EXKURS: DER DIPLOMAT AUS DEM LIMOUSIN

JEAN GIRAUDOUX

(1882 - 1944)

[Jean Giraudoux 1924. Gemälde von Blanche]

EIN KAPITEL AUS DIKIGOROS' WEBSEITE
DIE BRETTER, DIE DIE WELT [BE]DEUTEN

Aus dem Limousin? Steht nicht im Lexikon, daß Jean (richtig: Hippolyte - seine Eltern waren klassisch gebildete Leute :-) Giraudoux im Département Haute-Vienne geboren wurde? Wohl wahr - aber das hat nichts mit der Stadt Vienne an der Rhône 40 km südlich von Lyon und 50 km östlich der einstigen Fußball-Hochburg St. Étienne zu tun, deren Namen in Deutschland Angst und Schrecken verbreitet, seit dort der "Front National" des bösen Neonazi-Franzosen Jean-Marie LePen das ungeheure Verbrechen beging, die Kommunalwahlen zu gewinnen, sondern es handelt sich um jenen toten Winkel des Limousin, der an Poitou und Marche grenzt, eines der Armenhäuser Frankreichs. Giraudoux wurde in Bellac geboren, was wiederum keinen schönen See bezeichnet, sondern eine Kleinstadt 40 km nordwestlich von Limoges und 30 km nördlich von Oradour, dessen Namen in Frankreich Angst und Schrecken verbreitet, seit in Bordeaux ein Prozeß statt gefunden hat, in dem das Märchen erfunden wurde, daß dort die Waffen-SS der bösen Nazi-Deutschen anno 1944 das ungeheure Verbrechen begangen hatte, ein paar arme, wehrlosen französische Partisanen, pardon Zivilisten hinzurichten, pardon zu ermorden. [Wie es in Wahrheit war, könnt Ihr inzwischen überall im Internet nachlesen; einfach auf einer beliebigen Suchmaschine "Oradour" und "Wahrheit" eingeben. Wem das nicht ausreicht, dem empfiehlt Dikigoros die Bücher "Wo ist Kain?" und "Wo ist Abel?" von Herbert Taege; und da gerade von Lyon die Rede war, auch noch "Der Löwe von Lyon" von Jochen Menzel. (Das Buch "Die Wahrheit über Oradour" von Vincent Reynouard darf er nicht empfehlen, denn es ist inzwischen verboten, und sein Autor sitzt im Gefängnis, für das Verbrechen, es geschrieben zu haben.)] Dikigoros würde das nicht erwähnen, wenn es nicht der Krieg gewesen wäre, genauer gesagt die Kriege zwischen Deutschland und Frankreich, die Giraudoux geprägt haben, und somit auch sein Bühnen-Werk. Anfangs war durchaus noch nicht abzusehen, daß die Theater-Bretter auch für Giraudoux die Welt bedeuten sollten: Erfolgreicher Hochschullehrer, Journalist, Romancier und Diplomat (und am Ende - 1939-40 - noch Propaganda-Minister, dies freilich nicht ganz so erfolgreich), hätte Dikigoros ihn ebenso gut (oder ebenso schlecht :-) auf einer anderen seiner "Reisen durch die Vergangenheit" vorstellen können, etwa bei den Reiseschriftstellern, bei den Satirikern oder bei den politischen Schriftstellern, denn er bereiste die Welt, nahm sie in bester Swift-Manier auf die Schippe (etwa im "Nachtrag zur Reise Cooks") und wandelte sich vom Deutschen-Hasser zum Vorkämpfer der Aussöhnung. 1928 beschloß er, Dramatiker zu werden.

Aber hat Giraudoux denn versucht, in seinen Dramen die Geschichte zu verfälschen, wie die anderen Autoren, die Dikigoros auf dieser "Reise durch die Vergangenheit" vorstellt? Nein, deshalb ist es ja auch nur ein "Exkurs"; aber dieser Exkurs ist notwendig, um ein paar grundsätzliche Überlegungen anzustellen, für die auf der Startseite kein Platz war. "Die Geschichte verfälschen" ist ein böses Wort, deshalb sollte man es nicht in einen Topf werfen mit "die Geschichte falsch darstellen" oder "die Geschichte zur Darstellung seiner eigenen Ideen [miß-]brauchen" - letzteres tut auch Dikigoros, und er betrachtet es als legitim. "Die Geschichte falsch darstellen" hat auch nichts mit Vorsatz zu tun - wahrscheinlich kannte Shakespeare die wahre Geschichte von Macbeth ebenso wenig wie Schiller die wahre Geschichte von Wilhelm Tell (bzw. er wußte nicht, daß diese Geschichte nur ein Märchen war :-) oder Brecht die wahre Geschichte von Galileo Galilei (die Historiker haben sie erst Ende des 20. Jahrhunderts wieder ausgegraben). Gleichwohl, sie alle erhoben den Anspruch, daß ihnen das Publikum glauben sollte, es sei so gewesen, also haben sie - auch ohne Vorsatz - die Geschichte verfälscht, und wir brauchen uns nicht den Kopf zu zerbrechen, ob sie in anderen Stücken - etwa Shakespeare in "Richard III", Schiller in "Wallenstein" oder Brecht in "Arturo Ui" - die wahren Geschichten kannten (oder kennen mußten, was dem nach Meinung der Juristen gleich steht) und somit vorsätzlich handelten. Nein, der Vorsatz alleine macht es nicht. Was dann? Nun, nehmen wir Dürrenmatts "Romulus der Große". Der Autor wird die wahre Geschichte von Romulus und Odoaker sicher ebenso gekannt haben wie das Publikum, und vor allem wird er auch gewußt haben, daß das Publikum sein Stück nicht für bare Münze nimmt - er tritt also nicht mit dem Anspruch auf, daß er hier "wahre" Geschichte darstelle. Und dennoch - und das ist der springende Punkt - versucht er aus dieser Geschichte eine Moral abzuleiten, und zwar eine falsche, die den damaligen Sachverhalt ebenso wenig trifft wie die Gegenwart, auf die er ihn bezieht. Geschieht so etwas böswillig - ein Wort, das Dikigoros viel sympathischer, da klarer ist als "vorsätzlich" -, dann steht das einer "Verfälschung der Geschichte" nicht nur gleich, sondern ist sogar eine besonders perfide Variante. Aber kann man denn eine solche - offenbar unwahre - Geschichte auch "gutwillig" und mit einer "richtigen" Moral auf die Bühne bringen? Das ist eine Wertungsfrage, die schwierig zu beantworten ist. Dikigoros würde sie gleichwohl mit aller Vorsicht bejahen, und als Beleg dafür möchte er nur ein Stück - das Stück - von Giraudoux vorstellen, das eine unwahre Geschichte mit einer wahren Moral erzählt: die Geschichte vom Zustandekommen des Troianischen Krieges.

* * * * *

"La guerre de Troie n'aura pas lieu [Der Krieg von Troia wird nicht statt finden]" war nach dem Zweiten Weltkrieg Jahrzehnte lang Pflichtlektüre im Französisch-Unterricht an Deutschlands "höheren" Schulen, und das war gut so. Es war zugleich das erklärte Lieblingsstück von Dikigoros' Französischlehrer, den es furchtbar aufregte, daß seine Schüler diesem Meisterwerk so gar nichts abzugewinnen vermochten. War es nicht anti-militaristisch? War Giraudoux nicht - wie er selber - durch seine Kriegserlebnisse zum Pazifisten geworden? Liefen nicht die Schüler - es war die Generation der "68er" - ständig auf der Straße herum, um gegen den Krieg im allgemeinen und gegen den Vietnam-Krieg im besonderen zu demonstrieren? Er ließ sie Héktors* cynische Rede an die Toten auswendig lernen - Dikigoros bekommt sie heute noch halbwegs zusammen:
*[Da die dem deutschen Leser vertrauten Namensformen z.T. erheblich von der französischen Schreibweise Giraudoux' abweichen, folgt Dikigoros hier dem griechischen Original. Das hat den Vorteil, daß die Aussprache (und vor allem die Betonung, mit der Deutsche und Franzosen ja gleichermaßen Schwierigkeiten haben) exakt der Schreibweise folgt, also statt Ajax oder Oiax "Aías", statt Andromache oder Andromaque "Andromáche", statt Aphrodite "Afrođítä", statt Euripides "Evripídäs", statt Hektor oder Hector "Héktor", statt Hekabe oder Hécube "Hekábe", statt Helena oder Hélène "Helénä", statt Homère oder Homer "Hómer", statt Kassandra oder Cassandre "Kassándra", statt Menelaos oder Ménélas "Menélaos", statt Odysseus oder Ulysse "Odysséos", statt Paris oder Pâris "Páris", statt Penelope oder Pénélope "Penelópe", statt Priamos oder Priam "Príamos", statt Troja oder Troie "Troia", und statt Zeus "Zevs".]

"O Ihr, die Ihr uns nicht hört, die Ihr uns nicht seht, hört diese Worte, seht diesen Leichenzug.
Wir sind die Sieger... Ihr seid es auch. Aber wir, wir sind die lebenden Sieger...
[In irgendeinem Forum - Dikigoros glaubt sich zu erinnern, daß es das von FOCUS-Online war -
fand sich mal der flapsige Spruch: "Wer lebt ist in, wer tot ist, ist out - so einfach ist das!"]

Ich weiß nicht, ob man in der Masse der Toten die Sieger mit einer Kokarde auszeichnet.
Wir Lebenden, Sieger oder nicht, haben die wahre Kokarde, die doppelte Kokarde...
Wir, wir haben zwei Augen, meine armen Freunde. Wir sehen die Sonne.
Wir machen alles, was man unter der Sonne macht. Wir essen, wir trinken...
Und im Mondschein schlafen wir mit unseren Frauen - und mit Euren auch.
[Warum läßt sich Giraudoux hier das schöne Wortspiel "wir machen Liebe" entgehen, das
sich im Französischen förmlich aufdrängt? Warten wir ab, was er über "Liebe" schreibt...]
O Ihr, die ihr nicht riecht, die ihr nicht fühlt, riecht diesen Weihrauch, fühlt diese Opfergaben.
Erfahrt, daß ich nicht die gleiche Liebe, den gleichen Respekt für Euch alle habe.
Auch wenn Ihr alle tot seid, gibt es unter Euch doch das gleiche Verhältnis
von Tapferen und Feigen wie bei uns, die wir überlebt haben.
Und diese Feier wird mich nicht die Toten, die ich bewundere,
mit denen verwechseln lassen, die ich nicht bewundere...
Der Krieg scheint mir das schmutzigste und verlogenste Mittel,
um die Menschen gleich zu machen..."

Aber auswendig lernen war eine Sache, verstehen eine andere, das tat schon sprachlich kaum jemand (außer Tarzan natürlich, der in der Oberstufe bereits fließend Französisch sprach, wie sein Lehrer - aber er war kein Pazifist und ist es auch später, als Dikigoros, nie geworden; er glaubt vielmehr an den Spruch: "Si vis pacem, para bellum"; und an Héktors Rede hält er den letzten Satz schlicht für falsch: statt "Der Krieg..." müßte es richtig heißen: "Der Tod..."). Und Herr J. irrte schon im Ansatz: Die Demonstranten waren gar nicht gegen "den" Krieg, ja sie waren nicht einmal gegen den Vietnam-Krieg an sich, sie waren nur dagegen, daß der Westen ihn gewönne. Sie waren nämlich keine Pazifisten (von einigen dummen Schafen abgesehen, die sich das einreden und brav mit treiben ließen, den Nullen, die aus den professionell organisierten Demos die "Märsche der 100.000 Ärsche" machten), sondern Kommunisten, und sie wollten den Krieg, nämlich den Krieg von Ho Chi-minh und seinem nordvietnamesischen Vietcong gegen das nicht-kommunistische Südvietnam, und sie waren gegen die USA, gegen die NATO und überhaupt gegen "den" westlichen Kapitalismus. Vielleicht glaubten einige Mitläufer damals wirklich, daß im Kommunismus das Heil läge und hinter dem Eisernen Vorhang das Paradies - zwei Jahrzehnte später sollten die meisten von ihnen eines Besseren belehrt werden (bis auf ein paar Unverbesserliche, aber das ist eine andere Geschichte).

