REVOLUZZER & KAPELLMEISTER
RICHARD WAGNER (1813 - 1883)
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[25 Pf Notgeldschein Tannhäuser] [25 Pf Notgeldschein Wolfram v. Eschenbach]
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EIN KAPITEL AUS DIKIGOROS' WEBSEITE
DIE BRETTER, DIE DIE WELT [BE]DEUTEN

(Fortsetzung von Teil I)

Ist es nicht merkwürdig, daß ausgerechnet dasjenige Stück Wagners, das sich am wenigsten um Geld und Gut dreht (sondern - wie immer, aber hier mal fast ausschließlich - um Liebe und Erlösung), nämlich der "Tannhäuser", am häufigsten auf Geldstücken und Geldscheinen auftaucht? (Was Dikigoros eingangs des "Fliegenden Holländers" abgebildet hat ist nur eine Gedenk-Medaille.) Und fast immer - wie hier - in trauter Runde, züchtig bekleidet, als Sänger und/oder Pilger, aber nie als feuriger Liebhaber. Dabei war es doch gerade das, was Wagner an dem Stoff so faszinierte: Tannhäuser treibt es im Venusberg (nicht umsonst sollte die Oper ursprünglich wie gesagt "Der Venusberg" heißen!) mit der Göttin der irdischen Liebe, bis ihn ein - ebenfalls ziemlich weltliches - Motiv wieder an die Erdoberfläche zieht, nämlich die Lust, sich bei einem Schlagerfestival auf der Wartburg zu produzieren. Leider klappt das nicht so recht - jedenfalls nach damaligen Vorstellungen -, sondern es kommt zum Eklat über einen ziemlich gewagten Love-song. (Heutzutage wäre so ein schöner Skandal ja die beste Werbung für den Verkauf des Schlagers!) Tannhäuser sieht ein, daß er lieber ein braves Minnelied auf die platonische Liebe hätte singen sollen, mutiert zum Mönch und reist, pardon pilgert nach Rom zum Papst, um ausgerechnet den um Verzeihung zu bitten. Der will aber nicht mitspielen, sondern profezeit ihm, daß er so wenig Erlösung finden wird wie ein Bischofsstab zu grünen beginnt. Also latscht Tannhäuser wieder zurück nach Thüringen, und nachdem der Pilgerchor noch ein schönes Lied gesungen hat, stirbt der Titelheld. Zum Glück hat sich schon wieder eine jungfräuliche Erlöserin in die Handlung eingeschlichen, nämlich die keusche Tochter des Landgrafen von Thüringen, die heilige Elisabeth, und so kommt er wenigstens in den Himmel. Und woher wissen wir das? Nein, er fährt nicht vor aller Augen in den Himmel auf; aber der Stab beginnt tatsächlich zu grünen. Wenigstens ein hübsches Ende für eine ziemlich seichte Story.

[10-Mark-Gedenkmünze der DDR auf Richard Wagners 100. Todestag und den Tannhäuser]

Darf Dikigoros gleich mal ein paar persönliche Ansichten los werden und über die Wirkung von Liedertexten im allgemeinen und über das mittelalterliche Minnesängertum im besonderen? Wenn heutzutage irgend ein Schlagersternchen "I love you" trällert - nimmt das jemand von Euch ernst, liebe Leser[innen]? Wohl kaum; jedenfalls fühlt Ihr Euch schwerlich in dem Maße persönlich angesprochen, daß Ihr nun mit dem Star ins Bett gehen wollt - Ihr wißt doch im Grunde genommen genau, daß der Sänger oder die Sängerin nur Euer bestes wollen: Euer Geld! Nun fällt es Dikigoros schwer zu glauben, daß sich der Mensch seit dem Mittelalter dermaßen geändert hat, daß damals alles so viel anders gewesen sein sollte. Was steht in unseren Märchen- und Geschichten-, pardon Geschichts-Büchern? Der Minnesänger sang seiner angebeteten Dame zwar durchaus keine platonischen Liedertexte vor - im Gegenteil, sie waren meist recht deutlich, bisweilen sogar anzüglich in ihren Anspielungen -, aber gleichwohl durften seine sexuellen Wünsche nie in Erfüllung gehen, das war gerade der Witz an der Sache. Ha, ha, sehr witzig, liebe Leser - aber findet Ihr das nicht auch ziemlich krank? Was war der größte Wunsch des berühmtesten deutschen Minnesängers? Eine Planstelle als Sesselpupser in der Beamten-Hierarchie ("Lehen" hieß sowas damals). Und wie bekommt, pardon bekam man die? Richtig, indem man mit der Frau vom Chef pennte, oder - wenn man es denn vermeiden konnte, denn wer wollte schon mit so einer alten, langweiligen Tucke ins Bett gehen? - ihr wenigstens vormachte, daß man gerne mit ihr pennen würde, damit sie ein gutes Wort bei ihm einlegte. Nicht mehr und nicht weniger dürfte hinter diesen "Minnebräuchen" gesteckt haben; mit Groupies von gleichem Stand und Geschmack werden die Herren Minnesänger ohne weiteres auch ins Bett gegangen sein. Das Mittelalter - und zumal das so genannte Hochmittelalter, in dem der "Tannhäuser" spielt - war weder "finster" noch prüde; das ist vielmehr eine Rückprojektion des prüden 19. Jahrhunderts, in dem diese Zeit "wieder entdeckt" wurde, wobei man von sich auf andere schloß. [Die hochmittelalterliche Freizügigkeit und Promiskuität machte erst Mitte des 14. Jahrhunderts einer gegenläufigen Bewegung Platz, als der "Schwarze Tod" - die Pest - die Ansteckungsgefahr beim Geschlechtsverkehr erhöhte, ähnlich wie heute AIDS.]

[Gemälde Aigners zum 'Tannhäuser']

Lassen wir das - das ist nur Dikigoros' ganz private Mindermeinung. Was war denn nun nachweislich historisch falsch am "Tannhäuser"? Beginnen wir mit dem Titelhelden selber. Auf den haben die Herren Historiker viel Gehirnschmalz verwendet und tatsächlich eine Urkunde gefunden, auf der einer dieses Namens erwähnt wird, der auch brav im 13. Jahrhundert lebte und vielleicht an einem Kreuzzug teilnahm (jedenfalls stellt ihn die Manessische Liederhandschrift in Kreuzfahrertracht dar - aber das ist eine andere Geschichte). Viel mehr wissen wir jedoch nicht von ihm - nicht mal, ob er Minnesänger oder jemals auf der Wartburg war. Dann gibt es das so genannte "Volksbuch vom Tannhäuser" - das war freilich ganz einfach jemand, der im Tann, also im Walde hauste, wahrscheinlich ein alter heidnischer Gott, denn um ihn rankte sich die Sage, daß er nach ausgiebigem Winterschlaf jedes Frühjahr ausfuhr, im Sommer durch die Lande zog und im Herbst zurück kehrte in seinen Wald - ob er dort auch Frau Venus traf, ist freilich nicht ganz klar. Irgendwer erfand dann die Geschichte mit der Romfahrt zu Papst Urban und den blühenden Unsinn, pardon das Märchen vom blühenden Holzstab dazu. Sogleich machten sich die Herren Historiker auf die Suche nach einem "Venusberg" in der Nähe Roms - wobei sie freilich nur den "Sibyllenberg" fanden, der nicht so ganz paßte, ebenso wenig wie das Ende vom Lied: Da geht Tannhäuser nämlich nicht in den Himmel, sondern ins Reich der Venus ein. (Zugegeben, das konnte man ihm bei Wagner schwerlich zumuten angesichts der alternden Operndiva Wilhelmine Schröder-Devrient, die diese Rolle damals spielte :-) Und noch etwas paßt nicht: Es gab zwar im 13. Jahrhundert einen Papst namens Urban [IV.], aber der ist nie in Rom gewesen, sondern regierte in Viterbo. Rom war damals das Bordell Europas - ein besonderer Treppenwitz, von dem Wagner wohl nichts ahnte, als er sein Textbuch zusammen schrieb. Was er aber nicht nur hätte ahnen, sondern definitiv wissen müssen ist, daß die Heilige Elisabeth unmöglich etwas mit Tannhäuser oder irgend einem Sängerwettstreit auf der Wartburg zu tun gehabt haben kann - die war damals noch ein Kind und saß in Ungarn; erst später wurde sie für kurze Zeit Landgräfin von Thüringen - offenbar jagte man die junge Witwe gleich beim Tode ihres Mannes zum Teufel, pardon ins Kloster, wo sie sich dann brav den Armen und Kranken widmen durfte.

Der Sängerwettstreit auf der Wartburg ist tatsächlich überliefert (leider ohne Datum, kluge Köpfe wollen aber 1207 ausgerechnet haben, das Geburtsjahr der heiligen Elisabeth), allerdings nicht mit einem Tannhäuser als Teilnehmer, sondern - neben Wolfram von Eschenbach (der bei Wagner als "Wolfram von Eschilbach" vorkommt), Bitterolf (bei Wagner: Biterolf) und Walter von der Vogelweide (den Wagner in der späteren Fassung des "Tannhäuser" heraus streicht) - mit einem gewissen Heinrich von Ofterdingen, von dem wir freilich auch nicht viel mehr wissen, als daß rund 500 Jahre nach seinem Tode Novalis ein längeres Gedicht über ihn geschrieben hat. Nun sind aber gewitzte Wagner-Fans auf die Idee gekommen, daß auch Tannhäuser ja mit Vornamen "Heinrich" geheißen haben und folglich mit dem von Ofterdingen identisch gewesen sein könnte. Ja, was wäre nicht alles möglich... Ganz unmöglich ist jedoch, was Wagner aus der Heiligen Elisabeth gemacht hat, nämlich eine Art Ersatz-Senta, die stirbt, damit Tannhäuser erlöst werden kann. Na, wenn das kein Grund war, sie heilig zu sprechen! Die echte Elisabeth - die für uns, im Gegensatz zu manchem "Wettstreitsänger", historisch greifbar ist - hatte tatsächlich eine bewegende, ja faszinierende Lebensgeschichte, die eine bessere Umsetzung verdient gehabt hätte als Wagners "Tannhäuser": Als Kleinkind mit Hermann, dem ältesten Sohn des Landgrafen von Thüringen verlobt (was all denjenigen zu denken geben sollte, die sich noch immer über die indischen "Kinderheiraten" aufregen), war sie nach dessen Tod schon mit 9 Jahren Witwe, pardon Ex-Verlobte. Nun war allerdings auch Ludwig, der jüngere Bruder Hermanns, an ihr interessiert (die Geschichtenschreiber schreiben "in sie verliebt" - aber sie war immerhin die Tochter des Königs von Ungarn und der Erbprinzessin von Kärnten und Tirol), und so wurde sie halt dessen Frau, nachdem man (nein, nicht der Tannhäuser! :-) Dispens beim Papst eingeholt hatte, denn bis 1975 konnte man nicht so einfach seine Schwägerin heiraten - auch nicht seine Schwägerin in spe, nicht einmal, wenn sie ehrbar verwitwet war.

Entgegen anders lautenden Gerüchten scheint die Ehe nicht sonderlich glücklich gewesen zu sein (obwohl Elisabeth mit 18 schon dreifache Mutter war), denn schon nach fünf Jahren trat ihr Mann dem Deutschen Orden bei und zog auf Kreuzzug ins Heilige Land. Genauer gesagt kam er gar nicht bis dorthin, sondern starb schon unterwegs in Italien, einige meinen an einer Seuche, böse Zungen behaupten dagegen, er habe sie mit Jolante (einer der vielen Frauen des Haremskaisers Friedrich II) betrogen und gemeinsam mit ihr einen vergifteten Liebestrank zu sich genommen - wie im "Tristan". Dikigoros hat dazu keine Meinung, er meint nur, daß man die vielen "Wunder", die Elisabeth angedichtet wurden, von der wundersamen Brotvermehrung bis zum "Rosenwunder", mit Vorsicht genießen sollte. Nun kam der dritte Bruder an die Macht, und der hieß endlich Heinrich - aber wieder nicht Tannhäuser, sondern Raspe. (Aber über den schreibt Dikigoros an anderer Stelle mehr.) Der machte dem Spuk schnell ein Ende, schickte Elisabeth ins Kloster und überließ sie dort ihren mildtätigen Wundertaten - so jedenfalls die offizielle Version. Tatsächlich war es wohl eher so, daß sie nach Magdeburg ging und dort an einen Prämonstratenser-Mönch namens Konrad geriet, mit dem sie ein ziemlich perverses Verhältnis einging, das man heute gut und gerne als Sado-Maso-Porno verfilmen könnte, gegen den sich die "Ausschweifungen" im Venusberg, die man Wagner seinerzeit so übel nahm, ziemlich harmlos ausnehmen: Fesselungen, Auspeitschungen und andere nette Spielchen wechselten sich ab, bei denen Konrad schließlich umkam - Elisabeth selber starb erst an den "Spät"-Folgen, mit 24 Jahren; vier Jahre später sprach sie der Papst heilig. (Ihr findet das unerhört, liebe Leser? Aber was denn - die Heiligsprechung im Mittelalter ist in etwa der Verleihung des Friedensnobelpreises im 20. Jahrhundert zu vergleichen; und auch den hat noch nie jemand bekommen, der ihn wirklich verdient hätte :-) Für Elisabeths Verbindung mit dem Sängerstreit auf der Wartburg oder gar dem reuigen Sünder Tannhäuser gibt es also, objektiv gesehen, keinerlei schlüssiges Motiv - nicht einmal den Kreuzzug, denn im Gegensatz zu ihrem Mann soll der Tannhäuser tatsächlich bis ins Heilige Land gelangt sein.

[der Tannhäuser in Kreuzfahrertracht]

Aber kommen wir zu Wagners subjektiven Motiven. Allmählich mußte man ja glauben, daß er einen Erlösungs-Komplex hatte. Mit Recht? Greifen wir ein wenig in seiner Biografie vor. Über Wagners Zahlungs-Moral bzw. -Unmoral muß man nicht viel schreiben, die erinnert Dikigoros immer an das Gedicht eines Jura-Studenten, mit dem er das "Vaterunser" auf die Schippe nahm: "... Herr, vergib uns unsere Schulden, und erlöse uns von den Gläubigern, denn Dein ist die Rechtskraft und das Reichsgericht und die Burschenherrlichkeit, Amen." 1858 überwarf sich Wagner mit seinen langjährigen Gönnern, den Wesendoncks; er verließ die Schweiz, ging nach Italien, d.h. ins damals noch österreichische Venedig, wurde ausgewiesen, irrte zwischen Paris, Berlin, Sankt Peterburg und Wien herum, immer auf der Flucht vor seinen Gläubigern, und landete, nachdem der Haftbefehl gegen ihn im ganzen Deutschen Bund per Amnestie aufgehoben war, 1864 in München. Dort kam ihm der Zufall zu Hilfe in Gestalt des jungen Königs Ludwig II, der ihn ehrlich bewunderte, während Wagner ihn privat wenig respektvoll als "JKVB [jungen König von Bayern]" bezeichnete und ganz gezielt eine Art Vater-Sohn-Verhältnis aufbaute (böse Zungen sprachen - und sprechen - auch von homo-erotischen Neigungen, aber das können wir hier getrost dahin stehen lassen), um seine finanziellen Quellen anzuzapfen. Ludwig förderte Wagners "Kunst" - und vor allem: er bezahlte dessen Schulden, nicht nur die alten, sondern auch die neuen, die Wagner ungeniert machte, sobald er wieder Kredit hatte, und war auch sonst ziemlich spendabel, sehr zum Unmut seiner sparsamen Minister und seiner braven Untertanen, die den "zugereisten" Sachsen goar net mochten. (22 Jahre später sollten sie Ludwig erst absetzen, dann entmündigen und schließlich er[selbst]morden.)

