EXKURS II: NATIONALHELDEN
Abraham Goldfaden (1840-1908)

[Goldfadn] [Goldfadn]

EIN KAPITEL AUS DIKIGOROS' WEBSEITE
DIE BRETTER, DIE DIE WELT [BE]DEUTEN

Da Dikigoros in diesem Exkurs einen Theaterdichter vorstellen will, der sich befleißigt hat, vor allem die "Nationalhelden" seines Volkes auf die Bühne zu bringen, muß er vorab kurz auf einige Fragen eingehen, z.B. ob "die" Juden ein Volk sind. Er hat diese Frage bereits an anderer Stelle verneint, aber er will hier noch einmal klar stellen, daß er damit nicht Koestler & Co. folgt mit ihrer albernen - und durch genetische Untersuchungen inzwischen widerlegte - These, daß die "Ostjuden" in Wahrheit nur konvertierte Chasaren seien. Richtig ist, daß die "Ostjuden" - oder, wie sie sich selber nennen, "Aschkenasim" die eigentlichen, "richtigen" Juden waren, die im Laufe der Zeit eine eigene Kultur und eine eigene Sprache aufgebaut hatten. Ja, das Jiddische war ein deutscher Dialekt, aber einer, der sich doch wesentlich vom "Mittelhochdeutschen" unterschied, und erst recht vom "Hochdeutschen", während das "Ladino" der "sephardischen" Westjuden nichts weiter war als eine Mischung iberischer Idiome, die jeder Galizier (West-Galizier, liebe Leser, nicht Ost-Galizier, in Halitschina lebten Aschkenasim!) noch heute problemlos lesen und verstehen kann, wie die Sephardim sich überhaupt dadurch auszeichneten, lediglich von ihren Wirtsvölkern zu schmarotzen, pardon, deren Kultur zu übernehmen. Leider haben die Zionisten (die in ihrer ganz überwiegenden Mehrheit Aschkenasim waren) sich in den 1920er Jahren (also längst, bevor in Deutschland die Nazis an die Macht kamen und begannen, die Juden zu bekämpfen, was denen ja ein Grund gewesen sein könnte, sich von dem "deutschen Dialekt" zu verabschieden) beschlossen, keine der beiden vorgenannten Sprachen für den neuen Staat "Israel" einzuführen, sondern die alte Sprache ihrer heiligen Bücher, das "Hebräische", einen semitischen - also dem Arabischen verwandten - Dialekt. Eine schlimme Fehlentscheidung, die sie von den letzten fast zweitausend Jahren ihrer eigenen Kultur abschnitt. Dikigoros will sich an dieser Stelle längere Ausführungen verkneifen über die Definition von "Völkermord" durch die UN-Charta, u.a. durch Auslöschung der kulturellen, insbesondere sprachlichen Identität, und die Frage, ob dieser geistige Völkerselbstmord der Juden nicht schlimmer war als der fysische "Holocaust" zwei Jahrzehnte später, der so einmalig nicht war, wie man ihn uns immer hinzustellen sucht. (Es gab auch andere Völker und Zeiten, in denen die Juden verfolgt, vertrieben und getötet wurden, und zwar wesentlich gründlicher, wir werden gleich darauf zurück kommen.) Aber dieser gewaltsame Sprachenwechsel war tatsächlich einmalig in der Weltgeschichte. [Die "Katharewusa", welche die Griechen im 19. Jahrhundert als Amtssprache einführten, war zwar auch eine "tote" Sprachstufe, aber keine, die sich von den gesprochenen Dialekten wesentlich unterschied; wer sie erlernte, konnte auch die letzteren problemlos lesen und verstehen und außerdem die biblischen Texte des "Neuen Testaments" lesen - sie schnitt also niemanden von der eigenen Kultur ab, sondern diente vielmehr als Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart.] Insofern könnte man fragen, was den Juden heute noch jemand sagt, der seine Werke überwiegend auf Jiddisch geschrieben hat, das heute zur "toten" Sprache geworden ist. Die Antwort ist: Es gibt ja Übersetzungen; und in diesem Falle paßt es sogar, seine Stücke ins Hebräische zu übersetzen, denn seine "Helden" sind ja ebenso alt wie jene Sprache, es sind also - um auf die Eingangsfrage zurück zu kommen - die Helden "der" Juden, bevor sie sich in "Aschkenasim" und "Sephardim" trennten. [Nein, liebe Leser, die Ihr jetzt einen Blick in Euren "historischen" Schulatlas geworfen habt, die Grenzen des alten "Israel" und des alten "Judaea" waren keine völkischen, sondern politische; in beiden Staaten lebten Juden!]