Vielleicht irrte Herr J. auch in Giraudoux' Absichten? War das Stück wirklich anti-militaristisch? Gewiß, Héktor - der erfolgreiche troianische Heerführer - sagt bei einer Gelegenheit sinngemäß: "Ich gewinne jede Schlacht; aber mit jedem Sieg geht ein Stück vom Einsatz flöten." Aber das meint er wohl eher so wie Frau Dikigoros, wenn sie angesichts der Probleme, welche die Israelis im Nahen Osten mit den Arabern haben, sagt: "Ein unfruchtbares Volk, dessen Frauen kaum noch Kinder bekommen, kann nicht gegen ein fruchtbares Volk ankommen, dessen Frauen alle ein Dutzend haben, auch wenn die Männer des ersteren noch so viele Männer des letzteren töten." Womit wir auch schon beim Thema sind, das Dikigoros in die Worte zu fassen pflegt: "Kriege sind immer nur wegen Frauen geführt worden - die Männer haben sie nur ausbaden müssen." [Natürlich stimmt dieser Satz seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr so ganz, denn am Ende war es zumindest in Mitteleuropa fast gefährlicher, als Frau zuhause zu sitzen und auf die feindlichen Bomber zu warten, denn als Mann draußen an der Front zu stehen, aber das konnte Giraudoux noch nicht wissen.] Ihr kennt ja alle die Geschichte vom Troianischen Krieg, liebe Leser, nicht wahr? Und sei es nur aus Gustav Schwabs "Klassischen Sagen des Altertums" ad usum Delfini. Denn die 'Iliada' des Hómeros haben schon aus Dikigoros' Generation die meisten nicht mehr gelesen - geschweige denn im Original. Macht nichts, Ihr wäret eh enttäuscht: Da werden langatmig Streitgespräche beschrieben und Schlachtszenen ausgemalt; aber irgendwie geht es kaum voran; außerdem fehlen Anfang und Ende der Geschichte, und weil der Anfang fehlt, konnte Giraudoux (der das natürlich wußte - er stammte wie gesagt aus einem klassisch gebildeten Elternhaus) seinen eigenen Anfang schreiben. Habt Ihr noch in Erinnerung, weshalb - angeblich - der troianische Krieg ausbrach und worum er geführt wurde? Der troianische Königssohn Páris hatte die schöne Helénä nach Troia entführt. Also taten sich die griechischen Stämme zusammen (ein äußerst seltener, ja fast unglaublicher Vorgang), um sie notfalls mit Gewalt zurück zu holen, was ihnen nach zehn Jahren Krieg Dank einer List des Odysséos (Stichwort "Troianisches Pferd") auch gelang. Was - die schwulen Griechen sollen zehn Jahre lang Krieg geführt haben wegen einer einzelnen Frau? Das glaubt Ihr doch selber nicht, liebe Leser, oder? Hómer mag es geglaubt haben, denn er beginnt seine Geschichte ja auch mit dem Streit zwischen den griechischen Heerführern Agamémnon und Achill um eine Frau - aber auch er kommt nicht um die Tatsache herum, daß der letztere erst in den Kampf eingriff, nachdem Héktor ihm seinen Schwulfreund Patroklos erschlagen hatte. Also vergeßt diesen albernen Vorwand der Entführung der schönen Helénä. (Wenn wir dem Heródotos glauben dürfen, dann kam die überhaupt nie bis nach Troia; vielmehr verschlug sie und den bösen Páris ein Sturm nach Ägypten, wo der Farao sie festsetzte und Menélaos benachrichtigte, der sie prompt abholte und wieder zurück nach Sparta brachte. Und bevor Heinrich Schliemann die Ruinen von Troia ausgrub, bezweifelten viele Gelehrte, daß der "Troianische Krieg" überhaupt je statt gefunden hatte :-) Wenn die Troianer irgend etwas entführt hatten, dann war es die Vormachtstellung der griechischen Stämme in Kleinasien, denn wer den Ein- und Ausgang zum Schwarzen Meer beherrschte - damals eine der wichtigsten Handelsrouten, an Bedeutung nur dem späteren Suez-Kanal vergleichbar -, der konnte den weiter westlich sitzenden Mittelmeer-Anrainern leicht den Saft abdrehen, zumal denen, die auf so karger Erde saßen wie die Hellenen - deren Personifizierung die schöne "Helénä" offensichtlich war. Man braucht nicht so weit zu gehen wie der Schweizer Archäologe und Hobby-Historiker Eberhard Zangger und den damaligen Kampf als "Weltkrieg um die Vorherrschaft in Europa" anzusehen; Tatsache ist aber, daß beide Seiten nur einen Anlaß suchten, um ihn auszufechten.

Glaubt Ihr das Märchen, das nach dem Ersten Weltkrieg ein Lloyd George verbreitete, die Großmächte seien 1914 in den großen Weltenbrand nur "hinein geschlittert"? Das ist - zumal aus dem Munde eines Briten - so ziemlich die dreisteste Lüge, die zu diesem Thema je verbreitet worden ist. Die Wahrheit ist, daß sie allesamt den "Großen Krieg" wollten und nur auf einen passenden Anlaß warteten, von den Majestäten über die federfuchsenden, pardon -führenden Politiker in den Civil-Cabinetten (damals schrieben sie sich noch so) bis hinunter zum Schützen Arsch, der selbigen dafür hinhalten mußte. Ja, an den Heimatfronten (aller Länder!) jubelte, als er endlich ausbrach, auch das einfache Volk - vor allem die Frauen, die ihre Männer, Brüder, Väter und Söhne anspornten, nur ja recht tapfer in den Kampf zu ziehen - mit einer kollektiven Begeisterung, wie sie heute allenfalls noch nach einem gewonnenen Fußball-Länderspiel herrscht. Giraudoux wußte das, denn er selber war mit Begeisterung in den Revanche-Krieg gegen Deutschland gezogen, hatte in Elsaß-Lothringen gekämpft - um das die naïven Franzosen den Ersten Weltkrieg ja führten, so wie die naïven Preußen gut anderthalb Jahrhunderte zuvor den Siebenjährigen Krieg um Schlesien geführt hatten, beide nur, um den Engländern die Kastanien aus dem (Trommel-)Feuer zu holen, die jene Kriege um etwas ganz anderes führen ließen, nämlich um die Vorherrschaft im Welthandel -, war verwundet worden und dann als Diplomat in die USA gegangen, um die Amis in den Krieg gegen die deutschen "Hunnen" hinein zu ziehen; als ehemaliger Universitätsdozent dortselbst hetzte er vor allem die amerikanischen Studenten auf, und mit schönem Erfolg: viele meldeten sich freiwillig... Aus diesem Wissen heraus kannte Giraudoux also die Wahrheit: Niemand "schlittert" in einen Krieg hinein, sondern diejenigen, die ihn wollen, setzen ihn bewußt, mit allen Mitteln und um jeden Preis in Gang, auch wenn sich noch so wohlmeinende einzelne dagegen zu stemmen versuchen. Und er spricht ein großes Wort gelassen aus: Diese wenigen sind zumeist die Berufssoldaten - denn die wissen, was auf sie zu kommt und wer letzten Endes die Zeche zu zahlen hat. (Wie pflegte Dikigoros' Vater zu sagen: "Zu Staatsoberhäuptern, Regierungschefs und Kriegs-Ministern dürfte man nur ehemalige Soldaten machen; die ungedienten Zivilunken fangen allzu leichtfertig Kriege an." Wohl wahr. Wie sagt Héktor zu seiner Frau: "Die Armee, die ich zurück gebracht habe, haßt den Krieg." - Und das war noch eine siegreiche Armee...) Daß Héktors Versuch, den troianischen Krieg abzuwenden, in letzter Minute mißlingt, zeugt von Giraudoux' tiefer Skepsis. Nein, nicht von Pessimismus; Pessimisten sind Leute, die immer und überall blindlings schwarz sehen - also gar nichts; Skeptiker sind solche, die genau hinschauen (sképtomai bedeutete im Altgriechischen - ausweislich des guten alten Gemoll - "beobachten, untersuchen, erkunden, betrachten, prüfen, überlegen"; im Neugriechischen bedeutet es heute ganz allgemein "[nach]denken") und daher die Gefahr sehen, daß eine Sache schief gehen könnte. (Insofern legt Giraudoux in der Eingangsszene Kassándra die falschen Worte in den Mund, als er sie sagen läßt: "Ich sehe nichts, Andromáche, ich sehe nichts voraus. Ich stelle nur zwei Dummheiten in Rechnung, die der Menschen und die der Elemente." - Als ob Elemente "dumm" sein könnten!)

Giraudoux nahm also nicht für sich in Anspruch, Hellseher zu sein - und das hätte man im November 1935, als "La guerre de Troie" uraufgeführt wurde, sein müssen, um einen militärischen Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich oder gar einen neuerlichen Weltkrieg voraus zu sehen. Weshalb denn? Die Franzosen hatten Elsaß-Lothringen ja zurück bekommen, und die Deutschen das Saarland. Gewiß, die bösen Nazis hatten im März 1935 die Wehrpflicht wieder eingeführt. (Aber das sollten die guten Demokraten der BRD gut zwei Jahrzehnte später auch tun - na und?) Ein Jahr später sollten sie überdies aus Platzmangel ein paar Soldaten in alten Kasernen im Rheinland stationieren - was der "Friedens"-Vertrag von Versailles eigentlich verboten hatte. Aber kommt es für den Frieden wirklich auf papierene Paragrafen an, oder nicht vielmehr auf den Geist, mit dem sie erfüllt werden? Als die französischen Besatzungstruppen 1930 das Rheinland geräumt hatten, war zur "Versöhnungsfeier" ein Jahr später ein großes sportliches Ereignis verabredet worden: das erste Fußball-Länderspiel zwischen den beiden Nationen (nicht umsonst hat Dikigoros oben diesen Vergleich heran gezogen). Eigens zu diesen Zweck war das alte Vélodrome im Pariser Prinzenpark aus dem Jahre 1897 abgerissen und durch ein modernes Fußball-Stadion für 50.000 Zuschauer ersetzt worden (damals eines der größten und modernsten Europas). Die edle demokratische Regierung der Weimarer Republik (jawohl, noch bevor die bösen, prä-faschistoïden Diktatoren und Berufs-Offiziere a.D. Baron v. Papen und Baron v. Schleicher an die Macht kamen!) hatte Sonderfahrten nach Paris finanziert für 10.000 Rabauken (die man nicht umsonst "Schlachten-Bummler" nannte), welche die deutsche Nationalelf lautstark "unterstützen" sollten. Das hatten sie denn auch ausgiebig getan; und da sich die deutschen Balltreter auf dem Schlacht-, pardon Spielfeld ebenfalls entsprechend daneben benommen (und nebenbei hundsmiserabel gespielt und verdient verloren) hatten, hatten sich vor, während und nach dem Spiel die Buhrufe und Pfeifkonzerte des Pariser Publikums abgewechselt - damit hatte man keine neue Völkerfreundschaft geschaffen, sondern nur die alte Feindschaft wieder hoch gekocht.

