REVOLUTION IM KINO
VON SCHIFFEN UND TREPPEN,
MACHERN UND MASSEN,
MÄNNERN UND MADEN

Sergej M. Äizenschtejn, Bronjenósets Potëmkin
(Sergej M. Eisenstein, Panzerkreuzer Potjomkin)


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EIN EXKURS AUS DIKIGOROS' WEBSEITE
DIE [UN]SCHÖNE WELT DER ILLUSIONEN

Nanu, was ist denn das für ein merkwürdiger Exkurs? Wollte sich Dikigoros bei dieser "Reise durch die Vergangenheit" nicht auf Filme beschränken, die "Geschichte gemacht" haben, noch dazu mit Schauspielern, die das Bild der Zuschauer von historischen Persönlichkeiten auf die eigene Person geprägt haben? Und da nimmt er sich hier einen Film vor, der nicht nur die Geschichte erst im Nachhinein aufarbeitet (und verfälscht - aber das wäre nichts besonderes), sondern überhaupt keine tragenden Rollen hat (anders als etwa zwei andere berühmte Machwerke des selben Regisseurs, "Aljeksandr Njewskij [Alexander Nevski]" und "Iwán Grozny [Iwan der Schreckliche, wörtlich der Grausame]")? Ist das wieder so eine Schnapsidee seiner filmverrückten Frau? Nein, da kann Euch Dikigoros beruhigen: Seine Frau hält von den russischen Filmen des 20. Jahrhunderts etwa so viel wie von den russischen Romanen des 19. Jahrhunderts oder von russischer Musik, nämlich gar nichts (ein Erbteil ihrer Mutter, die von ihrer Heimat, aus der sie Ende 1944 als Volksdeutsche vertrieben wurde, immer nur verächtlich als "Russisch-Polen" sprach - womit für sie klar war, wer für alles Übel in Polen verantwortlich war); sie hat sich auch nie die Mühe gemacht, die Sprache zu erlernen und war nur ein einziges Mal mit ihrem Mann dort - das hat ihr gereicht. Gleichwohl sind die Eingangsfragen berechtigt - darf Dikigoros ihre Beantwortung gleichwohl noch einen Augenblick zurück stellen? Er möchte dem geneigten Leser nämlich vorab einige Kleinigkeiten erklären. Nein, nicht die Aussprache von "Potëmkin" - das tut er an anderer Stelle -, auch nicht die Schreibweise des Regisseurs (er hält die jiddische Form "Eisenstein" für richtig; aber die Russen schreiben nun mal "Äzenschtejn", wie man oben auf dem letzten Filmplakat [links unten] sehen kann), sondern die Sache mit dem Gürteltier, das in jüngster Zeit wieder das Interesse der Wissenschaft geweckt hat, weil sein Panzer der einzige in der Natur zu sein scheint, der selbst dem Angriff der gefürchteten "Killer-Ameisen" widersteht, deren einziger Freßfeind er daher ist.

[das 'bronzenäserne' Gürteltier, 
Namensgeber der russischen Panzerkreuzer] ['Stapellauf']

"Bronzenäserner" nennen die Russen das Gürteltier; und so nannten sie auch ihre ersten gepanzerten Schlachtschiffe, die Panzerkreuzer. [Kleiner Exkurs für Slawisten: Ein aufmerksamer Leser dieser Seite hat darauf hingewiesen, daß man "Bronjenósets" etymologisch auch von "Panzerträger" ableiten kann, was doch viel vernünftiger sei. Das mit dem Ableiten stimmt; aber mit dem "vernünftiger sein" im Sinne von "mehr Sinn machen" ist sich Dikigoros nicht so sicher: Zunächst einmal kommt auch das russische Wort für Panzer[ung], Bronjá, von Bronze - deren Gebrauch halt älter ist als der von Eisen, weshalb die Russen das selbe Wort auch für das gebrauchen, was die Deutschen "Eiserne Ration" nennen (auch schon vor Erfindung der Konservenbüchsen, in die sie heute meist verpackt ist :-). Dem steht nicht entgegen, daß Bronze im Russischen "Brónza" heißt, denn es ist eine Doppelentlehnung - wie sie übrigens auch das Deutsche hat: Im 16. Jahrhundert importierten wir dieses Wort aus dem Italienischen, verhunzten es aber zu "Branze" und gaben es offenbar so an die Russen weiter ("Bronja" spricht sich "Branja" aus). Später entlehnten wir - Deutsche und Russen - das Wort noch einmal aus dem Französischen, und da wurde es halt zu "Bronze" bzw. "Bronza". Im Deutschen verschwand die ältere Form; im Russischen blieben beide Formen in unterschiedlicher Bedeutung erhalten. "Nosets" kann sowohl von "Nase" (Nos) als auch von "tragen" (nosít') kommen; aber erstens bedeutet letzteres eher etwas in der Hand tragen (englisch "to carry") als ein Kleidungsstück oder eine Rüstung (englisch "to wear", russisch "chodit' w", wörtlich "einhergehen in" - ein Unterschied, den das Deutsche nicht macht und der deutschen Lesern daher bisweilen schwer zu vermitteln ist); zweitens gibt es schon ein anderes Wort für Träger, das unzweifelhaft von "nosit'" abgeleitet ist, nämlich "nosítel"; und drittens sträubt sich Dikigoros' Sprachgefühl einfach dagegen, das betonte "o" in "nosets" von dem unbetonten "a" in "nosit'" statt von dem betonten "o" in "nos" abzuleiten. (Ja, es gibt den "pismonósets", den "Brief-Träger"; aber das ist mit Verlaub Lübke-Russisch; Dikigoros hat auf der Schule "Potschtaljón" - eine Verballhornung des französischen "Postillon" - gelernt, und dabei bleibt er, auch wenn die neueren Wörterbücher es als "veraltet" bezeichnen.) Aber mit der Etymologie ist das oft so eine Sache, und man sollte sich vielleicht weniger von der Sprachgeschichte als von der tatsächlichen Bedeutung leiten lassen. Und da muß man sehen, daß "nos" im Russischen nicht nur die Nase des Menschen, sondern auch die des Schiffes ist, der Bug, und daß die erste "Panzerung", die es schon seit der Antike an Holzschiffen gab, der "eherne" (also bronzene) Bugsporn war, mit dem feindliche Schiffe gerammt und versenkt werden sollten. (Noch die in Südamerika bis heute berühmte Seeschlacht von Iquique anno 1879 wurde so entschieden, aber das ist eine andere Geschichte.) Und im 16./17. Jahrhundert, als die Ritterrüstung auch in Rußland außer Gebrauch gekommen war, hielt sich dort immer noch, als deren letztes Überbleibsel, der metallgeschützte Latzhalter - wie fast überall in Europa (nicht nur auf dem Kontinent, sondern auch in England und seinen Kolonien, wo er "Codpiece" genannt wurde :-) -, und zwar unter der Bezeichnung "Bronjá" oder "Bronjenósets". Und das Gürteltier? Ja, das ist am ganzen Körper "gepanzert"; aber zuallererst steckt es doch seine Nase in den Ameisenhaufen, so daß es auf deren Panzerung in erster Linie ankommt. Alles nicht gar so wichtig - deshalb ist es ja auch nur ein Exkurs -, aber irgendwie doch interessant, oder? Und da Dikigoros weiß, daß sich einige Leser für Etymologie weder interessieren noch sich von ihr überzeugen lassen, trägt er noch nach, daß man auch in der Kaiserliche Marine des Deutschen Reichs die ersten Panzerkreuzer noch als "Gürtelpanzerkreuzer" bezeichnete - offiziell zwar nicht nach dem Gürteltier, sondern weil die Panzerung nur rund um die Außenwände verlief, wie ein Gürtel, während das Deck gegen Einschläge von oben ungeschützt blieb, aber man weiß ja, daß solche Bezeichnungen gerne "rückbegründet" werden. (Dikigoros hat hier schon etwas mehr dazu geschrieben, unter dem Stichwort "marta" :-)]