Und nun trat eine Person in Wagners leben - die sich bisher wohlweislich gehütet hatte, sich mit einem solchen Habenichts einzulassen: Cosima von Bülow. Äußerlich war sie nicht gerade schön zu nennen, aber sie hatte etwas, das Dikigoros an seinen ersten großen Schwarm erinnert (der auch so ähnlich hieß), und vor allem: sie war Wagner in jeder Hinsicht gewachsen. Ein Biest, berechnend, intrigant, ehrgeizig über alle Maßen, aber ihm unbedingt treu ergeben, zudem eine blendende Organisatorin und Propagandistin (heute würde man sagen: "Managerin" - eine Type wie die Frauen von Peter Alexander und Freddy Quinn) - das hatte sie von ihrem Vater geerbt, der ebenfalls ein großer Musiker war, aber noch besser darin, sich selber höchst gewinnbringend zu vermarkten. Das war kein hausbackener Typ wie Wagners erste Frau Minna, die sieben Jahre älter war als er (und überdies unfruchtbar - daß ihre jüngere Schwester in Wirklichkeit ihre Tochter aus einer vorehelichen Beziehung gewesen sein soll, hält Dikigoros für ein bösartiges Gerücht), auch kein liebes Püppchen wie Mathilde Wesendonck (die übrigens Halb-Jüdin war - ihre Mutter war eine geborene Stein), Cosima war ein Drache. Über ihren Schreibtisch lief alles, selbst Wagners Autobiografie "Mein Leben"; und sie sollte auch dafür sorgen, daß ihr einziger Sohn, der etwas minderbemittelte Siegfried, eine Frau bekam, die in etwa ihr Format (und ihren Altersunterschied) hatte: die Engländerin Winifred Williams. (Cosima war sehr anglofil; ihre gemeinsame Tochter Eva sollte sie mit dem englischen Kultur-Filosofen Houston Stewart Chamberlain verheiraten, zu dem sich übrigens Graf Gobineau, der Nestor der Rassenkunde, pardon der Racenkunde, wie man damals noch schrieb, verhielt wie Charles Darwin zu Herbert Spencer - aber das ist eine andere Geschichte. Wagner selber bekannte sich auf seine alten Tage ausdrücklich zu Gobineaus Lehren, in seinem etwas irreführend betitelten Aufsatz über "Heldentum und Christentum" aus dem Jahre 1881, der richtiger "Degeneration der menschlichen Geschlechter durch Vermischung der Rassen" überschrieben sein müßte.) Alle anderen Menschen behandelte Cosima mit gänzlicher Skrupellosigkeit. Habt Ihr auch das Märchen gelesen, daß sie in eine unglückliche Ehe mit dem alten, tatterigen, verständnislosen Hans v. Bülow gezwungen worden war und dann in Wagner ihre "große Liebe" fand? Nichts davon ist wahr, auch wenn Kurt Pahlen, die graue Eminenz unter den Wagner-Keksperten, sich nicht entblödete, seine Lebensdaten mit "1811-1886" zu kolportieren. Richtig ist, daß Bülow Jahrgang 1830 war - also gerade mal 7 Jahre älter als seine Frau. Aber Cosima hatte einen Vaterkomplex, wie ihn Frauen entwickeln, die als kleine Mädchen keinen Daddy um sich hatten - und ihr unehelicher Vater Franz Liszt war in seinen frühen Jahren ein ziemlicher Hurenbock. Nein, das ist vielleicht nicht das richtige Wort, denn er hatte es gar nicht nötig, zu Prostitutierten zu gehen; die Groupies lagen dem attraktiven jungen Deutsch-Ungarn - der neben dem Italiener Paganini der erste richtige "Popstar" Europas war, der es über das Stadium des "Wunderkindes" hinaus brachte - zu Füßen (und nicht nur dort :-), auch Cosimas Mutter, die Gräfin Marie d'Agoult.

[Cosima und Richard Wagner 1872 in Wien]

Und so suchte und fand die 27-jährige Cosima einen Vaterersatz in Richard Wagner, der mittlerweile 51 war, also nur zwei Jahre jünger als ihr Vater (aber 17 Jahre älter als ihr Ehemann), dem sie sich just in dem Augenblick in die Arme warf, als ihr Ehemann halb gelähmt an den Rollstuhl gefesselt und Wagner seit wenigen Tagen durch die großzügige Geldspritze Ludwigs II schuldenfrei war. Den ersteren betrog sie im wahrsten Sinne des Wortes (nämlich dem, der den kleinen Unterschied zwischen Männlein und Weiblein beim Seitensprung ausmacht): sie schob ihm Wagners Tochter Isolde unter - eine miese Geschichte, die sich über Jahrzehnte hinziehen sollte: Formell war sie im Recht, denn Isolde wurde geboren, als ihre Mutter noch mit Hans von Bülow verheiratet war; und da es damals noch keine Gentests gab (warum will sie die Justiz-Ministerin wohl gerade jetzt, da es mit ihrer Hilfe möglich ist, eine Vaterschaft sicher und billig festzustellen, verbieten?) sollte sie auch den Prozeß gegen ihre Tochter, der noch nach Wagners Tode geführt wurde, gewinnen. Warum diese "Sonderbehandlung" Isoldes? Darüber kann man nur rätseln, denn de facto war ihre Lage nicht anders als die ihrer Geschwister Eva und Siegfried, die ebenfalls de iure noch als Bülows Kinder geboren wurden. [Vielleicht hat es mit Wagners eigener Lebensgeschichte zu tun; denn auch er war galt ja offiziell als Sohn seines juristischen Vaters Carl Friedrich Wagner; erst ab seiner Schwester Cäcilie trugen die Kinder den Namen ihres (Plural, liebe Leser, der Wilhelm "Richard" mit einschließt) Vaters Ludwig Geyer. Dies, obwohl die Vaterschaft - allen brieflichen Beteuerungen der Mutter zum Trotz, die es wahrscheinlich selber nicht genau wußte, denn sie schlief ja mit beiden, dem biederen alten Ehemann und dem feurigen jungen Untermieter und Hausfreund - im Rückblick ganz unzweifelhaft ist: Carl Friedrich Wagner war ein trockener Jurist im höheren Polizeidienst; sein Untermieter Ludwig Geyer war dagegen Schauspieler, Musiker, Dichter und Maler, dessen Augen und Nase der Sohn überdies erbte. Ursprünglich trug der auch dessen Namen; erst mit 14 Jahren entschloß er sich, den Namen Wagner anzunehmen - vielleicht gar nicht wegen Carl Friedrich, sondern wegen dessen Bruder, seinem Onkel Adolf, bei dem er nach dem Tode Ludwig Geyers eine Zeitlang lebte, der ihn mit den Werken William Shakespeares bekannt machte und den er sehr bewunderte.] Erst nachdem Wagners erste Frau Minna - die ihm bis zuletzt die Scheidung verweigert hatte - 1866 gestorben war und auch Hans von Bülow Cosima keine Steine mehr in den Weg legte, konnten Richard und Cosima offiziell ein Paar werden. (Nein, ganz so einfach war es doch nicht; denn Cosima war katholisch, und die katholische Kirche erkannte Scheidungen ja nicht an; sie mußten also protestantisch heiraten, und Cosima konvertierte.)

[Cosima und Richard Wagner mit Sohn Siegfried]

Wagner hatte also mehr als genug auf dem Kerbholz, um sich Gewissensbisse zu machen - denn er hatte psychisch kein so dickes Fell wie Cosima; und vielleicht fuhr er nicht von ungefähr im hohen Alter nach Rom, nachdem der Tannhäuser 1875 doch noch ein Bühnenerfolg geworden war - denn dort hätte er nicht Station machen müssen, um die Schauplätze seines Parsifal ausfindig zu machen, mit dem er sich vielleicht auch nicht von ungefähr wieder zum Christentum bekannte (einer der Gründe, weshalb sein einstiger Anhänger und Bewunderer Nietzsche mit ihm bracht). Aber darauf kommen wir später zurück. Vorerst - und Dikigoros hat weit vorgegriffen - war Wagner noch ein Heide, der sich weder um christliche Moralvorstellungen scherte noch um den lieben Gott - er hatte sich vielmehr ganz den germanischen (und nebenbei, wie wir sehen werden, auch den keltischen) Göttern gewidmet, und das haben ihm einige bis heute nicht verziehen. [Wagner hatte sich auch mit den griechischen und indischen Göttern beschäftigt, wobei es ihm zum einen Herakles und zum anderen Wishnu in Form, pardon Avtar, des Buddhas besonders angetan hatten; damals hatte noch niemand die Parallelen zwischen den Aufgaben des einen und den Avtaren des anderen erkannt - es ist Dikigoros' ureigenste Entdeckung; und wenn Wagner vor ihm darauf gekommen sein sollte, dann hat er es jedenfalls nicht verlauten lassen, wie überhaupt jene beiden Religionskreise offiziell keinen Niederschlag in seinen Werken gefunden haben - wo Dikigoros sie gleichwohl versteckt vermutet, schreibt er etwas dazu.]

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[Ring]


[Rheingold] [Walkyrie] [Siegfried] [Götterdämmerung]

Wagner hat den Vierteiler "Der Ring des Nibelungen" als sein Hauptwerk angesehen. ("Der 'Siegfried' ist göttlich. Es ist mein größtes Werk!" schrieb er einmal.) Fast sein halbes Erwachsenen-Leben hat er daran herum geschmiedet (im Deutschen hat dieses Wort leider nicht den schönen Doppelsinn wie z.B. im Englischen, wo "to forge" sowohl "schmieden" als auch "fälschen" bedeuten kann :-) , von seinem 35. bis zu seinem 63. Lebensjahr. Als es dann 1876 endlich aufgeführt wurde, war das Resultat zwar quantitativ überwältigend - um nicht zu sagen niederschmetternd -, aber qualitativ enttäuschend. Wiewohl außergewöhnlich gut dokumentiert ist, was sich Wagner bei seiner recht eigenwilligen Bearbeitung des alten Sagenstoffes gedacht hatte, so hat Dikigoros doch nie ganz nachvollziehen können, was das alles sollte, und welche "Botschaft" Wagner dem Zuschauer vermitteln wollte. Daß er das - wie bei allen seinen Werken - beabsichtigte, steht außer Frage, sonst hätte er die Edda nicht derart umgebogen. Aber welche? Gewiß, Wagner widmete den Ring König Ludwig von Bayern "im Vertrauen auf den deutschen Geist"; aber eigentlich handelt er weniger von Geist als von Lug und Trug der Götter, Riesen, Zwergen und Helden; und wenn man mal die Kernaussage heraus schält, bleibt eigentlich nur die - durch nichts bewiesene - Behauptung übrig, daß Geld (oder Gold - damals gab es noch keine Papier-Teuros!) und Liebe nicht zusammen gehen. Aber was war daran neu? In der Thidreksaga ging es um Macht (das ist realistisch gedacht), im Nibelungenlied um Liebe, Eifersucht und Rache (das ist typisch für das abendländische Mittelalter), und in der Edda um den Fluch, der angeblich am Nibelungenhort klebte (das ist - wenn man böse will - anti-kapitalistisch gedacht, und wenn man denn die Juden allesamt für böse Kapitalisten hält - aber das tat Wagner nicht - vielleicht auch anti-semitisch.) Aber was hat Wagner nun selber so wesentliches beigetragen, daß er dafür Jahrzehnte brauchte? All die historischen Implikationen, die das Nibelungenlied mit sich bringt (über das Dikigoros an anderer Stelle schreibt) sucht man bei ihm vergeblich. Aber nehmen wir Wagner ruhig mal beim Wort: Er meinte also - wie so viele seiner Zeitgenossen im 19. Jahrhundert -, daß die Sagen der Edda "deutschen" Geist verkörperten. Meint Ihr das auch, liebe Leser? Habt Ihr mal die Edda gelesen? Oder nur irgendwelche Neubearbeitungen, die unter Titeln wie "Germanische [früher genauer: "Nordische"] Götter- und Heldensagen" durch die Sonderangebote der Versandbuchhandlungen geistern?

Wart Ihr mal auf Island, liebe deutsche Leser, bei den Nachkommen der Wikinger, oder auch nur in Skandinavien? Habt Ihr Euch die Menschen dort mal genau angeschaut? Und? Wollt Ihr euch wirklich mit diesen minderwertigen Saufköppen in einen Topf werfen lassen? Die Skandinavier sind das Ergebnis einer langen Inzucht (wie sie ja auch der "Ring" beschreibt) und entsprechend degeneriert - und sie werden das nicht damit ausgleichen, daß sie neuerdings ein paar Neger aus Afrika importiert haben, denn Rassenmischmasch ist ebenso schädlich wie Inzucht. Der Mittelweg - eine gesunde Exogamie zwischen "Artverwandten" (entschuldigt, daß Dikigoros noch kein besseres Wort eingefallen ist als dieses, welches heute zu Unrecht verfemt ist), wie sie die Naturvölker bis heute praktizieren - ist die beste Lösung, das hat sich in der Geschichte immer wieder gezeigt. Die Deutschen sind (noch) eine Mischung aus "ostischen", "westischen", "nordischen" und "alpin-dinarischen" Menschen, wie es die Nazis ausgedrückt hätten, oder aus germanischen, keltischen, slawischen und romanischen Elementen, wie man heute in Anlehnung an die Sprachwissenschaftler sagt. Und ihre Götter? Dikigoros ist kein Freund des allmächtigen Göttervaters, den sich die Juden, Christen und Muslime ausgedacht haben; er zieht das griechische, römische oder indische Pantheon vor; aber was die Skandinavier, insbesondere die Isländer ausweislich ihrer Sagen daraus gemacht haben (und was Wagner im "Ring" begierig aufgegriffen hat), empfindet er als in höchstem Maße unsympathisch, um nicht zu sagen als Perversion: Der einäugige Odin (den Wagner "Wotan" nennt), der sich selber aufhängt, ist ja fast noch schlimmer als der Typ aus Nazareth, der sich selber ans Kreuz liefert. Loki ist nicht besser als Judas; und Thors Fähigkeiten scheinen vor allem im Saufen zu liegen. Wohlgemerkt: Diese Götterwelt ist in der Form, wie wir sie in der Edda kennen lernen, über tausend Jahre jünger als das uns überlieferte Pantheon der Griechen und Römer; vielleicht ist es nur eine Spätform, die genauso degeneriert ist wie die Menschen, die an sie glaubten. Eine echte Muttergottheit gab es überhaupt nicht - was tief blicken läßt -, sondern nur Mannweiber in voller Rüstung, welche die Krieger auswählten ("kürten"), die auf dem Feld der Ehre (der "Wal-Statt") fielen und dafür von ihnen nach Walhall[a] gebracht wurden, wo sie auf ewig Met saufen durften. "Walküren" wurden diese komischen Vögel (sie trugen nicht etwa Methörner auf dem Helm, sondern Schwanenflügel - und in Indien ist vielleicht nicht von ungefähr bis heute die Farbe der Trauer weiß, nicht schwarz) genannt, und zu ihnen zählte nach der Edda auch Brunhilt - obwohl die doch viel weniger Kriegern zur letzten Reise nach Walhalla verhalf als ihre Gegenspielerin Kriemhilt (Wagner nennt sie - in Anlehnung an ihren Namen in der Thidrekssaga - Gutrune) - aber die war keine Walküre, und nach Logik dürfen wir da nicht fragen...

Aber etwas anderes dürfen wir fragen: Stimmt das überhaupt? Wo findet denn in Wagners Ring eine große Schlacht statt, nach der die Walküren die Helden gen Walhall tragen? Darf Dikigoros die Antwort vorweg nehmen: nirgends! Statt dessen bringt Brünnhilde erst die Ehebrecherin und Blutschänderin Sieglinde - nein, nicht nach Walhall, sondern in den Wald, dann läßt sie sich mit deren Sohn Siegfried ein, und am Ende reitet sie in den Scheiterhaufen, auf dem der letztere verbrannt wird. Woher hat Wagner das? Aus der Edda natürlich, sagen die Keksperten. Falsch, sagt Dikigoros. Richtig ist, daß Wagner den Ring ursprünglich nach der Edda schreiben wollte; richtig ist aber auch, daß er deshalb so lange nicht fertig wurde, weil er Jahre lang nicht wußte, wie das ganze eigentlich enden sollte. Am Ende schrieb er aus diversen Motiven der Edda eine völlig neue Geschichte, d.h. "Motive" ist nicht ganz das richtige Wort, besser wäre "Szenen", denn nicht einmal die Beweggründe der Personen aus der Edda übernahm er mit.

