansprachen, Kurzkundgebungen, Flurversammlungen, Reden, wie anfangs beschrieben, sollten das Interesse wecken. Megaphone wurden eingesetzt, die auch bei absolut nichtigen Anlässen lautstark herumtönten. Kurz, zum Berufspolitiker gesellte sich der lästige Hausierer, der den Fuß zwischen Tür und Angel setzt. Dies führte - kein Wunder - zur entnervten Reaktion der Studenten, die das Zuhören verweigerten.

Als Mitglied eines Agitations-Tagestrupps lernte ich, Studenten während des Mittagessens anzusprechen, mit einem Suppe löffelnden Opfer ein Verkaufsgespräch anzubandeln.

All diese Formen von Massenfeindlichkeit entströmen der Routine des beamteten Berufspolitiker-Alltags. Marx hatte im Kornmunistischen Manifest geschrieben, daß die Befreiung der Arbeiter das Werk der Arbeiter selbst sein kann. Während meiner KSV-Zeit habe ich diesenSatz immer nur so verstanden, daß die Arbeiterklasse die anderen unterdrückten Schichten im Befreiungskampf anführen müsse. Ich habe "Arbeiterklasse" nur immer unter dem Aspekt des Führungsanspruchs wahrgenommen, der real natürlich der der Partei ist. Nicht verstanden wurde und wird der Inhalt des Satzes, wie er gemeint ist: daß Politik Sache der Betroffenen ist und nicht etwas, das an irgendwelche Vertreter oder Repräsentanten delegiert werden kann; Politik ist kein Anspruch, den irgendeine Gruppe für andere wahrnehmen kann. Politik ist keine Sache von Spezialisten, - wer das trotzdem meint, der ist ein bürgerlicher Politiker und bringt die Sache der Unterdrückten und Ausgebeuteten nicht voran. Die Berufung auf Lenin s Partei der Berufsrevolutionäre ist nicht nur historisch sehr fragwürdig, sie versucht auchjenen routinierten Berufspolitiker-Alltag zu rechtfertigen, der in seinem Beamten- und Repräsentantentum weniger den Geist des Marxismus entstammt als vielmehr der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie, in der die Gründer und Mitglieder dieser Vereine groß geworden sind.

Quelle: anonym: Wir warn die stärkste der Partein..., S. 81, Rotbuch Verlag Berlin 1977

Frühe Unordnung und spätes Leid - Ein Antiautoritärer aus der Provinz wird "Parteikader"

Die Vorgeschichte

Ich bin im Südwesten der BRD aufgewachsen, in einer traditionell von Landwirtschaft und Weinbau geprägten Gegend mit kleinen Städten ohne nennenswerte Industrie. Diese Städte stellen für die in ihnen tonangebenden Schichten - Rechtsanwälte, Ärzte, Beamte und einige wenige Unternehmer - eine Art Enklave dar, sie ermöglichen eine Existenzform, die vermeintlich an den Traditionen kleinstädtischen Honoratiorentums anknüpft. Man kann sich über die als bedrohlich empfundenen "Zustände" in den industriellen Ballungsgebieten der BRD solange erhaben fühlen, wie es gelingt, die von dort ausstrahlenden Einflüsse an einem eisernen Vorhang von Enge und Beschränktheit abprallen zu lassen - ob es sich um die Drogen amerikanischer Besatzungssoldaten oder die „Ideologien" Frankfurter Linksintellektueller handelt.


Die Arbeiterklasse

Wie viele meiner damaligen Mitschüler und späteren Genossen stamme auch ich aus dem Milieu dieser versiegenden kleinstädtischen Honoratiorenschicht. Als sich nach dem 2. Juni 1967 in den Universitätsstädten die antiautoritäre Bewegung herausbildete, befanden wir uns auf einer tastenden Suche nach etwas, womit man sich gegen den "Kleinstadt-Mief", die Enge und spießige Atmosphäre der Umwelt zur Wehr setzen konnte. Unsere durchaus dünkelhafte Abneigung gegen konservative Moral und Heuchelei schien uns in den frühen Degenhardt-Liedern treffend ausgedrückt zu sein. Von reaktionären Lehrern heimlich entfernte pazifistische Plakate und angedrohte Schulverweise wegen Abwesenheit beim Schulgottesdienst hatten erste Flugblätter zur Folge, in denen die Frage nach "Demokratie in der Schule" gestellt wurde. Suhrkamp-Bände und Ostermarschierer-Plaketten wurden angeschafft und sooft das Geld für die Fahrkarte reichte, fuhr man zu Demonstrationen nach Frankfurt, wo wir in den Genossen des SDS neue Bezugspersonen trafen, mit denen wir uns identifizieren konnten.

Lehrer und Eltern, die uns weismachen wollten, hier handle es sich um "eingeschleuste DDR-Agenten" oder Schlimmeres, konnten uns nicht mehr sonderlich beeindrucken. Denn wir hatten inzwischen die Erfahrung sammeln können, wie die Weigerung einer Untersekunda, ein 20strophiges Gedicht auswendigzulernen, dazu führte, daß die Eltern der vermuteten "Rädelsführer" in die Schule bestellt und darüber befragt wurden, ob ihre Söhne und Töchter "Kommunisten" seien.

Innerhalb von drei Jahren entwickelte sich in diesem Gebiet eine relativ schlagkräftige, über fünf Kleinstädte verteilte Schülerbewegung. Aktionen gegen CDU- und NPD-Veranstaltungen während des Bundestagswahlkampfes 1969 mobilisierten bis zu 300 Genossinnen und Genossen, ein halbes Dutzend größerer Versammlungen wurde gesprengt, unter anderem auch die mit dem damaligen Innenminister Benda (CDU) umherreisende "Sicherheitsgruppe Bonn" ziemlich verblüfft. In wachsendem Maße konnten wir uns neben sicheren Mehrheiten an den Gymnasien auch auf Lehrlinge, Kriegsdienstverweigerer und junge Arbeiter stützen, die während der Wahlkampf-Aktionen zu uns gestoßen waren. Deshalb bemühten wir uns, wie damals die ganze APO, zunehmend Konflikte außerhalb der Gymnasien aufzugreifen oder zu provozieren. In verschiedenen Städten des Gebietes wurden Clubs und Lokale in leerstehenden Läden eingerichtet, in denen sich die jugendlichen Outlaws der Kleinstädte trafen, also mißratene Sprößlinge der "Oberschicht" und deklassierte und teilweise kriminalisierte Teile der Arbeitejugend. Die ziemlich wacklige gemeinsame Basis war das Gefühl, eine Art negativer Elite gegenüber einer von geheuchelter Wohlanständigkeit strotzenden Umgebung darzustellen. Das in Teilen der 'neuen Linken' damals gängige Konzept der "Randgruppenarbeit" erhob dieses urwüchsig entstandene Bündnis in den Rang einer bewußt betriebenen politischen Strategie. Go-ins in Lehrerzimmer, Unterrichtsboykotte und Verweigerungshaltungen halfen uns jetzt nicht mehr, wenn wir wegen eines mit roter Farbe angemalten Kriegerdenkmals plötzlich eine kleinstädtische "Volksgemeinschaft" gegen uns hatten, Strafanzeigen abbekamen und Polizeirazzien in unseren Jugendclubs gegenüberstanden. Doch nicht nur der Druck wuchs, sondern auch die Unsicherheit darüber, für und mit wem wir eigentlich unsere politische Arbeit fortsetzen sollten. "Radikale Interessenvertretung" an den Gymnasien eröffnete eben noch keine sozialistische Perspektive, wenn unpolitische Mitschüler gegen die Linken zu opponieren begannen, weil diese das Niveau in den Gesellschaftslehre-Fächern zu hoch trieben.



Als dann auch noch der SDS zu zerfallen begann und die Fraktionierung der linken Bewegung einsetzte, verloren wir die Kontakte in den für uns erreichbaren Uni-Städten. Wir erkannten zwar in der Misere der Bewegung auch unsere eigene wieder. Der Versuch, die Positionspapiere, die aus Frankfurt, Heidelberg und Berlin in unsere Hände gelangten, auf unsere Schwierigkeiten "anzuwenden", scheiterte jedoch, weil die Auflösung und Privatisierung in unseren Schüler- und Lehrlingsgruppen einen Prozess der Meinungsbildung und Beschlußfassung nicht mehr zuließ.