Wie dem auch sei, damals, im Jahre 1905, als der Film spielt, waren gepanzerte Schiffe noch lange keine Selbstverständlichkeit. Die Idee war zwar nicht mehr ganz neu - aber so richtig überzeugt davon war erstmal niemand. 1845 hatte die britische Marine die Fregatte "Birkenhead" bauen lassen - die erste mit einem Eisenrumpf; aber schon 1852 lief sie auf ein Riff und soff ab. 1859 bauten die Franzosen "La Gloire", ein mit Panzerplatten verkleidetes Holzschiff; und 1861 hatten auch die Briten wieder eine neue Eisen-Fregatte, die "Warrior" - aber niemand traute sich, diese Dinger im Ernstfall als Kriegsschiffe einzusetzen. Das kam erst im amerikanischen Sezessionskrieg, als die "Virginia" alias "Merrimack" und andere "Ironclads" mit kämpften. Aber das waren Ausnahmen, Kuriositäten, bei denen sich einige noch immer wunderten, daß sie nicht von selber untergingen. Als der alte Bismarck wenige Jahre vor seinem Tode den Hamburger Hafen besuchte und dort neben hölzernen Segelschiffen auch eiserne Motorschiffe liegen sah, glaubte er, in einer anderen Welt gelandet zu sein, die nicht mehr die seine war. Gewiß, Ende der 1870er Jahre hatten die Russen versuchsweise einen ersten Panzerkreuzer mit dem Namen "Pjotr Wjelikij [Peter der Große]" gebaut, aber erst ein Jahrzehnt später legten sie ein richtiges Schiffsbau-Programm auf, und da die Russen halt nicht zu den schnellsten Arbeitern zählen, standen dem Tsar anno 1904, als der Krieg gegen Japan ausbrach, gerade mal ein Dutzend zur Verfügung, von denen die Hälfte zur Schwarzmeer-Flotte gehörte, der die Ausfahrt durch die Dardanellen versperrt war. Die beiden anderen russischen Flotten - die Pazifik-Flotte und die Baltikum-Flotte (zusammen immerhin die drittgrößte Seestreitmacht der Welt, nach der englischen und der französischen, vor der deutschen, der amerikanischen und der japanischen) - waren überwiegend alte Pötte, sprich hölzerne Segelschiffe (selbst die Motorschiffe führten noch Masten und Segel mit, denn man wußte ja nie, ob man unterwegs genügend Kohlen für die gefräßigen Maschinen bekam), deren Bewafffnung aus Vorderladern bestand, die mit Schießpulver Kanonenkugeln verschossen. Die Japaner - die nur wenige Kriegsschiffe hatten, die aber gut gepanzert und bewaffnet waren (mit modernen Schnellfeuer-Kanonen von Krupp, die Stahlmantelgeschosse mit Explosiv-Ladung verschossen) - brauchten jeweils nur ein paar Stunden, um diese Ansammlungen schwimmender Särge zu versenken, ohne selber ein einziges größeres Schiff zu verlieren. [Wenn Dikigoros jetzt schreibt, daß es deshalb ein Verbrechen war, die russische Flotte überhaupt gegen die japanische ins Gefecht zu schicken, werden ihm einige Neunmalkluge vielleicht entgegen halten, daß man hinterher immer klüger ist; aber hier ging es nicht um Hellsehen-können, sondern vielmehr um Kenntnis der jüngsten Kriegsgeschichte. Den Russen hätte bekannt sein müssen, daß die ruhmreiche spanische Flotte - ebenfalls aus alten Holzpötten mit Vorderladern bestehend - erst sechs Jahre zuvor, im Krieg gegen die USA 1898, das gleiche Schicksal erlitten hatte; aber darüber schreibt Dikigoros an anderer Stelle.]

* * * * *

Unterdessen hing die Schwarzmeer-Flotte, zur Untätigkeit verurteilt (merke: Müßiggang ist aller Laster Anfang!), vor Sewastopol herum, und die Stimmung war mies - nicht nur an Bord, sondern auch an Land. Im Kriegsjahr 1905 flackerten in Rußland allenthalben Streiks, Demonstrationen und Meutereien auf. Gründe dafür gab es genug: Der großen Masse des russischen Volkes war es schon immer ziemlich dreckig gegangen, auch ohne daß gerade Krieg herrschte. Die Lage hatte sich noch verschlimmert, seit der unselige Tsar Aleksandr II anno 1861 dem jahrelangen Drängen der Lobby seiner Großgrundbesitzer nachgegeben und die Bauernknechte "befreit" hatte. Eine tolle Befreiung war das: Die Großgrundbesitzer behielten das Land (es abzulösen hatten die "Befreiten" kein Geld), wurden aber von den sozialen Verpflichtungen befreit, die damals noch nicht der Sozialstaat, sondern halt die Gemeinschaft der großen Güter (so wie später der Kolchosen und Sowchosen) zu tragen hatte: Wenn ein "Leibeigener" alt oder krank wurde und nicht mehr arbeiten konnte oder wollte, mußte er dennoch weiter mit durchgefüttert werden - und seine Familie natürlich auch. (Ja, liebe Leser, es war nicht alles so einfach und schwarz-weiß mit den bösen Sklavenhaltern und den armen Sklaven, wie man uns das heute weis zu machen versucht, weder im alten Hellas noch im alten Rom, weder in Rußland noch in den USA - wo im selben Jahre 1861 der Bürgerkrieg begann, der sich vordergründig ebenfalls an der Sklavenbefreiung entzündet hatte.) Schluß damit - jetzt wurde "frei" gesetzt und rationalisiert. Rußland stieg zur Industriemacht auf (seine Zuwachsraten übertrafen in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg die aller anderen Staaten der Welt, auch die der USA und des Deutschen Reiches!), und die Zeche bezahlten die nicht mehr leibeigenen, sondern "frei" gesetzten Bauernknechte, die in die Städte abwandern mußten, wenn sie nicht verhungern wollten, und dort in den Fabriken als billige Arbeitskräfte (um nicht zu sagen Arbeitssklaven) verheizt wurden. Dieses Arbeiter-Proletariat bildete den Nährboden für marxistische Agitatoren (die sich damals - nicht nur in Rußland - "Sozial-Demokraten" nannten; ihre Keimzelle war der jüdische "Bund"). Diese Leute waren bereit, für ihre politische Überzeugung in den Tod zu gehen; sie hatten schon reichlich eigenes Märtyrer-Blut vergossen (und auch fremdes, u.a. hatten sie jenen Aleksandr II ermordet, der die Leibeigenen "befreit" hatte), wodurch ihre Sache immer stärkeren Zulauf erhielt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten sie ihre "Zellen" längst auch in der Flotte, vor allem unter den Besatzungen der großen Schlachtschiffe, denn das war die Elite (wenngleich die einfachen Matrosen noch immer überwiegend aus der bäuerlichen Bevölkerung der Ukraïne zwangsrekrutiert wurden): Der Panzerkreuzer "Fürst Potjomkin" war das modernste und stärkste Schiff der ganzen russischen Flotte, gerade erst in Dienst gestellt, mit einer Feuerkraft (vier 30,5-cm-Geschütze + sechzehn 15-cm-Geschütze), die allen anderen Einheiten der Flotte überlegen war - wer den hatte, der beherrschte praktisch das Schwarze Meer.

[Panzerkreuzer 'Katharina II' mit einem Mast und zwei Schornsteinen] [Panzerkreuzer 'Zwölf Aposteln' mit zwei Masten und zwei Schornsteinen - das Schiff, auf dem der Film 'Panzerkreuzer Potjomkin' gedreht wurde] [Panzerkreuzer 'Fürst Potjomkin' mit zwei Masten und drei Schornsteinen; die Flagge mit dem Andreaskreuz der tsaristischen Kriegsmarine wurde nachträglich durch die Rote Fahne der Revolution ersetzt]

Exkurs. Es sind immer die stärksten Schiffe einer Flotte, auf denen gemeutert wird - dieses Fänomen zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Seefahrt des 20. Jahrhunderts. Das ist nur logisch, denn andere könnten das Risiko, von stärkeren, nicht-meuternden Schiffen zusammen geschossen zu werden, doch gar nicht eingehen! Noch ein paar Beispiele gefällig - über die freilich keine berühmten Kinofilme gedreht wurden? (Nein, die 1954 verfilmte "Meuterei auf der Caine" [auf Deutsch: "Die Caine war ihr Schicksal"] hatte Herman Wouk frei erfunden; und die Geschichte der "Amistad" hat Steven Spielberg zwar erst 1997 verfilmt - übrigens mit bemerkenswertem Mißerfolg -, aber sie spielt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts; und die berühmte "Meuterei auf der Bounty" liegt noch ein paar Jahrzehnte weiter zurück. Außerdem war das auf der Amistad keine Meuterei, sondern ein Sklavenaufstand; denn "meutern" im Sinne der Definition kann nur die Besatzung, nicht die Ladung :-) Im November 1910 meuterten die Besatzungen der beiden mächtigsten Schiffen der brasilianischen Flotte, den Panzerkreuzern Minas Gerais und São Paulo. Sie verlangten höheren Sold und kürzere Arbeitszeiten (und natürlich Straffreiheit), und nachdem sie mit ein paar Salven aus ihren jeweils 12 Kanonen vom Kaliber 30,5 cm auf das Präsidentenpalais in Rio de Janeiro ihrer Forderung Nachdruck verliehen hatten, gab die Regierung nach - zum Schein. Anschließend ließ sie die Meuterer verhaften und auf eine Gefangeneninsel bringen, wo sie im Folgejahr jämmerlich verreckten. 1931 meuterten die Matrosen des mächtigsten Schiffes der chilenischen Flotte, des Panzerkreuzers Almirante Latorre, weil man ihnen inmitten der Weltwirtschaftskrise den Sold gekürzt hatte (wie allen anderen Soldaten, Beamten und sonstigen Staatsdienern in fast allen anderen Staaten der Welt übrigens auch). Andere Schiffe hatten sie nicht zu fürchten (ihr Kasten war sogar mit 35-cm-Kanonen bewaffnet); aber es gab schon eine Luftwaffe, und mit deren Hilfe wurde die Meuterei schnell beendet - eine Bombe knapp vor den Bug genügte, um die Besatzung zur Aufgabe zu bewegen. (Spätestens da hätten einige Schlafmützen in den Marine-Ministerien erkennen müssen, daß das Zeitalter der großen Panzerkreuzer und Schlachtschiffe zuende ging und die Zeit der Flugzeugträger anbrach - aber wer wer beachtete schon das kleine Chile da unten am Rande der Welt?) Kurzum, letztlich scheiterten alle diese Meutereien ebenso wie die auf dem Panzerkreuzer Potjomkin - warum? Gute Frage, liebe Leser, gute Frage. Wahrscheinlich, weil eine Flotte - und auch deren stärkstes Schiff - auf die Dauer nicht ohne Unterstützung von Land auskommen kann, es sei denn, die Besatzung wollte ein Piratendasein aufnehmen. Es benötigte also die Unterstützung vom Ausland her, d.h. es mußte einen ausländischen Hafen anlaufen können - und wo das möglich war, konnte eine Meuterei durchaus gelingen. Da Dikigoros gerade den Fall Minas Gerais und São Paulo erwähnt hat: Da wurde anno 1924 noch einmal gemeutert - und diesmal mit Erfolg, denn Uruguay öffnete den Meuterern aus dem verfeindeten Nachbarland den Hafen von Montevideo und gewährte ihnen politisches Asyl. Später, als die Tenentes (Leutnants) in Brasilien an die Macht kamen, erklärten sie die Meuterer zu ihren Brüdern im Geiste (die Meuterei wurde von Subaltern-Offizieren angeführt) und amnestierte sie. Exkurs Ende.