[Feindbilder: Medaille auf die französische Besatzung] [Rückseite derselben Medaille]

Was geschah aber 1935 nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht durch die bösen Nazis? Einen Tag später hetzte die französische Presse (fest in jüdischer und/oder kommunistischer Hand) zum Präventiv-Krieg gegen das Reich. [Und es gibt bis heute "Historiker", die meinen, das wäre "die beste Lösung" gewesen, so wie die schwangere Andromáche zu Héktor sagt: "Ich werde unserem Sohn den rechten Zeigefinger abschneiden." Woraufhin ihr Mann antwortet: "Wenn alle Mütter der Welt ihren Söhnen den Zeigefinger abschneiden, werden sie ohne Zeigefinger Krieg führen; wenn sie ihnen das rechte Bein abschneiden, werden sie auf einem Bein Krieg führen; und wenn sie ihnen die Augen ausstechen, werden sie blind Krieg führen, aber Krieg führen werden sie." Andromáche wutentbrannt: "Dann werde ich ihn töten." (Nomen atque omen. Was bedeutet "Andromáche" wörtlich übersetzt? Eben - und wer es nicht weiß, kann ja mal ins Wörterbuch schauen :-) Héktor: "Voilà, das ist die beste Lösung."] Zwei Tage später kam die deutsche Fußball-Nationalmannschaft zum erneuten Länderspiel in den Pariser Prinzenpark. Was tat Volkes Stimme? Sie sang die "Marseillaise" mit (na und? Die Deutschen verstanden den Text ja eh nicht), feuerte die eigene Mannschaft stürmisch an, klatschte aber auch den Alemannen freundlich Beifall und akzeptierte schließlich die verdiente Niederlage in sportlicher Fairness - von denen wollte niemand Krieg. (Und wenn schon Fußballfans keinen Krieg wollen, wer dann? :-) Doch es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt, und dieser böse Nachbar saß einmal mehr in England, das zwar äußerlich ganz friedlich tat, mit den Deutschen sogar ein Flottenabkommen schloß, aber insgeheim bereits den Krieg beschlossen hatte und begann, massiv aufzurüsten - es ging schließlich nicht um das alberne Abstractum "Frieden" (dieses germanische Wort hatte im Englischen längst die Bedeutung "Freiheit [Freedom]" angenommen - die Freiheit der Sieger, mit den Besiegten nach Belieben verfahren zu können; das englische Wort für Frieden [Peace] war vom lateinischen "Pax" abgeleitet und bedeutete - wie schon bei den alten Römern - schlicht Weltherrschaft in Friedhofsruhe nach der Niederwerfung aller potentiellen Gegner), sondern um das "Gleichgewicht der Kräfte", d.h. England mußte militärisch immer so stark sein wie die stärksten Kontinentalmächte zusammen. Für einen Franzosen sollte noch im September 1939 die Frage "Mourir pour Dantzig [Für Danzig sterben]?" eine rein retorische sein, welche die - verneinende - Antwort bereits einschloß; wenn die Engländer sie nicht in den Krieg gehetzt hätten... aber das ist eine andere Geschichte.

[Medaille auf die Heimkehr Danzigs 1939]

Aber vielleicht meinte Giraudoux ja den Ersten Weltkrieg? Schwerlich, denn dessen Anlässe lagen genau umgekehrt: Im "Troianischen Krieg" erschlägt Héktor den eigenen Mann, Demokós, weil der zum Krieg gegen die Griechen hetzte, aber vergeblich, weil der krumme Hund noch im Sterben auf der Lüge beharrt, daß ihn ein Grieche erschlagen habe (und eine "dying declaration" wiegt nicht nur bei angelsächsischen Juristen besonders schwer). Vor dem Ersten Weltkrieg wurden dagegen auf beiden Seiten diejenigen ermordet, die gegen den Krieg waren: Erzherzog Franz Ferdinand, der Thronfolger von Österreich-Ungarn, der den friedlichen Ausgleich mit den slawischen Minderheiten des Habsburgerreichs gesucht hatte, und zwei Tage später Jean Jaurès, der französische Sozialistenführer, der den friedlichen Ausgleich mit den deutschen Nachbarn gesucht hatte. Franz Ferdinand wurde unzweifelhaft nicht von seinen eigenen Landsleuten ermordet, sondern von einem serbischen Fanatiker; Jaurès allerdings von einem französischen Nationalisten - aber nicht um den Krieg gegen Deutschland zu verhindern, sondern im Gegenteil, weil er gedroht hatte, mit einem Aufruf zum Generalstreik diesen Krieg, auf den doch alle guten Franzosen (und alle guten Deutschen) so scharf waren, zu verhindern. Nein, niemand machte sich die Mühe, die dichtenden Zivilunken in den eigenen Reihen zu töten, deren Trommeln zum Streite riefen; und hätte es jemand getan, so hätten die im Sterben - davon ist Dikigoros ebenso überzeugt wie Giraudoux - noch ausgerufen: "Der böse Feind war's, nun müßt Ihr, liebe Volksgenossen, aber umso schleuniger in den Krieg ziehen!"

* * * * *

Kommen wir endlich zur Chronologie des Stücks: Es beginnt mit einer Diskussion zwischen Andromáche, der Prinzessin von Wales, pardon, der Frau des Thronfolgers und ihrer Schwägerin Kassándra, der sich bald auch ihr Mann (bzw. Bruder) Héktor - der gerade aus dem "letzten" Krieg heim gekehrt ist und als erste Amtshandlung die Kriegspforten schließen will - und dessen jüngerer Bruder Páris - der den Griechen die schöne Helénä entführt hat - anschließen. Wir erfahren, daß die Griechen sich anschicken, Helénä mit Waffengewalt zurück zu erobern, und zugleich, daß es dessen eigentlich gar nicht bedürfte; denn Páris hat nie mit ihr geschlafen, man könnte sie also unbeschädigt ihrem rechtmäßigen Ehemann Menélaos zurück geben. (Ihr selber ist das ziemlich schnuppe - tatsächlich macht sich die kühle, "distanzierte" Blonde aus keinem der beiden Männer allzu viel; ihr gefällt der junge Troïlus viel besser :-) Aber wer fragt schon die direkt Beteiligten? Schließlich gibt es ja noch viele andere, die mit reden wollen: Da sind zum einen die alten troianischen Wackelgreise (die ja nicht mehr in den Krieg ziehen müssen), die es einfach nicht glauben wollen: Páris soll nicht mit Helénä geschlafen haben? Verleumdung! Die Troianer gelten doch nicht umsonst (wie die Franzosen :-) als Meister der Liebe! (Aber wie sollte Michel Sardou fünfzig Jahre später singen: "Im Jahre 2000 wird es eine gute Milliarde Chinesen geben und 100 Millionen Kongolesen. Aber wir, die Champions der Liebe, werden nur noch 50 Millionen Gallier sein, auf dreieinhalb Frauen wird ein Kind kommen, und bei den Olympischen Spielen wird es schwierig werden, uns zu qualifizieren. Und die Vereinten Nationen werden uns unter Naturschutz stellen wie baufällige Monumente." Was sagte Frau Dikigoros? Siehe oben...) Und noch jemand muß nicht mit in den Krieg ziehen: die Dichter, personifiziert durch den troianischen Hof-Poëten Demokós, der doch weiter Stoff für seine Jubelarien und Siegesepen braucht - gerade schreibt er an einem neuen Kriegsgesang. Héktor, der Oberbefehlshaber, sieht das ganz nüchtern. Als Demokós ihn fragt, warum er denn die Poësie ebenso hasse wie den Krieg, antwortet er: "Weil die beiden Brüder sind." (Natürlich sagt er im Original: "Weil die beiden Schwestern sind," denn im Französischen ist auch der Krieg weiblich, obwohl "guerre" - ein Altfränkisches Wort - etymologisch verwandt ist mit "vir" bzw. "wer" [Mann], mit "virtu" [Tapferkeit] und mit [sich] "wehren". "Guerra" ist also streng genommen nur der Verteidigungskrieg; der Angriffskrieg, der geführt wird, um Beute zu machen, ist "Bellum" - aber darüber schreibt Dikigoros an anderer Stelle mehr.)

Ja - haben denn die Troianer keine eigenen Frauen, daß sie um die Frauen anderer Völker Krieg führen müssen? fragt Hekábe, die Königin, in der nächsten Szene ihre Kinder. Die Frage ist - wie alle Fragen, die nun folgen - höchst zweischneidig und doppeldeutig; Giraudoux führt den Zuschauer aufs Glatteis, und bisweilen weiß man nicht mehr, hinter welcher Rolle er selber sich versteckt - zumal die meisten in sich widersprüchlich sind. Ja, Hekábe wäre die letzte, die nicht anerkennen würde, daß jedes Volk in seinen Frauen ein Symbol sähe - aber warum ausgerechnet Helénä? "Sie symbolisiert die Schönheit," sagt Demokós, der Dichter. "Ach was, die ist blond," versetzt Hekábe (die, wie alle Troianerinnen, von typisch "griechischen", also dunkelhaarigen Frauen gespielt wird), "schickt sie den Griechen zurück." Gewiß, einige Völker haben sich Frauen-Symbole ausgedacht: Die Franzosen die Marianne, die Deutschen die Germania, die Engländer die Britannia, die Tschechen die Libussa usw. usw. Aber hat wirklich jemals ein Krieg um diese Symbole statt gefunden? Nun, Symbol ist vielleicht das falsche Wort; aber um gewisse Prinzipien - oder um gewisser Prinzipien willen - mag schon der eine oder andere Krieg statt gefunden haben, gerade zwischen Deutschland und Frankreich - wie war das mit der "Ehre", die Napoleon III verletzt sah, als er 1870 dem König von Preußen den Krieg erklärte? Demokós zählt die übrigen auf: Energie (merkwürdiges Prinzip), Schönheit (hatten wir schon, ebenso die von ihm ausdrücklich erwähnte Revanche - der Erste Weltkrieg war wie gesagt für die Franzosen eine Frage der gerechten Revanche), das Erbe eines Volkes und seine Zukunft. "Die Zukunft der Greise interessiert mich nicht," erwidert Héktor kühl - aber das ist natürlich ein schwaches Argument, welches allein auf der Annahme beruht, daß nur die troianischen Greise sich in Helénä und ihre Schönheit verguckt haben, während die Jugendlichen "nicht mehr wissen, was Schönheit ist", wie Demokós beklagt. "Was Schönheit ist?" fragt Héktor sarkastisch, "die findet sich doch an jeder Straßenecke!" - "Wofür würdest Du denn kämpfen?" fragt Demokós. "Dafür, daß die Frauen in Frieden ihre Kinder bekommen können."