Theoretische Arbeit und 'Annäherung an die Arbeiterklasse'

Nach einem Sommer, der voll mit Shit-Konsum und Reiseabenteuern gewesen war, kam ich mit 5 anderen Genossen zu dem Schluß, daß mit der bisherigen Arbeitsweise gebrochen werden müßte. Bruch und Umorientierung erschienen uns als einzige Alternative zur Fortsetzung von Lethargie und Privatisierung. Da uns die theoretischen Grundlagen fehlten, um die bisherigen Erfahrungen in gemeinsame Lernprozesse zu überführen und zu einem anderen Politikverständnis zu gelangen, zogen wir uns für mehrere Monate von aller Praxis zurück und legten eine Denkpause ein. Wir begannen uns in stundenlangen Sitzungen angestrengt und akribisch mit den kleineren Marx- und Engels-Schriften zu befassen und arbeiteten uns allmählich zur "Deutschen Ideologie" und Georg Lukács' "Geschichte und Klassenbewußtsein" voran. Mit der "eklektizistischen Theoriebildung" sollte endlich Schluß sein. Wir lasen mehr und mehr Lenin- und Luxemburg-Texte, offiziell unter dem Vorwand, mit Rosas Hilfe den Lenin auf seine Anwendbarkeit abzuklopfen, in Wahrheit jedoch bereits unter der stillschweigenden Prämisse, daß Lenin recht hatte. Allmählich begannen sich Vorstellungen von der Wissenschaftlichkeit des Marxismus-Leninismus und der Notwendigkeit rigider und hierarchischer Organisationsstrukturen zur propagandistischen Verbreitung des "wissenschaftlichen Sozialismus" festzusetzen. Bisher hatte jede ernsthafte Verschärfung der Lage unsere antiautoritären Schülergruppen in eine Krise gestürzt. Wenn einzelnen Genossen ein Schulverweis oder ein Gerichtsverfahren drohte, konnte kein Widerstand organisiert werden, weil mehrere Genossen gerade "politisch frustriert" oder "abgeschlafft" waren.



Ausgehend von diesen Erfahrungen verstanden wir unter "Leninismus" eine Organisationstheorie, mit deren Hilfe die bisherige Unverbindlichkeit überwunden werden konnte. In einer bis dahin antiautoritären Schülergruppe, die mit ihrer buntscheckigen Politik an Grenzen gestoßen war, konnten verbindliche Diskussionsformen und zuverlässige Praxis scheinbar nur unter Berufung auf einen Säulenheiligen, der Arbeiterbewegung durchgesetzt werden. Protokollschreiben und Pünktlich-sein waren nur auszuhalten in dem Gefühl, damit weltgeschichtlich bewährten Prinzipien gerecht zu werden.

Neben unserer Schulung begannen wir, uns an der Arbeit der kleinen und wenigen Gewerkschaftsjugendgruppen des Gebietes zu beteiligen, natürlich unter strenger Absetzung von all dem, was wir davor getan hatten. Die Mitarbeit in der Gewerkschaftsjugend erwies sich bald als sehr erfolgreich, denn einerseits konnten wir uns aufgrund unserer Kenntnisse und politischen Erfahrungen bald unentbehrlich machen, zum anderen waren wir nach den vorherigen Niederlagen bescheiden genug, um uns geduldig und ausdauernd in der neuen politischen Umgebung einzufühlen. Gemeinsam mit zwei rührigen sozialdemokratischen Jugendsekretären und einer Anzahl sehr aktiver Lehrlinge gelang es, innerhalb eines Jahres 14 neue Gewerkschaftsjugendgruppen aufzubauen. Die etablierte rechtssozialdemokratische Bürokratie verfolgte diese Bemühungen zwar mit Stirnrunzeln, konnte aber aufgrund der "positiven Mitgliederentwicklung" kaum etwas anderes tun, als im Apparat gewisse Fußangeln auszulegen. Nach der langen und mühseligen Suche nach einem politischen Bezugspunkt, stellte diese Entwicklung für uns ein riesiges Erfolgserlebnis dar. Unser "Bruch" mit der antiautoritären Vergangenheit schien durch die Praxis bestätigt und wir kamen uns als Intellektuelle vor, die mit ihrer alten Umgebung gebrochen hatten, um hingebungsvoll der Arbeiterklasse zu dienen.

Fraktionsarbeit für die KPD/AO

Die Ferien im Sommer 1970 hatte ich mit meiner Freundin in Berlin verbracht, wo wie immer während der Semesterferien alles ziemlich tot war. Wir hatten deshalb einfach die Kontaktnummern der drei Berliner Organisationen KB/ML, PI/Pi und KPD/AO angerufen. Wir hatten dabei eigentlich kein gezieltes Interesse, bisher kannten wir uns in der Frankfurter und Heidelberger Szene aus und wollten nun anläßlich unseres Ferienaufenthaltes mal hören, was die Berliner Genossen zu sagen wußten. Im übrigen gingen wir viel ins Schwimmbad, liefen abends in der Ku-Damm-Gegend herum oder machten regelrechte "Ausflüge" nach Kreuzberg und in den Wedding, wo wir mit großen Augen alles anguckten.

Die einzige Organisation, die überhaupt unter der angegebenen Telefonnummer zu erreichen war, war die "KPD/Aufbauorganisation", so daß wir uns nur mit zwei Mitgliedern dieser Gruppe treffen konnten. Denen berichteten wir über das Gebiet, aus dem wir stammen, unseren "Bruch mit dem Antiautoritarismus" und die daran anschließende Gewerkschafts- und Schulungsarbeit. Das Erzählte wurde sehr beifällig aufgenommen und in einer schwarzen Kladde sorgfältig notiert - was uns das Gefühl vermittelte, sehr wichtige Informationen zu geben. Anschließend sagte einer von denen einiges über die "Prinzipien und Positionen" seiner Organisation, was nur wenig über das hinausging, was uns bereits aus der "Roten Presse Korrespondenz" bekannt war. Schließlich wurde vereinbart, sich künftig gegenseitig zu informieren. Wir erklärten uns bereit, Material über unsere Gegend für die "nationale Untersuchungstätigkeit" der KPD/Aufbauorganisation bereitzustellen, im Austausch sollten wir ab sofort 5 Exemplare der "Roten Fahne" erhalten, damit wir uns über "Fortschritte und Weiterentwicklung der Linie" der KPD/AO informieren könnten.

Wir waren von diesem Gespräch recht angetan, fühlten uns von einem führenden Genossen einer Organisation, die zunehmend von sich reden machte, bestätigt. Ich schickte jetzt häufig Arbeitsmarktberichte, Gewerkschaftsmaterial u.ä. nach Berlin, in der Vorstellung, damit die wissenschaftliche Vorbereitung des bundesweiten Aufbaus einer Arbeiterpartei zu unterstützen. Außerdem beschäftigte ich mich intensiv mit dem mir zugeschickten Propaganda-Material und begann auf der dort formulierten Linie zu argumentieren. Bei meinen Genossen stieß ich damit vorerst auf Skepsis, denn einige sympathisierten mit anderen SDS-Splittern, z.B. der "Gruppe Rotes Forum", die aus dem Heidelberger SDS hervorgegangen war. Unsere Schulungssitzungen über "Leninismus ja oder nein?" verflachten jetzt vollends zur Debatte über "KPD/ AO ja oder nein". Dabei kam mir zugute, daß die Organisation in ihren Publikationen ständig den Eindruck herzustellen vermochte, als gebe es einen nationalen Aufbauplan "der Partei", der binnen zwei Jahren dazu führen müsse, daß auch in entlegenen Gebieten wie dem unsrigen die Aktivitäten in den Rahmen einer revolutionären Arbeiterpartei eingebunden werden könnten.

Die unterschiedlichen Neigungen für sich gerade entwickelnde ML-Parteien behinderten unsere Arbeit in der Gewerkschaftsjugend damals in keiner Weise, denn zwischen dem Parteigründungs-Fieber und den Aufgaben unserer neugegründeten Gewerkschaftsgruppe lagen ohnehin Welten. Für unsere Kollegen und Genossen in der Gewerkschaft, die sich nicht nur in ihrer betrieblichen Arbeit, sondern auch gegenüber der gewerkschaftlichen Bürokratie behaupten mußten, war das, was wir ihnen über die Notwendigkeit einer revolutionären Kaderpartei erzählten, für lange Zeit etwas Exotisches, von ihrer Arbeit völlig Getrenntes. Sie nahmen uns das aber auch nicht weiter übel, sondern betrachteten unsere Darlegungen zu diesem Thema fast liebevoll als die intellektuellen Eierschalen, die uns wohl noch unter den Armen klebten.

Ungeachtet aller Debatten über die "richtige Linie" hatten wir zu den damals existierenden ML-Parteien eher ein spielerisches Konsumentenverhältnis. Was an Informationen und Argumenten aus den Zeitungen verwertbar schien, machten wir uns ebenso zunutze wie bestimmte formalisierte Arbeitsweisen. Alles, was nicht als einsichtig erschien, konnten wir jederzeit ignorieren - "Was in Berlin geht, muß ja noch lange nicht in der Provinz gehen."

Dieses Verhältnis zur ML-Bewegung änderte sich, als die KPD/ AO aus Berlin einen dreiköpfigen "Untersuchungstrupp" in unser Gebiet entsandte, der die Verhältnisse "vor Ort" kennenlernen und unsere Bindung an ihre Organisation forcieren sollte. Für derartige Unternehmungen existierte in der Organisationssprache der Begriff "Untersuchungen führen und organisieren", der "marxistisch-erkenntnistheoretisch" hergeleitet wurde und darauf hinauslief, das Potential westdeutscher Gruppen in etwa einzuschätzen und diese, wo möglich, einzugemeinden.