(...)

Aber was stört Dikigoros denn nun daran - es geht hier doch nicht um mutmaßliche Beweggründe, sondern um historische Fakten, und wo soll Wagner die hier verfälscht haben? Nun, zur Wahrheit (nicht nur zu "historischen") gehört es nicht nur, das man nichts Falsches sagt, sondern auch, daß man nichts Richtiges weg läßt, so es denn zum richtigen Verständnis eines Vorganges erheblich ist. Welchen Vorgang - oder welche Vorgänge - schildert Wagner im Ring bzw. seine Vorlagen, und wo hat er sie verbogen? Das ist eine schwierige Frage, denn es geht wie gesagt nicht um den Inhalt des Nibelungenliedes, sondern der Edda. Was schildern uns ihre Lieder? Den Kampf zwischen Asen und Wanen, zwischen Göttern, Riesen, Menschen und Zwergen. Sollte es dafür kein historisches Vorbild geben? Doch, bestimmt, denn so etwas Umständliches denkt man sich nicht aus, sondern macht es sich leichter, "logischer" - wir werden auf diesen Punkt noch einmal zurück kommen, beim Parsifal. Leider ist es aus politischen Gründen nicht mehr opportun, die "nordische" Vorgeschichte zu erforschen, und so sind wir denn auf Vermutungen angewiesen, die einige "unverbesserliche Rechte" anstellen.

(...)

Nach 1945 verhinderte die jüdische Theater-Lobby Jahrzehnte lang, daß der Ring außerhalb Bayreuths in Deutschland aufgeführt wurde. Begründung: Er sei anti-semitisch. Pardon - wo kommen denn da Juden vor? Antwort: Mime sei als Karikatur eines Juden dargestellt. Ist er das wirklich? Was hat er denn so "Jüdisches" an sich? Geil nach dem Rheingold sind sie alle bei Wagner (der es im "Parsifal" um einen Buchstaben anders ausdrücken sollte: "Feil sind sie alle," läßt er Klingsor da sagen), sogar der von anderen als ach-so-treu-deutsch dargestellte Hagen, der den Goldhort im Nibelungenlied noch in den Rhein wirft - bei Wagner wirft er sich selber in den Rhein, um den Ring zu retten, und findet so den Tod. Dagegen handelt Mime doch eigentlich weniger aus Habgier denn aus Notwehr, als er sich Siegfrieds zu entledigen sucht - schließlich hat Wotan ihm doch geweissagt, daß derjenige ihn umbringen wird, der das Schwert Nothung neu schmiedet und das Fürchten nicht gelernt hat - womit offensichtlich Siegfried gemeint ist. Und seine Beschreibung als "garstig, griesig, grau, klein, krumm, höckrig, hinkend, mit hängenden Ohren und triefigen Augen"? Ist das nun "typisch jüdisch"? Gewiß, der damalige Schachweltmeister Steinitz sah so aus, und der war Jude (aber das ist eine andere Geschichte) - den dürfte Wagner jedoch schwerlich gekannt haben. Aber auf noch jemanden traf diese Beschreibung genau zu: auf Professor Treitschke, den großen Judenhasser - und den kannte Wagner ganz genau. Und Mimes "böser Monolog" im 3. Auftritt des 2. Aufzugs: "Denn haßte ich dich auch nicht so sehr... aus dem Wege dich zu räumen darf ich doch nicht rasten"? Nun, diese Zeilen zeigen in erster Linie Wagners Schulung an Shakespeare, denn das hätten auch Macbeth oder Richard III sagen können. "Na klar, auch Shakespeare war ja Antisemit," werden jetzt einige sagen. Mag sein (das diskutiert Dikigoros an anderer Stelle) - aber noch hat sich darob in Frankfurt niemand geweigert, dessen Stücke aufzuführen!

Aber was soll das dann? Darf Dikigoros eine ganz persönliche Vermutung äußern - die er nicht beweisen kann, und die Ihr deshalb bitte nicht als der Weisheit letzten Schluß ansehen wollt, sondern nur als Hypothese: In dem Verhältnis zwischen Siegfried und Mime spiegelt sich das Verhältnis zwischen Wagner und seinem leiblichen Vater Ludwig Geyer wieder, den er selber nur als Ziehvater ansehen wollte und den er deshalb von ganzem Herzen haßte und ihm ähnlich Böses unterstellte wie Siegfried dem armen Mime. Und wie das so ist, kompensiert man halt in solchen Fantasien gerne die triste Realität durch ihr genaues Gegenteil: Wagner war ein kleiner, häßlicher Zwerg - solche Leute versuchen ihre Minderwertigkeits-Komplexe entweder durch übermäßige sexuelle Aktivität zu kompensieren oder durch vermeintliche politische "Großtaten", mit denen sie "in die Geschichte eingehen" wollen - oder durch beides. Geyer dagegen war ein gut aussehender Mann - die schlechte Erbmasse der Mutter, jener Schlampe, war halt auch körperlich auf ihren Sohn durchgeschlagen. Im Theater war es genau umgekehrt: Da war Wagner - der sich natürlich mit Siegfried identifizierte - der strahlende Held, fysisch allen anderen überlegen, geradezu göttlich, und sein Ziehvater Mime nur ein häßlicher, hinterhältiger Zwerg. Anti-Semitismus? Ach was: verkappter Selbsthaß, von dem sich Wagner in seinen Helden ein Leben lang "erlösen" wollte - vorzugsweise durch Frauengeschichten, was darauf hindeutet, daß er eher zur ersten Kompensations-Alternative neigte. Aber, werden jetzt einige sagen, das schlechte Verhältnis zwischen Siegfried und Mime hat sich Wagner doch nicht selber ausgedacht, sondern aus der Sage übernommen, und er selber ist doch wohl nicht bei seinem "Zieh"-Vater Geyer als Schmied in die Lehre gegangen, oder? Ersteres stimmt - aber dieses Argument ist nicht stichhaltig: Warum hat sich Wagner denn ausgerechnet diesen Stoff ausgesucht, und weshalb hat er ausgerechnet dieses Detail aus seiner Vorlage beibehalten, da er doch viele andere Details weg gelassen oder geändert hat, die zum Gang der Handlung wesentlich mehr hätten beitragen können? Und letzteres ist gar nicht so klar wie es auf den ersten Blick scheint. Es ist nämlich unstrittig, wenngleich wenig bekannt, daß Wilhelm "Richard" nach dem Tode Ludwig Geyers eine Zeitlang bei Geyers Bruder lebte, und der war - Goldschmied und lehrte ihn auch "sein" späteres Handwerk, die Musik. Erst danach besuchte Wilhelm "Richard" seinen "Onkel" Adolf Wagner, den er so bewunderte; und da mag in seinem Unterbewußtsein der Wunsch entstanden sein, wenn schon nicht Friedrich Wagners, dann doch Adolf Wagners Sohn zu sein - und damit hätte er Siegfrieds Schicksal geteilt, denn das Verhältnis zwischen einer Frau und ihrem Schwager stand bis zur Ehe- und Familienrechts-Reform von 1975 juristisch dem zwischen einer Frau und ihrem Bruder gleich: es wäre Inzucht gewesen! Ihr meint, das sei doch etwas weit hergeholt? Mag sein, aber auch nicht weiter als so manches andere, was die Wagner-Foschung in den letzten Jahrzehnten ausgebrütet hat.

A propos Handlung: Wie war das denn nun mit den Handlungs-Motiven der anderen? Seid versichert, da stirbt niemand aus Gefühlen wie Haß oder Liebe - außer aus Liebe zum Gold (und der damit verbundenen Macht). Mit einer Ausnahme: Brünnhilde; denn ihr Feuerritt gilt nicht der Rache, sondern der Läuterung und der Erlösung, genauer gesagt um zu demonstrieren, daß sie selber frei von Schuld ist - jedenfalls von der Schuld, die man ihr unterstellt. Und dieses Motiv hat Wagner ganz woanders her, nämlich aus dem Ramayana. Ja, liebe Leser, das sind Kleinigkeiten, auf die noch kaum jemand geachtet hat; 1865, als er kaum noch weiter wußte, mit "seinem" Stoff, stieß Wagner auf jenes alte indische Epos, und zwar in der vollständigen Übersetzung von Holtzmann, die auch das letzte Buch enthielt. (Was es damit auf sich hat, und warum Ihr das letzte Buch des Ramayana in den meisten heutigen Ausgaben nicht mehr findet, erfahrt Ihr, wenn Ihr den letzten Link anklickt.) Und wie ernst es Wagner damit war, könnt Ihr daraus ersehen, daß er noch kurz vor seinem Tode, nachdem er Italien als Land der Parsifal-Schauplätze abgehakt hatte, eine Reise plante nach - Ceylon.

(...)

Nachtrag. Im 21. Jahrhundert sind politische Verschwörungs-Theorien aufgetaucht, die Wagners Motiv vom "Fluch des Goldes" wieder ganz aktuell erscheinen lassen. Sie besagen, daß die Kriege der West-Alliierten gegen den Iraq und Libyen nur aus einem Grund geführt worden seien: Sowohl Saddam Hussein als auch Gaddafi hätten vorgehabt, eine Goldwährung einzuführen und wären anschließend nicht mehr bereit gewesen, Erdöl gegen Papier-Dollars zu verkaufen, die von den USA in beliebiger Menge und ohne solide Deckung gedruckt werden könnten. Mit anderen Worten: den beiden Diktatoren wäre ihre Goldgier zum Verhängnis geworden. Aber mit Verlaub, liebe Leser, so dumm wären nicht mal diese beiden gewesen; denn wenn sie das ernsthaft durchgezogen hätten, dann wären sie bald auf dem größten Teil ihres Öls sitzen geblieben - und selber konnten sie ja nichts damit anfangen. (Womöglich hätten die Politiker des Westens gar notgedrungen beschlossen, die Energieversorgung konsequenz auf Atomkraft umzustellen, und dann hätten sich die Öl-Lieferanten selber den Ast abgesägt, auf dem sie bisher so bequem hocken.) Und wenn sie all die Waren und Dienstleistungen, die ihre Länder und Völker nicht selber her gaben, weiterhin importieren wollten, hätten sie das schöne Gold ja mangels nicht mehr akzeptierter Papier-Dollars gleich wieder ausgeben müssen - den Umweg konnten sie sich sparen, und das war ihnen auch klar. Dikigoros' treue Leser wissen, daß er der letzte wäre, der plausible Erklärungen für gewisse Ereignisse und deren Hintergründe leichthin als "Verschwörungs-Theorien" abtun würde, bloß weil sie von der herrschenden Meinung der staatlich gleichgeschalteten Massenmedien abweichen; aber in diesem Fall kann man das einmal guten Gewissens tun - man soll Wagner auch nicht überstrapzieren! Nachtrag Ende.

* * * * *

[Tristan und Isolde]
Isolde: "Oh jemineh, mein Ohr tut weh!"

Ihr findet Dikigoros' Reihenfolge etwas chaotisch, liebe Leser? Das ist nicht zu vermeiden, denn Wagners Lebens- und Werkgeschichte läßt sich nicht in ein festes chronologisches Schema pressen; zu viele einander scheinbar widersprechende Ver- und Entwicklungen laufen neben einander her, überschneiden sich, und wirklich zusammen laufen tut am Ende so gut wie gar nichts. Aber so ist das real existierende Leben - alles andere sind Fantasien von Roman-Schreibern, die sich ihre idealen Helden mit dem klar vorgezeichneten Lebensweg aus den Fingern saugen und daraus am Ende eine "Biografie" machen, mit der außer dem Verleger niemand etwas rechtes anfangen kann. Während er noch am "Ring" herum schmiedete, schrieb Wagner ein weiteres Stück, das man in jeder Hinsicht als ein Abfallprodukt bezeichnen kann: "Tristan und Isolde".

In einer frühen Version dieser Seite hatte Dikigoros sich mit dem Hinweis begnügt, daß dieser Sage wohl keine greifbaren historischen Ereignisse zugrunde liegen, allenfalls die in der Thidrekssaga - die er als Geschichtsbuch ernst nimmt, nicht nur als eine der Quellen der Nibelungennot - erwähnte Episode, deren Held "Tristram" heißt und zwar keinen Ehebruch begeht, aber immerhin aus Eigennutz die Brautwerbung seines Onkels sabotiert - ganz ohne Zaubertrank. Daran hält er nicht länger fest. Die Sage ist offenbar aus mehreren Geschichten zusammen gesetzt - und das schreibt Dikigoros nicht so leichtfertig daher wie manche Germanisten, die am liebsten jedes mittelalterliche Epos in Dutzende von Teilstücken zerlegen wollen, um dann zu unterstellen, irgendein anonymer Dichter habe sie mutwillig zusammen gefügt. Gerade in der keltischen und germanischen Sagenwelt ist es meist umgekehrt: Eine zusammenhängende Geschichte wie die Thidrekssaga wurde gerne als Steinbruch benutzt, um besonders interessante Episoden heraus zu brechen und zu eigenen Sagen auszuwalzen. Aber im Falle des Tristan ist es offenbar anders: Die Brautwerbungsepisode mag aus der Thidrekssaga stammen, aber für die Fortsetzung gibt sie praktisch nichts her. Für die letztere haben britische Forscher Schottland als Schauplatz ausgemacht: Im 8. Jahrhundert habe ein piktischer Prinz namens Drust eine Prinzessin Essylt vor dem Piraten Morholt gerettet, die dann aber mit dem König March verheiratet wurde usw. Diese Geschichte sei dann über Wales und Cornwall in die Bretagne gekommen, wo sie literarisch "bearbeitet" wurde und sich dann über ganz Europa verbreitete. Aber so herum lief das nicht: Die Sagenstoffe des Mittelalters liefen nicht von Nordschottland in den Süden, sondern ganz im Gegenteil von Südeuropa - in der Regel Südfrankreich - nach Norden, und woher sie ursprünglich kamen, ist nicht immer ganz klar. Hier schon. Der Schlüssel liegt in der Herkunft von Tristans Vater Rivalin, dem Fürsten von - ja, wie heißt sein Land eigentlich? Gottfried von Straßburg nennt es "Parmenie", aber das zeigt nur seine Ratlosigkeit, denn ursprünglich stand da "Armenye", woraus französische Forscher auf die "Bretagne armoricaine" schließen, wo auch das Dorf von Astérix und Obélix liegt (die folglich gar keine Gallier gewesen sein können, sondern allenfalls Bretonen :-). Aber das ist weit hergeholt, sprachlich gesehen. Da liegt es näher, die Geschichte ganz woanders anzusiedeln, geografisch weit weg, nämlich - in Armenien. Das mag Euch, liebe Germanisten und Romanisten, völlig abwegig erscheinen; aber in Asien kennt jedes Kind das Wisramiani, die Geschichte von Wīs und Rāmīn; und wenngleich die herrschende Meinung annimmt, daß es sich dabei um eine persische Geschichte handelt, hält Dikigoros die georgische Version für das Original. Der Konflikt zwischen "Morgan" und "Rivalin" war nicht der zwischen zwei Krautjunkern im Nordwesten Frankreichs, sondern zwischen den Herrschern Georgiens und Armeniens.