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Aber so ist das eben: Wie Dikigoros bereits an anderer Stelle geschrieben hat, ist es der Nachwelt meist viel wichtiger, daß jemand sein Blut als "Martyrer" (die Nazis gebrauchten dafür das ganz ausgezeichnete Wort "Blutzeuge", das der große Sprachschöpfer Philipp von Zesen bereits im 17. Jahrhundert erfunden hatte - aber nach 1945 wurde es geächtet, und inzwischen ist es fast völlig außer Gebrauch geraten) vergossen hat als daß er auch erfolgreich war. Die "Heldentaten" eines Judas Makkabäus und eines Bar Kochba haben sich für das jüdische Volk in etwa so segensreich ausgewirkt wie rund 2.000 Jahre später die "Heldentaten" eines Adolf Hitler für das deutsche (aber darüber schreibt Dikigoros an anderer Stelle). Und damit genug der Vorrede.

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Mai 1881, Odessa. Sagt Euch das etwas, liebe Leser? Na klar: Zweitgrößte ukraïnische Stadt, Schwarzmeer[flotte], Panzerkreuzer Potëmkin... Falsch - Dikigoros hat nicht umsonst das Jahr dazu gesetzt, und da war alles ganz anders: In Odessa lebten kaum Ukraïner, sondern überwiegend Griechen und Juden, und der besagte Panzerkreuzer war noch gar nicht gebaut. Bis 1870 hatte Rußland überhaupt keine Kriegsschiffe im Schwarzen Meer haben dürfen, denn es hatte den Krimkrieg verloren gegen eine Koalition, die Kaiser Napoléon III von Frankreich zustande gebracht hatte. Dann hatte der Tsar mit dem preußischen Ministerpräsidenten Bismarck - der zuvor Gesandter in Sankt Peterburg war, ihn also auch persönlich gut kennt - folgendes Arrangement getroffen: Rußland wahrt wohlwollende Neutralität im deutsch-französischen Krieg; und dafür darf es wieder Kriegsschiffe im Schwarzen Meer stationieren. Frankreich verliert den Krieg, England macht zähneknirschend gute Miene zum bösen Spiel, und die Türkei hat eh nichts zu sagen; also werden wieder russische Kriegsschiffe für das Schwarze Meer gebaut - aber eine Flotte ist das noch lange nicht, geschweige denn eine von schweren Panzerkreuzern wie dem "Potëmkin". Ein Jahr nach Wiedergründung des Deutschen Reichs ist "Kapital" erschienen, die russische Übersetzung des Werkes eines deutschen Juden aus Trier hat (es handelt sich um den ersten Band, den er tatsächlich noch selber geschrieben hat, die späteren stammen von seiner Tochter Tussi :-); es hat anstandslos die ach so gefürchtete tsaristische Zensur passiert, ebenso das ein Jahr später erschienene Werk eines gewissen Bakunin über "Staatlichkeit und Anarchie". Wieder zwei Jahre später haben jüdische Intellektuelle in Odessa den "Bund" gegründet, der sich wenig später offiziell in "Südrussischer Arbeiterbund" umbenennt, als sich in Sankt Peterburg ein ähnlicher Bund unter dem Namen "Nordrussischer Arbeiterbund" gründet. "Arbeiter" finden sich freilich weder hüben noch drüben unter den Mitgliedern - die können meist nicht lesen, und so geht die Saat der Marx, Engels und Bakunin nur unter der "Intelligentsia" auf, in der wiederum die Juden überproportional vertreten sind. Wohlgemerkt: sie sind keine Radikalinskis, wie diese Typen vom "Völkischen Willen" [in Übersetzungen findet Ihr, liebe deutsche Leser, das meist als "Volkswille" wieder, weil auch das Wort "völkisch" seit 1945 in Deutschland verpönt ist; aber der Originalname lautet nicht "wolja naroda", sondern "narodnaja wolja"]; die wenigen Juden, die in seiner Vorgänger-Organisation "Land und Freiheit" [darf Dikigoros die Nicht-Slawisten, die auch die erste Bildunterschrift in Sonnenblumen und Schwarzer Ginster nicht gelesen haben, darauf hinweisen, daß das Wort "wolja" sowohl "Wille" als auch "Freiheit" bedeuten kann, ebenso "Willkür" wie "Gewissens- und Gedankenfreiheit"? Es ist eine der interessantesten und für die Kenntnis des russischen Charakters, der "russischen Seele" ("Duschá") aufschlußreichsten Vokabeln der russischen Sprache] mitgewirkt hatten, haben sich 1879 von ihnen abgewendet, allen voran der spätere gemäßigte Menschewiken-Führer Paul Axelroth.