Uns erschien der angekündigte Besuch des "Untersuchungstrupps" als bedeutungsvolles Ereignis, dem wir uns auf der vollen Höhe unserer "marxistisch-leninistischen Umgestaltung" stellen mußten. Das Treffen wurde nach außen als "Meinungsaustausch" deklariert, obwohl für alle Beteiligten unausgesprochen klar war, daß am Ende eine feste Zusammenarbeit mit der KPD/AO stehen würde. Unter den Genossen aus Berlin, die im Abstand von zwei Tagen bei uns eintrafen, waren auch zwei ZK-Mitglieder, was uns als Ausdruck besonderer Wertschätzung erschien. Erst später erfuhr ich, daß damals ohnehin mehr als ein Drittel der KPD/AO-Mitglieder gleichzeitig im ZK saß, diese typischen Wasserkopf-Merkmale konnten wir damals allerdings schwerlich überblicken.

Die Genossen betonten, daß sie gerade von längeren "Untersuchungsfahrten" aus dem Ruhrgebiet und Baden-Württemberg kämen und vermittelten uns den Eindruck, als würden gerade Dutzende solcher Trupps quer durch die BRD reisen und ein sich ständig verdichtendes Netz von Kontakten, Sympathisantengruppen und Anlaufstellen schaffen. Der "Parteiaufbau" schien ein sehr dynamischer Prozeß zu sein, jedenfalls war viel vom mühsamen Kaderleben auf der Autobahn die Rede.

Der "politische Meinungsaustausch" fand in Gestalt längerer .Gespräche in Cafés und Weinstuben sowie bei einigen "Untersuchungsfahrten" statt, bei denen neben den größeren Industrie-Betrieben auch Burgruinen, Aussichtspunkte und das Denkmal des „Jägers aus Kurpfalz" besichtigt wurden. Am Ende ihres Besuches hatten die Vertreter der KPD/AO es geschafft, die noch bestehende Skepsis auszuräumen. Die Kontakte nach Berlin waren nun nicht mehr meine Privatsache, sondern ein Bestandteil des gemeinsamen Selbstverständnisses unserer Gruppe geworden. Wir sind zweifellos der KPD/AO wie ein reifer Apfel in den Schoß gefallen - was mir später in der "Partei" als "gute Vorarbeit" hoch angerechnet wurde und meinen anfänglich guten "Draht" zu verschiedenen "führenden Genossen" der Organisation begründete.

Die wirklichen Gründe dieses raschen Übergangs lagen aber woanders. Zunächst empfanden wir es als äußerst schmeichelhaft, daß sich Vertreter einer Organisation, die anscheinend gerade dabei war, die gesamte westdeutsche Linke aufzurollen und zu vereinheitlichen, mit unseren Erfahrungen und Problemen offenbar sehr ernsthaft auseinandersetzen wollten. Weiterhin hatten wir das Bedürfnis, unsere Schwierigkeiten und Erfolge in der gewerkschaftlichen Jugendarbeit mit anderen Genossen zu bereden und in irgendwelche übergreifenden Zusammenhänge einbringen zu können. Ebenso wie andere ML-Parteien stieß die KPD/AO mit ihrem Angebot einer organisierten Zusammenarbeit und einer ständigen Beratung und Rückkoppelung in eine Marktlücke. Auch die organisatorischen Vorgaben der ML-Parteien in Form von Zeitungen, Flugblättern und Informationsheften mußten auf Provinzgruppen, die meistens ohne jegliche technische Ausrüstung dastanden, unwiderstehlich wirken. Schließlich war die Vorstellung, mit der eigenen politischen Alltagsarbeit zugleich "höheren" Zielen, nämlich dem "Zusammenschluß der Arbeiterklasse" und der "Schaffung der K.P." zu dienen ein tolles Mittel, sich über die eigene, häufig als mißlich empfundene Realität zu erheben.

Gründung einer kommunistischen Jugend-Organisation

Getreu der Absprachen mit den Kontaktpersonen der KPD/AO begannen wir nun, die Gründung einer kommunistischen Jugendorganisation vorzubereiten. Diese sollte der KPD/AO zwar politisch unterstellt sein, in praktischer und organisatorischer Hinsicht aber selbständig arbeiten. Wir begannen uns wieder nach Genossen umzusehen, da wir uns zu fünft ja nicht gut selbst zur Organisation ernennen konnten. Eine Rekrutierung in der Gewerkschaftsjugend unter offen kommunistischen Zielsetzungen war allerdings zunächst noch ziemlich heikel. Leichter war es da schon, Verbündete unter den Resten der Schülerbewegung zu finden. Da wir diesen Genossen als die Erfolgreichen gegenübertreten konnten, die sich nicht nur in der Gewerkschaft neue Betätigungsfelder erschlossen, sondern jetzt auch die KPD/AO im Rücken hatten, gelang es innerhalb weniger Monate in mehreren Kleinstädten, in denen vorher eine antiautoritäre Bewegung existiert hatte, kleine Niederlassungen zu schaffen.

Die neue Zielsetzung machte es nun auch erforderlich, Flugblätter und "nationale Aufrufe" der KPD/AO vor Betrieben zu verteilen und in der Öffentlichkeit als "Kommunist" aufzutreten. Als erstes Versuchsobjekt wählten wir uns ein ziemlich abgelegenes Drahtwerk mit 300 Belegschaftsmitgliedern. Hier bestand keine Gefahr, von allzu vielen Leuten beobachtet zu werden. Offizielle Begründung für die Auswahl dieses Drahtwerkes war dagegen, daß es zum Thyssen-Konzern gehört, der von der KPD/AO als "strategisch-wichtig" eingeschätzt wurde.

Da zu befürchten war, etliche der als Verteiler bestimmten Genossen würden verschlafen oder könnten sich drücken, trafen wir uns am Vorabend des ersten "Agit-Prop-Einsatzes" in einer Kneipe, um letzte Verhaltensmaßregeln auszugeben. Dieses Treffen zog sich bis 4 Uhr morgens hin, so daß wir gleich aus der Kneipe zum Betrieb fahren konnten. Dort versuchten wir in ziemlich besoffenem Zustand,- den verschlafenen und mürrischen Arbeitern unsere "Rote-Fahne-Sonderdrucke" in die Hand zu drücken. Für deren indifferente und kopfschüttelnde Reaktionen hatten wir eine ebenfalls recht besoffene Erklärung parat: Die Reaktionen der Arbeiter bewiesen, daß der Betrieb vermutlich seit der Weimarer Republik nicht mehr mit kommunistischer Propaganda versorgt worden sei. Man sehe daran, wie "bitter notwendig" die "Schaffung der KPD" heute sei.

Weiter führten wir sog. "Ermittlungsgespräche" durch. Man traf sich unter Wahrung von allerlei Vorsichtsmaßnahmen mit einem oder mehreren Kollegen aus einem bestimmten Betrieb und versuchte, mithilfe eines vorgefertigten Fragebogens Informationen über diesen Betrieb zu erlangen. Diese wurden in "Untersuchungsberichten" zusammengefaßt und nach Berlin geschickt. Wir hatten die Vorstellung, daß diese Berichte in Berlin von den "wissenschaftlichen Kommissionen des Zentralkomitees" bearbeitet würden, zumal derartige Berichte auch immer wieder angefordert wurden. Später konnte ich erleben, wie sie flugs in den unteren Schreibtischschubladen „führender Genossen" verschwanden.

Es gab eine ganze Menge solcher in Wahrheit völlig überflüssiger und sinnloser Verrichtungen, denen aber organisationsintern ein äußerst hoher Stellenwert zugemessen wurde. Der lag aber nicht in der Wichtigkeit dieser Verrichtungen für die praktische Arbeit als vielmehr in ihrer Bedeutung für die Bildung des "Kaderbewußtseins", also des Gefühls, Teil einer exklusiven Elite der Linken zu sein. Das Unverständnis Außenstehender für die merkwürdigen Gebräuche innerhalb der KPD/AO stellte diese nicht in Frage, sondern bestätigte geradezu das gehobene Selbstgefühl der Kader.

Dazu trug auch der Umstand bei, daß Besprechungen mit Vertretern der KPD/AO des öfteren Kurzreisen nach Berlin notwendig machten. Solche Reisen waren gelegentlich mit Auftritten auf den Berliner "Großveranstaltungen" der KPD/AO gekoppelt, was eine besondere Form der "Belohnung" darstellte. Mein erstes Schlüsselerlebnis dieser Art war eine Rede auf einer Berliner 1. Mai-Veranstaltung. Mitten in der sehr hektischen Vorbereitung für unsere eigene, von der DGB-Jugend durchgeführte Demonstration, erhielt ich einen Anruf aus Berlin, ich solle unbedingt auf der dortigen "Großveranstaltung" über unsere Arbeit in der Gewerkschaftsjugend und den Stand unserer Mai-Vorbereitungen berichten. Da ich vermutlich sehr in die örtliche Arbeit eingespannt sei, würde die .Organisation die Kosten für ein Flugticket übernehmen.