Halt, liebe Leser, da wollen wir doch mal einhaken. Das "Erbe" eines Volkes - also seine Vergangenheit - und seine Zukunft sind nämlich gar keine Prinzipien, sondern ganz konkrete Dinge, wobei Dikigoros es mit dem Satz hält, daß ein Volk, das sich seiner Vergangenheit entledigt hat, auch keine Zukunft haben wird. (Was glaubt Ihr denn, liebe gutmenschliche Bildungs-Politiker von heute, die Ihr für die "pisanische" Katastrofe verantwortlich seid, warum die jungen Leute keine Zukunfts-Perspektiven mehr sehen? Weil sie erkannt haben, daß Ihr ihnen über die Vergangenheit nur Lügen erzählt habt - und nun glauben sie halt an gar nichts mehr; aber das ist eine andere Geschichte.) Und reden nicht Héktor und Demokós aneinander vorbei? Meinen sie nicht im Grunde genommen beide dasselbe? Was wäre die Zukunft eines Volkes anderes als die Frauen, die in Frieden Kinder bekommen könnten? "La femme est l'avenir de l'homme" schrieb Giraudoux' kommunistischer Zeitgenosse Louis Aragon - und er meinte mit "Frau" natürlich die Mutter. Aber ob das nicht eine ebenso pauschale - und ebenso falsche - Verallgemeinerung ist wie die Verherrlichung "der" Toten? Nicht alle Toten waren tapfer, und nicht alle Kinder sind eine sinnvolle Investition in die Zukunft - dies nicht zu sehen, ist der große Denkfehler der Rentenpolitiker unserer Zeit; denn ein Mann (oder eine Frau :-), die etwas Sinnvolles auf die Beine stellen, können für die Zukunft eines Volkes (ja, auch für die Rentenkassen!) viel mehr wert sein, als eine Horde schlecht erzogener Kinder, die nie im Leben einer ordentlichen Arbeit nachgehen und nie etwas zum Bruttosozialprodukt beitragen werden. Wohlgemerkt - es gibt kaum etwas Wertvolleres für ein Volk als gut erzogenen, fleißigen, arbeitswilligen und -fähigen Nachwuchs; aber der fällt einem nicht in den Schoß. Das ist - um diesen Vergleich einmal mehr zu bemühen - wie beim Fußball: So wie es manchen Fußballtrainern zu lästig ist, junge Nachwuchsspieler auszubilden und zu einem schlagkräftigen Team zu formen, weshalb sie lieber "fertige" Leute aus dem Ausland importieren, so ist es auch immer mehr Menschen in Mitteleuropa zu lästig, eigene Kinder zu bekommen und sie aufzuziehen, geschweige denn sie ordentlich zu erziehen und auszubilden. Ist es nicht viel einfacher, zur vermeintlichen Stützung der Alterspyramide welche aus dem Ausland zu importieren? Und was, wenn diese Stützen sich eines Tages als morsch erweisen sollten, wenn sie keine Probleme lösen, sondern im Gegenteil noch mehr Probleme verursachen werden? Staaten, die - anders als Frankreich und Deutschland - die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, daß sie Einwanderungsländer sind, haben längst die Konsequenzen gezogen und lassen nur noch hochwertige Einwanderer zu sich herein; wir bekommen nur noch den minderwertigen Schrott, der übrig bleibt, weil ihn andere Staaten nicht wollen, und wir nehmen ihn blindlinks, pardon blindlings auf. Wie schrieb Jo Fernau, der große Cyniker des 20. Jahrhunderts, in den 60er Jahren? "Caesar läßt grüßen!" Aber das war falsch; richtig hätte es heißen müssen: "Andromáche läßt grüßen!" Andromáche, die lieber ihre eigenen Kinder töten als Krieg gegen die auswärtigen Feinde ihres Volkes führen will!

"Seit wann können die Frauen keine Kinder mehr bekommen, wenn die Männer Krieg führen?" fragt Demokós. Und: "Würdest Du nicht einmal um Andromáche kämpfen?" - "Nein," antwortet Héktor wiederum kühl, "wenn Andromáche und ich getrennt werden, haben wir Maßnahmen verabredet, um wieder zusammen zu kommen." Das hatten wir doch auch schon - nur nicht als Selbstmord, sondern als Kindesmord... Nun hat sich die Diskussion also glücklich fest gefahren; die Beteiligten haben sich in ihren eigenen Argumenten verheddert. Versuchen wir, sie ein wenig aufzudröseln. Symbole, Prinzipien, Ideologien - sind die ein Kriegsgrund? Fragt die Christen und die Sozialisten von gestern und die Muslime und die Demokraten von heute: Jawohl, wenn die Welt am christlichen (bzw. islamischen) Wesen genesen soll, oder wenn man ihr den Sozialismus bzw. die Demokratie bringen will, und die Welt das nicht will, dann ist auch ein ("heiliger") Krieg gerechtfertigt. Überhaupt ist er das immer, wenn das Ziel "der Friede" ist, und sei es nur der, den die Römer "Pax" nannten bzw. die Sowjets "Mir" - nämlich jeweils als eigene Herrschaft in Friedhofsruhe gedacht. In Frankreich regierten 1935 zwar noch nicht die Kommunisten und Sozialisten der Volksfront, aber in Deutschland schon die National-Sozialisten - war das ein Grund, um gegen einander Krieg zu führen? Bis heute versucht man, uns das weis zu machen, ja es sogar als besonders edelmütig zu verkaufen, daß die Alliierten die Deutschen vom "Hitlerismus" befreit hätten, so wie sie heute die Iraker vom "Saddamismus" zu befreien versuchen - ob die "Befreiten" das auch woll[t]en, fragen sie nicht, denn es geht ja um Prinzipien. (Freilich müssen die wahren Beweggründe und die nachgeschobenen Begründungen nicht immer überein stimmen - wenn Ihr die Diskussion über das jüngste Buch des belgischen Historikers Jacques Pauwels über die Motive und Ziele der USA im Zweiten Weltkrieg und den Mythos vom guten Krieg verfolgt habt, wißt Ihr, was Dikigoros meint.)

Und abseits des Abstrakten? Héktors persönliche Antwort haben wir schon vernommen; aber daß man die nicht ernst nehmen kann, ist klar. "Einen Mann zu töten bedeutet eine Frau zu verdienen," sagt Demokós. Dieser Satz entspringt nun durchaus nicht den geistigen Höhenflügen eines überkandidelten Poeten, sondern das ist ein primitives Gesetz der Natur, das bislang Überbevölkerungen vorgebeugt hatte und bei den so genannten "Wilden" auch heute noch gilt: Ein Mann darf erst dann eine Frau haben und ein Kind zeugen, wenn er einen Feind getötet hat. Ist das ein Grund, Krieg zu führen? Töten um des Tötens Willen? Die Maya und Azteken pflegten diese Frage zu bejahen; sie führten just aus diesem Grund Kriege gegen ihre Nachbarn - ihr Ende ist bekannt. (Nein, eigentlich nicht; die meisten Deppen, pardon "Historiker" glauben ja immer noch, die bösen Spanier hätten die indianischen "Hoch"-Kulturen ausgerottet; aber das ist eine andere Geschichte.) Und selbst wenn es einmal so gewesen wäre - zählte dieses Argument noch? Nicht erst seit der Freigabe der Abtreibung - der Tötung der eigenen, ungeborenen Kinder - im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, sondern schon Mitte der 30er Jahre kämpften Länder wie Frankreich und Deutschland doch längst nicht mehr gegen die Überbevölkerung, sondern vielmehr gegen den ausbleibenden Nachwuchs! Von wegen "Volk ohne Raum" und "Lebensraum im Osten" - womit wollten die Herren Grimm und Hitler diesen Raum denn füllen? Mit lauter Beute-Germanen, wie heute die "deutsche" Fußball-Nationalelf?

Auch Príamos, der König von Troia, gibt seinen Senf dazu - altbackene Worte: "Meine lieben Töchter, wozu soll denn der Friede gut sein? Er macht aus Euren Männern verweichlichte Schlaffis, während der Krieg aus ihnen Männer macht!" - "Helden," setzt Demokós noch eins drauf. "Den Spruch kennen wir," versetzt Hekábe cynisch, "in Kriegszeiten nennen sich die Männer 'Helden', selbst die Feiglinge, die davon laufen. Das sind dann eben Helden, die fliehen." (Ja ja, Héktor ist nicht umsonst ihr Sohn - das liegt ganz auf der Linie seiner Totenrede! :-) Auch Andromáche sagt etwas, das scheinbar ganz auf dieser Linie liegt - und doch besagt es das genaue Gegenteil: "Es sind die Tapferen, die im Kriege sterben. Die Soldaten, die unter den Triumpfbögen vorbei ziehen, sind diejenigen, die vor dem Tode desertiert sind." Das ist böse, ganz böse - es sind die Worte, die Albert Speer in seinen "Erinnerungen" (die, wie wir heute wissen, doch etwas von "Vergeßlichkeit" getrübt sind) seinem Ex-Führer Hitler in den Mund legte, als 1945 der Zweite Weltkrieg zuende ging. Ihr seht doch den grundlegenden Unterschied, nicht wahr, liebe Leser? Das dumm gehaltene Volk hält alle Soldaten für Helden - vor allem bei den Toten läßt es keinen Gegenbeweis zu. Héktor und Hekábe stellen dagegen fest, daß es unter den Überlebenden und unter den Toten gleichermaßen tapfere und feige gibt - und so ist es ja auch. Aber Andromáche unterstellt, daß alle Überlebenden Feiglinge sind - und das ist eine Unverschämtheit. Dikigoros begreift nicht, daß nur Tote zu Helden werden können; für ihn ist ein Held immer noch der, der den Krieg gewonnen und überlebt hat - "Tote Helden helfen nicht" sang 1984 Zsuzsa Koncz, die damals populärste ungarische Schlagersängerin... Dikigoros weiß wohl, daß er damit gegen die herrschende Meinung steht - aber das ist eine andere Geschichte. Überhaupt ist ihm diese Andromáche von allen Personen im Stück die unsympathischte - aber dazu gleich mehr.

[Medaille auf die Helden]

Héktors Kampf gegen die Kriegstreiber beginnt. Die im eigenen Lager haben sich juristischen Beistands versichert: Busiris, der größte Völkerrechtler seiner Zeit, ist direkt aus Genf, pardon aus Syrakus angereist gekommen, im Auftrag des troianischen Senats, um ein Rechtsgutachten zu erstatten. Er gelangt ohne jeden ernsthaften Zweifel zu dem zwingenden Schluß, daß die Troianer das Recht, ja die Pflicht haben, gegen die Griechen Krieg zu führen - dafür gibt es mehrere Präzedenzfälle. Auf Rückfragen ergibt sich, daß die Präzedenzfälle allesamt den Krieg verloren haben und vernichtet wurden - aber Recht muß Recht bleiben, wie Busiris meint. Doch da ist er bei Héktor genau an den Richtigen geraten: "Mein Lieber Busiris, wir hier wissen doch alle, daß das Recht die mächtigste Schule der Fantasie ist. Noch nie hat ein Poët die Natur so frei interpretiert wie ein Jurist die Realität." - "Ich kann Euch nur mit der Wahrheit helfen," schleimt Busiris. "Genau," sagt Héktor bissig, "mit einer Wahrheit, die uns rettet, denn wozu wäre das Recht gut, wenn es keine Waffe wäre? Du wirst uns jetzt sofort eine Wahrheit schmieden [das Wort "forger" bedeutet sowohl "schmieden" als auch "fälschen" - wie im Englischen, aber darüber schreibt Dikigoros an anderer Stelle mehr], sonst buchten wir dich ein, solange der Krieg dauert." - "Was? Du mißbrauchst deine Stellung!" - "Während des Krieges wird das Recht eingebuchtet; da kann man auch gut die Juristen einbuchten," sagt Héktor trocken. Und nun beweist Busiris im Handumdrehen das genaue Gegenteil, nämlich daß nach geltendem Völkerrecht überhaupt kein Anlaß, geschweige denn ein Grund für einen Krieg zwischen Griechen und Troianern besteht - voilà!