Nun mag uns die Geschichte des Kaukasus weniger interessieren; viel interessanter ist die Frage, wie so ein Stoff im 12. Jahrhundert nach Europa gelangt sein soll, und nicht nur bis auf den Kontinent, sondern sogar bis zu den Britischen Inseln. Das ist gar nicht so schwierig nachzuvollziehen, wenn man die Geschichte der Kreuzzüge, insbesondere des 1. Kreuzzuges, nicht immer so einseitig auf Jerusalem und Gottfried von Bouillon konzentriert, wie das z.B. in Deutschland der Fall ist. Viel bedeutender als Gottfried war nämlich dessen jüngerer Bruder, Balduin von Flandern, der - noch vor dem Fall Jerusalems - mit ein paar Dutzend Rittern nach Osten ausscherte und Edessa eroberte. Nein, "eroberte" ist zuviel gesagt. Im 11. Jahrhundert war ein Teil der Armenier vom Kaukasus nach Süden ausgewandert, just in jene Ecke zwischen Antiochia und Edessa, wo sie bis zu ihrer Deportation im und nach dem Ersten Weltkrieg leben sollten. Nun hatte der armenische Fürst von Edessa Probleme mit seinen Untertanen und rief Balduin zu Hilfe; der nahm die Gelegenheit wahr, ließ sich "adoptieren", zum Mitregenten machen und riß die Herrschaft schließlich ganz an sich. (Später wurde er auch Nachfolger seines Bruders Gottfried und nahm als erster den Titel "König von Jerusalem" an.) Dessen "Hofkaplan" war ein gewisser Fulcher von Chartres, der eine Chronik der Kreuzzüge schrieb; und es dürfte noch weitere des Lesens und Schreibens kundige Ritter in seinem Gefolge gegeben haben, von denen wohl einer auch das populäre Wisramiani kennen lernte, die Geschichte aufzeichnete und mit nach Europa nahm. Sie wird dann - wie die meisten anderen Aufzeichnungen auch - in die Normandie gelangt sein (man vergißt nur zu leicht, daß die Normannen - von Nordfrankreich bis Sizilien - militärisch gesehen die Hauptträger der Kreuzzüge waren; das von ihnen eroberte Antiochia war als großer Mittelmeer-Hafen ungleich bedeutender als etwa Jerusalem) und von dort in die Bretagne. Dort wurde sie von einigen fantasievollen französischen Dichtern "bearbeitet", und von denen übernahmen es einerseits die Engländer - allen voran Malory -, andererseits die Deutschen - allen voran Gottfried von Straßburg. Die Version des letzteren dürfte auch einer Bearbeitung zugrunde liegen, die rund vier Jahrhunderte später ein anderer deutscher Vers-Klempner übernahm, nämlich der - erst durch Wagner einigermaßen bekannt, ja berühmt gewordene - Schuster Hans Sachs. Mit dem beschäftigte sich Wagner, weil er als nächstes ein Werk über die Meistersinger von Nürnberg schreiben wollte. Und dessen verhunzte Bearbeitung verhunzte Wagner noch etwas mehr und unterlegte sie mit einer Musik, die Dikigoros an einen süßlich-schrillen Kaugummi erinnert. Aber das soll ja nicht unser Thema sein.

Enttäuscht, liebe Leser? Aber zur Geschichte gehören ja nicht nur Kriege und große politische Ereignisse, sondern auch das, was einige Historiker "Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte" nennen; und da Dikigoros anläßlich des Lohengrins schon etwas zur Rechtsgeschichte angemerkt hat, könnte er jetzt schreiben, daß es schwerlich zur sozialen Wirklichkeit des Mittelalters (oder auch der Neuzeit, das wollen wir doch mal festhalten) gehörte, daß man (oder frau) sich bei dynastischen Heiraten um "Liebe" etc. scherte - jedenfalls in dem romantischen Sinn von Verliebtsein, den das Wort heute hat. (Im Mittelalter war "liaban" noch wörtlich zu nehmen, nämlich "[mit dem Leibe] beschützen", d.h. mit fysischer Gewalt für jemanden eintreten, so wie es Lohengrin für Elsa tat.) "Na und, ist 'ne Sage, das kannste doch nicht ernst nehmen," meint Frau Dikigoros, die eh kein großer Wagner-Fan ist. - Nein, Frau Gemahlin, man kann Sagen sehr wohl ernst nehmen, im allgemeinen (darüber schreibt Dikigoros an anderer Stelle mehr) und im besonderen die von Tristan und Isolde. Der Ärger ist nur, daß Wagner Sagen nie ernst genommen hat, sondern es immer besser zu wissen glaubte. Hier hätte er ausnahmsweise sogar mal Recht haben können, denn schon die Fassung der Tristan-Sage, die auf uns gekommen ist, wird weder der historischen Wahrheit der Thidrek-saga (die ganz ohne "Liebestrank" auskommt - aber das ist eine andere Geschichte) noch der Mythologie gerecht, mit der sie verschmolz; und da Dikigoros beim "Lohengrin" nicht dazu gekommen ist, das zuende zu führen, will er das an dieser Stelle nachholen. Also: Das alberne Märchen von der Vertauschung der Getränke dürft Ihr getrost vergessen, liebe Leser; geht mal davon aus, daß es in der Original-Fassung nur einen Trunk gab. Brangäne war nämlich in der keltischen Mythologie gar nicht die Dienerin der Isolde, sondern die Dienerin des Gottes Bran - sie war die weiße Gans. Aber hat Dikigoros nicht eben noch geschrieben, das sei ein heiliges Tier gewesen, das positiv besetzt war? Ach, das ist so eine moderne Vorstellung der schwarz-weiß-Maler, daß es rein "positive" und rein "negative" Eigenschaften gäbe. Jede Medaille hat zwei Seiten, die man so oder so auslegen kann, und hier liefert uns das indische Wort den Schlüssel: Wir haben es schon als "Hans[a]" kennen gelernt; aber es gibt auch die Langform P[a]ram[a]hans[a] - die heute noch ein beliebter "Künstlername" so genannter "Heiliger Männer" ist. Über ihre genaue Bedeutung kann man trefflich streiten. Die herkömmliche Meinung sieht darin wohl nur eine Art Bekräftigung; sie leitet die erste Silbe von "param" (traditionell, althergebracht, altehrwürdig) her. Aber das dürfte mit ziemlicher Sicherheit falsch sein, richtig vielmehr die Herleitung von "prama[t]", denn das hat just jene Doppeldeutigkeit, die auf die Sage paßt: es bedeutet [be]trunken, und zwar im Sinne von "intoxicated", also (auch) vergiftet. Wer zuviel Alkohol trinkt, gerät in einen Rausch, neigt erst zur sexuellen Ausschweifung, kann sich dann oft an nichts mehr erinnern und in manchen Fällen sogar am Alkohol-Exzeß sterben - es braucht also gar keinen Gegensatz zwischen zwei verwechselten Getränken!

Aber als ob diese Zweiteilung der Getränke nicht schon schlimm genug wäre, setzt Wagner noch eins drauf: Statt die Helden wie in der Sage einen "Vergessenstrank" mit einem "Liebestrank" verwechseln zu lassen, ersetzt er ersteren durch einen Todestrank - d.h. er unterstellt, daß die beiden Doppelselbstmord begehen wollen, um ihr Vaterland bzw. ihren Herrscher nicht zu verraten! Nein, liebe Leser, es geht Dikigoros hier nicht um die Frage der "historischen Wahrheit" dieser Motivation - die kann im Nachhinein eh niemand mehr nachprüfen; ihn stört etwas ganz anderes. Meint Ihr wirklich, man könne die Geschichte nur fälschen, indem man singuläre Ereignisse aus ihr falsch darstellt? Nein, so ist es nicht. Habt Ihr mal darüber nachgedacht, wie "Helden" in der Geschichte verstanden und dargestellt werden? Dikigoros hat dieser Frage an anderer Stelle einen eigenen Exkurs gewidmet; deshalb hier nur so viel: Bei körperlich und geistig gesunden, "normal" (im Sinne der Natur) veranlagten Menschen gilt als Held derjenige, der möglichst viele Feinde erschlägt, dabei selber möglichst am Leben bleibt und einer Frau, die er möglichst den Feinden geraubt hat (Exogamie, um Inzucht zu vermeiden!), möglichst viele Kinder macht. Und das ist gut so - wer etwas anderes glaubt ist schlicht und einfach krank an Körper und Geist. Und diese Krankheit muß irgendwann Mitte des 19. Jahrhunderts ausgebrochen sein - just zu der Zeit, als Wagner seinen "Tristan" schrieb. Ob das eine bloße zeitliche Koïnzidenz ist, ob er diese Entwicklung bestärkt oder gar hervor gerufen hat weiß Dikigoros nicht. Er stellt lediglich fest - und das wird niemand ernsthaft bestreiten können -, daß plötzlich eine "Umwertung aller Werte" (ein Nietzsche-Wort, das Dikigoros hier freilich etwas anders gebraucht) einsetzte: Als "Held" galt nun jeder, der den ["Helden"-]Tod auf dem Schlachtfeld gestorben war, und zwar unabhängig davon, was er dort ansonsten (d.h. in Bezug auf das Töten von Feinden) geleistet hatte oder nicht. Auch ob er seiner Frau vorher noch ein paar Kinder gemacht hatte oder nicht, und ob er sie versorgt oder unversorgt zurück ließ (Frauen gingen damals in der Regel noch keiner Erwerbsarbeit nach, und die Witwenrenten - auch und gerade die von Kriegerwitwen - waren lausig; es gab auf sie noch keinen Rechtsanspruch, sondern allenfalls ein vom König verfügtes Gnadenbrot), spielte keine Rolle mehr. Nur ein toter Held war ein guter Held - und wenn sein (notwendigerweise gewaltsamer) Tod dazu noch besonders spektakulär war (wie der der "Martyrer"), konnte er gar zum Nationalhelden werden. Na bravo, Herr Wagner, das ist der rechte Geist! Hatte man die zwangsgepreßten Soldaten des 18. Jahrhunderts noch mit Gewalt in die Schlacht prügeln müssen - mit reichlich Feld-Gendarmen hinter den eigenen Reihen -, so eilten nun alle mit Begeisterung zu den Fahnen, um zu sterben - denn die Fahne ist mehr als der Tod, das wissen wir doch, oder? (Nein, liebe Leser, als die HJ dieses Lied einführte, war es schon nicht mehr so; in den Zweiten Weltkrieg sind die Menschen nirgendwo mehr mit jener naiven Begeisterung gezogen wie in den Ersten - sonst hätten sie dieses Liedchen ja gar nicht als Propaganda nötig gehabt!)

Zurück zum Tristan. Die Kritiker haben sich seinerzeit vor allem über das unmoralische Verhalten der Liebenden aufgeregt - obwohl sie doch eigentlich gar nichts dafür konnten, wenn man die Geschichte vom Liebestrank ernst nimmt. Heute begnügt man sich meist mit dem Hinweis auf Wagners unerfüllte Liebe zu Mathilde Wesendonck, die ihn 1854 so verzweifeln ließ, daß er die Arbeit am Ring unterbrach und eigentlich sterben wollte, wovon ihn nur noch die Beschäftigung mit dem Tristan abhielt - oder so ähnlich. Glaubt Ihr das, liebe Leser[innen]? War Wagner ein Typ, der wegen einer Frau Selbstmord begangen hätte, wo es doch noch so viele andere gab? Es mag schon sein, daß er 1854 Probleme mit zweien von ihnen hatte - seiner eigenen und der seines Gönners Wesendonck -; aber daß er sich damals schon mit dem Tristan-Stoff beschäftigt haben soll, hält Dikigoros für ein Märchen. Ein Vierteljahrhundert später soll Wagner "gesprächsweise" behauptet haben, daß er Ende Oktober 1854, von der Lektüre Schopenhauers angeregt, ein "Konzept" des Tristan entworfen habe; in seinen Memoiren ("Mein Leben") schreibt er - ebenfalls viele Jahre später -, er habe den Tristan Ende Dezember 1855 "bestimmter konzipiert". Andere Belege haben wir nicht; und wenn Ihr Dikigoros fragt: Irgendetwas stimmt da nicht. Erst im Frühjahr 1857 begann ein gewisser Ferreira-França, ein in Dresden lebender Brasilianer, einen angeregten Briefwechsel mit Wagner und drängte ihn, aus dem Tristan-Stoff eine Oper zu machen und sie Kaiser Pedro II von Brasilien zu widmen. Nanu - haben wir die Suche nach aktuellen historischen Bezügen womöglich zu früh eingestellt? Sah Wagner vielleicht selber die Parallelen nicht, die ein anderer sah? Nun, das sollte man nicht überbewerten. Tatsache ist, daß der Vater des Kaisers, Pedro I, einen ähnlich skandalösen privaten Lebenswandel geführt hatte wie Wagner, so daß er schließlich "freiwillig" abdanken und Brasilien verlassen mußte. (Er ging zurück nach Portugal, wurde dort König und starb bald darauf - aber soviel man weiß weder an Liebeskummer noch an einem vergifteten Trank.) Tatsache ist ebenfalls, daß Pedro II 1876, zur Einweihung der Bayreuther Festspiele, eigens aus Brasilien angereist kam und in der ersten Reihe... nein, damals gab es ja noch kein ZDF, selbstverständlich hatte er eine Loge.

Exkurs. Viele Jahre später hat ein Heidelberger Germanistik-Professor die These vertreten, daß sich Wagner gar nicht mit Tristan, sondern vielmehr mit König Marke identifiziert habe, und Tristan mit Nietzsche und dessen "Verrat". Das ist aus der Rückschau gedacht, was nicht notwendiger Weise bedeutet, daß es auch falsch sein muß - ein Werk kann im Nachhin eine ganz andere Bedeutung annehmen, als der Verfasser es ursprünglich gemeint hatte (wir werden diesem Fänomen noch in späteren Kapitel dieser "Reise durch die Vergangenheit" wieder begegnen, vor allem in dem über Dürrenmatt), auch für ihn selber. Wagner habe, in der Erkenntnis daß sein eigener Sohn altersmäßig eher ein Enkel war, Nietzsche gewissermaßen "adoptiert", auch im künstlerischen Sinne; und am Ende habe der, statt für seinen Herrn und Meister um Fama zu freien, sich gegen ihn gewandt und diese für sich selber haben wollen.

(...)

* * * * *


[Barloesius, Die Meistersinger]

"Die Meistersinger von Nürnberg" sind vielen Leuten sympathisch: Dikigoros, weil er die Musik recht ansprechend findet, den Neo-Nazis, weil es die letzte Oper war, welche die Nazis kurz vor Kriegsende noch zu spielen erlaubten, den Demokraten, weil die Geschichte unpolitisch ist, den Kapitalisten, weil sie immer gute Einnahmen einspielt, den Kommunisten, Sozialisten und Liberalen, weil sie gegen die Zünfte ist, den Konservativen, weil sie für die Zünfte ist... Moment mal, was schreibt Dikigoros denn da? Ist dieses Werk nun für oder gegen die Zünfte? Auch wenn es lange Zeit niemandem aufgefallen zu sein scheint: Seine Botschaft ist durch und durch widersprüchlich. Bis kurz vor Schluß tut Wagner alles, um die engstirnigen, in starren Formen befangenen Zunftmeister - allen voran den sprichwörtlich gewordenen Beckmesser - lächerlich zu machen; aber als dann sein strahlender Held über den dumpfen, formalistischen Zunftgeist gesiegt hat, singt Hans Sachs ihm - der es als Adeliger ablehnt, der Zunft der Meistersinger beizutreten (schließlich hat er den ganzen Schmu bloß mitgemacht, um die reiche Bürgertochter heiraten zu können) - etwas, das dazu wie die Faust aufs Auge paßt: ein Loblied auf "die Meister"! "Das hat Wagner halt so geschrieben wie du deine Dissertation," meint Frau Dikigoros süß-sauer, "erst die ganze Arbeit auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet, und am Schluß alles umgeworfen und auf den Kopf gestellt; und dein Doktorvater hat's nicht mal gemerkt - was erwartest du da von einem Opern-Publikum?" Nun, das letztere konnte nicht wissen, daß Wagner sein Konzept tatsächlich erst in letzter Minute umgeworfen hatte: Noch in der Textfassung von 1862 - also nach mindestens 17 Jahren Bearbeitungszeit (manche meinen sogar nach 20 Jahren, denn als Wagner 1842 nach Dresden zurück kehrte, habe er die heute fast vergessene Oper "Hans Sachs" gesehen, die sein Landsmann Albert Lortzing zwei Jahre zuvor geschrieben hatte) stand nichts von "welschem Dunst" und "welschem Tand", den die Meistersinger angeblich aus deutschem Land fern hielten (obwohl das Gedicht von Ernst Moritz Arndt, aus dem diese Wendung stammt, schon 1813 erschienen, also nicht etwa in der Zwischenzeit neu hinzu entstanden war), und es fehlte auch noch der Satz, um den sich seither so viele Diskussionen gedreht haben: "Was deutsch und echt wüßt keiner mehr lebt's nicht in deutscher Meister Ehr'." Statt dessen standen da allerlei unschöne Dinge über die "Gewerke, Gilden und Zünfte" und ihre "üblen Zusammenkünfte". Und während "uns" in der Endfassung droht, daß deutsches Volk und Reich zerfällt, welkt in der vorletzten Fassung "manche Sitt' und mancher Brauch, zerfällt in Schutt, vergeht in Rauch" - und man hat nicht den Eindruck, daß das dem Texter besonders leid täte. Und auch die Schlußzeile von der "heil'gen deutschen Kunst" machte im Zusammenhang einen ganz anderen Sinn, solange noch nicht die Zeilen gestrichen waren, in denen Wagner den Sachs sagen läßt: "Laßt ab vom Kampf! Nicht Donnerbüchs' noch Pulverdampf macht wieder dicht, was nur noch Hauch!" Das, liebe Leser, ist bester Heinrich Heine - aus einem seiner frühen Gedichte, das die meisten von Euch wahrscheinlich noch nicht kannten:

"Franzosen und Russen gehört das Land,
das Meer gehört den Briten.
Wir aber haben im Luftreich des Traums
die Herrschaft unbestritten."