Die Panzerkreuzer waren also das Feinste vom Feinen, was Rußlands Streitkräfte zu bieten hatten, und entsprechend gut wurden sie auch versorgt. Moment mal, wird der aufmerksame Leser sagen, der den Film gesehen hat - hat nicht die Besatzung des "Potjomkin" gerade gemeutert, weil die Verpflegung und die Behandlung so schlecht war? Ach - war sie das? Wenn Ihr das glaubt, liebe Leser, dann glaubt es schön weiter und überspringt diesen und die nächsten beiden Absätze. Wenn Ihr dagegen nicht zu den Gläubigen, sondern zu den Wissenden zählt, dann wißt Ihr, daß die Gläubigen von falschen Voraussetzungen ausgehen, nämlich der Annahme, daß Menschen nur dann meutern oder revoltieren, wenn es ihnen dreckig geht, wenn sie nichts zu essen haben und/oder wenn man sie schlecht behandelt. Das ist ein schwer wiegender Irrtum. Menschen, die um das tägliche Brot kämpfen müssen, um das nackte Leben zu retten, haben andere Sorgen, als Revolution zu machen. Es gibt Völker, die brauchen die Knute, um ordentliche Leistungen zu bringen, insbesondere um arbeitswillig zu werden. Es gibt auch andere Völker, die keine Knute brauchen, weil sie zur Selbstdisziplin fähig sind (zum Beispiel die Japaner; einige glauben, daß auch die Deutschen dazu zählen; aber die waren entweder lange nicht mehr in Deutschland, oder "die" Deutschen haben sich von Grund auf geändert, was ja so verwunderlich nicht wäre bei der genetischen Veränderung in den letzten 50 Jahren - die von den Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg bewußt, um nicht zu sagen gewaltsam gefördert wurde) oder solche, bei denen der Einsatz der Knute sogar schädlich ist, weil sie gerne im Chaos leben und überhaupt nur so schöpferisch tätig sein können (zum Beispiel die Inder - was die Briten nie kapiert haben; manche glauben, daß auch die Malaiien dazu zählen, was die Holländer nie kapiert hätten, aber die waren entweder noch nie in Indonesien... nein, daran kann es nicht liegen; Dikigoros ist überzeugt, daß es bei den Malaiien völlig egal ist, ob man sie die Knute spüren läßt oder nicht, arbeiten tun die so oder so nicht ordentlich, und Amok laufen sie früher oder später mit und ohne Knute). Zu den ersten zählen nun einmal die Russen - auch wenn sie es nicht gerne hören (obwohl es durchaus schlimmere Eigenschaften gibt, nicht wahr, liebe deutsche Leser?!). Sieben Jahrzehnte Kommunismus haben den endgültigen Beweis erbracht, daß man mit den Russen machen kann, was man will, ihnen ihren Besitz, ihre Freiheit (ihre "Würde" - was immer das in den Augen eines Russen sein mag - sowieso), ihre Nahrung, ihre Kleidung, ja selbst ihr Leben nehmen kann - sie werden nicht dagegen aufmucken, solange man sie die Knute spüren läßt. Und russische Soldaten (und Soldatinnen - Millionen davon hat Stalin im Zweiten Weltkrieg verheizt, und hinterher waren es "die bösen Nazi-Deutschen, die wehrlose Frauen und Kinder ermordeten"!) werden so lange mit "Urrräää" ins Feuer der feindlichen Maschinengewehre laufen, wie hinter ihnen ein Kommissar mit Knute steht - oder bis sie tot sind. So ist das, und so wird das auch bleiben.

Was aber, wenn die Knute ausbleibt? Tja, liebe Leser, das ist so eine Sache. Es gibt Vorgesetzte, die brauchen keine Knute, weil sie eine natürliche Autorität haben, die von Alter und Dienstgrad unabhängig ist - es sind "Führernaturen" im besten Sinne des Wortes. Dikigoros hat in seiner eigenen Militärzeit nicht viele davon kennen gelernt - die meisten müssen sich und ihre Minderwertigkeits-Komplexe hinter ihrem Dienstgrad verstecken (selbst in Rot-China ist man inzwischen zu Uniformen mit Rangabzeichen zurück gekehrt!); aber er ist überzeugt, daß er in Rußland überhaupt keine kennen gelernt hätte. Das ist nicht weiter schlimm, wenn wenigstens die funktionale Disziplin wahr genommen wird, die besagter Dienstgrad verleihen soll. Wenn dagegen die Vorgesetzten die Zügel schleifen lassen, sich selber besaufen, die Knute im Rausch willkürlich, d.h. ohne Grund einsetzen und diesen ihren Dienstgrad auf mancherlei andere Art und Weise mißbrauchen (Korruption, Waffenhandel u.ä. sind bis heute eine Spezialität russischer "Offiziere"), dann darf sich niemand wundern, wenn der einfache Soldat bei solchen "Vorbildern" irgendwann einmal explodiert, so sich nur irgend jemand findet, der die Lunte ins Pulverfaß wirft. (Das kommt selten genug vor in Rußland - aber es kommt vor.) Peter der Große (der in den Westen gereist war) wußte nur zu gut, warum er ausländische, vor allem deutsche Offiziere ins Land holte - bis zum Ersten Weltkrieg war das russische Offizierskorps durch die Bank deutscher Abstammung, mit wenigen englischen, schwedischen und französischen Ausnahmen. Ja, es gab sogar einige wenige russische Ausnahmen. Eine derselben hieß Golikow und war - Kapitän auf dem "Knjas [Fürst] Potjomkin". (Das Schiff, Korábl [eine Verballhornung von Karavelle, was man eher an der Aussprache - "Karabell" - als an der Schreibweise merkt], ist im Russischen männlich, und das Gürteltier auch.) Erst ließ er das von Maden befallene Fleisch umständlich vom Schiffsarzt untersuchen und sich bescheinigen, daß es eßbar war - das glaubte dem doch kein Mensch von der einfachen Besatzung, zumal in der Offiziersmesse anderes Essen serviert wurde! (Ein guter Kapitän wäre mit gutem Beispiel voran gegangen und hätte selber davon gegessen - damit hätte er jedem Kritiker das Maul gestopft!) Dann drohte Golikow den "Meuterern", die sich weigerten, das (inzwischen auf Anraten des Schiffsarztes durch Abspritzen mit Wasser und Einreiben mit Essig von den Maden "befreite") Fleisch zu essen, mit Erschießung wegen Befehlsverweigerung. (War das wirklich Befehlsverweigerung im militärischen Sinne? Gewiß, auch Essen ist Dienst; aber die Matrosen verweigerten ja nicht die Nahrungsaufnahme an sich, sondern eben nur das Essen des besagten Fleisches; dafür konnte man schwerlich jemanden erschießen lassen - auch in der tsaristischen Marine gab es Gesetze, die der Kapitän hier willkürlich mißachtete!) Dann zögerte er, den Befehl ausführen zu lassen, und schließlich wollte ihn niemand mehr ausführen.