Es folgt ein kleiner Dialog zwischen Andromáche und Helénä, der alles, was bisher an schönen Argumenten für und vor allem wider den Krieg ausgetauscht worden ist, in Frage stellt. Denn weshalb ist Andromáche gegen den Krieg? Weil sie bezweifelt, daß Helénä ihren Schwager Páris liebt - und dann ist es natürlich keinen Waffengang wert. Moment mal, kann das Giraudoux' Ernst sein? Er läßt Andromáche sagen: "Das Schicksal will die Zukunft auf den Kampf aufbauen, die Zukunft unserer Rassen, unserer Völker, unserer Vernunft. Und daß unsere Ideen [nein, sie sagt nicht "Ideologien" - aber das ist natürlich gemeint!] und unsere Zukunft gegründet werden auf die Geschichte eines Mannes und einer Frau, die einander lieben, ist gar nicht so schlecht." Nein, das kann nicht wirklich Giraudoux' Meinung sein; aber er hat wohl richtig erkannt, daß dies die Meinung der meisten Frauen ist; und seht Ihr, liebe Leser[innen], deshalb meint auch Dikigoros, daß die meisten Kriege wegen der Frauen geführt werden, weil die ihren Männern etwas einreden von Liebe und anderen Abstracta, ob deren Willen sie sich umbringen lassen müssen, widrigenfalls sie als Feiglinge gelten... Was, liebe jüngere Leser, die Ihr vielleicht an die große, die ewige Liebe usw. glaubt (natürlich nur noch an die zu anderen Einzelpersonen, nicht mehr wie Eure Vorfahren an die zu Gott, König und Vaterland oder an die zu Volk, Reich und Führer), Ihr meint auch, daß es sich dafür lohne zu kämpfen und zu sterben, und zumal Ihr, liebe jüngere Leserinnen, meint auch, daß dies ein Grund sei, einen jungen Mann in den Tod zu schicken? Dann tut, was Ihr nicht lassen könnt, aber beschränkt Euch gefälligst auf Euch selber bzw. auf Euren Geliebten - mit welcher Arroganz nehmt Ihr das "Recht" in Anspruch, wegen Eurer Liebe Millionen andere Menschen in den Krieg und in den Tod zu schicken?

Zurück zum Plot. Auch auf der anderen Seite gibt es Kriegstreiber. Zunächst diejenigen, die einfach Spaß am Töten, am Kriegführen haben. Für sie steht Aías, der als erster Grieche auf der Szene erscheint und auf Héktor trifft, den er zum Kampf zu reizen versucht. Aber Héktor läßt sich lieber von ihm ohrfeigen, als zum Schwert zu greifen. "Du Feigling," sagt Aías - aber er meint eigentlich etwas ganz anderes, nämlich nicht Feigheit, sondern Schwäche. Warum sonst sollte sich jemand nicht zur Wehr setzen? Er übersieht, daß es der Starke vielleicht gar nicht nötig hat, sich zu wehren oder sonst irgend etwas unter Beweis zu stellen. Muß man seine Stärke denn immer dadurch beweisen, daß man einen Angriff mit einer Retourkutsche beantwortet? Giraudoux zeigt, daß es auch anders geht - zu diesem Zweck schickt er erneut Demokós, den Dichter, auf die Bühne, der seinerseits Aías heraus fordert und sich gleichfalls eine Ohrfeige einfängt. "Troianer, das schreit nach Rache, nach Krieg!" ruft er - und fängt sich prompt eine weitere Ohrfeige ein... von Héktor. Das hat zwei Folgen: Erstens glauben die Troianer Demokós nicht, daß er von Aías geohrfeigt wurde - denn beide Wangen sind ja nun gleich rot -, und zweitens ist Aías nun von Héktors Stärke hinreichend überzeugt, hält ihn nicht mehr für einen Feigling, sondern macht ihm sogar Komplimente: "Eine schöne Ohrfeige... stärker als meine... und diese exzellente Armhaltung... du mußt den Speer hervorragend werfen können." - "70 Meter." - "Meine Hochachtung. Mein lieber Héktor, verzeih mir. Ich nehme meine Drohungen zurück; ich nehme meine Ohrfeige zurück. Laß uns nicht mehr vom Krieg sprechen..."

Ihr haltet diese Szene für lächerlich, zumindest für weit her geholt und jedenfalls für die schwächste im Stück, liebe Leser? Ihr irrt, das kann Euch Dikigoros aus eigener Erfahrung versichern. Die fysische Stärke eines Mannes beeindruckt die Menschen nicht weniger als die fysische Schönheit einer Frau, und allemal mehr als Intelligenz, Reichtum oder Charakter. Auf dem örtlichen Sportplatz ist Dikigoros schon seit Jahren der einzige Deutsche, der sich noch hin traut, seit vor allem der Besitz des Fußballfeldes Gegenstand erbitterter Kämpfe zwischen jugendlichen Banden aus Rußland und der Türkei ist - wer will da schon zwischen die Fronten geraten? Besonders die jungen Muslime sind in einem Maße rotzfrech und aggressiv, daß sich außer den Aussiedlern (und Dikigoros :-) niemand mehr an sie heran traut - und da die Kämpfe meist unentschieden enden, gibt es auch keinen "Frieden". Nun muß man sie ja nicht gleich tot schlagen, wie im Krieg, aber mit gutem Zureden kommt man auch nicht weiter. Dikigoros macht es wie Héktor: Er demonstriert, daß er Speer werfen kann - nein, keine 70 Meter weit, sondern gerade mal 40, also nur über den halben Fußballplatz; aber er läßt es auch die jungen Leute mal probieren - und die meisten kommen kaum über die Strafraumgrenze hinaus. Anschließend bietet er ihnen eine Runde Wettlauf an - die wenigen, die sein Tempo mithalten, machen spätestens auf der Zielgeraden schlapp. Und wenn ihm dann noch einer frech kommt, fängt der sich eine Ohrfeige à la Demokós ein. Es hat noch niemand versucht zurück zu schlagen, denn die Betroffenen haben ja zweierlei gesehen: daß Dikigoros erstens stärker ist als sie und zweitens schneller, so daß auch der Versuch weg zu laufen aussichtslos wäre. Die kommen nicht wieder (nicht weil sie Angst haben müßten - Dikigoros ist nicht nachtragend -, sondern weil sie ihr Gesicht verloren haben), aber leider kommen immer wieder andere Demokóses nach. Eine maßlose Überbewertung des Speerwerfens? Gewiß, Dikigoros vermag sie auch nicht so recht nachzuvollziehen - aber sie ist weiter verbreitet als man glauben mag. Als z.B. Andrej Konchalovsky 1997 des Hómeros' Odyssee verfilmte, da ließ er Achill den Héktor nicht etwa wie in der literarischen Vorlage durch einen Stich aus kurzer Distanz in den Hals töten, sondern durch einen spektakulären 70-m-Speerwurf mitten in die Brust. Und es ist nun mal eine Tatsache, daß insbesondere die Muslime das Messerstechen und das Speerwerfen dem Einsatz etwa des Schießgewehrs vorziehen - vielleicht weil es mehr Kraft und Geschicklichkeit, kurzum "Männlichkeit", erfordert, mit dem ganzen Arm einen Speer zu schleudern, als mit einem Finger auf den Abzugshahn einer Schußwaffe zu drücken (was auch jede Frau und jeder Kindersoldat kann)? [Vielleicht auch mehr als einen Pfeil von der Sehne eines Bogens schnellen zu lassen (was bekanntlich auch die Amazonen konnten)? Dabei sah der Autor der Odyssee das, wie alle ihre Leser wissen, ganz anders - Dikigoros übrigens auch, der Euch versichern kann, daß richtig gutes Bogenschießen ebenso viel Kraft und Geschicklichkeit erfordert wie richtig gutes Speerwerfen - probiert es einfach mal selber aus! Und die "Männlichkeit"? Nun, wenn ein Mann einer Übermacht von 40:1 gegenüber steht, dann darf er auch mal zu Pfeil und Bogen greifen, um sich ihrer zu erwehren. - Auch zum Maschinengewehr? Die Frage stellte sich dem Hómeros noch nicht. Konchalovsky beantwortete die nach Pfeil und Bogen übrigens mit einem "jein": Er läßt ausgerechnet des Odysséos Sohn Telemachos - dessen Name doch "Der aus der Ferne tötet" bedeutet - den ersten Freier aus kurzer Distanz mit dem Speer an die Wand nageln; dagegen darf der schon etwas in die Jahre gekommene Vater sich des Bogens bedienen.] Wie dem auch sei, selbst an der von Saudi-Arabien finanzierten "König-Fahd-Akademie" zu Bonn am Rhein, der Kaderschmiede für angehende Islamisten in Deutschland, wird regelmäßig dazu aufgerufen, das Speerwerfen zu erlernen, um für den Jihād, den heiligen Krieg gegen Christenhunde und andere Ungläubige, gerüstet zu sein. Kürzlich erhielt Dikigoros eine Einladung zum Tag der Offenen Tür dortselbst, respektvoll an ihn persönlich adressiert zu Händen seines Sportvereins, damit nur ja kein Zweifel aufkomme, welchem Umstand er diese Einladung verdankt. Ja, sie fürchten ihn nicht nur, sie respektieren ihn auch, was durchaus nicht dasselbe ist. (Aber hin gegangen ist er nicht - er will ja niemanden unnötig provozieren :-)

[Exkurs. Ein Leser hat Dikigoros dankenswerter Weise darauf hingewiesen, daß jene Wertschätzung des Speerwerfens und die Verachtung der Schußwaffen durchaus keine einseitige Vorliebe des Islam ist, sondern lange Zeit - und aus guten Gründen - auch im Christentum vorherrschte, wobei die Grenze zwischen Hand- und Schußwaffen allerdings weder zwischen dem Speerwerfen und dem Bogenschießen noch zwischen dem letzteren und dem Gewehrschießen gezogen wurde, sondern... zwischen dem Bogenschießen und dem Armbrustschießen! Als die Armbrust im 12. Jahrhundert immer mehr Verbreitung fand, erhob anno 1139 beim 2. Lateran-Konzil kein geringerer als Papst Innozenz II persönlich seine Stimme und verbot deren Gebrauch im Kampf zwischen Christenmenschen als unritterlich, ja verbrecherisch. (Im Kampf gegen die Heiden, z.B. auf den Kreuzzügen, durfte sie selbstverständlich weiter eingesetzt werden, wie jeder, der The Crusades gesehen hat, weiß - einer der wenigen Punkte, die in jenem Film historisch richtig dargestellt sind :-) Wo lag der Unterschied? Nun, mit einem Bogen - die "Langbogen" waren damals knapp 2 m lang - konnte man sich nicht so leicht verstecken, und vor allem konnte man die Spannung nicht allzu lange aufrecht erhalten; es war also ein offener Kampf. Mit einer Armbrust konnte man sich dagegen in einem Hinterhalt auf die Lauer legen, wobei der Hahn ohne körperliche Anstrengung beliebig lange gespannt bleiben konnte, so daß man in Ruhe abwarten konnte, bis das Opfer in die richtige Zielscheiben-Position gelangt war - die ideale Waffe für Meuchelmörder. Erinnert Ihr Euch an Schillers "Wilhelm Tell"? Er spielt in der Hoch-Zeit des Armbrustschießens. "Durch diese hohle Gasse muß er kommen..." Vielleicht hatte der Papst da mal Recht; vielleicht war der entscheidende Schritt vom "ritterlichen" zum "unmenschlichen" (richtig müßte es heißen: vom "natürlichen" zum "menschlich-unnatürlichen") Kampf tatsächlich nicht, wie Dikigoros immer meinte, der von der Nahkampfwaffe - mit der man dem Opfer ins Auge sehen mußte, wenn man es töten wollte - zur Distanzwaffe - ein guter Bogen reichte ja ebenso weit wie eine Armbrust -, sondern der von der Handwaffe zur Maschine. Dikigoros - der voreingenommen ist, da er nun mal am besten mit dem Speer und am schlechtesten mit dem Maschinengewehr umgehen kann - will sich nicht anmaßen, päpstlicher als der Papst zu sein und diese Frage abschließend zu beantworten; er wollte sie nur nicht unterschlagen haben, zumal der Hinweis von einem seiner muslimischen Leser (jawohl, auch die schreiben ihm gelegentlich - wenngleich nicht immer so nett :-) kam und er sich nicht dem Verdacht aussetzen will, hier einseitig zu berichten. Exkurs Ende.]

