DER DREIFACHE WILHELM
Zur Person des 'Taillefer'


[Wace, Roman de Rou]

Anhang zu: ROLAND UND DAS OLIFANT
(aus: Reisen, die Geschichte[n] machten)

Nun hat Dikigoros so viel über das Rolandslied berichtet und sich sogar ungewöhnlich genau auf den Zeitpunkt festgelegt, zu dem "La Chanson de Rollant" nieder geschrieben wurde - zwischen 1064 und 1066 -; aber hat er eigentlich auch verraten, wen er für den Dichter hält? Nein, hat er nicht - wozu auch? Es steht doch im Text: Turoldus - oder? Nun, das kommt darauf an, wie man das letzte Wort des Textes übersetzt: "declinet" steht da, und der letzte Satz (den Ihr hier im Original nachlesen könnt) kann eigentlich nur bedeuten: "Hier endet das Heldenlied, das Turoldus [an dieser Stelle] abbricht." Wieso abbricht? Geht es denn noch weiter? Ja, liebe Leser, das tut es; die Fortsetzung findet sich allerdings nicht in französischen oder englischen Quellen - Turoldus hat ja seine Niederschrift an dieser Stelle abgebrochen -, sondern... in Skandinavien, in der Keiserkarl Magnus's Kronike; und obwohl die aus dem 15. Jahrhundert stammt, haben sich die Literatur-Historiker in Frankreich längst darauf geeinigt, daß es sich dabei um die Abschrift eines Werkes handelt, das älter sein muß als "La Chanson de Rollant" (während ihre deutschen Kollegen noch immer verzweifelte Rückzugsgefechte gegen Heinz Ritter-Schaumburgs These führen, daß die Urfassung der skandinavischen Thidrekssaga älter sein muß als die Nibelungennot und deren Verfasser zum Teil als Vorlage gedient hat - aber das ist eine andere Geschichte.) Wenn Turoldus aber nur einen Teil der Sage nieder geschrieben hat, und das vielleicht tatsächlich erst um das Jahr 1100 herum, wie die Romanisten annehmen - wer war dann der ursprüngliche Dichter? Ist Dikigoros vielleicht etwas zu schnell über jenen 'Taillefer' hinweg gegangen, der "La Chanson de Rollant" als erster gesungen haben soll? Könnte er nicht auch der Dichter sein?

Aber wer und was war 'Taillefer'? "Normannischer Krieger und Troubadour. Laut mittelalterlicher Chroniken und dem Teppich von Bayeux führte er die Normannen bei Hastings in die Schlacht, wobei er von Roland in Roncesvalles sang; er fiel in der Schlacht." So heißt es in dürren Worten in einer bekannten Encyclopädie. Und nicht viel ausführlicher in einem Geschichtsbuch über die Schlacht bei Hastings aus dem 19. Jahrhundert: "Beiname eines Barden und Kriegers aus dem 11. Jahrhundert, dessen genauer Name und Geburtsort unbekannt sind. Er begleitete 1066 die normannische Armee nach England und durfte mit Erlaubnis Wilhelms des Eroberers den ersten Schlag in der Schlacht von Hastings tun. Er kämpfte mit Begeisterung und Entschlossenheit, und fiel in der Schlacht." So so. Gibt es da einen sachlichen Unterschied in den beiden Passagen? Ja, den gibt es, und der könnte wichtig sein. Dikigoros hat auf seiner Seite über das Rolandslied geschrieben, daß an solchen Eroberungszügen oft Krieger aus aller Herren Länder teilnahmen, und u.a. die Provence erwähnt. Das erste Zitat schließt eine solche Herkunft 'Taillefers' aus, denn es erklärt ihn zum "Normannen"; das zweite Zitat tut das nicht. Taillefer kein Normanne? Dann müssen wir womöglich ganz woanders suchen? Aber wo? Ach, liebe Leser, Geschichte ist manchmal ganz einfach, wenn man einfach nur mal die Quellen wörtlich nimmt und ein klein wenig über den Tellerrand der eigenbrödlerischen nationalen Forschung hinaus schaut. Da wird allenthalben von "internationaler Zusammenarbeit", ja von "Globalisierung" gefaselt, und dann kommt doch nicht mehr dabei heraus als die Vernichtung von Arbeitsplätzen im Westen und Ausbeutung von rot-chinesischen KZ-Insassen und anderen Billiglohn-Arbeitssklaven im Osten - aber darüber schreibt Dikigoros in einem anderen Kapitel dieser "Reise durch die Vergangenheit" mehr. Dabei braucht man nur einmal von Nordwest-Frankreich nach Süd-Frankreich zu gehen, und die Lösung liegt ganz nahe, so wie die Lösung des Rätsels um den Verfasser der Nibelungennot ganz nahe liegt, wenn man einfach nur den im Anhang genannten Namen, "Meister Konrad", ernst nimmt - aber auch darüber schreibt Dikigoros in einem anderen Kapitel mehr. Es gibt nämlich einen 'Taillefer' in der französischen Geschichte, der zugleich Krieger und Troubadour war und über den wir eine Menge wissen - aber dafür müssen wir auch noch über den gesamt-französischen Tellerrand hinaus schauen, und zwar bis nach Deutschland.