Exkurs. Was meint Ihr eigentlich, liebe Leser, wie es damals in den Flotten anderer Länder aussah (außer vielleicht in der kaiserlich deutschen)? Lest mal die Bücher von Ferdinand Emmerich, wie es damals zum Beispiel auf englischen und holländischen Schiffen zuging (die als vorbildlich galten - auf französische hätte er sich gar nicht getraut, geschweige denn auf italienische)! Die russischen Matrosen meuterten, weil man ihnen "verdorbenes" Fleisch vorsetzte? Einer behauptet gar, die japanischen Kriegsgefangenen würden besser verpflegt als die russischen Matrosen? Ha ha... der war offenbar noch nicht in japanischer Kriegsgefangenschaft! Ja, was glaubt Ihr denn, was Matrosen in anderen Flotten der Welt vorgesetzt bekamen? Ordentliches Fleisch? Falsch: gar kein Fleisch! Matrosen anderer Länder konnten von Glück sagen, wenn sie ihren verschimmelten, von Maden durchsetzten Schiffs-"Zwieback" (oder was sich so nannte - nicht das feine Gebäck der Firma Brandt, an das Ihr jetzt denkt, liebe deutsche Leser!) mit etwas ranzigem Speck einreiben und dazu eine wäßrige Suppe aus etwas Dörrgemüse löffeln konnten. [Dikigoros weiß wohl, daß sich die meisten seiner Leser und Leserinnen vor Maden u.ä. ekeln - auch seine Frau ist furchbar empfindlich gegen jegliche Art von "Ungeziefer" -; aber diese Aversion ist objektiv schwer zu begründen: Jahrmillionen lang waren Maden - eine wertvolle Eiweißqelle! -, Würmer, Spinnen, Käfer u.a. Kleintiere eine ganz normale Nahrung für den Menschen und seine Vorfahren; und für seine nächsten Verwandten, die Menschenaffen, sind sie es heute noch. (Und lest doch mal die Memoiren des bekannten Hardcore-Travellers Rüdiger Nehrberg - auch der hat sich im Urwald oft von nichts anderem ernährt, es sei denn er hätte zusätzlich ein paar Frösche, Kröten, Eidechsen und/oder Schlangen gefangen - die man übrigens allesamt sehr gut essen kann, obwohl Dikigoros sie zugegebenermaßen noch nicht roh probiert hat. Aber Ihr eßt doch Weinbergschnecken und Austern, oder? Andere Schnecken und Muscheln schmecken auch nicht viel anders!) Wann und warum der Mensch seinen Geschmack so radikal gewandelt hat, entzieht sich seiner Kenntnis.] So sie Europäer waren (nicht nur Russen!), hatten sie überdies Anspruch auf ihre tägliche Ration an Rum (echten, 80%igen, versteht sich, nicht das auf 40% oder noch weniger verdünnte Gesöff aus Industriesprit, chemischen Aroma- und Farbstoffen, das heutzutage bei Aldi im Regal steht!) und starkem Tobáck (nein, meine Damen, keine Filter-Cigaretten!) - wäre die ausgeblieben hätten sie gemeutert, aber nur dann. Und geprügelt wurde in anderen Flotten zur Aufrechterhaltung der Disziplin ebenso erbarmungslos wie in der russischen - vielleicht noch mehr, und vielleicht war die Disziplin auch deshalb besser. Dennoch sahen die Europäer (auch die Russen - außer denen im Film ;-) mit Verachtung auf die barfüßigen Japaner herab, deren ausgemergelte Matrosen sich von einer Handvoll Reis am Tag ernähren mußten und dazu vielleicht ein paar aus dem Meer gefischte Algen und Fische roh verzehrten. [Das ist der Ursprung des heute auch im Westen bekannten und berühmten - oder berüchtigten, je nach Geschmack - "Sushi".] Die Europäer waren (und sind) dumm in ihrer Überheblichkeit, denn ungeschälter Reis, Algen und roher Fisch sind so ziemlich das gesündeste, was der Mensch überhaupt essen kann, zumal wenn er auf See ist, um Skorbut, Beriberi und all den anderen auf europäischen Schiffen weit verbreiteten Mangel-Krankheiten vorzubeugen. Kurzum, den Matrosen der russischen Schwarzmeer-Flotte ging es nicht zu schlecht, sondern viel zu gut - übrigens nicht nur im Vergleich mit den Matrosen Japans und anderer Länder, sondern auch im Vergleich mit den Angehörigen der russischen Landstreitkräfte, die längst nicht so gepampert wurden. (Und mit denen späterer Zeiten. Habt Ihr mal "Und Gott schweigt...?" von E. E. Dwinger gelesen? Wohl nicht, wenn Ihr nach dem Krieg geboren seid, denn das Buch ist ja bis heute als "anti-kommunistische Propaganda" verboten, denn jede, auch indirekte Kritik am braven Onkel Jo Stalin, der Deutschland doch immerhin von Hitler und den bösen Nazis befreit hat, gilt heute als "fascistoïd" und "staatsgefährdend" - schließlich wollen gewisse Politiker aus der BRDDR möglichst bald eine SU en miniature machen, und haben es in Dwingers Augen auch schon, denn er schrieb über die Stalinisten, "die größten Verbrecher aller Zeiten", u.a.: "Das Furchtbarste aber ist (...) die Zerstörung der Familie, die straflose Kindsabtreibung, die täglich mögliche Ehescheidung..." Und - haben wir das nicht alles längst, als "Errungenschaften" der so genannten "Demokratie"? Also muß Dikigoros Euch die Passage, die er meint, hier zitieren, wie ein Einheimischer einem ausländischen Besucher der SU die dortigen Lebensverhältnisse anno 1933 schildert: "Sie denken jetzt sicherlich an den Film Potemkin, in dem die erste Revolution durch madiges Fleisch für die Matrosen ausbrach? Das waren schöne Zeiten, die sieht Rußland nicht wieder, in diesem Jahrhundert jedenfalls nicht... Die meisten Bauern sind so herunter, daß sie vor Hunger froh wären, wenn sie madiges Fleisch bekämen; sie bekommen nämlich überhaupt keines mehr! Zucker gibt es nicht, Tee gibt es nicht, Kleidung gibt es nicht - nur Schnaps gibt es..." Und einen anderen Einheimischen läßt Dwinger durchaus ernsthaft die These vertreten, daß der tiefere Grund für die russische Revolution das staatliche Schnapsmonopol gewesen sei, das die Untertanen des Tsaren daran hinderte, sich selber so viel Alkoholisches zu brennen wie sie gerne getrunken hätten; diesen Fehler hätten die Sowjets nicht gemacht :-) Die Quittung für diesen Leichtsinn bekam die russische Marineleitung 1904 bei Tsushima und 1905 vor Odessa. [Und die deutsche 1918 in Kiel. Die Matrosen der kaiserlichen Kriegsmarine - die von allen Matrosen der Welt am besten behandelt wurden - waren bezeichnender Weise die einzigen, die im Ersten Weltkrieg meuterten. Welchen Grund nennen unsere Geschichts- und Märchenbücher dafür? Sie wollten nicht noch gegen Ende des offenbar verlorenen Krieges für einen aussichtslosen Kampf ihr Leben opfern. Verständlich. Aber warum meuterten dann die deutschen Matrosen gegen Ende des offenbar verlorenen Zweiten Weltkriegs nicht, als sie den Befehl erhielten, noch schnell ein paar Millionen Flüchtlinge vor der Roten Armee zu retten? Dikigoros will diese Frage nicht beantworten - sie soll nur ein kleiner Denkanstoß sein.] Exkurs Ende.

Aber eine andere Frage, die Dikigoros eingangs zurück gestellt hatte, will er nun beantworten: Warum hat er von den vielen genialen Werken Eisensteins ausgerechnet dieses ausgewählt, das keinen Schauspieler besonders heraus stellt, und nicht lieber eines, das von einer historischen Person handelt? Das hängt mit einem Problem zusammen, über das er schon in der Einleitung zu "Die [un]schöne Welt der Illusionen" geschrieben hat: Es gibt Schauspieler, die einfach zu viele Rollen zu gut gespielt haben, um vom Publikum mit einer einzigen identifiziert zu werden: Nikolaj Tscherkasow spielte sowohl in "Aleksandr Njewskij" als auch in "Iwán Grosny" die Hauptrolle, außerdem in "Pjotr Wjelikij" von Wladímir Pjetrow (dem anderen großen russischen Regisseur jener Zeit), um nur die wichtigsten zu nennen - als wen hättet Ihr diesen russischen Jannings denn nun gerne? [Rune Waldekranz schrieb 1956 in seiner "Weltgeschichte des Films", Tscherkasow sei als Iwán "unvergeßlich" gewesen. Das mag sein - aber war er das in den anderen Filmen nicht auch?] Man liest heute oft, daß das russische Publikum diese Film-Figuren mit Stalin identifiziert habe, so wie das deutsche Publikum Bismarck alias Emil Jannings und Friedrich den Großen alias Otto Gebühr mit Hitler identifiziert habe: Sie alle hatten hart durchgreifen müssen, manchmal auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen, um nach außen ihre Kriege zu gewinnen und sich im Inneren den Rücken von ihren Feinden frei zu halten, mußten den Zweck die Mitteln heiligen und beim Hobeln Späne fallen lassen. Gewiß, gewiß; aber darob verwechselte doch kein Russe Iwán den Schrecklichen mit Josif dem Schrecklichen, niemand hielt Tscherkasow für Dschugaschwili, und kein Deutscher hätte Friedrich II von Preußen mit Adolf von Österreich, Junker Otto mit dem Führer der Arbeiter- und Bauernpartei oder einen der beiden Filmdarsteller mit dem obersten Schauspieler in der Reichskanzlei verwechselt. Und Eisenstein wußte auch, warum er der Versuchung widerstand, einen (oder mehrere) "Helden" in den Mittelpunkt seines Films zu stellen - obwohl die Geschichte ja einige zur Auswahl anbot: Den "Märtyrer" Gregorij Wakulintschuk (gespielt von Aleksandr Antonow), der vom stellvertretenden Kapitän Giljarowskij in Notwehr erschossen, pardon grundlos ermordet wurde, und dem die Sowjets später ein Heldendenkmal errichten sollten. Oder Afanasij Matuschenko, den Anführer der meuternden Matrosen. Oder Konstantin Feldmann, den Juden-Bündler und Führer der "Sozial-Demokraten" in Odessa. Eisenstein verzichtete auf ihre Hervorhebung in der richtigen Erkenntnis, daß sie austauschbar waren (und kommt wenigstens damit der historischen Wahrheit sehr nahe), daß die Umstände, die das Pulverfaß zur Explosion brachten, auch in jeder anderen personellen Besetzung zur Meuterei und zur Revolution hätten führen können, und daß es viel wichtiger war, den russischen Arbeiter, den russischen Matrosen und den russischen Revolutionär darzustellen.