Da es am absoluten Vorrang dieses Ansinnens keinen Zweifel geben konnte, setzte ich mich ins Flugzeug nach Berlin und wurde dort von einem Genossen abgeholt. In dessen Wohnung bearbeiteten wir das von mir mitgebrachte Redemanuskript, das ich selbst bereits so abgefaßt hatte, daß die Informationen über unsere Maikampagne in die politischen Schlußfolgerungen der KPD/AO mündeten und deren Parolen bekräftigten. Zusätzlich bauten wir,was ich noch nicht gelernt hatte, in das Manuskript solche Absätze ein, die Beifallskundgebungen des Publikums zwingend hervorrufen mußten. Mit dem so überarbeiteten Redetext fuhren wir in eine Wohnung, wo der für die Durchführung der Veranstaltung gebildete "Stab" tagte. Dort saßen eine Anzahl "prominenter Genossen" herum, das Telefon klingelte, die Türen klappten, in den Ecken lagerten große Stapel von Flugblättern. Mein Manuskript wurde nochmals durchgesehen, weitere beifallsträchtige Wendungen eingebaut. Große rote Kreuze markierten die Passagen, nach denen ich kurz einhalten sollte, damit geklatscht werden konnte. Ganz beiläufig wurde ich auch zum tatsächlichen Stand unserer Mai-Vorbereitungen befragt und erhielt das Geld für das Flugticket.

Beim Betreten des für meine Begriffe riesigen, sich in einem stark verräucherten Zwielicht erstreckenden Saales hatte ich das Gefühl, kurz vor einer bedeutenden Bewährungsprobe zu stehen. Ich hatte zwar in den vergangenen Jahren häufig und routiniert auf Versammlungen mit einigen hundert Teilnehmern gesprochen, hier herrschte aber - verstärkt durch die sorgfältige Ausschmückung des Saales mit einer Unmenge von roten Transparenten und Organisationsemblemen - eine Atmosphäre von Gigantismus, strenger Regelhaftigkeit und Mummenschanz, die das Gefühl entstehen ließ, an einer höchst bedeutungsvollen Handlung mitzuwirken.

Ich war natürlich viel zu aufgeregt, um dem Verlauf der Veranstaltung zu folgen. Als ich an der Reihe war, wurde ich von einem ZK-Mitglied durch die den Podiumsaufgang fest abriegelnden Ordnerketten manövriert, versuchte, mit möglichst festen Schritten das Rednerpult zu erreichen und bekam gerade noch mit, daß ich als junger Gewerkschafter aus..." angekündigt wurde, was bereits frenetischen Beifall hervorrief. Meine Rede muß ich wohl einigermaßen "kämpferisch" vorgetragen haben, jedenfalls kam an den rot angekreuzten Stellen der vorprogrammierte Beifall. Nach Beendigung meiner Rede verließ ich mit weichen Knien das Podium und wurde von mehreren Mitgliedern des "Stabes" händeschüttelnd und schulterklopfend belobigt. Die bereitstehende KSV-Genossin, die mich zum Flughafen fahren sollte, wurde herangewinkt, wir verließen den lärmenden, ständig in Beifallsstürme ausbrechenden Saal. Knapp eine Stunde später saß ich unter schläfrigen Geschäftsleuten und Berlin-Touristen in einer Panam-Maschine Richtung Frankfurt.

Derartige Ausflüge in die "große Welt“ der Organisation wirkten auf mich, ebenso wie auf andere Genossen, die später in den "Genuß" derartiger Auftritte kamen, wie eine Droge. Sie erzeugten einen unpolitischen, rein atmosphärischen Enthusiasmus und verstärkten dadurch die Loyalität gegenüber der KPD/AO. So wurde unser Verhältnis zur Aufbauorganisation auch durch die im Sommer 1971 überraschend vollzogene Umbenennung in "KPD" nicht ernsthaft berührt. Die in einer "Programmatischen Erklärung" aufgestellte Behauptung, die KPD/Aufbauorganisation sei im Grunde von Anfang an eine Kommunistische Partei gewesen, erfüllte uns zwar mit Unbehagen. Aber die Identifikation mit dieser Organisation und die Angst um unsere eigene Identität waren bereits zu groß, um einen ernsthaften Konflikt um die Umbenennung zu führen. Spätestens hier setzte auch bei uns das ein, was bis heute viele Genossen in den ML-Gruppen veranlaßt, völlig unausgewiesene und unmotivierte Linienschwenks ihrer "Führungen" demütig und ohne unangenehme Fragen mitzumachen. Jede harte Kritik könnte das Verhältnis zur Organisation und damit die eigene Identität gefährden.

Stimmungswende in der Gewerkschaftsjugend

Für unsere Arbeit in den Gewerkschaftsjugendgruppen bedeutete unser Anschluß an die KPD/AO, daß wir uns nicht mehr einfach als normale Mitglieder und Kollegen begriffen. Wir waren jetzt eine "kommunistische Fraktion", deren Aufgabe nicht nur in Gewerkschaftsarbeit bestand, sondern in der viel wichtigeren Verbreitung der "Erkenntnis", daß der gewerkschaftliche Kampf nicht ausreicht, um die Interessen der Arbeiterklasse zum tragen zu bringen, daß vielmehr der Staatsapparat zerschlagen werden müsse und dergleichen mehr. Wir bemühten uns daher, die radikaleren und aktiveren Kollegen in unsere Aktivitäten hineinzuziehen und sie für unsere Kommunistische Jugend-Organisation zu gewinnen. Dabei kam uns sehr gelegen, daß die Gewerkschaftsbürokratie sich allmählich gegen die Ausweitung linker Jugendarbeit zu wehren begann und verschiedentlich Aktivitäten der Jugendgruppen sabotierte oder direkt verbot. Dies hatte in den Jugendgruppen schon bei der Vorbereitung auf eine Demonstration zum 1. Mai böses Blut geschaffen. Der lang angestaute Konflikt brach durch, als der, DGB-Kreisvorsitzende den Jugendgruppen die Verteilung einer Flugblattserie untersagte, in der die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes durch die SPD/FDP-Regierung kritisiert wurde.

Auf einer daraufhin anberaumten DGB-internen Diskussionsveranstaltung, an der auch eine Anzahl erwachsener Kollegen, darunter mehrere linkssozialdemokratische und DKP-orientierte Betriebsräte teilnahmen, wurde dem DGB-Vorsitzenden so hart zugesetzt, daß er das Verbot der Flugblattserie rückgängig machte. Zwei Tage später kam ein erneutes Verbot der Flugblätter, diesmal vom Landesvorstand des DGB und verbunden mit der Drohung, alle Jugendgruppen des Kreises aufzulösen.

Diese Vorgänge erschütterten bei zahlreichen Lehrlingen und Jungarbeitern die fest verankerten Vorstellungen von innergewerkschaftlicher Demokratie und schufen einen fruchtbaren Boden für unsere Propaganda. So gelang es binnen weniger Wochen, große Teile der Gewerkschaftsjugend für die örtlichen ML-Zirkel zu gewinnen. Erst dadurch entstand aus den ML-Propaganda-Zirkeln so etwas wie eine regionale kommunistische Jugendorganisation, die in ihren besten Zeiten bis zu 120 Mitglieder hatte.

Auf einer Mitgliederversammlung der Kommunistischen Jugendorganisation wurde dann auf Vorschlag der "KPD" über den 5 Ortsgruppen eine "Zentrale Leitung" installiert. Eine aus Berlin angereiste "Delegation" der "KPD" legte eine Liste von 10 Genossen vor, die jene "Zentrale Leitung" bilden sollten; neben einigen „ideologisch weit fortgeschrittenen" Jungarbeitern im wesentlichen ehemalige Schüler, die nach wie vor den politischen Kern der Gruppen darstellten. Diese Mitgliederversammlung fand in einem evangelischen Jugendheim statt, das uns ein mit der DKP sympathisierender Pfarrer zur Verfügung gestellt hatte, der von seiner Kirchenleitung aufs flache Land verbannt worden war. Aufgrund seiner politischen Orientierung und einer tiefgreifenden Abneigung gegen die Politik der VR China reagierte er voller Abwehr, als er erfahren mußte, zu welchem Zweck wir uns in seinem Jugendheim versammelt hatten. Der drohende Eklat konnte allerdings von einem der angereisten "KPD"-Vertreter abgewendet werden, der seine bildungsbürgerliche musische Bildung in die Waagschale warf, indem er die Dorfkirche zu besichtigen wünschte und dort auf der Kirchen Orgel ein improvisiertes Konzert gab. Der Genosse Pfarrer war tief beeindruckt und kurzfristig bereit, mit "den Maoisten" die Friedenspfeife zu rauchen.

Nach Berlin - Kontinuität und Bruch

Ich war an der Bildung der "Zentrale" kaum noch beteiligt, denn seit ein paar Wochen hatte ich meine Zulassung zum Germanistik-Studium an der FU Berlin in der Tasche und bereitete meinen Umzug vor. Obwohl ich den vorläufigen Abschluß des Organisationsaufbaus als Erfüllung langgehegter Jugendträume betrachtete, hatte ich auch das Gefühl, meine Schuldigkeit getan zu haben. Diese Haltung löste einige Kontroversen mit der „Partei" aus. Einige Kader versuchten mich als dienstältesten Sympathisanten der Gegend zu überreden ' entweder in einer nahgelegenen Uni-Stadt zu studieren und dort für die weitere Ausbreitung der Organisation zu arbeiten oder, noch besser, ins Ruhrgebiet zu ziehen, wohin die "KPD" künftig den Schwerpunkt ihrer Arbeit verlegen wollte.