Aber beginnen wir zunächst mit den englischen Quellen, aus denen die beiden Zitate zusammen gestoppelt sind, die Dikigoros eingangs zitiert hat. Wie war das: Laut Teppich von Bayeux? Wenn Ihr Euch einmal die Mühe macht, das hier nachzuprüfen, werdet Ihr unschwer feststellen, daß ein 'Taillefer' weder im Text noch auf den Bildern vorkommt. Erwähnt wird er zwar im lateinischen Carmen de Hastingae Proelio (Lied von der Schlacht bei Hastings), von dem man allgemein annimmt, daß es 1067 oder 1068 entstanden ist, also nur ein bis zwei Jahre nach der Schlacht, und deshalb einen hohen Quellenwert hat; allerdings ist dort nicht davon die Rede, daß er das Rolandslied gesungen hätte. Das schrieb zum ersten Mal rund 100 Jahre später ein gewisser Wace in seinem "Roman de Rou" (wobei "Rou" nicht den Roland des Rolandsliedes meinte, sondern Rollo, den ersten Herzog der Normandie). Nun steht Wace unter Historikern nicht besonders hoch im Kurs; ihnen gilt er eher als Märchenonkel, weil er auch den Roman de Brut geschrieben hat, der die wundersame[n] Geschichte[n] von König Artus (Arthur) und seiner Tafelrunde enthält, für die man noch immer kein allgemein anerkanntes Vorbild in der realen Geschichte gefunden hat. (Nein, auch Dikigoros nicht - sonst hätte er ihnen einen eigenen Exkurs gewidmet -; aber er neigt mittlerweile der jüngst von Linda Malcor wieder aufgegriffenen These von Kemp Malone zu, daß es Lucius Artorius Castus gewesen sein könnte.) Hat sich Wace das also alles nur ausgedacht, einschließlich des bei Hastings von 'Taillefer' gesungenen Rolandsliedes? Gut möglich; aber auch daraus kann man Schlüsse ziehen, wenn man fragt: warum? Da saß also unser guter Wace mit dem Auftrag, eine Geschichte der Normannen zu schreiben, und war bei der Schlacht von Hastings angelangt. Er wußte, daß die 1066 statt gefunden hatte, er las - wahrscheinlich im Proelio -, daß ein Spielmann namens Taillefer vor die normannischen Linien geritten war und die Engländer zum Kampfe heraus gefordert hatte. Sollte er bei der Gelegenheit wirklich nur sein Schwert geschwungen haben, wie es dort stand? Ach was, als Spielmann muß er doch auch etwas gesungen haben - aber was? Nun war Wace zwar vermutlich ein gebildeter Mann (wie es ein Kleriker des 12. Jahrhunderts eben sein konnte), aber er verfügte sicher nicht über die Kenntnisse wie wir sie etwa im 20. Jahrhundert haben. Von den Ereignissen des Jahres 1064, über die Dikigoros geschrieben hat, von Ramiro und Ferdinand, von Zaragoza, Barbastro, Ribagorza und Graus, wußte Wace wahrscheinlich nichts. Also begann er zu suchen, nach einem 'Taillefer' und nach einer Chanson de geste, die jener verfaßt haben könnte.