[Exkurs. Ein Leser, der nicht zu den Freunden Heines zählt - muß man das eigentlich, um ihn zu lesen? -, wohl aber zu denen Friedrich Schillers, hat Dikigoros darauf hingewiesen, daß Wagner seine Anleihen auch bei letzterem gemacht haben könnte:

"Das ist nicht des Deutschen Größe,
obzusiegen mit dem Schwert.
In das Geisterreich zu dringen,
Vorurteile zu bezwingen,
männlich mit dem Wahn zu ringen,
Das ist seines Eifers wert!
(...)
Stürzte auch in Kriegesflammen
Deutschlands altes Reich zusammen
Deutsche Größe bleibt bestehn!"

(Das alles stammt freilich aus einem Fragment mit dem Titel "Deutsche Größe" von 1797, das sich Schiller entschied, nicht zu veröffentlichen, und Dikigoros wüßte nicht, woher Wagner das gekannt haben sollte; dagegen war er mit den Schriften Heines nachweislich recht gut vertraut.)

Ein anderer Leser hat Dikigoros gemailt, wenn man Wagner denn schon vorwerfe, daß die Nazis einige seiner Texte mißbraucht hätten, dann müsse man ihm doch auch zugute halten, daß anti-fascistische Widerstandskämpfer sie ebenfalls verwendeten. So hätten die letzten Worte des Grafen v. Stauffenberg gelautet: "Es lebe das heilige Deutsche Reich!" Na ja, wenn das denn in den Augen irgendwelcher braver Demokraten eine Ehrenrettung Wagners darstellt, möge ihm das gegönnt sein; Dikigoros enthält sich dazu jeglichen Kommentars. Exkurs Ende.]

Und, um das bei dieser Gelegenheit gleich vorweg zu nehmen: Natürlich haben politisch-korrekte Gutmenschen auch in diesem Theaterstück Wagners - seiner einzigen Komödie - wieder ein "anti-semitisches" Haar in der Suppe gefunden: Ist nicht Beckmesser ein böser Kritikaster? Und trägt er nicht Züge des Wiener Musikkritikers Eduard Hanslick, mit dem Wagner verfeindet war? Und war Hanslick nicht Jude? Oh je, liebe Leser, oh jemine. Wenn also ein moderner Komponist, wie z.B. Ralf Siegel, sich ganz allgemein negativ über schlechte Schlagersänger äußert; wenn zu diesen schlechten Schlagersängern auch Juden zählen, wie z.B. Stefan Raab alias "Alf Igel", und wenn diese beiden nun verfeindet sind, weil der eine den anderen nachgeäfft hat, dann ist der dermaßen Vergackeierte also ein böser Anti-Semit? Merkwürdige "Logik"... Aber noch viel merkwürdiger ist es, ausgerechnet in den "Meistersingern" anti-semitische Züge entdecken zu wollen. Das Gegenteil ist richtig, und hierin liegt ein bemerkenswerter Punkt, in dem Wagner die Geschichte einmal nicht verfälscht hat. Weshalb verliebt sich Evchen in Walther? Weil er aussieht wie David. Wie der Schusterlehrbub David? Natürlich nicht, sondern - wie der König David aus dem Alten Testament!

[König David auf der Reichskrone] [König David, Mitte 12. Jahrhundert] [König David, 2. Hälfte 14. Jahrhundert] [König David, 1. Hälfte 16. Jahrhundert]

Es mag Euch erstaunen, liebe Leser, aber dieser König David war das Leitbild des mittelalterlichen Menschen schlechthin: Die deutschen Könige trugen sein Bild auf der Reichskrone, die Künstler stellten ihn stets in ihrer eigenen zeitgenössischen Tracht vor, und sein wichtigstes Kennzeichen war - Harfe spielen und singen zu können! Folgerichtig war er auch das Leitbild der Meistersinger, die ihn auf ihrer Fahne trugen. (Dikigoros hat Euch einleitend bewußt ein Bild ausgesucht, auf dem eine solche Fahne zu sehen ist: Der Ritter mit dem rot-weißen Lanzenschaft hält sie an den linken mittleren Bildrand.) Was - ausgerechnet ein Judenkönig, zu einer Zeit, der zwar "Anti-Semitismus" noch ein Fremdwort gewesen wäre (damals hätte man noch um dessen Ungenauigkeit gewußt und es nicht gebraucht :-), nicht aber die Feindschaft gegen die Juden? Tja, es ist schon merkwürdig, aber im Gegensatz zu seinem Sohn Schlomo (fälschlich auch "Salomo[n]" geschrieben, das bedeutet übrigens "Friedmann") wurde König David - der Hitler der Alt-Hebräer - ebenso wenig als Jude empfunden wie Iesus Christus. "Juden" waren immer nur die anderen, die ihn verraten und ans Messer, pardon ans Kreuz geliefert hatten, allen voran "Judas" - von dem scharfsinnige Bibelleser mit guten Gründen bezweifeln, daß er historisch ist. Aber lassen wir das dahin stehen und halten einstweilen fest, daß Wagner in diesem Punkt die Geschichte wahrheitsgemäß wiedergegeben hat, was umso bemerkenswerter ist, als er zum Fortgang der Handlung nicht unbedingt notwendig war, also ebenso gut hätte weg gelassen werden können. [A propos: In der berühmt-berüchtigten Abschlußszene auf der Festwiese, die man heute am liebsten ganz weg lassen würde, weil sie angeblich die Reichsparteitage der NSDAP inspiriert hat - aus dem gleichen Grunde hat es sogar schon den Vorschlag gegeben, das Stück nicht mehr in Nürnberg spielen zu lassen -, läßt man heute ein Detail weg, das ebenfalls nicht unbedingt notwendig sein mag, aber von Wagner ausdrücklich in die Regie-Anweisung geschrieben wurde, nämlich daß die Meistersinger "mit erhobenen Händen" auf Hans Sachs deuten, ihm also den "deutschen Gruß" entbieten. (Einer der übelsten über-Wagner-Schreiberlinge der Gegenwart - es sind immer die selben, die da zu Wort kommen: die Mayer, Pahlen, v. Soden und Wapnewski - hat diese Verfälschung mal als "freundliche Demokratisierung des Werkes" bezeichnet.) Ja, auch die Nazis haben so gegrüßt, deshalb ist er heute verboten. Aber haben die Nazis nicht bisweilen auch den Hut gezogen und "guten Tag" oder "Grüß Gott" statt "Heil Hitler" gesagt? Warum verbietet man dann nicht auch diese Grußformen - oder das Tragen von Hüten?!? (Seht Ihr, liebe Leser, das ist einer der Unterschiede zwischen "Demokratie" und "National-Sozialismus": Die Nazis hätten nie die Chuzpe gehabt, etwa das nichtssagende "Wach' auf, es nahet gen den Tag" weg zu lassen oder zu ersetzen durch das 400 Jahre später entstandene "Deutschland erwache" von Dietrich Eckart und Hans Ganßer, zwecks "freundlicher Nazifizierung des Werkes").]

[Hans Sachs]
[Unterschrift]

Umso schlimmer hat Wagner die Geschichts-Klitterung dafür bei den Meistersingern getrieben. Beginnen wir mit Hans Sachs, dem Schumacher und Poëten aus Nürnberg. Es gibt in der Geschichte immer wieder Gestalten, die - bereits zu Lebzeiten oder danach - zu Unrecht verdammt oder in den Himmel gelobt werden, obwohl sie eigentlich ganz kleine Lichter - im Guten wie im Bösen - waren. Aber was liegt an Personen - auf ihre [Nach-]Wirkung kommt es an! Hans Sachs wurde schon zu Lebzeiten zu einer Art Nationalheld hoch gejubelt - und hätte er den Martyrertod, der ihm angeblich drohte, tatsächlich erlitten, wäre er das sicher auf Dauer geworden. Gleich gar die Nachwelt hat ihn maßlos überschätzt, vor allem die protestantische. In einer Zeit, als Nürnberg noch gut katholisch war, hatte sich der junge Schumacher ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt, indem er sich offen zum lutherischen Glauben bekannte. Darob erhielt er - angeblich - Schreibverbot. Dikigoros schreibt "angeblich", denn allein die Quantität seiner Erzeugnisse spricht dagegen, daß dem wirklich so war - vielleicht war es ein vorübergehendes Publikationsverbot, mehr aber auch nicht; und als Nürnberg dann doch protestantisch wurde, war er natürlich der gefeierte Held, dessen Machwerke nun zwecks "Wiedergutmachung" umso häufiger aufgeführt werden mußten. Nein, anders ist das nicht zu erklären, denn qualitativ waren sie, soweit sie uns überliefert sind, unter aller Sau. (Verzeiht Dikigoros diesen drastischen Ausdruck - der übrigens aus dem Jiddischen kommt -; er ist mehr als gerechtfertigt.) Deshalb ist es nur zu verständlich, daß Wagner diese Oper ursprünglich als Persiflage konzipiert hatte und die "Meistersinger" durch und durch negativ zeichnen wollte. (Wenngleich er vollkommen daneben lag, wenn er den Ritter v. Stolzing als besseres Vorbild ausgerechnet seinen Namensvetter Walther von der Vogelweide anführen läßt. Auch der gehört nämlich zu den weit Überschätzten. Gegen die wirklich großen Dichter des Hochmittelalters, gegen Wolfram von Eschenbach, gegen Konrad von Würzburg, ja selbst gegen den besonders von Deutschtümlern so oft geschmähten Gottfried von Straßburg war Walther von der Vogelweide ein Hinterbänkelsänger aus der dritten Reihe, ein Stefan Raab, der vielleicht mit einem weiblichen Federgewicht - nein, nicht mit einer der Matschkühe, die man in Wagners Stücken immer noch bevorzugt über die Bühnen trampeln läßt, egal ob sie eine Walküre oder das zarte Evchen spielen sollen - hätte in den Boxring steigen und darüber ein paar seichte Liedchen schreiben können, aber zu etwas größeren Werken offenbar nicht fähig war.) Dem steht nicht entgegen, daß Wagner in der 5. Szene des 3. Aufzugs die ersten sechs Zeilen aus Sachs' bereits erwähntem "Wachet auf, es nahet gen Tag" übernommen hat, zumal es sich nur um die Übernahme der Worthülse handelt, nicht des Inhalts, denn Hans Sachs meinte ja in der dritten Zeile nicht irgendeine Nachtigall, sondern die "Wittenberg'sche Nachtigall", also Martin Luther.

[Ehrt Eure Deutschen Meister]

Ebenfalls nur als Worthülse haben die Nürnberger den Satz "Ehrt Eure deutschen Meister" übernommen, ebenso sinnentleert - oder, wenn Ihr so wollt, mit neuem [Un]Sinn gefüllt - wie Wagner im Ring die Sätze der Nibelungensage: knapp vier Jahrzehnte nach Wagners Tod wurden die Spieler des 1. Fußball-Clubs Nürnberg zum ersten Mal deutsche Meister; fast ein halbes Jahrhundert lang wurden sie sogar als Rekord-Meister geehrt, bevor ihnen die Erben König Ludwigs von Bayern den Ring, pardon den Rekord abnahmen; aber da war das Fußballspiel schon keine Zunft der Fußwerker mehr (eine Zunft der Hand-Werker war es ja nie gewesen - die hätten allenfalls die Torhüter bilden können :-) sondern nur noch ein bisweilen ziemlich schmutziges Geschäft, auf dem der Fluch des Goldes lastete wie einst auf Wagners Gibichungen. Und der Fußball ist da ja nur ein Spiegelbild der Gesellschaft, denn auch Industrie und Handwerk sind in ihrer Geldgier, pardon auf ihrer Suche nach dem "Shareholder-value" dermaßen auf den Hunding, pardon auf den Hund gekommen, daß kaum mehr jemand etwas darauf gibt, was "deutsch und echt" ist - obwohl einige durchaus noch wissen, was das einmal war. Die Frage ist nur: Hätten die Zünfte das verhindert, wenn der Zunftzwang nicht kurz vor Wagners Geburt aufgehoben worden wäre? Hätten sie das Know-how und die Geschäftsethik zu retten vermocht, die heute in Lug und [Be]Trug, in Pfusch, Bestechlichkeit, Steuerflucht und Arbeitsplatz-Vernichtung unterzugehen drohen wie einst Wagners Götter in Walhall? Glaubt übrigens nicht, liebe Leser, daß diese Frage erst heute aktuell geworden wäre; schon Wagner machte sich seine Gedanken darüber, während der "Gründerkrise" in den ersten Jahren nach Gründung des Kaiserreichs. Lest einmal nach, was er am Ende des - heute verfemten, aber immer noch beschaffbaren - Aufsatzes "Was ist deutsch?" aus dem Jahre 1878 geschrieben hat, und ersetzt "gemeinsame deutsche Reichsmünze" durch "Euro" und "Freihandel" durch "Globalisierung", dann kennt Ihr seine Antwort: "Es herrscht zwar viel Not im Lande, der Arbeiter hungert und die Industrie siecht; aber das Geschäft geht."

[Barloesius, Zünfte]

Aber ist diese Antwort auch richtig? "Die Zünfte müssen so rein sein, als wären sie von Tauben gelesen", sagte man früher. Wer einen Hund erschlug, wenn auch in Notwehr, durfte nicht mehr Handwerker sein - er hatte in das Recht des Scharfrichters eingegriffen. (Fast wie in Indien - und über deren Jati-Kasten regen sich die Westler auf - aber das ist eine andere Geschichte :-) Noch 1690 durfte ein ehelich geborener Bauernsohn zu Bunzlau nicht Schneider werden, weil seine Großmutter 50 Jahre zuvor ein uneheliches Kind geboren hatte. 1656 durfte zu Grünberg ein Lehrling nicht Handwerker werden, weil seine Mutter im Dreißigjährigen Krieg von den Schweden vergewaltigt worden war. 1691 wird der Sohn eines Richters nicht zur Weißgerberei zugelassen, weil sein Großvater 40 Jahre früher bei der Kastration von Pferden geholfen hatte. Wer eine Ertrunkene aus dem Wasser zog, und wäre es die eigene Frau gewesen, dessen Tochter durfte keinen Schneider heiraten, oder der mußte aus der Zunft heraus; ein Schweizer Rittmeister verlor noch 1757 seine Schwadron, weil er vier seiner Pferde aus dem Fluß gerettet hatte mit Hilfe eines Strickes, den vielleicht der Henker in der Hand gehabt hatte; wer seiner Frau einen Ehebruch verzieh, flog sofort aus der Zunft, und wer nicht seinen Ahnenpaß bis zu den Großeltern in Ordnung hatte, kam gar nicht hinein." (Da hätte Wagner als notorischer Schuldenmacher und Ehebrecher selber wohl so einige Probleme bekommen :-) Nun gibt es allerdings auch heute eine "Gewerbeaufsicht", und die Zwangsmitgliedschaft in den Industrie- und Handelskammern wird nicht weniger streng gehandhabt als einst in den Zünften; und wenn sich Dikigoros so anschaut, was diese Kammern (wie übrigens auch die - ebenfalls auf Zwangsmitgliedschaft beruhenden - Kammern der "freien Berufe", der Ärzte, Apotheker, Anwälte, Steuerberater usw.), dann kommen ihm gelinde gesagt Zweifel an Sinn und Zweck dieser - nur zu oft kriminellen - Vereinigungen. Und die selben Funktionäre, die dort ihr Unwesen treiben, würden es doch nicht besser machen, wenn sich das ganze statt dessen noch immer "Zünfte" nennen würde. Und die Nachfolger der "Gewerke", die Gewerkschaften, hält Dikigoros - zusammen mit den Arbeitgeber-Verbänden - geradezu für die Hauptursache der derzeitigen wirtschaftlichen Misere, nicht nur in Deutschland.