Doch es gibt einen überraschenden Nebeneffekt: Die jungen Russen zeigen sich für gewöhnlich wenig an einer Integration interessiert - insgeheim verachten sie die lasche, pardon tolerante, saft- und kraftlose deutsche Gesellschaft, in die sie hinein geraten sind. Die bringt ja nicht mal mehr eigene Fußballer hervor! (Von der letzten Generation Ossis mal abgesehen - so wie die letzten Gallier in der französischen Nationalelf nur noch aus der ehemaligen Provinz "Gallia Cisalpina", also Norditalien, stammen; der Rest sind Armenier, Araber und Afrikaner; und von den 50 Millionen Franzosen, die Michel Sardou für das Jahr 2000 prognostizierte, waren auch höchstens noch 40 Millionen echte Gallier, Tendenz rapide sinkend.) Selbstverständlich sprechen sie untereinander nur Russisch - was sonst, sie wohnen ja alle beieinander in dem nahe gelegenen Aussiedler-Ghetto; aber Dikigoros spricht kein Russisch mit ihnen, obwohl er es könnte, und obwohl er sonst Ausländer, die er mit ihren Kindern Deutsch sprechen hört, in ihrer Muttersprache anzupflaumen pflegt, warum sie mit ihren Kindern nicht in dieser kommunizieren; aber auf dem Sportplatz spricht er Deutsch. Eines Tages hört er nach einer jener unerfreulichen Auseinandersetzungen mit zwei jungen Arabern, daß der größte und kräftigste der Aussiedler (nein, sie haben Dikigoros noch nie geholfen; er hat sie auch noch nie um Hilfe gebeten) seinen Landsleuten auf Deutsch (!) den Satz an den Kopf wirft: "Es ist mir scheißegal, wo ich herkomme; ich will Deutscher sein." Schockiert, liebe Gutmenschen? Ja, was glaubt Ihr denn, womit man jungen Russen schmackhaft machen kann, sich in Deutschland zu integrieren, ja sich als Deutsche zu fühlen? Mit schöngeistigen Reden über Demokratie und Menschenrechte? Dann träumt mal schön weiter - Dikigoros hält es mehr mit dem Diskus als mit Diskursen.... Aber Spaß beiseite - was hilft das alles, wenn die "Methode Héktor" sich nicht bald herum spricht und fleißig angewendet wird, damit die Deutschen mit den Muslimen in Frieden leben können, indem sie die letzteren zur sofortigen Abreise aus ihrem (der Deutschen) Land bewegen, wie Héktor das mit Aías und seinen Griechen tut? In ein paar Jahren wird Dikigoros den Speer vielleicht nur noch 30 Meter weit werfen und für eine Runde 70 Sekunden brauchen - damit wird er niemandem mehr imponieren; wenn wir den Kampf um die Sportplätze (und nicht nur um die) bis dahin nicht gewonnen haben, dann können wir unseren Laden dicht machen - nein, nicht die Kriegspforten, die werden sich dann im Gegenteil ganz plötzlich wieder öffnen - zum Bürgerkrieg, wie er sich anno 2005 in den Ausländervierteln der französischen Großstädte schon abzuzeichnen begann. Wie sagte Héktor: "Je gagne chaque combat. Mais de chaque victoire l'enjeu s'enfuit."

[Exkurs auf Leserrückfragen: Ihr dürft Euch getrost darauf verlassen, daß Giraudoux das mit dem Sport genauso sah wie Dikigoros - übrigens auch mit den Sportler-Bildern in der "Kunst". In offiziellen Biografien lest Ihr zwar heute, daß Giraudoux nach dem Einmarsch der bösen Nazi-Deutschen "verstummt" sei und sich ins Privatleben zurück gezogen habe - aber daran ist kein Wort wahr. Giraudoux schrieb z.B. in der Theaterzeitschrift "Comoedia" zu einem Stück, über das Dikigoros an anderer Stelle mehr berichtet: "Wer seinen Körper nicht trainiert, schadet der Gesundheit seiner Nation (...) Bei Racine gibt es keinen Helden, der nicht sportlich wäre (...) Die Völker mit dem höchsten Anteil von Kunstmagazinen haben auch den höchsten Anteil von Sportlern: Deutschland und Finnland." Welch eine faschistoïde Einstellung! Und die blieb durchaus nicht unbeachtet - nicht umsonst verboten die alliierten Besatzern den Deutschen 1945 jegliche Art sportlicher Betätigung - auf Turnen stand sogar die Todesstrafe. Exkurs Ende.]

Der nächste Kriegstreiber der griechischen Seite kommt: Odysséos. Der ist ein anderes Kaliber als der Schlagetot Aías; er versucht den Krieg mit intellektuellen Mitteln zu provozieren. "Das ist der wahre Kampf," wie Héktor richtig bemerkt, "der Kampf, aus dem der Krieg hervor gehen wird oder nicht." Odysséos führt ein hochnotpeinliches Verhör, was zwischen Páris und Helénä passiert sein könnte oder nicht; und ausgerechnet zwei troianische Matrosen stellen sich als Zeugen zur Verfügung dafür, daß eben doch etwas passiert ist. Während Héktor noch versucht, die beiden Troianer zum Schweigen zu bringen, erscheint Iris und überbringt die Botschaften der olympischen Götter - die einander leider auch widersprechen, so daß mit ihnen nicht viel anzufangen ist: Afrođítä, die Göttin der Liebe, meint, daß der Zweck - die Liebe - alle Mittel heilige, auch Lüge, Geiz und Verschwendungssucht; sie verbietet den Menschen, Páris und Helénä zu trennen - andernfalls werde es zum Krieg kommen. Pallas Athene, die Göttin der Klugheit, meint, daß es nichts dümmeres gebe als Sex. Sie gebietet den Menschen, Páris und Helénä zu trennen - andernfalls werde es zum Krieg kommen. Und der Göttervater Zevs (das spricht sich "Sews", liebe deutsche Leser, mit weichem "S" im Anlaut, nicht "Tßojß" o.ä.!) meint, daß diejenigen, die auf der Welt nur die Liebe sehen, genau so falsch liegen wie diejenigen, die sie nicht sehen. Er gebietet, daß sich die Menschen auf Frieden einigen - andernfalls werde es zum Krieg kommen. Tja - wat nu, pardon, liebe Kommunisten, schto djelatch? Verzweifelt appelliert Héktor an Odysséos' Verstand. Am Ende lenkt der Grieche tatsächlich ein - aber Giraudoux erspart uns den Clou nicht: Nicht etwa, daß Héktor ihn überzeugt hätte, daß zwischen Páris und Helénä nichts war; auch nicht, daß Andromáche - die im Anfangsstadium der Verhandlungen zugegen war - ihn davon überzeugt hätte, daß die beiden einander nicht lieben, weshalb ein Krieg nicht gerechtfertigt wäre... Nein, als Héktor dem Odysséos für seinen "Edelmut" dankt, erwidert der: "Das war es nicht..." Was dann? "Andromáche hat den selben Augenaufschlag wie Penelópe." Das ist starker Tobak, liebe Leser - daran hätte der Ausbruch des troianischen Krieges scheitern sollen? Oder warum sollte er jetzt noch ausbrechen? Etwa, weil sich Aías plötzlich an Andromáche heran macht und sie küssen will? Gut möglich, denn während Kassándra versucht, die beiden mit friedlichen Mitteln zu trennen, hebt Héktor schon den Speer... Moment mal, hatte der nicht ein paar Szenen zuvor dem Demokós erzählt, er wäre nicht bereit, für Andromáche in den Krieg zu ziehen und Menschen zu töten? War das also auch alles gelogen und bezog sich das nur auf die Frauen anderer, nicht auf die eigene? Aber Aías, offenbar immer noch beeindruckt von Héktors Speerwurfkünsten, gibt nach: "Schon gut, schon gut, Adieu." Er geht, und der Vorhang beginnt sich zu senken.

Was - will Giraudoux die Geschichte so plump fälschen? Oder hat er noch einen Deus ex machina in petto? Er hat: Demokós erscheint mit der frohen Botschaft, daß er die neue troianische Kriegshymne endlich fertig bekommen habe; nun müsse sie aber auch eingesetzt werden... Wie war das: "Böse Menschen haben keine Lieder", dichtete Seume zur Zeit des Franzosenkaisers Napoleon; aber der Umkehrschluß, daß Menschen mit Liedern keine Bösewichte sein können, gilt offenbar nicht. "Aux armes, citoyens," beginnt der Refrain der französischen Kriegshymne, der "Marseillaise". "Aux armes, Troyens," läßt Giraudoux Demokós sie nachäffen, pardon voraus sehen (wenn schon Kassándra nicht hell sehen kann :-). "Da hast du deine Kriegshymne," ruft Héktor und... wirft ihm den Speer, den er eigentlich gegen Aías erhoben hatte, in den Rücken, mit den triumfierenden Worten: "Der Krieg wird nicht statt finden, Andromáche!" (Ach, welch ein tapferer Krieger, der einen unbewaffneten Feind, der völlig arglos ob eines solchen Angriffs ist, mit einem Dolchstoß, pardon einem Speerwurf aus nächster Nähe in den Rücken tötet - hat das jemand nötig, der ihn angeblich 70 m weit werfen kann? Nein, auch Héktor hat Dikigoros' Sympathie nicht!) Die Troianer hören den Ruf "er hat mich getötet" des sterbenden Demokós, eilen herbei und fragen, wer das getan habe. Und nun rächt sich auch noch Héktors Ohrfeige - der erfahrene Diplomat Giraudoux wußte wohl, daß derselbe Bluff selten öfter als einmal wirkt: Beim ersten Mal hatten ihm die Troianer noch geglaubt, daß er der Täter war, und nicht Aías - nun, da es nicht mehr um eine läppische Ohrfeige geht, sondern um einen Mord, glauben sie ihm nicht mehr, sondern Demokós, als er sagt: "Aías hat mit getötet - tötet ihn!" Das, liebe Leser, nennen US-Juristen eine "Dying Declaration", und die wiegt bekanntlich (jedenfalls für alle, die den Film Sein letztes Kommmando gesehen haben :-) besonder schwer. "Gestehe, daß du lügst, sonst mache ich dich fertig," sagt Héktor - leere Drohung gegenüber einem Sterbenden, der den letzten Triumf erringt: "Nein, mein lieber Héktor, es war Aías - tötet ihn!" Und die Troianer tun ihm den Gefallen - sie lynchen den Griechen. Und während sich im Hintergrund die Kriegspforten langsam wieder öffnen, fällt der Vorhang.