Wie gebildet oder ungebildet, wissend oder unwissend Wace auch immer gewesen sein mag; bei einem Thema - das wir schon erwähnt haben - kannte er sich bestimmt gut aus: der Geschichte von König Artus' Tafelrunde und dem Gral, schließlich hatte er gerade ein umfangreiches Buch darüber geschrieben. Weiterhin muß er gewußt haben, daß 'Taillefer' kein Name, sondern lediglich ein Beiname war. Warum wurde in der Überlieferung sein "echter" Name nicht genannt? Das konnte nur einen Grund haben: Verwechslungsgefahr. Und wenn die bestand, dann konnte es nur die Verwechslung mit einem Höherrangigen sein, denn sonst hätte man ja bei jemand anderem den Namen weg lassen können. Wer war aber höherrangig als derjenige, dem die Ehre zufiel, die Schlacht zu eröffnen (so war es jedenfalls in Wace's Augen: Wilhelm der Eroberer hatte dem tapferen 'Taillefer' diese Ehre auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin höchstpersönlich gewährt)? Eigentlich nur der Herzog selber. Wie hieß aber der Herzog? Wilhelm. Wie muß also nach Wace's logischer Überlegung 'Taillefer' mit richtigem Namen geheißen haben? Eben - auch Wilhelm, oder, wie die Normannen auf Französisch sagten: Guillaume. Und so muß Wace früher oder später fast zwangsläufig auf einen Namen gestoßen sein, der heute so gut wie vergessen ist: den Markgrafen Guillaume III von Toulouse, genannt "Taillefer", geboren zwischen 947 und 952, gestorben 994 oder 1037 (! - kein Tippfehler, sondern abweichende Angaben in den Quellen :-) Zugegeben - als Dikigoros das Kapitel über das Rolandslied schrieb, hatte auch er noch nie von jenem Marquis gehört, und weil die Geschichte einerseits zu lang ist, um sie nachträglich in den Haupttext einzufügen, und andererseits zu schade, um sie einfach weg zu lassen, hat er halt einen Anhang daraus gemacht. Die Geschichte ist nicht nur faszinierend, sondern auch kompliziert, was nicht zuletzt daran liegt, daß derjenige, der Dikigoros auf ihre Spur gebracht hat, zwar anfangs auf dem richtigen Weg war, das Ziel aber dann doch knapp verfehlt hat; Dikigoros will versuchen, an den Ausgangspunkt seines verstorbenen Freundes zurück zu gehen und ihn diesmal richtig zuende zu führen.

Als Dikigoros zum ersten Mal das bahnbrechende Werk "Wolfram von Eschenbach und die Wirklichkeit des Grals" von Werner Greub las, war er überzeugt, daß der - jedenfalls geografisch und historisch gesehen - Recht hatte: Der Willehalm mußte, ebenso wie der Parzival, historische Ereignisse darstellen, und die Orte des Geschehens, einschließlich der Gralsburg, lieferte Greub gleich mit. Nun ja, die Gralsburg gab es vielleicht gar nicht, sondern mehrere Orte, an denen ein heiliger Stein wie der "Gral" verehrt wurde; die Gralsritter waren halt eine in Europa weithin verbreitete Glaubens-Gemeinschaft. Aber warum geheim? Stellen wir die Frage kurz zurück und fragen erst, wo Greub das Geschehen zeitlich einordnet: ins 9. Jahrhundert. Er sah in Willehalm alias Guillaume alias "Kyot dem Provenzalen" Wilhelm den Heiligen, den Schwiegervater des unfähigen Frankenherrschers Ludwig des Frommen, der erst gegen die Sarazenen kämpfte, dann eine konvertierte Sarazenin (Arabella/Gyburc) heiratete und schließlich ins Kloster ging. Um ihn sollen all die alten Sagen des Guillaume-Cyclus kreisen. Aus persönlichem Haß habe Ludwig alle Hinweise auf ihn aus den Geschichtsbüchern tilgen lassen. Dikigoros ist noch immer überzeugt, daß die meisten geografischen Lokalisierungen Greubs zutreffend sind; aber mit seiner zeitlichen Einordnung hat er ganz erhebliche Probleme. Man mag die Thesen eines Heribert Illig, daß Karl der Große, ja drei ganze Jahrhunderte des Mittelalters eine Erfindung der Chronisten seien, für abwegig halten oder nicht - selbst wenn man das tut, haben die Heldentaten des Guillaume d'Orange in der Geschichte des 9. Jahrhunderts keinen Platz: Wilhelm der Heilige kämpfte nicht im Rhône-Delta und der Provence (wo im 9. Jahrhundert gar keine Sarazenen saßen), sondern am Ebro - er entriß den Arabern das heutige Roussillon und die Grafschaft Barcelona. Nein, am Schauplatz des Geschehens im Willehalm setzten sich die Araber erst zu Beginn des 10. Jahrhunderts fest, nämlich in Fraxinetum, dem heutigen La Garde-Freinet bei Fréjus. Die modernen Historiker neigen dazu, das als kleines Piratennest abzutun; aber die Chroniken sprechen eine andere Sprache: Fast ein Jahrhundert lang machten die Araber von dort aus die Provence und das Rhône-Tal bis hinauf nach Vienne unsicher. Erst 975 (einige meinen auch, erst 985 - die Quellen stimmen in diesem Punkt nicht überein) wurden sie besiegt - von Wilhelm III 'Taillefer'.