Aber wie das so ist: Als im März 1881 Tsar Aleksandr II einem Bombenattentat der "Völkischen" zum Opfer fällt, sucht Volkes Stimme die Schuldigen wo? Richtig: bei "den" Juden. Ausgedehnte Pogrome sind die Folge; im Mai 1881 erreichen sie auch Odessa. Nein, sie führen ebenso wenig zu einer Auslöschung des Judentums wie die Ereignisse gut 60 Jahre später in Deutschland; aber wer Ohren hat zu hören, ahnt schon, daß das auf die Dauer nicht gut gehen kann. 1882 gründen voraus schauende Juden um den Odesser Arzt Lew Pinsker die "Orthodoxe Palästina-Gesellschaft" (ganz legal, mit offizieller Genehmigung und sogar Unterstützung des neuen Tsaren), welche die Heimkehr der Juden aus aller Welt nach Palästina, ins alte "Erez Israel", auf ihre Fahnen schreibt, lange bevor der ungarische Jude Theodor Herzl 1896 unter dem Eindruck des zunehmenden Antisemitismus vor allem in Frankreich (wo gerade die "Affäre Dreyfus" Schlagzeilen macht) das Buch "Der Judenstaat" veröffentlicht - wobei Herzl sich übrigens gar nicht auf Palästina festlegt, sondern sich z.B. auch Madagaskar als neue Heimat der Juden vorstellen könnte. Der Zuspruch derer, die es angehen sollte, ist zunächst erschreckend gering: Viele russische Juden wissen kaum noch etwas von ihrer alten Heimat - da muß man Propaganda im besten Sinne des Wortes machen. Goldfaden ist dabei: Genau zwei Jahre nach dem Pogrom vom Mai 1881 bringt er im jiddischen Theater von Odessa sein erstes wirklich großes Werk auf die Bühne: "Bar Kochba".

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Aber schon im September 1883 wird das jiddische Schauspielhaus in Odessa zwangsweise geschlossen; und für Goldfaden beginnt eine Odyssee, die selbst unter Theaterleuten ihres gleichen sucht - und wenn Ihr das vorauf gegangene Kapitel dieser "Reise durch die Vergangenheit" gelesen habt dann wißt Ihr, daß nicht einmal Richard Wagner so viel herum gekommen ist wie sein ihm unbekannter Kollege aus Odessa - und das will etwas heißen.
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Judas Makkabäus.
Wen hätte der nicht fasziniert? Von Händel bis Bodorova - und demnächst will angeblich sogar Mel Gibson sein Leben verfilmen.

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[Der Hafen von Odessa - Gemälde von W. Kandinskij, 1898]