Tja... wie schrieb schon Giraudoux' Landsmann Frédéric Giler alias Friedrich Schiller (der in Hektors Abschied eine ganz andere Andromáche zeichnete): "Noch keiner entrann dem verhängten Geschick, und wer sich vermißt, es klüglich zu wenden, der muß es selber erbauend vollenden." Nun wird Andromáche ziemlich enttäuscht sein - hätte wenigstens Héktor den Aías getötet aus Liebe zu ihr, dann wäre der Krieg doch in ihren Augen gerechtfertigt gewesen, nicht wahr? Oder wenn sich Helénä jetzt dem Páris in die Arme werfen würde - statt dessen umarmt sie den Troilus. Und die Ehre der Troianer? Nun, die können sie ja jetzt im Krieg wieder herstellen. Und der Umkehrschluß von dem Satz, daß ein Krieg gerechtfertigt ist, wenn zwei Menschen einander wahrhaft lieben? Ist ein Krieg auch gerechtfertigt, wenn zwei Völker einander hassen? Müßig, darüber nachzudenken - deshalb hat Giraudoux es gar nicht erst versucht. Er kannte die Deutschen und die Franzosen zu gut, um zu wissen, daß sie einander nicht hassen mußten - und dennoch haben sie stets unnötige Kriege gegen einander geführt, aus anderen dummen Gründen; und wir Nachgeborenen wissen, daß der "letzte" dieser Kriege mit dem Untergang des Reiches endete wie der "troianische" mit dem Untergang Ílions.

[Medaille]

Wie es weiter ging, wissen wir nicht mehr von Hómer, sondern von Evripídäs, aus seinen "Troádes [Die Troierinnen]", die im Jahre 1971 auch verfilmt wurden (von Michael Cacoyannis, der sich auch noch anderer antiker Vorlagen annahm, aber mit keiner auch nur annähernd den Erfolg hatte, wie er ihn acht Jahre zuvor mit der Verfilmung von Kazantzakis "Alexis Zorbas" erzielt hatte): Die siegreichen Griechen benahmen sich im besiegten Troia etwa so wie die siegreichen Alliierten im besiegten befreiten Deutschland: die wehrfähigen Männer wurden ermordet, die Frauen vergewaltigt, die Kinder versklavt und re-educated, pardon umerzogen. Aías - weit davon entfernt, der Lynch-Justiz der Troianer zum Opfer gefallen zu sein (auch das war eben nur eine Falschmeldung, ein Vorwand zum Krieg wie die Torpedierung der Lusitania und so viele andere, auf die Euch Dikigoros den zweiten Link im ersten Absatz der Startseite gelegt hat) - machte sich nicht wie bei Giraudoux an Andromáche heran; die riß sich vielmehr der Sohn des Achill unter den Nagel, dessen Vater im Kampf gefallen war - gegen Páris, der durchaus nicht der Hampelmann war, als den ihn Giraudoux und andere immer wieder dargestellt haben; nur sehr kluge und starke Männer können es sich leisten, eine Frau nicht wegen ihrer Weisheit oder ihrer Macht zu wählen, sondern wegen ihrer Schönheit, also Athene und Hera links liegen zu lassen und Afrođítä den Preis zuzusprechen.

[Das Urteil des Paris, Gemälde von P. Rubens]

Aías also machte sich an Kassándra heran; aber die gönnte ihm wiederum der Agamémnon nicht, sondern nahm sie ihm weg, wie einst dem Achill die Brisis - das war nun wirklich der letzte, der moralische Entrüstung über eine geraubte Frau als Beweggrund für einen Krieg vorschieben durfte! (Aber Dikigoros will hier keinen Vergleich mehr ziehen zu den Beweggründen der Alliierten, dem Reich im September 1939 den Krieg zu erklären; fleißige Leser seiner "Reisen durch die Vergangenheit" kennen die Parallelen sicher schon.) Und? Zahlte es sich aus? Denkste: Kaum wieder zuhause in Griechenland, wurde Agamémnon von seiner eifersüchtiger Ehefrau Klytaimnístra (Helénäs Schwester) umgebracht - und Kassándra dto.

Von Evripídäs (aus seinem "Palamédes") wissen wir übrigens auch, wie sich die Vorgeschichte - die bei Hómeros (und bei Schwab :-) fehlt - wirklich abgespielt hat: Nicht Aías und Odysséos gingen zu den Troianern, um denen den Krieg zu erklären und sich von Héktor zum Frieden bekehren zu lassen, sondern des Aías Bruder Palamédes war es, der die griechischen Kriegstreiber Agamémnon und Odysséos im eigenen Lager zu überzeugen versuchte, den Krieg abzublasen. Odysséos zwang einen troianischen Gefangenen, einen fingierten Brief an Palamédes zu schreiben, legte ihn - den Gefangenen - anschließend um und ein paar Goldstücke dazu und versteckte ihn - den Brief - unter des Palamédes Bett, so daß es aussah, als sei dieser von den Troianern bestochen worden; nicht Héktor tötete seinen eigenen Landsmann Demokós, nicht die Troianer töteten Aías, sondern die Griechen töteten ihren eigenen Landsmann Palamédes als Verräter und Kriegsgegner, so wie die Franzosen 1914 ihren eigenen Landsmann Jaurès als Verräter und Kriegsgegner töteten - so wie sie ihren eigenen Landsmann Giraudoux 1945 als Verräter und Kriegsgegner getötet hätten, wäre er nicht schon 1944 gestorben - was dieses sein Theaterstück davor bewahrte, für alle Zeiten verboten zu werden. Und nun wißt Ihr auch, liebe Leser, warum Dikigoros sich entschieden hat, diesen Stoff nicht in der Bearbeitung des Hómeros oder der des Evripídäs in seine Sagen-Seite aufzunehmen, und auch nicht die Verfilmung des letzteren in seine Filme-Seite - sie geben einfach nichts her, was wir nicht alle längst wüßten. Es sei denn, wir wären vernagelte Kommunisten, wie Giraudoux' Landsmann Jean-Paul Sartre, der sich nicht entblödete, "Die Troierinnen" des Evripídäs anno 1965 noch einmal auszugraben und auf die Bühne zu bringen. Seine unverbesserlichen Anhänger behaupten, er habe das auf den Algerien-Krieg bezogen - ein Vergleich, der arg hinkt, wenn er denn überhaupt beabsichtigt war, denn dafür war das so viele Jahre nach dessen Beendigung und Verdrängung eigentlich nicht mehr aktuell genug, und das Ende war auch ein ganz anderes - wie im Vietnam-Krieg. Und ebenso falsch dürfte die daraus abgeleitete Meinung sein, daß sich das Stück des Evripídäs auf den Melos-Krieg bezogen habe (wenn überhaupt, dann war die mehrjährige Belagerung von Poteidaia gemeint, mit welcher der "Peloponnesische Krieg" begonnen hatte, und nach dessen Zerstörung die Götter zur Strafe die Pest nach Athen sandten); aber all das sind andere Geschichten.

* * * * *

Nachtrag. Darf Dikigoros im 60. Todesjahr Giraudoux' die Frage stellen, was aus seinem Versöhnungswerk - der viel beschworenen Überwindung der deutsch-französischen Erbfeindschaft - geworden ist? Wenn man nach den offiziellen Verlautbarungen der Bundesrepublik Deutschland geht, ist sie voll und ganz gelungen - schließlich steht es doch so auf geduldigem Papier aus dem Jahre 1962, und die Deutschen glauben noch immer an den Satz: "Was du schwarz auf weiß besitzt, darfst du getrost nach Hause tragen..." - auch wenn die meisten ihn nicht mehr kennen, geschweige denn seinen Verfasser. Sieht man sich dagegen die offiziellen Staatsakte der Republik Frankreich an, so spricht daraus ein Haß und ein Festhalten an der alten Erbfeindschaft, daß man glatt meinen könnte, das Verhältnis zwischen Deutschen und Franzosen sei - außer in Kriegszeiten - noch nie so schlecht gewesen wie heute. Woran will Dikigoros das festmachen? Beginnen wir mit eben jenem 60. Todestag Giraudoux' am 31. Januar 2004, der auf beiden Seiten des Rheins in peinlichem Schweigen verging. Was gibt es sonst an Gedenktagen an die gemeinsame Vergangenheit? Nun, es dürfte klar sein, daß die deutschen Gutmenschen so ärgerliche Feiertage wie den Tag von Waterloo, den Tag von Sedan und den Tag von Compiègne (den 2., versteht sich, von 1940) nicht nur aus ihrem Kalender, sondern auch aus ihrem Gedächtnis gestrichen haben. Und die Franzosen? Welche Gedenktage sollte ein Volk überhaupt feiern, wenn es nicht gerade an kollektiver Geisteskrankheit leidet? Natürlich nicht seine eigenen Niederlagen (das tat und tut nur ein einziges Volk auf der Welt - als "Befreiung[en]" :-), sondern entweder die eigenen Siege oder die Verbrechen seiner Feinde. Beides ist wichtig, vor allem, wenn man nicht an Versöhnung denkt, sondern an der Feindschaft festhalten will, nach dem Motto: nie vergessen, nie vergeben. Schauen wir also mal, was die Franzosen "vergessen" und "vergeben" haben und was nicht. 8. Mai 1429: Jeanne d'Arc entsetzt im 100-jährigen Krieg das von den Engländern belagerte Orléans - das Datum kennt heute kein Franzose mehr, selbst aus ihren Lexika ist es getilgt. 8. Mai 1945: Das Deutsche Reich kapituliert (zwar nicht vor den Franzosen, aber die fühlen sich natürlich als die großen Sieger) - das ist bis heute ein Festakt, der mit ausgedehnten Paraden und Siegesreden gefeiert wird. [Neuerdings dürfen auch die Deutschen mitfeiern - schließlich sind sie damals von ihren Uhren und von ihrem Reich "befreit" worden!] 6. Juni 1944: Die Angelsachsen beginnen mit der Invasion in der Normandie; die Franzosen feiern auch das als "ihren" Sieg - und die Deutschen, nein gewisse bundesrepublikanische Politiker, denen man das Adjektiv "deutsche" beizulegen zögert, feiern nun auch mit. 8. Juni 1944: Ein paar elsässische Soldaten der Waffen-SS - also Angehörige jenes deutschen Stammes, an dem die Franzosen seit dem 17. Jahrhundert, vor allem aber in den Jahren 1939 und 1944/45 millionenfachen Völkermord begangen haben - heben ein Partisanen-Nest in Oradour aus und richten die Hauptschuldigen hin (völlig rechtens, denn auf Partisanentätigkeit stand und steht nach bis heute geltendem Kriegsgesetz mit Recht die Todesstrafe); bis heute strömen alljährlich aus ganz Frankreich zusammen gekarrte Demonstranten durch das traurige Kaff; Haßprediger hetzen gegen die "Nazi-Deutschen" im allgemeinen und gegen die Waffen-SS im besonderen; und der Druck auf die Opfer, d.h. die Elsässer, wird immer größer, demnächst auch eine "Delegation" hinzuschicken, um sich als "Täter" verunglimpfen zu lassen und ihr "peccavi" an die Brust zu schlagen, wie es die bundesrepublikanischen Deutschen schon seit Jahrzehnten tun. 3. Juli 1940: Die R.A.F. (nicht die Terroristen von Baader & Meinhof, sondern die der britischen Luftwaffe) bombardieren die wehrlose französische Flotte in Oran - eisiges Schweigen; dieses Ereignis ist aus sämtlichen englischen, französischen und deutschen Geschichtsbüchern gestrichen.