Und wenn wir uns nun noch einmal den Willehalm und den Parzivâl vornehmen und anhand der Kriterien Greubs nachprüfen, welche der dort erwähnten Personen und Ereignisse einen Bezug zu der in anderen Quellen überlieferten Geschichte haben könnten, stellen wir bald fest, daß sich im 10. Jahrhundert viel eher Parallelen finden lassen als im 9. (Ihr, liebe Anhänger Heribert Illigs, könnt also jetzt auch endlich Greubs Thesen, die Ihr bisher immer gescheut habt wie der Teufel das Weihwasser, zur Hand nehmen und Euch mit ihnen anfreunden :-) Offensichtlich war der "keiser Karl" des Willehalm nicht Karl der Große, und sein Sohn Lôys nicht Ludwig der Fromme, der auch mit keiner Verwandten von Guillaume le Saint [Wilhelm dem Heiligen] (755-812), den Greub hinter "Kyot" vermutet, verheiratet war (was schon deshalb nicht sein kann, weil Wolfram jenen "sanct Willehalm" in den Eingangsversen als eine separate Person anruft, er also nicht zugleich die Hauptfigur sein kann, die er auf Französisch "Gwillâms" und auf Deutsch "Willalm" nennt - letzteres wäre auch der korrekte Name für das Epos). Und auch die vielen anderen "Könige", Herzöge, Grafen und sonstige Fürsten, mit denen man sowohl im Parzival als auch im Willehalm die Straße pflastern kann, dürfen wohl nicht ganz wörtlich genommen werden. Oder sollte es wirklich eine Zeit gegeben haben, als jeder Graf sich "künec" nennen konnte, jedes Duodez-Fürstentum als "reino" bzw. "royaume" [Königreich] galt und überhaupt jeder daher gelaufene Krautjunker den großmächtigen Herrscher spielen konnte? Ja, liebe Leser, die gab es, nämlich im 10. und 11. Jahrhundert. Allein in Burgund (früher auch "Arelat" genannt, nach der Stadt Arles, heute meist "Provence") gab es damals drei "Königreiche", und der Ärger ist, daß die meisten "Könige" abwechselnd Ludwig, Karl, Haimerich und Wilhelm (bzw. deren französische Entsprechungen) hießen, so daß die Auswahl riesig ist, und die erhaltenen Quellen widersprechen einander z.T. ganz erheblich, so daß die Suche nach den richtigen an die nach der sprichwörtlichen Stecknadel im Heuhaufen erinnert. (Zum Trost: "Guillaume Taillefer" gab es nur einmal, wir brauchen uns "nur" noch durch den Wust seiner Verwandschaft und seiner bzw. ihrer aller Heldentaten zu wühlen :-)

[Die drei burgundischen 'Königreiche' im 10. Jhdt]