Aber wir wollen der Frage, "was deutsch und echt" ist, nicht ausweichen, denn Wagner hat sie nun mal gestellt, und wenn ihm die Antwort in den Meistersingern anders nicht geglückt als wie wo alles drängt und drückt - Pardon, liebe Wagner-fans, aber dieses Zitat konnte sich Dikigoros an dieser Stelle nicht verkneifen -, dann heißt das ja nicht, daß er es anderswo nicht besser gemacht hätte - im Gegenteil: Wagner hat in dem bereits kurz erwähnten Aufsatz aus dem Jahre 1878 eine der schönsten Definitionen gegeben, die Dikigoros kennt, was "deutsch" ist - oder sein sollte, denn es ist eigentlich weniger eine Zustandsbeschreibung als vielmehr ein idealisiertes Wunschbild: "Deutsche (...) heißen diejenigen (...), welche auf heimischem Boden ihre Sprache und Sitte sich bewahrten. (...) Der Deutsche (...) wehrt dem zu ihm dringenden Einflusse des Auslandes nicht; er liebt zu wandern und zu schauen; voll der fremden Eindrücke drängt es ihn aber, diese wiederzugeben; er kehrt deshalb in die Heimat zurück, weil er weiß, daß er nur hier verstanden wird: hier am heimischen Herde erzählt er, was er draußen sah und erlebte." Gewiß hat Wagner diese Definition ein wenig an seine eigene Lebensgeschichte angelehnt, aber Dikigoros würde sie ebenfalls unterschreiben - nicht ohne anzumerken, daß dies nicht nur die Definition eines guten Deutschen, sondern auch die eines jeden anderen guten Patrioten sein könnte.

Und dennoch - was hat Wagner in den Meistersingern für ein Thema verschenkt, wenn er denn am Ende darauf hinaus wollte: Die "falsche welsche Majestät" hat es ja tatsächlich gegeben! Darauf, daß die Hohenstaufen längst keine Deutschen mehr waren - weder genetisch noch kulturell - war Dikigoros schon eingegangen (aber die - durchaus germanischen - Könige des so genannten "Interregnums", die Willem von Holland und Richard von Cornwall, hat man ja nie richtig als solche anerkannt); für die Habsburger galt zu Lebzeiten des historischen Hans Sachs, also im 16. Jahrhundert, das gleiche; und da Wagner sich mit der Geschichte Belgiens - was damals die "Spanischen Niederlande" waren - beschäftigt hatte, hätte er das eigentlich wissen müssen. Aber lassen wir die hohe Politik - es soll uns doch um die "deutsche" Kultur gehen, nicht wahr? Womit wollen wir anfangen? Mit den Minnesängern des Hochmittelalters, den Helden vom Schlager-Festival auf der Wartburg, wie sie Wagner im Tannhäuser beschrieb? Woher hatten die denn ihre Vorbilder? Von den provençalischen "Troubadours"! Nein, nicht von den "süd-französischen", denn das waren eben keine Franken, sondern "Welsche" im besten Sinne des Wortes - deren Kultur erst in den Albigenser-Kriegen des 13. Jahrhunderts ausgerottet wurde. Gewiß, was ihre deutschen Nachahmer leisteten, war z.T. weit höher einzuschätzen (so wie ja auch die japanischen Kopien - und Weiterentwicklungen - westlicher Technik im 20. Jahrhundert weit höher einzuschätzen waren als ihre Vorbilder) - nicht umsonst blickte z.B. Wolfram von Eschenbach mit unverhohlener Verachtung auf Crestien de Troyes herab -; gleichwohl wären ihre Werke ohne jenen "welschen Tand" nicht denkbar gewesen. Was dagegen die "Meistersinger" an Nachahmungen ablieferten, war wenig meisterhaft, sondern Stümperwerk, oder, wie Walther von der Vogelweide und andere Ösis gesagt hätten, "Pfusch". Wagner meinte, die hätten wenigstens deutschen Pfusch (denn auch er sah das ursprünglich wohl so) abgeliefert; aber auch das war ein Irrtum. Schaut Euch doch mal hier an, woher der ach-so-teutsche Hans Sachs seine Vorbilder nahm: aus dem "welschen" Italien! Und die Wiener Klassik wäre gleich gar ohne "welsche" Vorbilder undenkbar - ohne Couperin und Rameau, ohne Durante, Scarlatti und Tartini kein Gluck, kein Haydn, kein Mozart, kein Beethoven und - kein Wagner! Die deutsche "Tonkunst", wie er das nannte, hätte sich in Langweilern wie Bach, Händel und Telemann erschöpft. (Dikigoros weiß, daß er mit dieser Aussage bei einigen Musik-Liebhabern in ein Wespennest sticht; aber es ist nun mal so, daß die Werke der letztgenannten ebenso gut ein Mathematiker - oder heute ein Computer-Programm - hätte schreiben können; dieses müde Cembalo-Geklimpere und/oder Georgele war gut für das lateinische Hochamt - oder auch den protestantischen Gottesdienst - und als Geräusch-Kulisse für Soiréen im französischen Stil an den Höfen irgendwelchen Duodez-Fürsten, von denen längst keiner mehr wußte, was "deutsch und echt" war, sondern die ganz im Gegenteil alles daran setzten, die "welschen" Franzosen nachzuahmen. Und das galt nicht nur für Duodez-Fürsten - wer Dikigoros' Seite über Friedrich 'den Großen' von Preußen gelesen hat, weiß Bescheid.)

Noch etwas. Man hat Wagner nachgesagt, daß er sich auch mit Hans Sachs - wie mit so vielen anderen seiner "Helden" - identifiziert habe. Das sieht Dikigoros auch so, allerdings vor allem in einem Punkt, der sonst für gewöhnlich tot geschwiegen wird: Wagner hat nämlich - wie schon im Ring beim Siegfried - diesen wesentlichen Punkt wieder genau ins Gegenteil der Realität verkehrt: So wie das Verhältnis Mime-Siegfried das Verhältnis Wagner-Geyer auf den Kopf stellt, so stellt auch das Verhältnis Sachs-Evchen das Verhältnis Wagner-Cosima auf den Kopf. In den Meistersingern wehrt der weise alte Witwer Hans Sachs die Annäherungsversuche des jungen Evchens mit Bedacht ab: "Mein Kind, der [ich] wär' zu alt für dich." Wie es bei Wagner war, haben wir schon gesehen; aber die Pointe ist, daß es beim historischen Hans Sachs ebenso war: Auch der heiratete in zweiter Ehe eine rund 30 Jahre jüngere Frau - die hieß zwar weder Evchen noch Cosima, sondern Barbara, aber die Parallele ist dennoch unverkennbar. Und wenn Dikigoros an dieser Stelle nochmal eine ganz persönliche Vermutung einflechten darf, die er wiederum nicht beweisen kann: Er glaubt, daß Wagner das Lied "Wachet auf" ursprünglich ausgewählt hatte, um zu zeigen, was für ein Pfuscher Hans Sachs war, und wieviel besser er selber das doch in Musik umsetzte, ganz ähnlich wie Walter v. Stolzing das von dem Pfuscher Beckmesser verhunzte "Morgendlich leuchtend in rosigem Schein" viel besser singt.

[Barloesius, Nürnberg]

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                [Manuskript]
[Parsifal] [Parsifal]

Der "Parsifal" ist Wagners letztes und musikalisch gesehen sicher reifstes Werk. Aber letzteres ist selbst aus Dikigoros' Tastatur kein uneingeschränktes Lob - vielleicht hatte Nietzsche doch Recht, der es als "überreif" und "von süßer Fäulnis" empfand - wobei er sicher nicht an eine Trockenbeeren-Auslese dachte. Der Parsifal-Musik fehlt (mit Ausnahme des Klingsor-Monologs zu Beginn des 2. Aufzugs) der "Drive", wie man heute auf Germenglish sagt - ohne daß die meisten, die dieses Wort verwenden, genau wüßten, was es bedeutet. "Rhythmus-Steigerung in der Jazz-Musik" steht im Lexikon; aber das ist immer noch ungenau. "Rhythmus" kann man auch mit einer Neger-Trommel erzeugen, und um ihn zu "steigern", haut man einfach etwas fester und/oder schneller drauf. Nein, "Drive" bedeutet, wie schon die wörtliche Übersetzung sagt, daß eine Musik in Fahrt kommt, daß sie Schwung bekommt - aber deshalb muß sich das nicht auf Swing oder Jazz beschränken. Echter "Drive" muß aus der Musik selber kommen, nicht aus der Instrumentierung, und schon gar nicht aus dem Schlagzeug. Ist Euch das zu abstrakt, liebe Leser? Vielleicht kennen einige von Euch noch aus den 1960er Jahren die Titelmelodie der Fernseh-Kultserie "Raumpatrouille" von Peter Thomas? Das Stück hätte auch dann noch "Drive", wenn man es auf der Blockflöte spielen würde. (Na ja, vielleicht nicht ganz, aber zwei Blockflöten würden ausreichen; eine müßte den genial geführten Baß ersetzen, der das Stück fast ohne Schlagzeug auskommen läßt - da hätte sich Wagner mehrere Scheiben von abschneiden können.) Im übrigen ist der besagte Klingsor-Monolog eine äußerst schwierige und undankbare Rolle, da er recht unharmonisch gegen eine ebenso unharmonische Instrumental-Begleitung gesungen werden muß. Dagegen ist z.B. die Rolle des Gurnemanz (ähnlich wie die des Hans Sachs in den Meistersingern) so einfach zu singen, daß sie jeden auch nur mittelmäßigen Baß gut aussehen läßt. Dafür schleppt sich der Gesang so langsam und schwerfällig (Wagnerianer würden sagen: "majestätisch") dahin, daß es zum Einschlafen ist. (Von wegen: "Zum Raum wird hier die Zeit" - wenn man Glück hat wird sie zum Traum, sonst zum Albtraum :-)

Aber genug der musikalischen Vorrede, kommen wir zum Inhalt. Und was sich Wagner da geleistet hat, schlägt dem Faß den Boden aus - es ist die schlimmste Verballhornung, die je ein anspruchsvoller Stoff von ihm erfahren hat. Gewiß, man darf, ja man muß sogar einen derart umfangreichen Text kürzen, um ihn auf die Bühne zu bringen; man darf ihn auch interpretieren, seine Bestandteile unterschiedlich gewichten und verknüpfen; aber damit hat Wagners Machwerk nichts mehr zu tun, egal ob man nun mit der herrschenden Meinung der Literatur-Wissenschafler den "Perceval" des Chrestien de Troyes als das Original ansieht, oder mit der Mindermeinung (die auch Dikigoros vertritt) den "Parzivâl" des Wolfram von Eschenbach. Wagner hat behauptet, sich auf den letzteren gestützt zu haben - aber das ist schlicht gelogen. Wolfram von Eschenbach und Wagner - das ist eine Geschichte für sich: Im "Tannhäuser" verballhornte Wagner wie gesagt erst seinen Namen zu "Wolfram von Eschilbach", dann strich er die Rolle in der Neubearbeitung ganz. Und aus "Parzivâl machte er auf Pseudo-Persisch - einen "reinen Toren" (im Umkehrschluß aus "Fal parsi", der törichte Reine - eine falsche Etymologie, die er wohl von Joseph Görres übernahm). Wenn es nur das wäre... Wie Dikigoros' seliger Freund Werner Greub überzeugend dargelegt hat, war Wolfram von Eschenbach nicht nur der größte Dichter, sondern auch der größte Chronist des Hochmittelalters, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Es mag keine "Weltgeschichte" sein, was Wolfram im Willehalm und im Parzivâl beschrieben hat, aber doch reale Geschichte, nämlich die der geheimen Glaubensgemeinschaft der Gralsritter in Burgund. [Man mag die Gralsburg noch anderswo suchen und finden, in Spanien, Italien oder Britannien, denn es wird ihrer mehrere gegeben haben, so wie es bei offiziellen Glaubensgemeinschaften viele Kirchen, Tempel und Moscheen an vielen verschiedenen Orten gibt; aber die Geschichte, die Wolfram nieder schrieb, spielte unzweifelhaft in Burgund. Was sind dagegen die seichten Gedichte eines Walther von der Vogelweide, die Fragmente eines Crestien de Troyes oder die von vielen Köchen verdorbenen Suppen, die Gottfried von Straßburg anrührte? Stümperwerk! Wie kann man es wagen, die im selben Atemzug mit dem Autor des Willehalm und des Parzivâl zu nennen? Wagner wagte es und machte damit seinem Namen Ehre - oder auch nicht.] Nein, so etwas denkt man sich nicht aus. Wer eine Geschichte erfindet, der vereinfacht sie, macht sie "logisch", so wie gewisse Geschichtenschreiber, pardon "Historiker", die Geschichte Deutschlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aber Geschichte verläuft nicht geradlinig, geschweige denn folgerichtig, und sie speist sich nicht aus "Monokausalitäten" - auch wenn es so schön bequem ist, sie im Nachhinein aus solchen zu "erklären". (Man braucht nicht so weit zu gehen wie Dürrenmatt und zu behaupten, sie verlaufe ohne jeden Sinn und entgegen jeglicher Planung; aber das ist nur das eine Extrem - das andere ist darob nicht weniger falsch.) Gewiß ist Wolframs Parzivâl umständlich, ja verworren, kein "klassischer", sauber verlaufender "Bildungsroman" des Titelhelden, da stören die Kapitel über Gahmuret und vor allem über Gawan nur. Und die vielen Weibergeschichten - deshalb verfällt Wagner auf die Idee, drei von ihnen zu einer zusammen zu fassen: Aus der Gralsbotin, der von Klinschor gefangen gehaltenen Schwester Gawans und Orgeluse wird eine Person: "Kundry", und diese Gleichsetzung wird auch noch "logisch" erklärt mittels einer an den Haaren herbei gezogenen Geschichte (auf die wir gleich kommen werden). Denn Wagner suchte und fand in jenem Epos - dessen Gegenstand doch eigentlich die Entwicklung eines jungen Mannes von der bloß formalen Erziehung in höfischen Konventionen zur wahren Herzensbildung ist - einmal mehr das Grundmotiv (nein, nicht das Leitmotiv :-) all seiner Stücke: die Erlösung. Die Erlösung wessen? Parsifals? Ach was - Amfortas'!