Ich war gegenüber solchen Ansinnen hart geblieben, denn ich wollte unbedingt studieren, nach den langen Jahren in der Diaspora möglichst in einer der vermeintlichen "Linken Hochburgen". Nach dem Ende meiner Schulzeit wollte ich auch nicht schon wieder irgendwelche Organisationen aufbauen, sondern neben politischer Arbeit auch Ausstellungen besuchen, ins Theater gehen und an Universitäts-Seminaren teilnehmen. Diesen Standpunkt konnte ich einem unserer "KPD"-Betreuer verständlich machen. Er erklärte sich bereit, mit dem "Kader-Verantwortlichen des ZK" in dem Sinne zu sprechen, daß ich "vorläufig" nach Berlin übersiedeln sollte, um dort, wo die "Organisationstätigkeit am weitesten fortgeschritten" sei, "im Apparat" den letzten Schliff zu erhalten.

Ich verlegte also meinen Wohnsitz nach Berlin und zog in eine Wohngemeinschaft, in der ausschließlich Mitglieder und Sympathisanten "der Partei" lebten und in der eine Kammer leer stand. In den ersten Wochen mußte ich mit den üblichen Anfangs-Schwierigkeiten kämpfen: ungenügende Ortskenntnisse, Schwierigkeiten, mein Leben unter neuen Bedingungen sinnvoll zu organisieren, Hilflosigkeit gegenüber dem Uni-Betrieb.

Der Umstand, daß ich mich von der ersten Minute an in Berlin "im Rahmen der Partei" bewegte, vergrößerte meine Eingewöhnungsschwierigkeiten beträchtlich. Da ich binnen kürzester Zeit in "die Partei" aufgenommen werden und in einer Betriebszelle arbeiten sollte, sah ich mich der Erwartung ausgesetzt, meine Schwierigkeiten schnellstens zu überwinden, um für "die Partei" einsatzfähig zu sein. Einstweilen war es jedoch so, daß ich sehr unter dem Verlust der mir vertrauten Umgebung und der jahrelang gewachsenen persönlichen und politischen Bindungen litt. Auch wurde ich von den "Parteigenossen" nun nicht mehr als Repräsentant einer erfolgreichen Politik in einem abgelegenen Winkel der BRD bewertet, sondern als junger Typ mit ganz guten Anlagen, der sich möglichst schnell und glatt in den Organisationsmechanismus einzufügen hatte. Besonders unangenehm war, daß man mir in meiner Einarbeitungszeit" keinerlei präzise umrissenen Aufgaben gegeben hatte und ich folglich von jedermann allerlei technische Arbeiten zugeteilt bekam, die ich kaum ablehnen konnte, da ich ja "nichts zu tun" hatte. Ich rotierte also quer durch alle Bereiche der Organisation und erledigte all die Hilfsarbeiten, für die die Kader keine Zeit hatten. Etwa sonntags früh in eine - mithilfe des Stadtplans zu ermittelnde - Wohnung fahren, um dort 15.000 türkische Flugblätter abzunudeln. So etwas war äußerst frustrierend: man fuhr in eine Wohnung, mit der man nichts verband, um dort für irgendwelche Genossen, die man nicht kannte, Tausende von Flugblättern abzuziehen, über deren Inhalt man ebensowenig wußte, wie über den Zusammenhang, in dem sie notwendig waren. Da ich wochenlang 6 - 8 Stunden am Tag mit solchen entfremdeten Verrichtungen beschäftigt war, stellte sich bald das Gefühl ein, in einer unendlichen Tretmühle gelandet zu sein. Eine Änderung dieser mißlichen Lage erhoffte ich mir von der endgültigen Aufnahme in die „Partei".

Genosse Jakob

Ein wirklicher Meister in der Kunst, über seine Umgebung zu verfügen, war der zu meiner Wohngemeinschaft gehörende ZK-Genosse 'Jakob', der seine "Leitungstätigkeit" tatsächlich mit - wie er heute zugibt* - "süffisanter Schlampigkeit" ausübte. Genosse Jakob, der den Film "Thomas Ceown ist nicht zu fassen" überaus ätzte und sich mit dem von Steve McQueen dargestellten Typus ,des smarten Gentleman-Bankräubers identifizierte, dachte häufiger nach, ob nicht dessen Lebensweise durchaus eine ernstzunemende Alternative zu der Tätigkeit im ZK der "KPD" sein könne. Und wie Thomas Crown war er auch für die anderen Genossen "nicht zu fassen".

Jedenfalls verstand es Genosse Jakob vortrefflich, unter Hinweis auf langfristig anstehende Ausarbeitungen, mit denen er vom ZK beauftragt war, sich aller technischen und organisatorischen Arbeit zu entziehen, einschließlich der in der Wohngemeinschaft anfallenden Hausarbeit. Es gelang ihm immer wieder, nicht nur die WG-Mitglieder, sondern auch seine Freundin dazu zu bewegen, an seiner Stelle die Verpflichtungen zum Flugblattverteilen wahrzunehmen. Währenddessen verbrachte er große Teile des Tages vor dem Fernseher, die Übertragungen der Winter-Olympiade betrachtend.

Solche Verhaltensweisen wären nicht weiter anzumerken, hätten sie nicht in einem empörenden Kontrast zum Tagesablauf der "normalen Kader" gestanden, die 8 bis 10 Stunden am Tag von Termin zu Termin hetzten. Es geht hier nicht darum, den Genossen Jakob im Nachhinein anzupinkeln. In meiner Erinnerung personifiziert er aber eine häufig anzutreffende, ganz handfeste Privilegierung der auf "höheren Ebenen" tätigen Kader. Die Mitglieder der Leitungen waren häufig mit längerfristigen Ausarbeitungen beschäftigt, die es ihnen ermöglichten, bestimmte unangenehme Alltags-Arbeiten abzulehnen, sie waren in ihrer Zeitplanung flexibler und keinen Kontrollen unterworfen. Und ihre Leitungstätigkeit bestand großteils ohnehin darin, halbe Tage in irgendwelchen Uni-Vorhallen oder Wohnungen zu sitzen und Genossen aus den verschiedenen Bereichen der Organisation zu empfangen, mit ihnen über anstehende Probleme zu reden bzw. sie zu "instruieren".

Aufnahme in die "Partei" und "Parteikonferenz"

Nachdem ich mich zwei Monate lang bei vielerlei Hilfsarbeiten "bewährt“ hatte, schlug ZK-Genosse Jakob mich zur Aufnahme in die "Partei" vor. Als besonderes Verdienst wurde hervorgehoben, daß ich bis zu viermal in der Woche morgens um 5 Uhr für jeweils 2 - 3 Stunden vor Betrieben Flugblätter verteilt hatte. Aufgrund dieses "Verdienstes" waren übrigens meine anfänglichen Bemühungen, wenigstens 2 Uni-Seminare in meiner "Freizeit" zu besuchen, im Sande verlaufen. Wenn ich morgens um 9 Uhr durchgefroren und übermüdet vom Flugblattverteilen zurückkam, ging ich nicht mehr ins Seminar, sondern schlief erstmal ein paar Stunden und versuchte die ganze Frustration zu vergessen.

Bevor ich endgültig zum "Parteikader" wurde, mußte ich einer "Aufnahmekommission" des ZK einige Fragen zur "Linie der Partei" beantworten, etwa vom Kaliber: "Warum hat die KPD/AO von Anfang an die Aufgaben einer Kommunistischen Partei wahrgenommen?" oder "Welche Position vertritt unsere Partei gegenüber den Verdiensten und Fehlern des Genossen Stalin?" Diese Prozedur empfand ich als peinlich und albern, letztendlich war mir das aber egal, versprach doch die Aufnahme in "die Partei" ein Ende des Status eines "Sympathisanten vom Dienst", der jederzeit jedem Parteikader dienstbar zu sein hatte. Wie man mir bedeutungsvoll mitteilte, hatte man meine Aufnahme "beschleunigt, um (mir) Gelegenheit zu geben, an der bevorstehenden Parteikonferenz (eine Art 'kleiner Parteitag') bereits als Mitglied der Partei" teilzunehmen.

Die Konferenz fand in einem ehemaligen Kino statt, auf der mit gleißendem Scheinwerferlicht angestrahlten Empore saß das "Zentralkomitee", die ca. 150 "Parteimitglieder" waren dagegen im Halbdunkel der Stuhlreihen versteckt. Im Verlauf der Veranstaltung kam es zu zwei Eklats, die bei vielen "einfachen Mitgliedern" Zweifel über den "demokratisch-zentralistischen Charakter" ihrer "Partei" hervorriefen. Eine von der "Partei-Führung" vorgelegte Resolution, wonach es ab jetzt unter keinen Umständen mehr irgendwelche Aktionseinheit mit "Revisionisten" geben sollte, stieß auf den Widerspruch eines Mitgliedes, das auf dieser Konferenz ins ZK gewählt werden sollte. Mit seiner Position konnte er auf die, allerdings stillschweigende, Zustimmung vieler "einfacher Genossen" rechnen. Insbesondere die wenigen "proletarischen Kader" wußten genau, daß man im Betrieb hier und da durchaus mit SEW-Kollegen gemeinsame Sachen machen konnte.