Wir dürfen und müssen dazu beide Epen heran ziehen, denn Willalm und Gahmuret sind Zeitgenossen. Wenn Greubs Gleichsetzung von Willalm und Kailet/Kyot zutrifft, ist der letztere Gahmurets Neffe - oder Vetter, die Germanisten sind sich bei der Übersetzung von "neve" nicht ganz einig. (Es kann beides heißen, aber an einer Stelle bezeichnet Wolfram Kailet als "sîner [Gahmurets] muomen [Tante mütterlicherseits] sun", und das wäre ein Vetter; aber auch die "base" hat ja im Laufe der Zeit einen Bedeutungswandel durch gemacht, von der Tante väterlicherseits zur Cousine - und wenn das bei Mume ähnlich war, dann wäre es halt ein Neffe dritten Grades.) Das ist aber nicht gar so wichtig, einigen wir uns einfach darauf, daß Kailet in etwa gleichaltrig, vielleicht ein paar Jährchen jünger war als Gahmuret. Diesem Gahmuret müssen wir einen etwas längeren Exkurs widmen, denn er ist eine der faszinierendsten Gestalten seiner Zeit - und einer der krümmsten Hunde, von dem die Literatur-Geschichte berichtet hat. Rekapitulieren wir kurz seinen Werdegang, wie Wolfram von Eschenbach ihn in den beiden ersten Büchern des Parzivâl wiedergibt: Er ist der jüngere Sohn des "Königs" Gadîn (nach Greubs Recherchen eines Duodezfürsten aus dem Elsaß), für den es nichts zu erben gibt außer dem väterlichen Wappen, einem Panther. Gahmuret tauscht dieses Wappen - "dafür habt Ihr doch sicher Verständnis", kommentiert Wolfram - gegen einen silbernen Anker auf grünem Feld und begibt sich in die Dienste des Kalifen von Baldac, den man auch den "Bâruc" nennt. Für den erobert er Alexandrîe und Babilôn, gewinnt allergrößten Ruhm und - ja, und warum bleibt er dann nicht dort? Wolfram scheint es nicht zu wissen, jedenfalls taucht Gahmuret als nächstes kommentarlos im Hafen von Patelamunt auf. (Dahinter verbirgt sich Tortosa an der Ebro-Mündung; für alle, die das nicht auf Anhieb glauben wollen, hat Dikigoros das an anderer Stelle ausführlich begründet; er will sich hier nicht wiederholen.) Das wird gerade von zwei Heeren belagert. Gahmuret besiegt die Belagerer und gewinnt so erstens die Rüstung und den Helm ("Adamas" genannt - er bastelt sich noch einen schweren Anker aus Diamanten als Helmzier dazu, woraus manche Germanisten fälschlich geschlossen haben, der ganze Helm sei aus Diamanten gewesen) von Ritter Îsenhart und zweitens Herz und Hand der befreiten "Mohrenkönigin" Belacâne von "Azagouc" und "Zazamanc". Als sie von ihm schwanger wird, reißt er unter Hinterlassung eines dümmlichen Abschiedsbriefes aus zu seinem "neven" Kyot von "Dôled" (das Greub zutreffend als Tudela am Ebro identifiziert hat - die Germanisten, die es für Toledo halten, irren, denn das hieß damals "Ţulaiţula"), der freilich ausgezogen ist zu einem großen Turnier in Kanvoleis. Gahmuret reist ihm nach, gewinnt das Turnier und damit Herz und Hand der "Königin" Herzeloide. Duplizität der Ereignisse: Als sie schwanger wird, haut Gahmuret wieder ab, d.h. er kehrt zum "Bâruc von Baldac" zurück. Diesmal hinterläßt er nicht bloß einen Brief, sondern schickt nach einem halben Jahr ein paar Knappen vorbei, die Herzeloide erzählen, daß Gahmuret vor Baldac gefallen sei: "Ihr Mann ist tot und läßt Sie grüßen..." so spricht Mephisto in Goethes Faust, womit er sagen will, daß besagter Mann in der Hölle schmort - und da gehört nach Dikigoros' Überzeugung auch Gahmuret hin.