Das, liebe Leser, ist eine viel schwierigere Aufgabe, als einfach nur einen bestimmten Menschen heraus zu greifen und von einem guten Schauspieler darstellen zu lassen (oder von gar keinem, wie in Moustapha Akkads Machwerk "Mohammad, Messenger of God" von 1976, in dem die Titelfigur nicht dargestellt werden darf, weil der Islam die Abbildung des Profeten ja verbietet :-), wie es überhaupt eine sehr viel schwierigere Aufgabe war, Stummfilme zu drehen als Tonfilme. (Deshalb hätte sich Dikigoros auch nicht gescheut, Euch den einen oder anderen russischen Stummfilm aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg vorzustellen, wie "Boris Godunow" von Drankow oder "Jermak" von Gontscharow; aber jene Streifen sind doch etwas zu kurz geraten, um den hochinteressanten Persönlichkeiten, von denen sie handeln, auch nur annähernd gerecht zu werden.) Damals mußten die Bilder noch etwas aussagen (von einigen Zwischentiteln und der Begleitmusik mal abgesehen); was uns dagegen heutzutage bisweilen von untalentierten Regisseuren vorgesetzt wird, sind eher Hörspiele mit Bildbegleitung, bei denen man meinen sollte, daß die Bilder das Laufen wieder verlernt hätten: Da wird stundenlang herum gefaselt, monologisiert, dialogisiert oder schlicht durcheinander gebrabbelt - kein Wunder, daß der Zuschauer sich da oft mehr seinem Popcorn und seiner Cola (oder seiner Begleitung :-) widmet als der Leinwand (oder, zuhause vor dem Fernseher, dem Abendbrot statt dem Bildschirm)! Nicht nur die großen Meister des Stummfilms wie Griffith, Lang oder Eisenstein, nein selbst der letzte von ihnen war den meisten der heutigen Tonfilmregisseure turmhoch überlegen. Das gleiche gilt für die Komponisten der Filmmusik. Ist Euch mal aufgefallen, daß auch im Zeitalter der Tonfilme nie ganz auf Hintergrundmusik verzichtet wird? Sie soll Dramatik, Spannung, Bedrohung, Romantik usw. ausdrücken. Leider ist das meiste, das uns da heutzutage geboten wird, schlicht Schund. (Einige der wenigen positiven Ausnahmen stellt Dikigoros Euch an anderer Stelle vor, ebenso die einzige ihm bekannte Ausnahme eines Films, der ganz ohne Hintergrundmusik auskommt.) Nikolaj Krjukow dagegen war noch ein wahrer Meister seines Fachs - bei aller Anerkennung für die Bilder und den Schnitt Eisensteins würde Dikigoros den Anteil jener aus- und eindrucksvollen Musik am Erfolg von "Panzerkreuzer Potjomkin" auf an die 50% beziffern.

Aber kommen wir nun endlich zur Handlung des Films, der aufgebaut ist wie ein Theaterstück in fünf Akten. 1. Akt: Die russische Schwarzmeer-Flotte dümpelt wie gesagt im Müßiggang vor Odessa herum (eigentlich sollen sie dort ein Manöver abhalten und die neuen, schweren Kanonen einschießen, aber das Wetter ist zu schlecht), die Matrosen langweilen sich und kommen auf dumme Gedanken, zumal ihnen kommunistische Hetzer erzählen, daß es im ganzen Land brodelt von revolutionären Unruhen. Pardon, das hat Dikigoros so gar nicht im Sinne des Erfinders (genauer gesagt der Erfinderin; das Drehbuch hat eine gewisse Nina Agatschanowa-Schutko verfaßt) geschrieben. Also nochmal von vorne: Die armen, geknechteten russischen Matrosen sehen auf dem Deck von Maden befallenes Fleisch hängen, das ihnen zum Abendbrot serviert werden soll. Sie sind empört, zumal sie hören, daß auch anderswo im Lande die Menschen leiden. Dagegen wissen brave Kommunisten ein probates Mittel: den proletarischen Aufstand der Massen, wie ihn Marx gepredigt hat. (Dessen Name hat weltweit noch einen guten Klang: Gebürtiger Deutscher, Sohn eines ehrenwerten Rabbiners, gebildet und engagiert, Professor für Nationalökonomie in England - der wird schon gewußt haben, wo's lang geht.)

Exkurs: Eigentlich sollte die Handlung gar nicht, oder jedenfalls nicht nur vor Odessa spielen, sondern in ganz Rußland, vor allem in der damaligen Hauptstadt Sankt Peterburg; aber da regnete es gerade, als gedreht werden sollte (übrigens nicht auf dem Panzerkreuzer Potjomkin, sondern auf dem Schwesternschiff Zwölf Aposteln, das Ihr oben in der Mitte abgebildet seht), und der Film mußte pünktlich, d.h. spätestens bis Dezember 1925, in die russischen Kinos kommen, denn es war eine Auftragsarbeit des Sowjet-Regimes, die ursprünglich den Titel "Das Jahr 1905" tragen sollte. So zog Eisenstein nach Odessa um (dort scheint fast immer die Sonne) und reduzierte das Drehbuch aus Gründen der Praktikabilität ganz auf die - eigentlich perifäre - Meuterei auf dem Panzerkreuzer "Potjomkin" und die gleichzeitigen Ereignisse in der Stadt. So steht es jedenfalls in den offiziösen Filmgeschichten. Ob es wirklich so war? Eisenstein stammte aus dem - bis ins 19. Jahrhundert noch stark deutsch-jüdisch geprägten - Riga (der heutigen Hauptstadt Lettlands). Er hatte Architektur und Theaterwissenschaften in Sankt Peterburg, Petrograd und Leningrad studiert (nein, liebe Leser, das waren nicht drei verschiedene Studienorte!), Marx und Freud gelesen, und er war jung genug gewesen, um nicht mehr in den Krieg ziehen zu müssen. (Auch der Bürgerkrieg ging an ihm vorüber, da die Rote Armee offenbar keine Verwendung für ihn hatte). Aber vielleicht dachte er auch einfach nur schon mal an den Folgeauftrag für einen Film über die Oktober-Revolution von 1917, die ja auch in Sankt Peterburg spielte - würde das nicht als müder Wiederaufguß wirken, wenn man die Revolution im Film über das Jahr 1905 auch dort in den Mittelpunkt stellte? Dikigoros will Euch etwas verraten: Er stellt Eisensteins "Oktober [1917]" noch über "Panzerkreuzer Potjomkin", was die in all ihrer propagandistischen Perfidie glänzend gemachte Hetze nicht nur auf das tsaristische Regime, sondern auch und besonders auf "die Bürgerlichen" anbelangt. (Wieder spielt übrigens ein Panzerkreuzer - Awrora [die Morgenröte, also ein gänzlich unpassender, da weiblicher, Name für so ein Schiff] - eine wichtige Rolle, und wieder eine Treppe - die zum Winterpalais des Tsaren.) Aber was sollte der 1927 noch bewirken? Der Tsar war ebenso gestürzt wie die bürgerliche Regierung; als er in die Kinos kam, wurden gerade die "Kulaken" (freie Bauern) ausgerottet; in der Sowjet-Union herrschte Hungersnot (Millionen kamen um - später sollten auch diese Verluste den bösen Nazi-Deutschen in die Schuhe geschoben werden) und Stalins Militärdiktatur, also genau das, was in "Oktober" angegriffen wurde - insoweit war der Film sogar politisch kontra-produktiv! Exkurs Ende.