Aber die Einwände des Genossen wurden von der Kinobühne her hart und ultimativ abgebügelt. Zahlreiche Genossen äußerten sich nur deshalb nicht, weil sie sich nicht trauten, dem ZK zu widersprechen. Daß das ZK die Aufnahme des Genossen in seine erlauchten Reihen anschließend aufgrund der "zutagegetretenen ideologischen Unklarheiten" ablehnte, führte jedermann vor Augen, daß man sich mit dem "Zentralkomitee" besser nicht anlegte.

Zum zweiten Zwischenfall kam es, als eine Betriebszelle beantragte, zwei Mitglieder des "Zentralkomitees" nicht mehr zu wählen. Einer der kritisierten Genossen war mein Mitbewohner Jakob, der sich, vermutlich wieder mal im Zustand "süffisanter Schlamperei" dazu hatte hinreißen lassen, verschiedenen, tief in der Gewerkschaftsarbeit verwurzelten westdeutschen Gruppen die Einstellung dieser Arbeit anzuempfehlen, da es sich ohnehin nur um "ökonomistische Handwerkelei" handele. Dieser Vorwurf wurde von den ZK-Genossen im Brustton der Entrüstung zurückgewiesen, die Konferenz wurde für kurze Zeit unterbrochen, da die Beschuldigungen nicht unmittelbar nachprüfbar seien.

Nach der Pause konnte die irritierte "Partei"-Basis erleben, wie der Zellenleiter der Betriebszelle, aus der die Kritik kam, den Antrag auf Nichtwahl der beiden ZK-Mitglieder zurückzog und der Rest der Zelle sich dem brummelnd anschloß. Die Wahl des ZK konnte nunmehr einstimmig erfolgen.

Leben in einer "Partei"-Wohngemeinschaft

In dieser Zeit zerstritt sich ein in unserer Wohngemeinschaft lebendes Paar. Beide arbeiteten im KSV, bei der beteiligten Genossin löste der Streit eine ernste psychische Krise aus, die sie bewog, ihren bisherigen Einsatz für den KSV in Zweifel zu ziehen und ihre Haltung gegenüber den anderen Gruppen der Berliner Linken neu zu überprüfen. In diese Überprüfung schloß sie auch die SEW (für den Rest der WG: Hauptfeind in der Arbeiterbewegung") sowie die KPD/ML (damals Hauptkonkurrenz in der ML-Bewegung) ein, so daß. in der Wohnung helle Empörung gegen die Genossin entstand. ZK-Genosse Jakob führte gemeinsam mit dem ranghöchsten KSV-Mitbewohner mit der aufgelösten und verzweifelten Genossin zwei der sattsam bekannten "Ermittlungsgespräche". Schließlich wurde ihr mitgeteilt, sie müsse schnellstens aus der Wohnung ausziehen. Dies geschah dann auch. Wie ich später erfuhr, mußte sich die Genossin danach einer längeren psychiatrischen Behandlung unterziehen.

Dieser für uns alle beschämende Vorgang wurde nach einigen pharisäerhaften und inhumanen Sprüchen für erledigt erklärt. Eine Genossin, die Zweifel an der "Richtigkeit der Linie" entwickelte und der es schlecht ging, stellte nicht nur für die "Partei", sondern auch für die Wohngemeinschaft, in der sie lebte, ein "Sicherheitsrisiko" dar.

Ich habe mich damals, sicher auch wegen meines eigenen, ungeklärten Status gegenüber "der Partei", an der gespenstischen Debatte über die Genossin "prinzipienfest" beteiligt. Später konnte ich feststellen, daß ein derartiges Verhalten gerade unter denjenigen, die in der Organisationshierarchie weit unten standen, häufiger anzutreffen war. Ausgerechnet diejenigen Genossen, die neu aufgenommen worden waren oder selbst von "der Partei" kritisiert worden waren, geißelten bei anderen Gelegenheiten angebliche "Abweichungen" am wütendsten und argumentierten als 150prozentige Dogmatiker. Mir war seitdem allerdings auch klar, wo Solidarität und Freundschaft meiner Mitbewohner jederzeit ein abruptes Ende finden würden.

Da alle Kader unserer Wohnung in KSV-Zellen, Betriebszellen oder in "Leitungsgremien" arbeiteten, niemand aber tatsächlich im Betrieb war oder richtig studierte, entwickelte sich unser Zusammenleben in seiner eigenartigen Gesellschaftsferne zu einer ausgesprochenen Subkultur, ganz im Gegensatz zu den politischen Postulaten der "Partei", wonach die Kader mit den "arbeitenden und studierenden Massen" die alltäglichen Lebensbedingungen teilen sollten. Mittelpunkt dieser Halbwelt war natürlich "die Partei", deren politische und praktische Erfordernisse auch die Wohnsituation unmittelbar prägten. So gab es innerhalb der Wohnung eine klare Hackordnung, die der jeweiligen Stellung der WG-Bewohnerin der Organisationshierarchie genau entsprach. Die Wohnung war im Hinblick auf unsere persönlichen Umgangsformen ein Spiegelbild der innerorganisatorischen Prozesse und war alles andere als ein Ruhepunkt, wo man sich ausruhen und neue Kräfte sammeln konnte.

Die ständige Überlastung aller Bewohner ließ nicht nur die kleinsten Reparaturarbeiten nicht mehr zu, sondern unterband auch jegliche Form von Hausarbeit. Etwa 3 Monate nach meinem Einzug ging die Wasserspülung der Toilette kaputt, auch noch bei meinem Auszug ein halbes Jahr später stand stets ein gefüllter Wassereimer neben dem defekten Klo. Abends zwischen 22 Uhr und 24 Uhr klingelte häufig das, Telefon, hob man ab, war der "Agitprop-Leiter" irgendeiner "Zelle" am Apparat, der dringend noch Verteiler für irgendein Flugblatt suchte. An freien Abenden zuckte man unwillkürlich zusammen, wenn nach 22 Uhr das Telefon klingelte.

Über diese Lebensweise wurde zwar viel gejammert, darin kam aber auch reichlich Selbstzufriedenheit über das "harte Leben eines Kommunisten" zum Ausdruck. Die tatsächliche Deklassierung und Verlumpung, die wir alle zusammen mitmachten, galten als Beweis besonders erfolgreicher "Umerziehung" und halfen eine elitäre Haltung zu begründen, durch die wir uns von anderen Linken abhoben, die etwas normaler lebten als wir.

Die Arbeit einer Betriebszelle der "Partei"

Die Betriebszelle, der ich angehörte, bestand aus 6 - 8 Mitgliedern, nur ein Genosse arbeitete im Betrieb. Zuvor hatte die Zelle immerhin noch zwei Mitglieder und mehrere Sympathisanten im Betrieb gehabt, seit der zunehmenden "Kaderumsetzung" nach Westdeutschland, also der "entscheidenden Phase des nationalen Parteiaufbaus", wurde die "Partei" in Berlin außerhalb der Universitäten zu dem großmäuligen Papiertiger, als den man sie in den letzten Jahren kennt. Dies war allerdings für Leser ihrer Publikationen, insbesondere die damals noch zahlreichen KSV-Studenten, kaum erkennbar, meldete die "Rote Fahne" doch Woche für Woche die Gründung neuer Betriebszellen in westdeutschen Großbetrieben. Daß diese westdeutschen Neugründungen in Berlin zur inneren Auszehrung der ohnehin bescheidenen Ansätze betrieblicher Arbeit -führten, war aus den Zeitungen nicht zu ersehen.


Berlin 2003 - Revolutionsgraphik aus der SU der 20iger Jahre als Streetartvorlage.

Nachdem die Verankerung unserer Zelle im Betrieb schon durch den "nationalen Aufbau" stark gelitten hatte, brachte die Aufblähung des "Partei"-Apparates - es entstanden immer neue "Leitungsebenen", die von den in Berlin verbliebenen Genossen gebildet werden mußten - unsere Betriebsarbeit fast völlig zum Erliegen. So kam es, daß sich samstags abends 7 abgehetzte Kader trafen, die den Kopf mit allerlei Leitungsproblemen voll hatten, aber keine Zeit und Energie mehr, um sich nun auch noch über die Betriebsarbeit den Kopf zu zerbrechen. Dazu kamen aber auch noch Flügelkämpfe, in denen sich „ideologisch-klare, prinzipienfeste" Vertreter der Führungsbeschlüsse mit "Rechtsopportunisten" stritten, die ständig mit ihren "ideologischen Unklarheiten" nicht klar kamen.