Was - wie kommt Dikigoros zu solch einer negativen Einschätzung jenes großen Helden? Gehen wir noch einmal zurück an den Anfang und versuchen gleich, die Geschichte zeitlich und räumlich in die uns bekannte Historie einzuordnen, denn wenn Gahmuret tatsächlich ein so großer Held war und Wolfram da nicht bloß ein Märchen wiedergibt, dann kann es ja nicht sein, daß der in den Geschichtsquellen überhaupt nicht auftaucht. Aber egal wo man jenes Baldac, das er erobert haben soll, ansiedelt: weder in Mesopotamien noch in Nordafrika noch in Spanien gab es in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts derartige inner-islamische Kämpfe, denn damals regierte unangefochten der famose Hārūn-ar-Rāšīd, der es zudem nicht nötig gehabt hätte, christliche Söldner zu engagieren und sie auch noch auf leitende Kommandoposten zu befördern. Und auch von Kämpfen zwischen Christen und Muslimen in der Provence ist aus jener Zeit nichts bekannt - nach der Schlacht von Tours und Poiters anno 732 war den Arabern fürs erste jegliche Lust zu Angriffen auf das Land der Franken vergangen; ihren vorerst letzten Einfall ins Rhône-Tal verzeichnen die Chroniken für das Jahr 715. Im 10. Jahrhundert dagegen war in der islamischen Welt der Teufel los, genauer gesagt der Bürgerkrieg aller gegen alle - nicht nur zwischen Sunniten, gemäßigten und radikalen (ismā'īlitischen) Schī'iten. In einer solchen Situation schauten die "Kalifen" (die plötzlich fast so zahlreich wurden wie die "Könige" im christlichen Abendland) nicht darauf, woher das Kanonenfutter kam, das sie in die Schlacht warfen. Auch in der Provence, insbesondere im Rhône-Tal, wurde jetzt erbittert gekämpft, und insbesondere die Orte, die wir aus dem Guillaume-Circle kennen, wie Vienne, Orange, Nîmes und Arles, wechselten im 10. Jahrhundert mehrmals die Besitzer, je nachdem wie stark oder schwach die muslimischen "Piraten" in und um Fraxinetum waren (und wie sehr sich die ihnen gegenüber stehenden Christen durch innere Kämpfe selber geschwächt hatten). Wo kamen diese arabischen "Piraten" eigentlich her? Richtig, von "Ifrīqiya" [Nord-Afrika, genauer gesagt das heutige Algerien und Tunesien]. Dort versuchten seit Beginn des 10. Jahrhunderts die Fāţimiden die Macht an sich zu reißen. Sie waren anfangs nur eine kleine Minderheit, denn ihr Glauben beruhte auf einer obskuren Geheimlehre (die Dikigoros im Verdacht hat, bei der ebenso obskuren Geheimlehre vom Gral Pate gestanden zu haben), und so dauerte es bis zum Jahre 969 christlicher Zeitrechnung, ehe sie endlich die Macht in Ägypten an sich reißen konnten, das ein Feldherr eroberte, der ein zum Islam konvertierter Christ war: "Dschawar as-Siqillī [Edelstein aus Sizilien - dessen 2. Konsonant damals noch "k" gesprochen wurde, nicht "tsch" oder "ts"]". (So wird er jedenfalls in den gängigen Lexika geschrieben, wir kommen weiter unten noch einmal auf die richtige Schreibweise zurück.) Er gewann die Schlacht von Alexandria, zerstörte das alte ägyptische Babylon (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Stadt im Zweistromland!) und gründete an seiner Stelle eine neue Stadt, die bis heute in westlichen Atlanten "Kairo" heißt, auf Arabisch aber "Al-Qāhira [Siegburg]", nach der alten Hauptstadt der Fāţimiden in Tunesien, die noch heute "Kairouan" heißt und ein beliebtes Ziel von Pilgerreisen ist - und regelmäßiger Bestandteil von Rundfahrten für Pauschaltouristen war, bevor die Machtergreifung muslimischer Fundamentalisten im Kielwasser des "Arabischen Frühlings" von 2011 den nicht-islamischen Fremdenverkehr zum Erliegen brachte.

Wir dürfen also getrost davon ausgehen, daß mit dem "Baldac" des Parzivâl nicht Baģdād im heutigen Irāq gemeint ist. (Ein Krautjunker aus Burgund hätte schwerlich Mittel und Wege gehabt, um dorthin zu gelangen; die Küste von "Ifrīqiya" lag dagegen direkt gegenüber auf der anderen Seite des Mittelmeeres.) Aber was dann? Vielleicht ein Ort in Tunesien oder in Ägypten? Dikigoros weiß es nicht, er hat nur eine Vermutung, die darauf beruht, daß im Parzivâl nie von der Eroberung Ägyptens die Rede ist, in den arabischen Quellen über Dschawar aber nie von "Baldac". Könnte es etwa sein, daß Wolfram - der ja nach eigenen Angaben aus einer Quelle von Tudela schöpft, also vermutlich aus Aufzeichnungen Kailets von Dôlet, des "neven" von Gahmuret - da das ägyptische Wort für Land, bilād, verballhornt hat? "Bilād Mişr" nannten die Araber das "Land Ägypten", so wie sie das "Land der Schwarzen", nämlich das alte Ober-Ägypten, "Bilād as-Sudan" nannten und das "Land der Vandalen" (das heutige Andalusien) "Bilād al-Andalus". Aber das ist wie gesagt nur eine Vermutung. Wenige Jahre später machten die Fāţimiden Kairo zu ihrer neuen Hauptstadt, und weil Undank der Welt Lohn ist, fiel auch Dschawar as-Siqillī beim Kalifen Abū Tamin al-Mu'izz in Ungnade und verschwand vorübergehend in der Versenkung. Wohin weiß man nicht, wie man auch über seine Herkunft nichts Genaues weiß. Ein Chronist schließt aus seinem Beinamen, er sei wohl als Sklave aus Sizilien gekommen, als die Muslime das eroberten, und habe als solcher schon dem Vater von al-Mu'izz gedient, in dessen Kriegsdienst er dann übernommen worden sei; ein anderer Chronist meint, er sei ein Jude aus Süditalien gewesen. Wie dem auch sei, als al-Mu'izz 975 stirbt, taucht Dschawar plötzlich wieder auf, entscheidet den Kampf um die Thronfolge zugunsten seines zweiten Sohnes al-Azīz, steigt bis zum Wäzir (Stellvertreter des Kalifen) auf, wird zwangspensioniert, nachdem er mit dem Versuch, Palästina zu erobern, gescheitert ist und stirbt 992 in Kairo.