[Amfortas mit Gral]

Nein, Amfortas hatte nicht etwa Wagners "Parsifal" gehört, sondern seine Leiden resultierten vielmehr aus der Wunde, die ihm ein geheimnisvoller Speer geschlagen hatte - der ebenso vergiftet war wie Morolts Schwert im "Tristan". Und nun stellt Wagner die Geschichte völlig auf den Kopf, indem er die Suche des Reisenden Parcevâl nach der Gralsburg zur Suche nach dem vermaledeiten Speer macht und die Rolle des Klingsor (der doch im Original nur irgendein böser Burgherr ist, mit dem sich Gawan - nicht Parzivâl - herum schlägt, und der zum Gang der Handlung ansonsten kaum etwas beiträgt) in geradezu peinlicher Weise aufbläht zum Verursacher aller Übel, der - wie Alberich im Ring, aber noch viel radikaler - "der Minne Macht" entsagt, indem er sich selber entmannt und Kundry verhext hat - alles nur, weil er den blöden Pott (der doch eh zu nichts nutze ist, denn er hilft Amfortas ja offenbar nicht - im Orignal ist es denn auch nur ein Stein) für sich selber haben will. Wohl gemerkt, liebe Leser, man kann es nachvollziehen, wenn jemand den Gral sucht - so man ihm denn besondere Heilkraft zutraut (aber den Gral hat Amfortas ja schon, und der hilft ihm wie gesagt gar nichts); man kann auch nach Heilkräutern suchen, wie Kundry, die dafür um die halbe Welt reist. [Exkurs: Nebenbei bemerkt zeigt sich da mal wieder die Undankbarkeit der abergläubischen Menschen gegenüber den heilkundigen Kräuterfrauen: statt ihre Hilfe zu schätzen, machen sie die zu "Hexen" und schicken sie am Ende auf den Scheiterhaufen - was noch angehen mag, wenn es sich um Abtreibungskräuter handelt; aber sonst...? Nun, das 20. Jahrhundert ist ins gegenteilige Extrem verfallen. Nein, nicht etwa auf die "Endlösung", die Wagner dem armen Klingsor hat angedeihen lassen - mann will ja weiter seinen Spaß haben, aber ohne die Konsequenzen zu tragen: Deshalb zahlt man heute den Hexern und Hexen in weißen Kitteln, die die Kinder "wegzaubern", noch bevor sie auf der Welt sind, fette Honorare aus den Töpfen der Krankenkassen, die nicht zuletzt darum - es fehlen ja nicht bloß die Ausgaben für die Abtreibungen auf Krankenschein, sondern auch die Einnahmen, wenn die potentiellen Beitragszahler noch vor ihrer Geburt ermordet werden - am Rande der Pleite krebsen! Fragen wir uns, was schlimmer ist: Die Völker Europas haben im Mittelalter und in der frühen Neuzeit Kriege, Seuchen, Hungersnöte und Hexenverfolgungen letztlich überlebt, weil immer neue Menschen nachgeboren wurden; dagegen werden sie das Ende des 21. Jahrhundert schwerlich erleben, obwohl oder weil sie so "friedlich" und satt geworden sind - es sei denn, sie würden, statt weiterhin die eigenen Kinder zu morden und als vermeintlichen "Ausgleich" dafür fremde Feinde ins Land zu lassen, wieder die Scheiterhaufen anzünden und die modernen Hexer und Hexen allesamt verbrennen. Exkurs Ende] Und man mag im "Parzivâl" - wie die meisten es getan haben - die Vorwegnahme des neuzeitlichen "Bildungsromans" sehen und annehmen, daß der junge Mann auf die Reise zu sich selbst geschickt wird, bis er die Gralsburg wieder findet und die richtige Frage stellt. (Merke: die meisten falschen Ergebnisse in der Geschichte - und erst recht in der so genannten Geschichts-"Wissenschaft" - kommen durch falsche Fragestellungen zustande :-) Aber auf die Suche gehen nach dem Speer? Was will man ausgerechnet damit? Wagner gibt eine Antwort, die so albern ist, daß das Publikum eigentlich in schallendes Gelächter ausbrechen müßte bei der Textzeile: "Die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug." Na, wo kommen wir denn da hin - bzw. wo kommt denn dieser Unsinn her? Jedenfalls weder aus dem Perceval noch aus dem Parzivâl!

[Parsifals Progress - der Titel ist offenbar eine Parodie auf  'The Pilgrim's Progress'] [Kundry]

"Humanistisch" gebildete Leser werden sicher leicht darauf kommen: Aus der alt-griechischen Sage von Telefos. Aber diese Antwort greift zu kurz; wir müssen - wie immer in solchen Fällen - nachfragen, warum der Plagiator sich ausgerechnet dieses Motiv heraus gepickt hat, um es in seine eigene Geschichte einzusetzen, und nicht ein anderes. Mit anderen Worten: Was steckt psychologisch hinter dieser krausen Idee Wagners? Seine Erben haben sich ja schon so manche groteske Aufführung für Bayreuth einfallen lassen; aber leider werden immer noch große Teile seines Nachlasses unter Verschluß gehalten, und so ist auf diese Frage wohl noch niemand gestoßen (mit oder ohne Speer :-) Vielleicht nagte im Alter das schlechte Gewissen am Hurenbock Wagner? Oder die Angst, sich eine Krankheit geholt zu haben, wie sein Ex-Freund Nietzsche? Was soll sonst die völlig aus der Luft gegriffene neue Rolle der Kundry: Sie hat Amfortas verführt, und deshalb ist er am Speer erkrankt. So so, da hätte die gute Kundry, wenn sie "den Schaden zu vergüten" (Originaltext Wagner :-) bemüht gewesen wäre, wohl besser schon mal das Penicillin erfunden oder herbei gehext, nicht wahr? Denn wer nur kann ihr widerstehen? Jemand, der "keusch" ist - und das ist - der gute Winnetou, pardon Parsifal. Macht das Sinn? Kaum: Selbst der dümmste Jüngling ohne die geringste "höfische" Bildung wird immer noch einen Speer hoch bekommen, wenn er auf eine Frau trifft, die willig ist - wahrscheinlich wird er ihren Reizen sogar umso eher erliegen, je weniger er von der Welt weiß. Vorausgesetzt, sie hat solche Reize - wenn Dikigoros sich so die Darstellerinnen anschaut, die im Laufe der Jahre die Kundry gespielt haben (und bis heute spielen), findet er nicht, daß da an Parsifals "Keuschheit" allzu hohe Anforderungen gestellt werden; und als "Widerstands-Kämpfer" ist gerade er denkbar ungeeignet, denn auf solche Frauen können wirklich nur Männer stehen, die noch nie eine andere gesehen und keinerlei Erfahrung haben... Wer wird denn nun am Ende erlöst? Wagner schafft das doppelte Lottchen: Amfortas und Kundry! Frage: Hätte man die beiden da nicht gleich heiraten lassen können? Wäre doch ein schönes Happy-end gewesen! Nicht lachen, liebe Leser; in jüngster Zeit hat sogar irgendein Spinner (Dikigoros nennt seinen Namen nicht, aber Ihr könnt ihn leicht über jede Internet-Suchmaschine finden - er ist Mitglied des Sinfonie-Orchesters des NDR, gebt das einfach mit ein :-) behauptet, daß Amfortas dem "Fliegenden Holländer" gleiche "und mehr noch Ahasvar, dem Ewigen Juden". Das ist nun der Gipfel der Unsinnigkeit, denn Amfortas ist - zumindest bei Wagner - das genaue Gegenteil: Er zieht nicht herum, sondern ist an sein Krankenlager gefesselt, und er kann nicht von einer Frau gerettet werden (vielmehr "verdankt" er seine Krankheit einer Frau, nämlich Kundry), sondern nur von einem Manne, nämlich Parsifal. Und schließlich hat Wagner ja schon drei Figuren seiner Vorlage zu einer "Kundry" vermurkst, pardon verbunden (erstens Kundrie la Surzière, die Gralsbotin, zweitens die Schwester Gawans - die von Klinschor gefangen gehalten wird - und drittens Orgeluse, deren Werben Parzivâl widersteht); da hätte sie als viertes auch noch Amfortas' Ehefrau spielen können, wie Otto Waalkes in seiner Parodie auf Goethes Faust den Doktor, Mephisto, Gretchen und - den Staubsauger-Vertreter.

Und da wir gerade wieder beim Thema sind: Wer hat nicht alles behauptet, daß Wagners Kundry so etwas wie "die ewige Jüdin" und daher "anti-semitisch" gezeichnet sei? War sie nicht auch Herodias und Gundryggia? Womöglich auch noch die "Urteufelin" und die "Höllenrose"? Ja, aber die eine Frage bejahen bedeutet doch, die andere zu verneinen! Der "Ewige Jude" war immer ein- und dieselbe Person, ebenso wie der "Fliegende Holländer" bzw. sein Kapitän immer ein- und dieselbe Person war. (Unter uns, liebe Leser, wenn Wagner Wolframs "Parcevâl" richtig gelesen und im Sinne seiner Kritiker konsequent umgesetzt hätte, dann dürfte es nur eine Person geben, die dem "Fliegenden Holländer" verwandt wäre: den Titelhelden! Denn wen verflucht Kundrie, als er beim ersten Besuch auf Muntsalvaesche die Frage aller Fragen zu stellen versäumt, und jagt ihn davon, auf daß er für immer in der Welt umherirren solle? Eben den! :-) Dagegen ist Wagners Kundry eine von vielen Reïnkarnationen in unterschiedlichen Personen, und das hat weder mit Judentum noch mit Christentum etwas zu tun, sondern mit dem "Sãsār" der indischen Religionen, dem im Westen auch "Seelenwanderung" genannten Kreislauf der [Wieder-]Geburten. Wagner nennt den Parsifal zwar ein österliches "Bühnenweihfestspiel", aber er hatte auf seine alten Tage - genauer gesagt seit der Schopenhauer gelesen hatte - ein recht merkwürdiges Verständnis vom Christentum (wie auch vom Judentum), das eine Mischung aus mißverstandenem Sanātan Dharm (das ist das, was im Westen meist "Hinduïsmus" genannt wird) und mißverstandenem Buddhismus war. (Man muß Wagner bzw. Schopenhauer das nachsehen; noch heute findet Ihr, wenn Ihr unter dem Stichwort "Sansara" oder "Hinduismus" im Lexikon nachschlagt, bisweilen mehr krauses Zeug daher geschrieben als in Wagners Parsifal :-) "Christlich" ist am Parsifal allenfalls, daß der Titelheld, um Amfortas zu "erlösen", durch eine (im voraus abgesprochene!) Frage "Mitleid" heucheln muß. Bleibt nur noch die Frage, warum denn niemand den armen Klingsor erlöst, und ob man nicht den irgendwie zum "Juden" umfunktionieren könnte, um Wager doch irgendetwas "Anti-semitisches" auch im Parsifal anzuhängen.

[Medaille auf die Überfühung der Reichskleinodien - Schwert, 
Reichsapfel und Reichskrone, der Speer fehlt - von Wien nach Nürnberg 1938]

Es ist schwer nachzuvollziehen, was die Nazis ausgerechnet an diesem Stück Wagners gefunden haben. Eine abstruse Theorie behauptet, Hitler habe die heilige Lanze, den "Speer des Schicksals", dessen Besitz die Weltherrschaft bedeute, unbedingt haben wollen, und sich für eine Reïnkarnation Ludolfs II von Capua gehalten, dem angeblichen Vorbild für Wagners Klingsor; aber das hält Dikigoros schlicht für Humbug. Richtig ist, daß Hitler 1938 die Reichskleinodien von Wien nach Nürberg bringen ließ. (Ausweislich der offiziellen Gedenk-Medaille, die Ihr oben seht, ließ der Medailleur die Lanze sogar weg, so unwichtig erschien sie ihm und seinen Auftraggebern - und Kurt Goetz nahm es mit wichtigen Kleinigkeiten immer sehr genau). Dort gehörten sie auch hin. Anderer Meinung waren freilich die amerikanischen Besatzer, pardon Befreier, die sie 1945 raubten. Später brachten sie sie zwar wieder zurück, allerdings nach Wien, und mit Ausnahme des Lanzenschafts, der offiziell als "verschollen" gilt - so nennt man das heuer, wenn unsere lieben alliierten Verbündeten "ihr" Raubgut nicht wieder heraus geben wollen. Böse Zungen behaupten, daß auch die Räuber glaubten (und ihre Hehler, die man - je nach politischer Überzeugung - im Weißen Haus, bei der World Zionist Organization oder beim World Jewish Congress vermutet - glauben), daß die USA - oder in wessen Besitz sich das Ding jetzt befinden mag - die Welt beherrschen werden, solange sie die Lanze haben. Richtig ist ferner, daß Pablo Picasso, der bekloppte Schmierfink und Verleumder der Deutschen, sich für eine Reïnkarnation Parsifals hielt. Und richtig ist schließlich auch, daß Don Juan Carlos, der zwielichtige König von Spanien, sich für einen "Gralsritter" hält und zu diesem Zweck sogar eine Art Tafelrunde gegründet hat, mit inzwischen sage und schreibe 160 Mitgliedern, die um einen Pott herum sitzen, den jemand in einer Kirche in Valencia gefunden hat und für den Kelch des Amfortas hält. [Ein deutscher "Forscher", der wohl übersehen hat, daß es sich bei Wolframs Gral gar nicht um einen Pokal handelt, sondern um einen Stein, der vom Himmel fiel ("lapsit exillis"), also einen Meteoriten - behauptete im Jahre 2003, den "endgültigen Beweis" für die Richtigkeit dieser Annahme gefunden zu haben: Auf dem Pott von Valencia hat er nämlich ein paar Kratzer entdeckt, die er ganz forsch als "arabische Schriftzeichen" bezeichnet und als "Al-labsit as-sillis (Der Barmherzige)" liest. Selbst wenn das stimmte, wäre das eine rein zufällig akustische Ähnlichkeit, die aus einem Pokal noch lange keinen vom Himmel gefallenen Stein machte. Das gleiche gilt für die Ähnlichkeit der Namen von Amfortas und Alfons I von Aragón - die Michael Hesemann uns als ein- und dieselbe Person verkaufen will; und den Flügel-Adjutanten des letzteren, einen gewissen Rotrou Perche de Val, den er für Parsifal hält, findet man sonst in keiner Quelle.] Aber alles andere ist frei erfunden: Hitler wollte nie die Welt beherrschen (geschweige denn durch die Heilige Lanze :-) - dieses Gerücht haben "Staatsmänner" in die Welt gesetzt, die einen Vorwand suchten, um einen neuerlichen Weltkrieg gegen Deutschland anzuzetteln, weil sie selber nach der Weltherrschaft strebten. Und er hielt sich auch nicht für einen kastrierten Grafen aus Capua.

[Medaille auf Wagners 125. Geburtstag 1938] [Rückseite]

Tatsache ist allerdings, daß der Parsifal bei den Feiern zu Wagners 125. Geburtstag - erneut konnte er nichts dafür, daß dieser ausgerechnet auf das Jahr 1938 fiel und daß zwei Monate zuvor der "Anschluß" statt gefunden hatte - in den Mittelpunkt des Interesses gerückt wurde. Die Erlösung der Ostmärker von ihrem verlotterten Kleinstaat war der Wunsch aller Deutschen gewesen, sowohl im Reich als auch in der so genannten "Republik Österreich", spätestens seit 1919; aber damals hatte man ihnen die Frage nicht gestellt - sie hatten sie ungefragt beantwortet, und das wollte Parsifal, der reine Tor, pardon, das wollten Clemenceau und Wilson, die unreinen Toren, nicht hören, und verboten es. 1938 wurden sie gefragt, von einem anderen Toren (wie rein oder unrein der war, könnt Ihr Euch selber aussuchen, liebe Leser; warum Dikigoros ihn für einen Toren hält, könnt Ihr bei Bedarf hier nachlesen), und sie antworteten mit überwältigender Mehrheit: "ja". Nun, damals wurden die Bürger wenigstens noch gefragt vor einer Erweiterung des Reiches um Millionen Kostgänger - was die Ösis damals nicht weniger waren als ein halbes Jahrhundert später die Ossis -, nicht wie heute, wo man sie ungefragt zwingt, die so genannte "Europäische Union" immer mehr auszuweiten, wider jede Vernunft - und das, obwohl jeder klar denkende Mensch erkennen muß, welch [r]eine Torheit das ist. Aber ist diese Parallele nicht ziemlich an den Haaren herbei gezogen? Im ersten Punkt müßt Ihr die Nazis fragen, da hält sich Dikigoros raus; im zweiten Punkt antwortet er klar mit "nein"; und wenn die Flaschen, die heute Wagners Erbe in Bayreuth verwalten, nur ein wenig Fantasie und Zivilcourage hätten, würden sie den Parsifal endlich einmal unter diesem Aspekt auf die Bühne bringen. Zugegeben, es wäre weit hergeholt - aber wie weit haben die Regisseure des Parsifal in den letzten Jahrzehnten ihre Interpretationen nicht hergeholt...?