Darf Dikigoros wieder einmal den advocatus diaboli spielen? Vielleicht ist das alles eher ein gutes als ein schlechtes Zeichen für die deutsch-französische Aussöhnung? Wenn die Völker einander wirklich so sehr hassen würden, wie es zumindest die französischen Politiker zu wünschen scheinen (vielleicht glauben sie, damit von ihren inneren Problemen ablenken zu können, weil es die Franzosen, Araber, Afrikaner und was sich im Laufe der Zeit sonst noch so alles auf ehemals gallischem Boden angesammelt hat, zusammen schweißt, wenn man ihnen einen gemeinsamen Feind von außen vorgaukelt? Wenn sie sich da bloß nicht täuschen...) - hätten die letzteren es dann nötig, alljährlich jene Haßorgien zu veranstalten, in dem Bemühen, die alte Feindschaft aufrecht zu erhalten? Und müßten sie die Kriegsverbrechen ihrer Verbündeten so krampfhaft tot schweigen, wenn sie sicher sein könnten, daß sich der Haß ihrer Untertanen sonst weniger gegen ihre angeblich so schlimmen Nachbarn im Osten richten würde, als vielmehr gegen diejenigen, die ihre wahren Feinde waren und sind? Und daß sich die ins Märchenhafte aufgebauschten Greueltaten der ersteren in Anbetracht der vertuschten, verleugneten oder verharmlosten Greueltaten der letzteren sonst zumindest stark relativieren würden? Aber ach, liebe Leser, diese Fragen sind Ausdruck von Wunschvorstellungen eines Zeitgenossen, der im Geiste jener viel beschworenen deutsch-franmzösischen Versöhnung erzogen worden ist (und sich auch lange Zeit - bis 1990 - diesbezüglich Illusionen gemacht hat). Dikigoros' Eltern fiel das nicht weiter schwer, denn wo es keine Feindschaft gibt, braucht man sich über etwaige Hindernisse für eine Versöhnung nicht groß den Kopf zu zerbrechen: Sie waren zwar im Krieg so ziemlich überall gewesen, von Sizilien bis zum Nordkapp und von kurz vor Stalingrad bis kurz vor Berlin - aber nie an der Westfront. Und als Dikigoros zum ersten Mal auf Schüleraustausch nach Frankreich reiste und auf die erste Frage seiner Gastfamilie: "Votre père, était-il en France pendant la guerre?" guten Gewissens mit "non, il était en Russie" geantwortet hatte, gab es auch da nicht viel zu versöhnen.

Aber wie soll es Freundschaft zwischen zwei Völkern geben, die einander so wenig kennen wie das deutsche und das französische? Die Mehrheit der Franzosen erfährt aus ihren Schulbüchern nichts anderes, als daß die Deutschen allesamt böse Nazis sind, und vor allem viele junge Leute glauben, daß der Bundeskanzler "Itläär" heiße (oder so ähnlich :-). Die meisten Deutschen glauben wiederum, daß der französische Staatspräsident de Gaulle heiße. (Oder vielleicht doch Napoléon?) Andere Namen aus der Politik ihrer Nachbarn sind den meisten unbekannt. Aber nicht nur aus der Politik, sondern auch aus der Kultur, sei es Musik, Literatur, Film oder Theater. Kein Franzose weiß, was gerade in Deutschland im Kino läuft oder in der Hitparade, und vice versa ("wiehßwärßà" sprechen die Franzosen das aus - aber viele Deutsche wüßten ja auch nicht was das bedeutet, wenn man es lateinisch ausspräche :-) gilt das gleiche. Woher denn auch? Noch nie lernten so wenige Franzosen auf der Schule oder an der Universität Deutsch wie heute, und noch nie so wenige Deutsche Französisch - sie könnten also nicht mal eine Zeitung oder ein Buch aus dem Nachbarland lesen oder einen Radio- oder Fernsehsender zu Rate ziehen. Doch, empfangen könnten sie die, seit es Satelliten-Schüsseln gibt; aber nichts verdeutlicht das fehlende Interesse an Sprache und Kultur des jeweils anderen mehr als das völlige Scheitern des gemeinsamen Fernsehsenders "arte": Ursprünglich war geplant, abwechselnd Sendungen auf Deutsch und Französisch zu bringen, ggf. mit Untertiteln; aber das hat man längst aufgegeben: In Frankreich werden nur Sendungen auf Französisch ausgestrahlt (wenn sie im Original deutsch sind, synchronisiert), und in Deutschland nur noch Sendungen auf Deutsch (dto) - voilà, eine Bankrotterklärung par excellence. Wie viele Deutsche waren schon mal über Paris (und Disneyland) hinaus in Frankreich? 1%? Oder noch weniger? In Malle spricht jeder Deutsch, an der türkischen Riviera jeder zweite, und in Paris gibt es wenigstens noch Dolmetscher, die Englisch können, aber in der französischen Provinz (z.B. im Limousin) sprechen sie nur Französisch, und in der französischen Provence (wo man ja schon mal hinfahren kann, wenn der eigene Fußballverein im Europapokal auf Marseille trifft, aber nur, um Randale zu machen) dto., noch dazu mit diesem greulich breiten Akzent... Und daß selbst die politische "Vernunftfreundschaft" völlig wertlos war bzw. nur dummes Geschwätz und Heuchelei, zeigte sich nach dem Mauerfall: François Mitterrand, der damalige Präsident Frankreichs, selber ein "ancien collabo" der Nazis, ließ die Maske fallen, drohte der BRD für den Fall eines "Anschlusses" der DDR mit Krieg - die USA und die Sowjet-Union (!) mußten ihn zurück pfeifen. (Die Briten unter der "Iron Lady" Maggy Thatcher wären mitmarschiert, wie schon 1939, als die Wiedervereinigung mit Danzig auf dem Programm stand!) Als Ausgleich diktierte Frankreich dem neuen Groß-Deutschland, pardon der neuen Groß-BRD - in völliger Verkennung ihrer wirtschaftlichen Lage - ein "Versailles ohne Krieg" (Originalton Mitterrand - den zum Glück in Deutschland niemand hörte, denn es verstand ja zum Glück niemand Französisch :-), nämlich den Vertrag von Maastricht. Zum Glück hörte auch Giraudoux, der alte Diplomat guten Willens, das nicht mehr - er hätte sich im Grabe umgedreht.

[Maastricht - Karikatur von Behrendt]

Noch ein Nachtrag. Im Jahre 2007 verging Giraudoux' 125. Geburtstag mehr oder weniger unbemerkt. Und als im Jahre 2008 - 64 Jahre nach seinem Tode - seine "Doppel"-Memoiren erstmals in deutscher Übersetzung heraus gegeben wurden (die französische Ausgabe von "Souvenirs deux existences" war immerhin "schon" 1975 erschienen) konnte der Rezensent des "Deutschlandfunks" das nach einem leicht naserümpfenden Hinweis auf seine notorische "Germanophilie" (merke: wer vor Gründung der BRD und der DDR deutschfreundlich war, steht zumindest latent im Verdacht, ein "Nazi" gewesen zu sein!) mit der süffisanten Bemerkung kommentieren, daß er "heute so gründlich vergessen" sei wie seine einst ebenso berühmten Landsleute und Kollegen Marcel Aymé und Jean Anouilh, das Werk also allenfalls noch für Historiker von Interesse sei - wie auch "Der trojanische Krieg findet nicht statt". Gewiß, heute finden keine Kriege zwischen Griechen und Troianern mehr statt, auch keine mehr zwischen Deutschen und Franzosen, sondern - um uns auf Europa zu beschränken - "nur" noch solche zwischen Serben, Kroaten, Bosniaken und Kosovo-Albanern. Und das will Dikigoros zum Aufhänger für eine nochmalige Bekräftigung seiner These nehmen, daß die Demonstration von Stärke - und sei es nur Stärke auf dem Sportplatz - helfen könnte, Kriege zu verhindern. Er hat in der letzten Freiluftsaison zusammen mit einer jugoslawischen Boxstaffel laufen trainiert - da bestand keine Gefahr, zwischen die Fronten der Türken und Russen zu geraten, denn an die traute sich niemand ran. (Obwohl sie alles andere als fit waren. Dikigoros versuchte ihnen beizubringen, daß sie, um ein Boxmatch auf hohem Niveau durchhalten zu können, 3x800 m à 3 Minuten mit je einer Minute Pause dazwischen laufen müssen - das entspricht in etwa der konditionellen Belastung eines Amateurkampfes -, aber davon waren die meisten noch weit entfernt. Wenn er ganz ehrlich gewesen wäre, hätte er ihnen sagen müssen, daß sie, so sie mal Profis werden wollten - und viele träumten insgeheim davon, schon wegen des großen Geldes - 12x800, in den unteren Gewichtsklassen sogar 12x1.000 m à 3 Minuten laufen müssen; aber das schaffte er selber nicht mehr, deshalb behielt er das lieber für sich :-) [Auf besorgte Leseranfragen: Doch, rein läuferisch schafft er die 12x800 m à 3 min. noch - mehr muß nicht sein, denn er ist ja kein Leicht-, sondern Halbschwergewicht; nur bei den Pausen muß er ein wenig schummeln, da gönnt er sich je zwei Minuten statt einer - aber er will ja kein Profiboxer mehr werden, schließlich geht er allmählich auf die 60 zu. Nachmachen, liebe 20-jährige, bevor Ihr lästert!] Das ist aber nicht das eigentlich Bemerkenswerte, sondern vielmehr, daß für diese jungen Leute - die Dikigoros bewußt "Jugoslawen" nennt - der Balkankrieg offenbar nicht statt gefunden hatte: Sie waren gute (und damit meint Dikigoros: fanatische) orthodoxe Serben und katholische Kroaten, und es hatten sich sogar ein muslimischer Bosniak und ein muslimischer Kosovar unter sie verirrt. (Besonders der letztere hat Dikigoros die tollsten Anekdoten über seine Heimat und die Lebensweise der Menschen dort erzählt, ohne einen Hehl daraus zu machen, daß er z.B. Blutrache und Brautkauf für die besten und natürlichsten Dinge auf der Welt hält, die man unter keinen Umständen aufgeben sollte :-) Dennoch gab es nicht die geringsten Animositäten zwischen ihnen, und sie alle ordneten sich widerspruchslos ihrem - serbischen - Trainer unter, obwohl der eher klein und schmächtig zu nennen und schon in Dikigoros' Alter war. (Er war in den 1970er Jahren Amateur-Europameister seiner Gewichtsklasse, bis er den Titel eines Tages an einen DDR-Sportler verlor: "An den Kampf in Rostock erinnere ich mich noch, als wenn es gestern gewesen wäre. Mein Gegner war weder größer noch schwerer noch jünger noch technisch besser als ich - im Gegenteil; aber ich merkte vom ersten Schlagabtausch an, daß irgendetwas anders war; ich hatte überhaupt keine Chance gegen den. Heute weiß ich, warum; das war damals, als die DDR anfing, Doping in großem Stil zu perfektionieren.") Warum können diese Sportler friedlich zusammen leben, sogar ihre Freizeit mit einander verbringen (wohlgemerkt freiwillig, anders als etwa in Bosnien, wo die alliierten Besatzer sie zum Zusammenleben zwingen wollen!)? Dazu noch Sportler, die eine Disziplin ausüben, die nicht gerade für ihre Friedfertigkeit bekannt ist, also keine Weicheier, die den Kampf scheuen? Dikigoros hofft, daß es nicht bloß die gemeinsame Solidarität gegenüber den Fremden im Ausland oder gegen die fremden Besatzer im eigenen Land ist, sonst wird der Kessel eines Tages explodieren und die scheinbar schon so gut wie geschlossenen Pforten des balkanesischen Krieges, der halb eingeschlafen, halb unterdrückt worden ist, wieder weit aufstoßen.


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