So weit, so gut, aber was sollen diese beiden Geschichten denn nun miteinander zu tun haben? Ganz einfach, liebe Leser: Dikigoros ist überzeugt, daß der "Gahmuret" des Parzivâl und der "Dschawar as-Siqillī" der arabischen Geschichtsbücher ein- und dieselbe Person sind. Ihr haltet das für völlig abwegig? Wartet mal ab... Zunächst ist festzuhalten, daß jener Gahmuret lügt und betrügt, wo er nur kann. Das fängt mit einer massiven Personenstands-Fälschung in Tateinheit mit Urkunden-Fälschung an - denn Wappen waren damals dazu da, Urkund über ihre Träger abzulegen. Was aber tut Gahmuret, als er in die Dienste des Kalifen eintreten will? Er legt sich einfach ein neues Wappen zu. Wozu? Nun, Ihr werdet sicher mit Wolfram von Eschenbach Verständnis dafür haben, daß Gahmuret nicht gerade als erb- und mittelloser Krautjunker auftreten will, folglich den Panther ablegt. Aber nun überlegt einmal: Wenn Ihr Euch in den 60er Jahren des 10. Jahrhunderts als junger Mann ohne Berufserfahrung und echte Referenzen bei einem Emporkömmling wie dem gerade erst selbst ernannten Kalifen der Fāţimiden als General bewerben wolltet, welches Wappen würdet Ihr Euch zulegen? Der "Kalif" kennt sich wahrscheinlich in europäischer Genealogie und Heraldik nicht allzu gut aus, es muß also ein Wappen aus der näheren Umgebung sein, möglichst eines, vor dem die Araber Respekt, besser noch eine Heiden-Angst haben. Gab es damals irgendein westliches Volk, das diese Voraussetzungen erfüllte? Ja, ein einziges: Auf Sizilien waren die Araber in erste erbitterte Kämpfe mit den Normannen verwickelt, die sich anschickten, ihnen die wertvolle Insel zu entreißen. (Diese Tatsache entlarvt die Angabe des Chronisten, Dschawar sei wohl als Sklave bei der Eroberung Siziliens durch die Araber nach Afrika gekommen, als völlig abwegige Spekulation; die Araber hatten Sizilien rund anderthalb Jahrhunderte zuvor den Byzantinern abgenommen.) Gewiß, vorerst waren das nichts weiter als Nadelstiche - etwa wie die Überfälle der Araber von Fraxinetum aus in die Provence -, aber für die Betroffenen ebenso ärgerlich. Das normannische Fraxinetum auf Sizilien aber lag ganz in der Nähe der Hauptstadt Palermo; die Sizilianer nannten und nennen es bis heute: "San Mauro Castel[lo]verde".