In dieser Zeit war ich "Betreuer" eines 16jährigen Lehrlings, der bei der "Stadtteilagitation" für den Kommunistischen Jugendverband "gewonnen" worden war. Der war ein äußerst aufgeweckter Typ, der angenehm abstach von den abgehetzten, nur noch Sprechblasen und Parteiparolen ablassenden Jungkadern, entsprechend an seiner Berufsschule und unter seinen Freunden auch sehr beliebt. Diesen Lehrling sollte ich in kürzester Frist "ideologisch qualifizieren", danach sollte er sofort in den Jugendverband aufgenommen werden, da dort ein ziemlicher Mangel an derartigen Jugendlichen herrschte - nach allem vorher beschriebenen kein Wunder. Kurz vor seiner Aufnahme in den Jugendverband erklärte mir dieser Lehrling, daß er doch keine Lust hätte, sich politisch zu organisieren, er wolle auch mal mit Freunden zwei Monate durch Frankreich trampen und ähnliche Sachen machen. Da man das aber als "Mitglied" nicht könne, weil man nur 3 Wochen Urlaub im Jahr hätte, wäre es ihm lieber, wenn er "Sympathisant" bleiben könne. Diesen Argumenten stand ich trotz meines Kader-Bewußtseins völlig hilflos gegenüber. Eigentlich hatte ich auch gar keine Lust, dem Genossen zu widersprechen, weil ich fand, daß er recht hatte. Mir wurde klar, daß wir mit unserer Arbeitsweise und dem absolut unmenschlichen Klima in unseren Organisationen niemals für Jugendliche, aber auch nicht für erwachsene Arbeiter mit Familie, eine Perspektive darstellen würden.

Studiums-Verbot und Strategie der Abnabelung

Im Gegensatz zu vielen Genossen, die in der damaligen Zeit die völlige Trennung von Politik und Privatleben praktizierten und unter diesem Widerspruch zu leiden begannen, wäre ich schon für ein völlig abgetrenntes Privatleben dankbar gewesen. Ich war nun seit einem Jahr in Berlin als Parteikader tätig, litt immer stärker nicht nur unter dem Streß unserer Arbeit, sondern auch unter dem Gefühl, daß das meiste, was wir taten, weitgehend sinnlos war. Auch war ich ja nicht nur der "Partei"-Arbeit wegen nach Berlin gekommen, sondern auch, weil ich wissenschaftlichen und kulturellen Interessen nachgehen und in einer Großstadt leben wollte. Alle diese Hoffnungen waren seit geraumer Zeit unter einem Berg von Terminen, Sympathisantengesprächen, Zellendiskussionen, Kommissionssitzungen und Flugblattstapeln verschüttet - eine Situation, die ich solange zu ertragen bereit war, wie ich politische Erfolge erwartet und die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatte, daß meine Bedenken und Vorschläge angehört würden. Da ich meine von Anfang an als zwiespältig empfundene neue Umgebung immer unerträglicher fand, andererseits aber auch auf keinerlei Kontakte oder Freundschaften außerhalb der Organisation zurückgreifen konnte, begann ich darüber nachzudenken, wie ich der "Partei" unter Wahrung meines politischen Anspruchs entfliehen könnte.

Mir fiel ein, daß ich nun schon seit drei Semestern an der FU eingeschrieben war und früher einmal die Zusicherung erhalten hatte, daß ein Studium, soweit es für die berufliche Qualifikation unentbehrlich sei, auch für "Parteikader" möglich sein müßte. Ich verlangte also in meiner Betriebszelle, die Frage meines Universitätsstudiums zu behandeln. Da das meiste, was ich zu diesem Zeitpunkt sagte, ohnehin von vornherein als "rechtsopportunistisch" beargwöhnt wurde, verwies man mich an ein unserer Zelle angehörendes Mitglied der "zentralen Leitung" des KSV. Diese Genossin sollte quasi als unabhängige Gutachterin darüber befinden, wieviel Zeit in meinem Arbeitsplan pro Woche für Uni-Seminare freigeschaufelt werden durfte. Ich verabredete mich für einen Sonntag. morgen mit der betreffenden Genossin, die gerade zur Fertigstellung ihrer Dissertation von der "Partei"-Arbeit befreit war in ihrer in der Innenstadt gelegenen Wohnung. Ich kam um 10 Uhr ziemlich unausgeschlafen, unrasiert und verraucht bei ihr an, da ich nachts zuvor noch verschiedene Sitzungsprotokolle hatte fertigstellen müssen. Die Tür wurde mir von einem aristokratisch wirkenden Herren mittleren Alters geöffnet, der zwischen den Zeigefingern eine Langspielplatte blancierte und mich durch die von Barockmusik erfüllte Wohnung auf einen sonnigen Balkon dirigierte. Dort lag ein knappes Dutzend braungebrannter Leute auf Liegestühlen in der Sonne und verspeiste gerade recht ansehnliche Portionen Eis. Mir erschien das alles nach einer Nacht über seitenlangen Sitzungsprotokollen und im Hinblick auf meine eigene Wohn-, und Lebenssituation wie eine ferne Traumwelt.

Die Genossin aus der KSV-Leitung erhob sich aus ihrem Liegestuhl und führte mich in ein mit hohen Wandregalen voller Bücher ausgestattetes Zimmer, in dem die Unterhaltung über meine Wünsche nach einem Studium stattfinden sollte. Ich erklärte ihr, eigentlich sei von Anfang an mit der "Partei" abgesprochen gewesen, daß ich neben der politischen Arbeit auch studieren sollte. Ich hätte angesichts der "Phase des nationalen Aufbaus der Partei“ darauf nun schon seit drei Semestern verzichtet, hätte aber den Eindruck, daß ich nun doch häufiger an die Universität gehen müsse, um den Anschluß nicht völlig zu verlieren. Ich könne mir vorstellen, daß man fürs Studium etwa zwei volle Tage pro Woche Zeit haben müßte, da man kaum zwischen zwei Sitzungen mal für zwei Stunden etwas Heine lesen und damit sein Studium streiten könne. Das könne man bei entsprechender Planung der eigenen Arbeit schon, wurde mir entgegnet. Im übrigen sei das dem Studieren auch wirklich nicht so wichtig, da man als Parteikader ohnehin später Berufsverbot bekäme. Auch gebe es in der KSV-Leitung einen Genossen, der sich auf seine Zwischenprüfung auf der Fahrt zur Prüfung in der U-Bahn vorbereitet hätte, daran könne man sehen, daß das alles nicht so schlimm sei. Meine Einwände fielen recht zaghaft aus, da ich tatsächlich nicht genau wußte, wieviel Zeit man zum Studieren benötigt. Klar war mir nur, daß man am Anfang allein schon etliche Zeit brauchen würde, um sich in den Uni-Betrieb überhaupt einzufinden. Die Genossin brachte die Diskussion sodann auf zwei Abiturienten im Ruhrgebiet, die nach Beendigung ihrer Schulzeit sofort in den Betrieb gegangen wären und dort nun eine "Partei"-Zelle aufbauen würden. Obwohl ich diese Genossen nie kennengelernt habe, habe ich sie in diesem Moment abgrundtief gehaßt. Das Gespräch endete damit, daß die Genossin aus der KSV-Leitung mir inmitten ihrer nicht gerade von intellektueller Askese zeugenden Wohnung erklärte, bis zum 6. Semester hätte ich ohnehin nur die Rückmeldungstermine an der Uni wahrzunehmen.

Ich war nach dieser Unterhaltung voller Aggressionen gegen die wiederum deutlich gewordene Doppelmoral auf den höheren Ebenen, die es ermöglichte, daß Intellektuelle anderen Intellektuellen die Befriedigung ihrer Bedürfnisse als "kleinbürgerlich" verboten. Zugleich war mir klar, daß dies der letzte Versuch gewesen war, wenigstens einen Bruchteil meiner Wünsche und Vorstellungen in Übereinstimmung mit "der Partei" zu lösen und daß - wie schon am Ende der antiautoritären Bewegung - anscheinend wieder ein tiefgreifender Bruch erfolgen müsse.

Seit dieser Zeit begann ich, ohne Rücksicht auf die Reaktionen der "Leitungen" meine politische Kritik auf alle Bereiche der Organisationstätigkeit auszudehen. Vor allem die RGO-Strategie für die Gewerkschaftsarbeit lehnte ich völlig ab und weigerte mich, derartiges öffentlich zu vertreten. Dabei war mir klar, daß eine solche Kritik, die direkt auf das Selbstverständnis und den Traditionsbezug der "KPD" zielten, früher oder später unweigerlich meinen Ausschluß zur Folge haben würde. Dies wollte ich aber riskieren, denn zum einen verband mich ohnehin nicht mehr viel mit der "Partei", so wie sie war; zum anderen mußte meiner Meinung nach mit der verlogenen Selbstbeweihräucherung bei Mitgliederversammlungen Schluß gemacht werden. Ich hatte einige Male erlebt, wie sich Leitungsgenossen händereibend ins Fäustchen lachten und Aussagen losließen wie: "Ohne unseren größenwahnsinnigen Anspruch, die Partei zu sein, wären wir schon längst erledigt . . ", während die "einfachen Kader" von Termin zu Termin hetzten und an den Unsinn von der "Partei der Arbeiterklasse" glaubten.