2. Akt: Die Männer des "Potjomkin" weigern sich geschlossen, das verdorbene Fleisch zu essen. Der Kapitän droht ihnen darob mit der Todesstrafe, läßt schon die ersten, willkürlich heraus gegriffenen Matrosen unter die Hinrichtungsmatte werfen und ein Erschießungskommando antreten. Als das den Befehl verweigert, schnappt sich einer der Offiziere höchstpersönlich ein Gewehr und erschießt den tapferen Matrosen Wakulintschuk. Daraufhin übernimmt die Mannschaft das Kommando und wirft die Offiziere über Bord. 3. Akt.: Der "Märtyrer" wird an Land gerudert und in Odessa aufgebahrt. Die Leute in der Stadt kondolieren in Massen und demonstrieren friedlich vor sich hin, auch und vor allem Frauen und Kinder. 4. Akt: Da hetzen die bösen Kräfte der Reaktion blutrünstige Kosaken auf die friedlichen Demonstranten; auf der langen Richelieu-Treppe (heute heißt sie "Potjomkin-Treppe" :-), die zum Hafen führt, kommt es zum Höhepunkt: Die Demonstranten werden von zwei Abteilungen Kosaken eingekeilt und dann systematisch zusammen geschossen und geschlagen, mit blankem Säbel, Mann und Maus, Frau und Kind und Kegel - eindrucksvolle, brutale, grauenhafte Bilder, von denen Goebbels meinte, sie können jemanden, der in seiner ideologischen Haltung nicht gefestigt sei, zum Kommunisten machen. (Das sieht Dikigoros freilich anders; es wird wohl damit zusammen hängen, daß Goebbels ursprünglich selber einer war - also alles andere als gefestigt in seiner politischen Haltung :-) 5. Akt: Das tsaristische Regime läßt indes nicht locker; es schickt den Rest der Schwarzmeerflotte nach Odessa, um die Mannschaft des "Potjomkin" gefangen zu nehmen. Aber als die Schiffe aufeinander treffen, bekunden die Matrosen auch der anderen Schiffe ihre geheime Sympathie mit den Meuterern und lassen sie nach bangen Augenblicken gespannter Erwartung ungeschoren passieren. Der "Potjomkin" dampft auf und davon, als Vorbote der Revolution, die zwölf Jahre später erfolgreich sein wird. Amen, pardon Druzhba.

Darf Dikigoros ein paar Worte darüber verlieren, wie es in Wahrheit war - soweit sich das heute noch rekonstruieren läßt? Nur ein paar behutsame Korrekturen und Ergänzungen: 1. Die "Sozial-Demokraten" hatten schon lange eine Meuterei auf dem "Potjomkin" geplant, allerdings erst zu einem späterem Zeitpunkt, und koordiniert mit den anderen Schiffen der Schwarzmeerflotte; daß irgendwo ein dummer Hetzer die Sache mit den Maden im Fleisch zum Anlaß nahm, verfrüht los zu schlagen, schadete der Sache der Revolution sehr. (Tatsächlich meuterten vorübergehend auch Matrosen der Panzerkreuzer "Jekatjerina II" [Katharina II] und "Georgij Pobjedonósets" [Georg der Siegesnäserne - fürwahr ein passender Name für einen "Bronzenäsernen" - bei der im Westen gängigen Übersetzung "der Eroberer" geht diese Parallele leider verloren; und wie Dikigoros meint, auch bei einer Übersetzung wie "der Siegesträger" oder "der Siegtragende", die er irgendwo auf einer Kunstauktion für eine Ikone mit Sankt Georg dem Drachentöter - um den handelt es sich nämlich - gesehen hat]; etwas weniger schlecht koordiniert hätte die Revolution durchaus Aussicht auf Erfolg gehabt, wodurch aller Voraussicht nach der Erste Weltkrieg (und damit auch der Zweite) vermieden - oder zumindest für lange Zeit aufgeschoben - worden wäre. [Die deutsche Reichsleitung wollte ihn nicht - das beweist nichts besser als die Tatsache, daß sie 1905 keinen Präventivkrieg gegen Frankreich begann, das damals ohne jeden Verbündeten da gestanden hätte: Rußland war platt, und England war mit dessen Kriegsgegner Japan verbündet. Und Frankreich hätte den Revanchekrieg gegen Deutschland zwar gewollt - wegen Elsaß-Lothringens -, aber ohne das Tsarenreich schwerlich riskiert.] 2. Der Streik der Fabrik-, Hafen- und Eisenbahnarbeiter in Odessa erfolgte zwar zeitgleich mit der Meuterei der Matrosen, aber völlig unkoordiniert. So lehnte es die Besatzung des "Potjomkin" trotz dringlicher Bitten der "Landratten" sogar ab, mit ihren weit reichenden Schiffsgeschützen das Feuer auf die Befehlszentrale der tsaristischen Landstreitkräfte zu richten. (Lediglich ein paar Warnschüsse wurden abgegeben, die - wohl absichtlich - daneben lagen.) Die einzige Parallele war die zögerliche Haltung der zivilen und militärischen Befehlshaber an Land zu der des Kapitäns Golikow: Man ließ die Demonstranten (die durchaus nicht friedlich waren - ein Drittel der Stadt brannte bereits, und die Feuerwehr wurde daran gehindert, die Brände zu löschen, wie rund 100 Jahre später in Paris und Athen) zunächst gewähren und verbot den Kosaken strikt ein härteres Vorgehen. Als dann aber aus der Menge Steine flogen (ein Provokateur findet sich immer!) und schließlich sogar ein Offizier der Kosaken vom Pferd geschossen wurde, setzten sich die mittleren Chargen über die Befehle des Stadtkommandanten hinweg und ließen die Menge massakrieren. Die Leiche des "Märtyrers" Wakulintschuk (der Stadtkommandant hatte den Leichenzug ausdrücklich genehmigt, um Ärger zu vermeiden) ließen sie jedoch bis zuletzt unangetastet, einschließlich der Schüssel für Geldspenden nebst Inhalt.

Kann man diesen Vorfall - so abscheulich er gewesen sein mag - wirklich "dem tsaristischen Regime" anlasten? Und war der gewalttätige Streik (die Streikenden hatten die Hafenanlagen zerstört, die Fabriken, Lagerhallen und Vorratsmagazine abgefackelt, die Eisenbahnwaggons zu Klump geschlagen und die Schienen kilometerweit heraus gerissen) nicht ebenso abscheulich? Zumal ihn die Anführer - wiewohl selber vielfach jüdischer Abstammung - mit dem Aufruf zu einem Pogrom verbanden: Die reichen Unternehmer waren überwiegend Juden, also "Ausbeuter", bei denen am meisten zu holen, sprich zu plündern war. Der Stadtkommandant unternahm auch dagegen nichts, vielleicht weil er meinte, daß sich die Hitzköpfe am ehesten wieder abkühlen würden, wenn sie sich an den Juden ausgetobt hätten - wenn es so war, dann war das jedenfalls eine Fehleinschätzung. Was hättet Ihr an Stelle der Kosaken-Offiziere getan, liebe Leser? Hättet Ihr die drittgrößte und drittreichste Stadt Rußlands (nach Moskau und Sankt Peterburg, vor Kiew und Warschau), seinen wichtigsten Hafen, einfach so vor die kommunistischen Hunde gehen lassen? Es war Krieg, und die eigene Sache stand schlecht - wenn sie nicht ganz verloren gehen sollte, mußte gehobelt werden; und wenn die Späne, die dabei fielen, kommunistische Aufrührer waren - auch recht. Und die Frauen und Kinder? Ja, liebe Leser, die schieben kriminelle Elemente von je her gerne als Schutzschild vor, wenn sie gewalttätig werden wollen, um hinterher ihre Opfer - so sie es gewagt haben, zurück zu schießen - als "Frauen- und Kindermörder" hinzustellen. Das war schon 1848 bei den Berliner "Märzgefallenen" so und 1919 beim "Massaker von Amritsar"; und heute ist es in Palästina auch nicht viel anders. (Vergeßt den "Sturm aufs Winterpalais" in Sankt Peterburg 1905 und 1917 - beides sind nachträglich von den Bolschewisten getürkte Märtyrer-Legenden; die angeblich authentischen Filmaufnahmen wurden 1920 "nachgestellt". Nur in deutschen Geschichts- und Märchenbüchern werden sie noch mit Anspruch auf unumstößliche Wahrheit abgedruckt, wie so manches andere, was sich dort nur noch mit Hilfe des Strafgesetzbuches halten kann.) Und in vielen Fällen - so auch hier - war es sogar noch krasser: Zuverlässige Quellen berichten, daß es die Frauen waren, welche die Männer im ursprünglich friedlichen Demonstrationszug zur Gewalt aufhetzten und ihre Kinderwagen den Kosaken entgegen schoben. [Ja, liebe Leser/innen, es sind fast immer Frauen, die ihre Männer, Brüder und Söhne in den Krieg hetzen - denkt mal drüber nach!] 3. Die Fahrt des "Potjomkin" in eine strahlende rote Zukunft (die rote Rotzfahne der Revolution flattert voran, den ganzen Film schon - extra coloriert :-) war alles andere als das; vielmehr war es eine Flucht: Nachdem sie überall im Mittelmeer herum geirrt waren, die Kohlen knapp wurden und ebenso die Verpflegung (wegen Wassermangels kühlten sie schon die Maschinen mit Meerwasser, und das Salz leistete schnelle Arbeit - nach ein paar Tagen fuhr der "Potjomkin" nur noch mit halber Kraft und wäre kaum noch gefechtsbereit gewesen) liefen die Meuterer schließlich den rumänischen Hafen Constanţa an, setzten den Pott auf Grund und ließen sich gegen die Zusage von Straffreiheit internieren. (Die meisten sollten später dennoch an Rußland ausgeliefert und hingerichtet werden.) Die Revolution war für's erste gescheitert - und wäre nicht der unselige Weltkrieg gekommen, wohl für immer.