Juni 1905, Odessa. Sagt Euch das etwas, liebe Leser? Na klar: Rußland liegt mitten im Krieg gegen Japan, und inzwischen ist auch der berühmte Panzerkreuzer "Potëmkin" in Dienst gestellt, auf dem nun auch endlich die Meuterei ausbricht, die ihn so berühmt gemacht hat. Aber was geht das die Juden an? Eben, gar nichts. Innenpolitisch herrscht Tauwetter. Tsar Nikolaj hat - unter dem außenpolitischen [Ein-]Druck der militärischen Niederlagen in Fernost - voll auf liberale Reformen gesetzt; und dazu zählt auch ein neues Toleranz-Edikt für die Juden. Aber wie das so ist: Papier ist geduldig, die Masse des russischen Volks kann eh noch immer nicht lesen; und wenn sie es könnte, wäre es ihr auch egal. Wer ist schuld am verlorenen Krieg, an der Inflation, der Hungersnot und der weiteren Verarmung? Etwa die roten Revolutionäre, die der Front in den Rücken gefallen sind (ohne daß damals schon jemand auf die Idee gekommen wäre, das als "Dolchstoß" zu bezeichnen - obwohl es unzweifelhaft einer war)? Aber nicht doch, sondern... Richtig: wieder mal "die" Juden. In ganz Rußland kommt es zu spontanen Pogromen, und diesmal sind sie weit schlimmer als die von 1881, denn sie halten das ganze Jahr über an, vor allem in Ostpolen und der Ukraïne. (Dikigoros betont das ausdrücklich, schon um nicht in der Verdacht zu geraten, einseitig gegen die Russen voreingenommen zu sein.) Und immer noch läuft die Aktion "Aussiedlung nach Palästina" nicht in dem gewünschten Umfang. Goldfaden rafft sich auf seine alten Tage noch einmal zu einem großen historischen Drama auf: "König David im Krieg". Und diesmal schreibt er es auf Russisch - damit seine Glaubensbrüder, die kein Jiddisch mehr können, es auch ja alle verstehen.

König David gilt als der Begründer des jüdischen Nationalstaats, der "Wiedervereiniger" von Israel und Judäa, gewissermaßen der Helmut Kohl der Juden - und in etwa dessen Qualitäten hatte er auch, wenn man es mal etwas genauer nachliest. Aber die Geschichtsschreibung hat über die [Un-]Taten beider den barmherzigen Mantel des Schweigens gelegt, so daß am Ende nur lobhudelnde Herrlichkeit übrig blieb. Das ganze Mittelalter über - und noch weit bis in die Neuzeit hinein - galt König David nicht bloß in der jüdischen, sondern auch in der christlichen Welt als der König schlechthin, als Muster an Weisheit, Gerechtigkeit und Milde - die Herrscher des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nationen trugen sein Bildnis in ihrer Krone; und die britischen König ließen sich auf dem "Stein von Scone" krönen, weil sie glaubten, daß auf dem auch schon König David gekrönt worden sei. Und selbst in der so unchristlich gewordenen Gegenwart des einstmals christlichen Abendlandes ist König David noch jedem Kind präsent, selbst wenn es statt der Bibel nur noch Mark Twain gelesen hat, genauer gesagt die Geschichten von Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Erinnert Ihr Euch an das Kapitel, in dem der böse Bube, der sich die Fleißkärtchen beim Katechismus-Unterricht bloß ergaunert hat, vom Superintendenten (oder war's der Schulrat?) gefragt wird: "Kannst Du mir denn auch die zwölf Apostel Jesu nennen?" Und als er verneint, die Nachfrage kommt: "Oder wenigstens zwei davon?" Was antwortet er? Richtig: "David und Goliath!" Hand aufs Herz, liebe Leser, vor allem liebe jüngere Semester, bekommt Ihr noch mehr als eine Handvoll Geschichten aus dem Alten Testament zusammen? Schaun wir mal: Eva und die Schlange, Noah und die Arche, Jonas und der Walfisch, Samson und Delilah, Kain und Abel. (Obwohl das, nebenbei bemerkt, keine historischen Ereignisse sind, sondern nur mythologische, wenngleich sie einen realen Kern und durchaus auch einen symbolischen Sinn haben mögen, aber das haben auch andere Märchen.) Aber wir wollen besser nicht nachprüfen, wie genau Ihr sie kennt: Hat z.B. Kain den Abel erschlagen oder Abel den Kain, und warum und wozu? Wer von denen war gleich BauerLandwirt und wer HirteViehzüchter? Aber David - das wißt Ihr sicher alle noch - war Hirte, jedenfalls ursprünglich. Dann wurde er Soldat und erlegte den Goliath. (Der war übrigens kein "Riese", das hat Luther bloß falsch übersetzt.)

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