Und irgendwie paßt dieses Weit-her-holen doch zu diesem letzten Werk Wagners, denn auch seine Geschichte spielt ja weit weg von den ursprünglichen Schausplätzen. Die historische Vorlage spielte, cum grano salis (d.h. ohne die Vorgeschichte um Gahmuret), in und um Burgund. Wo aber siedelte Wagner das Geschehen an? Dort, wo es überdrehte Literatur-Historiker aus unerfindlichen Gründen auch schon bei Wolfram von Eschenbach suchten: In den Pyrenäen (Ihr dürft Euch aussuchen, liebe Leser, ob er Montségur oder Montserrat meinte - von San Juan de la Peña, wo der Sitz der Gralsritter neuerdings auch vermutet wird, wußte er noch nichts), in Capua bei Neapel und auf Sizilien. Jawohl, das war Wagner immens wichtig; er verbrachte den größten Teil seiner letzten vier Lebensjahre mit Reisen nach Italien, immer auf der Suche nach den Schauplätzen des Parsifal. Klingsors Zaubergarten glaubte er 1880 im Garten des Palazzo Rufolo in Ravello gefunden zu haben, und dessen Zauberschloß in Caltabellotta südlich von Palermo - was durchaus der herrschenden Meinung entsprach; denn Greubs Buch war noch nicht geschrieben, und der "Isteiner Klotz" am Oberrhein noch nicht als solches entdeckt. Ihr meint, es sei doch müßig, nach dem "historischen" Ort der Gralsburg zu suchen, wie z.B. Greub das getan hat - nur um am Ende einzuräumen, daß es auch mehrere "Gralsburgen" jener Art gegeben haben könnte? Ganz im Gegenteil - denn das zeigt, daß es sich eben nicht um eine obskure Zauberburg handelte, die durch irgendwelchen Hokuspokus vor Parsifals geistigem Auge verschwand und wieder auftauchte oder nicht oder doch, sondern um eine ganz reale Suche, bei der es hauptsächlich darauf ankam, wie man anreiste. Macht Euch bitte von dem Vorurteil frei, daß "Gralsburgen" wie mittelalterliche christliche Kirchen immer gut sichtbar auf der höchsten Erhebung eines Ortes errichtet wurden, damit sie auch ja niemand verfehlte. Wagner hat aus Wolframs "Muntsalvaesche" einen "Montsalvat", einen "heiligen Berg" gemacht; aber das ist eine Fehlübersetzung. Gemeint war vielmehr ein Kloster (monasterium) im Walde, und zwar gut versteckt im Walde, denn Klostergemeinschaften hatten in der Regel gar kein Interesse daran, jederzeit ohne weiteres von Krethi und Plethi gefunden zu werden; und sie wußten ihre Orte gut zu wählen - nicht nur in Einzelfällen. Darf Euch Dikigoros zu einem kleinen Exkurs in seine persönliche Vergangenheit einladen? Ihr kennt doch bestimmt alle Pützchens Markt - der zieht ja inzwischen mehr Besucher an als selbst das Münchner Oktoberfest. (Und die Bierpreise sind inzwischen ebenso hoch :-) Aber als Dikigoros in den 1950er Jahren nach Bonn am Rhein kam, war Pützchen zwar kein Geheimtip mehr, doch wenn man nicht gerade in der näheren Umgebung zur Schule ging, hätte man wohl nicht gelernt, daß dort, an der alten, schon von den Heiden als Gottheit verehrten Quelle, irgendwann im Mittelalter die heilige Adelheid einen kleinen Brunnen (auf Bönnsch: "Pützchen") errichtete und angeblich auch schon ein Kloster gründete (das damals noch bestand; erst 1998 sollte es seine Pforten mangels Nachwuchs schließen :-), zu dem im 18. Jahrhundert erstmals auch eine nach ihr benannte Kirche gebaut wurde, um die herum sich dann "Pützchens Markt" entwickelte. (Ja, was glaubt Ihr denn, woher der Ausdruck "Kirmeß" kommt? Das ist die Verkürzung von "Kirchmesse", d.h. erst kam der Gottesdienst, dann der [Jahr-]Markt!)

[Die heilige Adelheid] [Die St.-Adelheidis-Kirche in Pützchen]

Anderswo wäre man auch schwerlich auf die Idee gekommen, von der Schule aus dorthin zu "pilgern", denn das war ein Tagesausflug. (Damals wurden die Schüler noch nicht von ihren Eltern überall hin mit dem Auto gefahren, weil sie sonst ein paar Schritte zu Fuß gehen müßten; es hatten auch noch längst nicht alle Familien ein Auto, und wenn sie eines hatten, dann brauchte es meist der Vater, um damit zur Arbeit zu fahren, und viele Mütter hatten nicht mal einen Führerschein, geschweige denn einen Zweitwagen. Auch die Busse, die heute direkt bis auf den Festplatz fahren, gab es damals noch nicht. Übrigens gab es auch noch keine Autobahn nach Pützchen.) Man mußte erstmal mit der klapperigen Straßenbahn über die - damals noch einzige - Bonner Rheinbrücke (die noch nicht nach Kennedy benannt war, denn der war noch nicht ermordet, ja noch nicht mal zum US-Präsident gewählt worden :-) auf die "Schäl Sick" fahren, und dann vom Bahnhof Beuel aus zu Fuß weiter gehen, die Maarstraße entlang - sprich mehr oder weniger querfeldein - bis zur Marktstraße von Pützchen; und dann - aber nur dann, d.h. wenn man von Süden kam - stand man irgendwann direkt vor dem Brunnen und sah die Adelheidiskirche. Doch je nach Sonnenstand konnte es vorkommen, daß man sie kaum wahrnahm, obwohl sie nur 50 Schritte entfernt lag und liegt. (Man hat sie nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg dankenswerterweise in der alten Form und an der selben Stelle wieder aufgebaut.)

Dabei ist das noch die Schokoladenseite - Ihr werdet Dikigoros zugeben, daß das Gebäude kaum "getarnt" ist. Ganz anders ist aber der Eindruck, wenn Ihr Euch der Klosterkirche aus einer anderen Himmelsrichtung nähert - und das wird wohl bei heutigen Reisenden die Regel sein: Entweder sie kommen vom Flughafen Köln-Bonn oder vom ICE-Bahnhof Siegburg oder von der A 59. Wenn letztere dabei aus dem Süden kommen, nähern sie sich Pützchen wie die Flug- und Bahnreisenden (die ein Taxi oder einen Mietwagen nehmen müssen, denn zwischen Siegburg und Bonn gibt es keine Bahnverbindung, nur eine S-Bahn, und die fährt weit an Pützchen vorbei) zwangsläufig von Nordosten, denn idiotischerweise gibt es zur Autobahnauffahrt "Bonn-Beuel-Pützchen" in Nordrichtung keine Autobahnausfahrt; man muß also bis zur Ausfahrt Sankt Augustin weiter fahren, von dort die B 56 nach Osten nehmen, und nach ca. 1 km trifft man dann auf die Siegburger Straße, die einen wieder nach Südwesten führt. Und Dikigoros geht jede Wette ein: Egal ob Parsifal am Steuer eines modernen Wagens oder auf dem Rücken eines von Ritter Ither erbeuteten Pferdes säße - er würde an dem kleinen Waldweg vorbei brausen, an dessen Eingang nur zwei belanglose Schilder ("Karmeliterstraße" und "Einbahnstraße") hängen, denn die Adelheidiskirche ist jeglichen Blicken aus dieser Richtung entzogen durch den traurigen Rest des letzten kleinen Stadtwaldes weit und breit; man ist nur 100 m entfernt und findet sie trotzdem nicht, wenn man nicht genau weiß, wo sie liegt; selbst wenn man jenen Waldweg bis ans Ende fährt, ahnt man nichts, denn die letzten 20 m sind Fußgängerzone, und erst wenn man die zuende gegangen ist und um die - nicht als solche kenntlich gemachte - alte Klostermauer biegt, sieht man die Kirche.

[Nachtrag. Neben dem halben Autobahnkreuz, das Euch Dikigoros oben abgebildet hat, ist aus dem nie beseitigten Bauschutt, der sich dort aufgetürmt hat, im Laufe der Jahrzehnte ein von Unkraut bewachsener Hügel entstanden, wo man inzwischen sogar etwas GestrüppGesträuch angepflanzt und ein paar "Wanderwege" angelegt hat. (Im Volksmund heißt er trotzdem noch immer "Monte Scherbelino" ;-) Von oben hat man einen herrlichen Rundblick über das ganze rechts- und linksrheinische Bonn, incl. all seiner Kirchen - mit einer Ausnahme: der von Pützchen, selbst wenn man ganz genau weiß, wo sie sich befindet. Und das liegt nicht etwa daran, daß sie im toten Winkel läge - nein, sie ist einfach unsichtbar! Nachtrag Ende.]

Und wenn man auf der A 59 von Norden kommt? Dann gibt es eine Abfahrt nach Pützchen; und mit etwas Glück kommt man auch auf die Idee, daß die Straße "Am Herz-Jesu-Kloster" zur Klosterkirche Sankt Adelheidis führen könnte. (Die finden vielleicht auch Parsifal & Co., nachdem sie den Waldweg übersehen haben; nun können also alle gemeinsam weiter suchen :-) Nachdem unsere Reisenden glücklich den Rest einer alten Viehweide/Pferdekoppel (sie fiel dem Autobahnbau zum Opfer), eine Tennishalle und den Frauencomputerclub e.V. passiert haben, gelangen sie an die Kreuzung "Pützchens Chaussee" und sehen von der Adelheidiskirche... nichts! (Entfernung: wieder ca. 100 m :-) Schilder gibt es keine, d.h. doch, eines; es verrät uns, daß es links zum Freibad geht. Rechts ist nichts, also fahren wir erstmal geradeaus und landen... beim Freibad. Also zurück und rechts abgebogen. Dort gelangen wir nach ca. 1 km erst zum Puff, pardon, zum "Club 56" (dort wird Amfortas gewiß nicht baden - aber von auswärtigen GralssuchernReisenden, die sich in Bonn und Umgebung verfahren haben, wird man öfters nach jenem "Club" gefragt :-), dann zum Autofriedhof, pardon, das ist ja das Ausstellungsgelände eines Gebrauchtwagenhändlers! Schräg gegenüber befindet sich ein Autoparkplatz, der gehört zum Supermarkt, und wenn man dort eine der alten Hexen an den Kassen (wahrscheinlich hat sich Kundry gleich in mehreren re-inkarniert :-) fragt, dann schicken die einen den ganzen Weg wieder zurück. Man fährt also auf "Pützchens Chaussee" gen Osten, am "Brunnenweg" (der direkt zur Kirche führt :-) unbemerkt vorbei (logisch - er ist ja für Autos gesperrt), und wenn man an der Kreuzung zur Marktstraße Pech hat, steht die Ampel auf grün, und man braust durch bis Niederholtdorf. Spätestens dort gibt man die Suche dann wohl auf, nimmt sich ein Hotelzimmer und am nächsten Morgen einen Bus zum Festplatz. Wenn man dagegen an der Kreuzung Glück hat, steht die Ampel auf rot; man wirft vielleicht aus Langeweile einen Blick nach schräg hinten links (vielleicht auch nicht - dann hat man wieder Pech gehabt :-) und entdeckt dort endlich - die Gralsburg, pardon, die Adelheidiskirche. (Nach links abbiegen darf man dann zwar eigentlich nicht mehr; aber man kann ja mal kurz über die Tankstelle an der Ecke fahren und dort wenden :-) Parkplätze gibt es dort zwar nicht (und das ist ja auch gut so :-), aber etwas weiter, beim Altenheim... für das man selber schon bald reif ist, wenn man endlich hin gefunden hat. (Leider ist es nicht nach Wolfram von Eschenbach benannt, sondern nach dessen Zeitgenossen Albert von Bollstädt alias "Albertus Magnus"; und seine Insassen können nur davon träumen, so gut betreut zu werden wie Amfortas.) Glaubt Ihr immer noch, liebe Leser, daß sich Wolfram die verzweifelte Suche Parsifals nach dem Waldkloster Muntsalvaesche bloß ausgedacht hat? Exkurs Ende.

Die Geschichte des historischen Parzivâl ist kein "Bildungsroman"; denn in Wahrheit hat sich bei ihm gar nichts "entwickelt" - das ist bloß eine nachträgliche Interpretation frommer Pädagogen. Parzivâl war von Anfang bis Ende ein braver, gelehriger Schüler, der immer schön seinen Lehrer[inne]n gefolgt ist und zunächst bloß das Pech hatte, daß das Gelernte - wie so vieles, was wir bis heute auf der Schule lernen, insofern ist diese Geschichte durchaus nicht "überholt", sondern im Gegenteil hoch aktuell! - auf die Situationen, vor die ihn das Leben stellte, nicht paßte: Seine Mutter hat ihn gerade nicht zum Ritter erzogen, sondern zum Jäger, deshalb nimmt er keine falsche Rücksicht auf chevalereske Gepflogenheiten, sondern tötet hochnäsige Ritter mit der gleichen Unbekümmertheit wie hochfliegende Schwäne - und das ist einigen Leuten nicht recht. Dann erzieht man ihn doch zum Ritter und bringt ihm bei, keine dummen Fragen zu stellen, wenn er einen Kranken sieht. (Das gilt heute noch: Es ist unschicklich, jemanden nach seinen offensichtlichen Gebrechen zu fragen! Dabei ist der Betreffende doch meist froh, wenn er jemandem sein Leid klagen kann, ob gefragt oder ungefragt - begebt Euch mal in das Wartezimmer einer beliebigen Arztpraxis! "[Mit]Geteiltes Leid ist halbes Leid", sagt das Sprichwort, und da hat es Recht.) Aber auch das kommt nicht an. Und schließlich bringt ihm jemand bei, daß er in diesem einen Falle - dem des Amfortas - eben doch fragen soll. Er gewinnt diese Einsicht eben nicht durch einen inneren Reifungsprozeß oder kommt sonst irgendwie von selber drauf, sondern er macht wieder nur brav das, was ihm sein nächster Erzieher beigebracht hat. Eigentlich, liebe Leser, ist der historische Parzivâl als Person völlig uninteressant - kein Vergleich mit seinem Vater Gahmuret (über den Dikigoros an anderer Stelle etwas ausführlicher schreibt), den Rittern von König Arthurs Tafelrunde oder auch nur einem anderen Ritter von der Gralsburg. Und auch Wagner - der ihm wenigstens die Taten Ritter Gawans zugeschrieben hat - hat es nicht vermocht, daran etwas zu ändern, im Gegenteil: Er hat auch noch die Geschichte drum herum banalisiert bis ins Lächerliche. Wolfram von Eschenbach - der ja schon über die Bearbeitung von Crestien de Troyes entsetzt war - hätte sich im Grabe umgedreht...

* * * * *

Das wars also. Hat "Richard Wagner" gefunden, was er im Leben gesucht hat? Wonach hat er denn bis zuletzt gesucht - mal abgesehen von der Gralsburg und dem Schloß von Klingsor/Klinschor? Frauen hatte er immer mehr als genug, Geld am Ende auch, dto ein schönes SchloßHaus und sogar einen gewissen Ruhm. Aber das reichte ihm nicht. Was er statt dessen gewollt hätte? Ihr werdet es nicht glauben, liebe Leser - oder doch, wenn Ihr nach allem, was Ihr hier gelesen habt, seine Werke weniger überschätzt als die Nachwelt das vielfach getan hat, und ihn von der Figur des "großen Meisters" wieder herunter holt auf das tatsächliche, ganz banale Niveau seiner "Helden". Ihr braucht nur mal zu lesen, was er sich auf seinen Grabstein setzen lassen wollte, dann wißt Ihr die Antwort: einen Adelstitel, einen Orden und/oder wenigstens einen Doktorgrad!

[Wagner im Februar 1883, kurz vor seinem Tode; Zeichnung Paul v. Joukovsky] [Wagners Totenmaske] [Wagners Büste]

"Hier liegt Wagner, der nichts geworden,
nicht einmal Ritter vom lumpigsten Orden;
nicht einen Hund hinter'm Ofen entlockt' er,
Universitäten nicht 'mal 'nen Doktor." (R.W., 1864)

[Wagners Grab in Bayreuth]

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