Aber wie soll das alles die Aufnahme dieses Films in "Die unschöne Welt der Illusionen" rechtfertigen? Haben nicht andere Filme, wie "Gone With the Wind", "The Birth of a Nation", "Krieg und Frieden" oder selbst die - vom Stoff her verwandte - "Meuterei auf der Bounty" Geschichte viel monumentaler und zudem noch wirklichkeitsgetreuer dargestellt? Wohl wahr, liebe Leser - aber was haben sie bewirkt? Mit Verlaub gar nichts. Und "Panzerkreuzer Potjomkin"? Hat der nicht auch bloß einen, dazu noch verfälschenden, Rückblick auf Geschichte geworfen, die er zwar noch uminterpretieren, aber nicht mehr ändern konnte? Irrtum, liebe Zweifler, Irrtum. Weshalb hätte Dikigoros sonst wohl die deutsche Version des Films der russischen Originalfassung gleichberechtigt zur Seite gestellt? Nun, in seinem Ursprungsland hatte der Film überhaupt keine Auswirkungen. Anfangs flopte er sogar an den Kinokassen, denn zur gleichen Zeit lief in Rußland der amerikanische Märchenstreifen "The Thief of Baghdad [Der Dieb von Bagdad]" von Raoul Walsh (der 17 Jahre später "They Died With Their Boots On", drehen sollte, jene Propaganda-Hommage an den Nordstaaten-General George Armstrong Custer, der wir schon in einem früheren Kapitel dieser "Reise durch die Vergangenheit" begegnet sind). So ein schöner Trickfilm mit Happy-end begeisterte die Massen, denn er bot ihnen viel schönere Illusionen - und die brauchten sie damals viel dringender als verlogenen Nachhilfe-Unterricht im Fache Geschichte -, um der tristen Wirklichkeit für ein paar Stunden zu entfliehen. Die Russen, pardon, sie hießen ja inzwischen Sowjet-Menschen, hungerten, froren und hatten nichts anzuziehen. (Und die Filmemacher hatten nicht mal ordentlichen Klebstoff - die Schnittstellen von "Bronjenosets Potjomkin" waren mit menschlichem Speichel zusammen geleimt -; erst als die Original-Filmrolle nach Deutschland ausgeliehen und dort vom Zensor auseinander geschnippelt wurde, bekam sie den anschließend, beim Wieder-zusammen-kleben, verpaßt.) Aber bei der deutschen Uraufführung in einem drittklassigen Berliner Arbeiterviertel-Kino saß ein junger Mann in der ersten Reihe (das war die billigste, denn viel Geld hatte er nicht als arbeitsloser Doktor der Filosofie), dem prompt die zündende Idee kam: "So etwas mußt du auch machen, das ist ein Mittel, um das Volk bei Laune und dich selber an der Macht zu halten." Freilich war er damals noch nicht an der Macht; aber er hat uns zu einem wichtigen Schauspieler geführt, oder zu dem, was er verkörpern soll: "dem Volk". Wenn es einen Film gibt, der zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg in der Vorstellung vor allem ausländischer Zuschauer (die Russen selber dürften kaum darauf herein gefallen sein) "das Volk", "das russische Volk" oder gar "den russischen [Marine-]Soldaten" geprägt haben, dann ist es dieser. Das (russische) Volk ist eine dumpfe Masse, die sich erst knechten und ausbeuten zu lassen hat, dann auf Befehl des Kommunismus (oder irgendeines anderen Ismus) zu erheben hat, um sich anschließend von letzterem wieder knechten und ausbeuten zu lassen - aber möglichst ohne sich zu erheben. Allein diese - falsche - Botschaft, die der Film dem jungen Dr. Josef Goebbels vermittelte, würde seine Aufnahme in "Die [un]schöne Welt der Illusionen" rechtfertigen. (Erst als sich das Aufsehen, das "Panzerkreuzer Potjomkin" in Deutschland erregt hatte, zuhause herum sprach und der Film daraufhin noch einmal in die sowjetischen Kinos kam - wohlgemerkt auch in der gekürzten Version, das Original ist in Rußland bis heute nicht gelaufen - , gingen auch die Russen hin, und er wurde doch noch zum kommerziellen Erfolg.)

Exkurs. Hat Dikigoros da eben etwas von einer "falschen" Botschaft geschrieben? Ja, hat er. Aber hat er nicht weiter oben genau das gleiche geschrieben und für richtig gehalten? Nein, hat er nicht. Bitte schaut genau hin, liebe Leser; Dikigoros wiederholt diesen wichtigen Punkt, obwohl er ihn schon auf einigen anderen seiner "Reisen durch die Vergangenheit" angesprochen hat, hier noch einmal in aller Deutlichkeit und beruft sich dabei auf den großen jüdischen Weltreisenden und Menschenkenner Richard Katz: All das, was sich der russische Sowjet-Mensch (und der malaiische Kanak, und der afrikanische Neger, und der Angehörige anderer Naturvölker) gefallen läßt, läßt er sich nur von seinesgleichen gefallen. Lieber ein "eingeborener" Tyrann von eigener Art als ein noch so gütiger (liberaler, demokratischer...) fremdrassiger Herrscher! Und das ist auch gut so, denn es ist natürlich, wenngleich Ihr, liebe Gutmenschen, das nicht gerne hören und es "rassistisch" nennen mögt. (Was sich nicht ausschließt, denn "Rassismus" ist in der gesunden Natur ganz selbstverständlich die Regel. Unnatürlich, d.h. wider die Natur, sind vielmehr Miscegenation und Multikulti - Ausgeburten zivilisationskranker menschlicher Gehirne.) Der Russe läßt sich auch nicht von jedem "Ismus" beherrschen: Die Sowjet-Menschen sind nicht so geworden wie sie sind, weil sie der Kommunismus dazu gemacht hätte, sondern umgekehrt wird ein Schuh draus: Der Kommunismus konnte sich in Rußland nur durchsetzen, weil die Russen mit ihrer von Anfang an auf Despotismus und Kollektivismus angelegten Gesellschaftsstruktur besonders empfänglich für ihn waren (die Oprischtschina gab es schon lange vor dem KGB, und Kolchosen bzw. Sowchosen hatten im "Mir"-System längst ein Vorbild); bei anderern Völkern ist er dagegen trotz aller noch so hartnäckiger Bemühungen, ihnen ihn aufzuzwingen, gescheitert - aber auch darüber schreibt Dikigoros an anderer Stelle mehr. Exkurs Ende.

Aber das ist noch nicht alles. Während "Panzerkreuzer Potjomkin" außerhalb Deutschlands erst mit dreißig Jahren Verspätung entdeckt werden sollte (1958, anläßlich der Weltausstellung von Brüssel, sollte man ihn zum "besten Stummfilm aller Zeiten" küren; erst aus dieser Zeit stammen auch die Filmplakate, die Dikigoros oben abgebildet hat), war Goebbels nicht nur auf Anhieb vom Inhalt des Films fasziniert, sondern auch und besonders von dessen Machart - er entdeckte den Film an sich als Medium der "Volksaufklärung [böse Zungen sagen auch: der Volksverdummung] und Propaganda" im Sinne des National-Sozialismus, und damit setzte er für Deutschland einen Meilenstein, der bis heute steht, und auf den seine Epigonen im Namen des Demokratismus, Liberalismus und Tolerantismus nicht nur einen, sondern viele andere Steine drauf gesetzt haben. Einen dieser Filme - den Goebbels ganz offiziell als deutsches Gegenstück zu "Panzerkreuzer Potëomkin" auf den Weg brachte -, möchte Dikigoros an dieser Stelle kurz erwähnen. Nein, nicht vorstellen, das wäre sinnlos, da er bis heute verboten ist, obwohl er keineswegs ein national-sozialistischer Propagandafilm ist, und obwohl - oder weil - er einen Teil nicht nur der jüngsten deutschen, sondern auch der jüngsten englischen Geschichte wahrheitsgetreu auf die Leinwand bringt: "Carl Peters". Moment mal - war als deutsches "Gegengift" gegen "Panzerkreuzer Potëmkin" (und auch gegen "Oktober") nicht vielmehr "Weiße Sklaven" von 1936 (nach dem Krieg in einer von der Zensur gekürzten Fassung unter dem Titel "Panzerkreuzer Sewastopol" gelaufen) von Karl Anton gedacht, jener Film, der die tatsächlichen Grausamkeiten der russischen Revolution von 1917 so eindringlich beschwor? Ach was, das war doch ein Flop, an dem heute allenfalls noch von Interesse ist, daß Eisenstein, nachdem er ihn gesehen hatte, Goebbels einen bösen Brief schickte, der den großen jüdischen Regisseur als vernagelten Kommunisten auszuweisen scheint, der felsenfest an seine eigenen Lügen glaubte und die Augen vor der historischen Wahrheit beharrlich verschloß. (Doch wer weiß, ob ihm dieser Brief nicht im wahrsten Sinne des Wortes von den sowjetischen Machthabern vorgeschrieben wurde?) "Weiße Sklaven" verbindet mit "Panzerkreuzer Potjomkin" eigentlich nur der Schlager, der den gleichen Titel trägt wie dessen 6. Szene im 1. Akt: Alles Lüge - und selbst der ist heute vergessen, obwohl er auch nach dem Krieg noch ein paarmal neu aufgenommen wurde, u.a. von der politisch-korrekten Deutschland-Feindin Hildegard Knef.