Es kam, was kommen mußte: nach einigen Wochen wurden zwei Mitglieder des "Regionalkomitees" damit beauftragt, die "ideologischen Abweichungen" in unserer Zelle zu untersuchen und "Maßnahmen" vorzuschlagen. Während dieser Zeit habe ich bereits keine "Partei"-Arbeit mehr ausgeführt, sondern mich nur noch auf die stundenlangen Debatten in der Zelle vorbereitet. Ich gab mir äußerste Mühe einen möglichst guten Abgang zu finden, ,was insbesondere hieß, die Organisation mit einer umfassenden und geharnischten politischen Kritik zu verlassen. Andere Genossen, die vorher oder nachher die "Partei" verließen, hatten sich häufig nicht getraut, die "Linie" offensiv zu kritisieren, sondern hatten oft weinerlich mit ihrer eigenen "Unfähigkeit" argumentiert. So etwas wollte ich unbedingt vermeiden. Nach meinem Ausschluß, der erst nach einem ziemlich peinlichen Hin und Her und mehreren ultimativen Appellen der "Leitung" von der "Zelle" mit der nötigen Mehrheit beschlossen wurde, fuhr ich in ein italienisches Restaurant und genehmigte mir ein opulentes Mahl. Ich wog nämlich am Ende meiner Zeit als "Partei-Kader" noch ganze 48 Kilogramm. Mir fiel ein, daß am nächsten Tag ein neues Semster anund meinem Studium nun nichts mehr im Wege stand.



Danach

Die ersten Monate verbrachte ich damit, mir ausgiebig die Wunden zu lecken, die ich mir zugezogen hatte. Ich ging fast jeden Abend ins Kino, durchstreifte tagsüber die Berliner Stadtteile, lief durch Kaufhäuser und Parkanlagen und hatte den Eindruck, erst jetzt die Stadt kennenzulernen, in der ich schon seit fast zwei Jahren lebte. Außerdem schrieb ich einen langen Artikel über die Gewerkschaftspolitik der alten KPD für die Zeitung einer konkurrierenden ML-Organisation, studierte kräftig und fand nach und nach einen neuen Bekanntenkreis. Eine wesentliche Voraussetzung für menie glatte Abnabelung von der "Partei" war, daß ich kurz vor meinem Ausschluß eine andere Wohnung gefunden hatte, in der Leute leb ten, die nicht organisiert waren oder gerade selbst dabei waren, Widersprüche zur "KPD" zu entwickeln.

Was ziemlich lange nachwirkte, waren die aus der "KPD"-Arbeit gewonnenen Feindbilder innerhalb der Linken. Mit "Revisionisten", "Spontaneisten" und "Opportunisten" wollte ich nichts zu tun haben. Entsprechend eingeschränkt waren die Möglichkeiten eines erneuten politischen Engagements an der Uni, was sich aber auf mein um drei Semester verspätetes Studium durchaus positiv auswirkte. Erst als eine größere Gruppe von KSV-Genossen, darunter auch einige alte Bekannte, ebenfalls die Organisation verließen und sich in einem "Sozialistischen Plenum" sammelten, schaffte ich es, meine politische Selbst-Blockierung zu überwinden. Danach ist es mir mehr und mehr gelungen, rechte und linke Scheuklappen abzulegen und mich an der Entwicklung von politischen Alternativen zum Sektierertum wieder aktiv zu beteiligen.



* Vgl. P. Mösler, "Was wir wollten, was mir wurden", Hamburg 1977, Kap. 4.

Quelle: anonym: Wir warn die stärkste der Partein..., S. 88, Rotbuch Verlag Berlin 1977

Dieser Text stammt aus der Seite Glasnost, die freundlicherweise Texte aus dem Rotbuch "Wir waren die stärksten der Parteien," von 77 ins Netz gestellt haben. Hier liegen sie als Kopie vor, denn bekanntlich ist das Internet gelegentlich etwas flüchtig. Die Abschaltung des Bad Blog zeigt es wieder mal. Da verschwinden Texte im digitalen Nirvana, unabhängig davon, wie bedeutend oder nicht. Daher scheiß auf eventuelles C, es kann nicht Sinn des Copyrights sein, die Absicherung von Infos zu unterbinden.
Saul 08







Im Internet ist heute viel zu finden, so auch die fast vergessene Agitationsgraphik der Betriebszeitungen, von denen die K Gruppen eine erstaunlich große Anzahl produzierten. Die Graphik der Titel ist vom künstlerischen Standpunkt gesehen, ein Thema für sich. Meist war sie der Graphik der Weimarer KPD nachempfunden. Teils erinnert sie an schlechte Kopien der Industriegraphik der zwanziger Jahre.
Kunstlink(e)
Ist Kunst politisch? Und wenn ja, wie politisch soll sie sein und wenn schon, ist sie rechts oder links? Kunst ist erstmal nichts weiter als ein Medium und die Inhalte können politisch sein. Genau so gut können sie von der Politik benutzt oder mißbraucht werden.
Weit müssen wir nicht zurückschauen. Der Mißbrauch der Kunst in der Nazipropaganda ist ja noch nicht lange her. Danach folgte die kommunistische Werbegraphik deren Standbilder 89 entsorgt wurden bis auf die verbliebenen Reservate wie Nordkorea. Hier finden sich noch die Leinwandbilder im Style des Sozialistischen Realismus, die den großen Vorsitzenden inmitten froher Arbeiter zeigen oder die heldenhaft kämpfenden Soldaten die dem Imperialismus trotzig die Stirn bieten.
Staatliche Auftragskunst war in der DDR üblich und die Ergebnisse wurden dankenswerterweise von der DKP importiert und damit auch den BRD Linken zugänglich gemacht. Zumindest denen die s brauchten. Nur bestand die Linke nicht nur aus DKP und wie hatten die es mit Kunst?
Das ist ein Thema für sich. Linke konnten mit Kunst in der Regel wenig anfangen, wenn überhaupt, dann sollte sie agitativ sein. Sie sollte ein Mittel der Propaganda sein um das blöde Volk aufzuklären und besonders den doofen Arbeiter, der endlich mal seine historische Mission erfüllen sollte. Einfach just for fun vor sich hinkritzeln? Ne, so geht s mal nicht. Wo kämen wir denn da hin, wenn das jeder so machen wollt.
Die Ergebnisse lassen sich besichtigen, heute auch im Internet wo sie dankenswerterweise zur Illustration der entsprechenden Webseit herhalten müssen und manchen Veteranen ein mehr oder weniger freudiges Wiedersehen verschaffen. Fast war man froh, diese ästhetischen Verunstaltungen unschuldigen Plakatpapiers nicht mehr sehen zu müssen, da kommt das Zeug im Netz wieder hoch. Dem optischen Terror linker Plakate wurde mittlerweile in Buchform ein Denkmal gesetzt. Plakate, deren einzig sinnvolle Info Zeit und Ort der Demo schien, ansonsten waren sie eher zum Wegsehen. Plakatgestaltung ist Zeitverschwendung, wir haben ja noch mehr zu tun, die näxte Demo wartet und dann steht noch die Revo vor der Tür.
Fotos gab s ja auch noch. Linke und Fotos? Schon vom Inhalt sah man, mit Bildern haben sie es echt nicht und dann war noch die Bildparanoia, die jedes Bild unter Generalverdacht stellte. Schaut man sich die Bildersammlung in der linken Presse so an, man kann sie abhaken. Wenn man eins gesehen hat, hat man alle gesehen. Die interessanten Bilder überließ man der Presse und selbst druckte man Bilder, denen man das schlechte Gewissen der Produzenten regelrecht ansah. Meist dienten Fotos ohnehin nur dazu, die Bleiwüsten aufzulockern.
Unvergessen die Agitationsfotographie der ML Parteien. Hier diente das Photo grad dazu, die eigenen Demos und Spruchbänder zu dokumentieren.
Das Bildverbot durch den Feminismus ist ohnehin ein Thema für sich und es hat das Erscheinungsbild linker Zeitungen lange geprägt. Bis heute sogar, nur gibt es nicht mehr viele davon in Papierform, womit sich diese Geschichte von selbst erledigt hätte.
Der Gegenschlag kam dann aus einer Richtung, die niemand erwartet hat. Sie kam aus New York überm Teich in Buchform. Danach hatten viele Jugendliche eine Vorlage und ein Medium wo sie ihre Letter hinsetzen konnten. Nicht verwunderlich, das die traditionelle Linke damit nicht viel anfangen konnte und es anfangs nicht einmal verstand. Es dauerte einige Zeit, bis die Buchstabengestaltung auch auf den Transpis linker Demos Eingang fand, immerhin gab s doch Auswirkungen. Davon abgesehen wurden Writer grad mal dem linken Widerstand zugerechnet, weil illegal. Gefragt wurden die Beteiligten natürlich nicht. Dafür ist an den Wänden Platz genug um unzensiert das loszulassen, was in linken Medien der Zensur zum Opfer fällt.
Mittlerweile haben wir ja auch das elektronische Medium Internet und auch da fehlt es nicht an linker Presse, nur eben in Webseitenform. Hier wird die Tradition der linken Medien fortgeführt und hat damit den Sprung ins html Zeitalter geschafft.
Doch es gibt Alternativen. Solang es freien Webspace gibt, kann man zeigen, wie es auch geht.
An linken Medien lässt sich einiges kritisieren, kannst es besser? Nun auf freien Webspace kann man es versuchen und es hat einen Vorteil. Man muß sich vor niemand rechtfertigen.


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