Aber Carl Peters? Was soll denn die Lebensgeschichte des deutschen Afrikaforschers mit Rußland und dem "Potjomkin" zu tun haben? Viel mehr als Ihr auf Anhieb denken mögt, liebe Leser, viel mehr. Habt Ihr Euch mal die Frage gestellt, wer oder was sie eigentlich waren, die großen Männer, die die Welt eroberten (nicht bloß mal etwas drin oder drum herum gurkten, wie die "Entdecker" der ersten Stunde, die Colombo, da Gama, Magellan), die Peters, Raffles, Rhodes, Stroganow, Potjomkin? Heilige, die der Welt (oder ihren in Europa bis ins 19. Jahrhundert, als man die Panzerkreuzer zu bauen begann, noch unbekannten Teilen, die wir heutzutage meist unter der ungenauen Bezeichnung "Dritte Welt" zusammen fassen) den wahren Glauben und die Zivilisation bringen wollten? Oder Narren, die glaubten, ihr eigenes Land brauche dringend "Kolonien", weil es sonst nicht genügend Platz für seine wachsende Bevölkerung hätte? Oder nicht genügend Bodenschätze und Nahrungsmittel, die es zu importieren galt? Oder einfach Pioniere, die ihrer eigenen Nase - auch der nicht-bronzenen, vielmehr der goldenen, die sie sich verdienen wollten - folgten, d.h. ihrer Neugier? Was immer sie waren, sie hobelten kräftig, und es fielen reichlich Späne - was hat nicht der Traum der Europäer von Kolonien in Übersee an Spänen (eigenen und fremden) gekostet! Zu ihnen zählte auch jener Richelieu (ein Nachkomme des gleichnamigen Kardinals aus dem 17. Jahrhundert, der Frankreich in den Dreißigjährigen Krieg und zur Weltmacht geführt hatte), der angesichts der französischen Revolution von 1789 nach Rußland geflohen war und dort Odessa neu gegründet hatte. (Es hatte an gleicher Stelle zuvor einen türkischen Ort namens Hadschibej gegeben, der aber im Vergleich zu Odessa eher unbedeutend gewesen war.) Die Treppe ist zwar nicht mehr nach ihm benannt; aber sein Denkmal steht bis heute an ihrem oberen Ende und erfreut sich wesentlich größeren Zulaufs als das der meuternden Matrosen.


Was die Kamera-Perspektive ausmacht: die Potjomkin-Treppe heute (oben Mitte das Richelieu-Denkmal)


Von Touristen gut besucht: das Denkmal auf Richelieu. Verwaist: das Denkmal auf die Meuterer.

Naturgemäß haben alle Kolonialmächte von sich geglaubt, die besten zu sein - insbesondere die Deutschen; am erfolgreichsten waren dagegen wohl die Briten - und diesen Gegensatz versucht der Film "Carl Peters" (mit Hans Albers im Zenit seines Könnens in der Hauptrolle) aufzudröseln. Das ist mit Verlaub ein läppisches - Nietzsche hätte gesagt "moralin-saures" - Unterfangen; da konnten sich beide Seiten den erhobenen Zeigefinger sparen, denn beider Kolonialwerk in Afrika ist letztlich gescheitert. (Aus welchen Gründen auch immer; Dikigoros meint aus zwingenden - aber das ist eine andere Geschichte.) Ganz anders dagegen das kolonisatorische Werk der eben genannten Russen - das als einziges bis heute Bestand hat. Nein, nicht die Unterwerfung der muslimischen Turkvölker und Kaukasier - die kam viel später und brachte den Russen mehr Ärger als Vorteile (wenngleich sie das noch immer nicht wahr haben wollen und sich verzweifelt an die ölreichen Gebiete am Kaspischen Meer klammern - aber das wird enden wie die britischen und deutschen Kolonialabenteuer in Afrika) -, sondern die Erschließung der heute russisch besiedelten Gebiete. Die Stroganows haben Sibirien nicht einfach nur erobert, sondern dort etwas aufgebaut; Richelieu hat Hadschibej nicht einfach nur zerstört, sondern an seiner Stelle etwas Neues, Besseres geschaffen. (Odessa war freilich keine "echte" russische Stadt, sondern entwickelte sich eher zu einer Art New York des Tsarenreiches: Sowohl die Griechen als auch die Juden stellten jeweils einen höheren Anteil der Bevölkerung als die Russen und Ukraïner zusammen genommen - aber geschadet hat ihm das nicht.) Und Grigorij Potjomkin hat - allen ausländischen Verleumdungen zum Trotz - die Krim nicht einfach nur den Türken abgenommen (die das alte Cherson hatten verfallen lassen) und sie mit Attrappen voll gestopft, um seiner Tsarin zu imponieren, sondern er hat etwas daraus gemacht, die ersten Pappeln gesät, nach denen Sewastópol benannt ist (die Russen geben wichtigen Städten gerne Imperative als Namen - nicht nur "Pflanze Pappeln", sondern auch "Beherrsche den Osten [Wladiwostók]" oder "Beherrsche den Kaukasus [Wladikawkás]"), und den größten Kriegshafen im Schwarzen Meer angelegt. Das ist wahre Kolonisationsarbeit im besten Sinne des Wortes - nicht ein paar Verwaltungsbeamte nach Indien schicken, eine Faktorei an der Küste Afrikas eröffnen und ein paar Neger tot schießen oder als Sklaven nach Amerika abtransportieren! Darum ist es doppelt tragisch, daß der Name dieses großen Mannes - dem bis heute kein ihm gerecht werdender Film gewidmet wurde und den bis heute kein Schauspieler im Bewußtsein des Publikums verankert hat - zum Symbol für zwei Geschichtslügen geworden ist: die so genannten "Potjomkin'schen Dörfer" und die Meuterei auf dem "Panzerkreuzer Potjomkin".

[Fürst Grigorij Potjomkin]

Nachtrag: 1998 wurde die Originalfassung von "Bronjenosets Potjomkin" in Deutschland in voller Länge (74 Minuten statt der im Videoverleih üblichen gekürzten Fassung von 49 Minuten) - mit allen Zwischentiteln und der Originalmusik von Nikolaj Krjukow - rekonstruiert. Wer sich dafür interessiert, kann sich hier genauer informieren.

Und noch ein Nachtrag: Zumindest in Rußland zeichnet sich eine Wende ab. Während zu Sowjet-Zeiten alljährlich der braven Meuterer auf dem Panzerkreuzer Potjomkin (und diverser anderer Revoluzzer) gedacht wurde, wurden unter dem neuen, "kapitalistischen" Präsidenten Wladímir ["Beherrsche die Welt"] Putin ganz neuartige Veranstaltungen eingeführt: Die Matrosen von Sewastópol feiern nun öffentlich - in grünen Uniformen, die denen aus der Zeit Katharinas II nachempfunden sind - dessen Gründung durch Grigorij Potjomkin, der damit so gut wie rehabilitiert ist. Aber noch immer fehlt ein Film, der auch im Westen einen Umschwung in der öffentlichen Meinung bewirken könnte; erst durch eine solche Neubesetzung des Namens wird das Revoluzzer-Pack des unschuldigen "Bronzenäsernen" endlich der Vergessenheit anheim fallen. (Ja, liebe linke Leser; Dikigoros weiß wohl, daß sich unter Putin die Schere zwischen Arm und Reich in Rußland wieder weit geöffnet hat, weiter als in irgend einem anderen Land Europas, und viel weiter, als es selbst im Tsarenreich der Fall war; Ihr braucht ihm das nicht extra zu mailen. Denkt lieber mal darüber nach, was daraus für oder gegen das Tsarenreich und für oder gegen diejenigen, die es bekämpft und zerstört haben, folgt.)


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