Na und? Fragen wir anders herum: Gab oder gibt es irgendwo auf der Welt heute noch ein Wappen, wie es Gahmuret trug: silberner Anker auf grünem Grund? (Mit Verlaub, eine ganz ausgefallene Idee; normalerweise würde man doch den Anker immer auf blauem [Meeres-]Grund darstellen, und solche Wappen gibt es denn auch wie Sand am Meer - aber Wolfram besteht wiederholt darauf, daß es das grünste aller Grüns war, noch grüner als ein Smaragd.) Nun, wer Castelverde kennt, wird mit Recht antworten: dort jedenfalls nicht, denn dessen Wappen sind doch zwei gekreuzte silberne Säbel auf rotem Grund über einem Mauertor vor drei grünen Bäumen auf silbernem Grund. Wohl wahr, liebe Leser, so sieht das Wappen heute aus. Aber manchmal ist es hilfreich, den Blick etwas über den Tellerrand des alten Europa hinaus schweifen zu lassen, über den großen Teich, nach Amerika, dem bevorzugten Auswanderungsziel aller sizilianischer Mafiosi. Einer von ihnen, dem der Immigration Officer brutal den Familien- durch den Ortsnamen ersetzte und den letzteren bei der Gelegenheit auch noch zu "Loverde" verstümmelte, sollte einen Enkel haben, der eines Tages Bischof von Arlington wurde. Und dieser gute Bischof Loverde, der Sinn für Geschichte und Tradition hat, nahm bei seiner Ernennung ein persönliches Wappen an, das sich wie folgt zusammen setzt: Die eine Hälfte, in den Farben der USA - rot, weiß, blau - gehalten, betrifft die Kathedrale von Arlington und braucht uns hier nicht weiter zu interessieren. Umso mehr die andere Hälfte: Sie stellt das alte Wappen von Castelloverde dar, nämlich einen silbernen Anker auf grünem Grund, dem Loverde noch ein goldenes "M" für Maria, die Mutter Gottes, beigefügt hat, sowie einen Polarstern, der für seine frühere Diozöse Norwich stehen soll. (Die drei goldenen Berge darunter würde Dikigoros gerne als die drei "Königreiche" Gahmurets interpretieren, aber nach offizieller Lesart sollen sie nur drei Hügel in Sizilien darstellen, in deren Nähe Loverdes Vorfahren lebten.) So erhalten sich alte Wappen, und ohne jenen Bischof hätte Dikigoros zugegebenermaßen das "missing link" zwischen "Gahmuret" und "Dschawar von Sizilien" nicht gefunden. Ihr meint, das hätte er sich alles nur ausgesponnen? Irrtum, Ihr könnt es genau so auf der Homepage der Diozöse nachlesen. Castelverde ist aber der einzige Ort auf der Welt, dessen Wappen einen silbernen Anker auf grünem Grund trägt bzw. trug - Gahmuret wußte also ganz genau, was er tat, als er sich das falsche Wappen zulegte. (Wieder zuhause, bei der Heirat mit Herzeloide, wird er es ablegen - es hat ja seinen Zweck erfüllt bzw. kann den Zweck, den es in Nordafrika erfüllen sollte, in Europa nicht erfüllen - und wieder den Panther des Vaters annehmen, zumal er inzwischen dessen Erbe geworden ist, denn Gadîn ist ebenso verstorben wie Gahmurets älterer Bruder Gâlôes.)

[modernes Wappen von Castelverde] [das persönliche Wappen von Bischof Loverde mit dem alten Wappen von Castelverde, dem silbernen Anker im grünen Feld]

Schau mal an (aber besser nicht zu genau, Herr von Anschouwe! :-), einer der gefürchteten Normannen, noch dazu direkt aus deren sizilianischer Hochburg Castelverde - der bekam den Job! Und die im Parzivâl geschilderten Heldentaten vollbrachte er tatsächlich, er eroberte nämlich für seinen Kalifen Ägypten mit Alexandria und Babylon (was wie gesagt der alte Name für Kairo war). Aber Moment mal, hieß der Kalif im Parzivâl nicht "Bâruc", und der historische al-Mu'izz? Pardon, liebe Leser, so hieß weder der eine noch der andere, denn beides waren nur Beinamen. Aber was heißt hier "nur" - aus denen kann man meist viel mehr erkennen als aus den immer wieder kehrenden, nichtssagenden "echten" Namen. Wie der Kalif im Parzivâl richtig hieß, verrät uns Wolfram nicht; er wurde halt "der Bâruc" genannt. Der vierte fāţimidische Kalif hieß Abū Tamin, wurde aber "al-Mu'izz" genannt. Darf Dikigoros etwas weiter ausholen? Es gab in der Geschichte der Fāţimiden nur zwei Herrscher, die einen christlichen Oberbefehlshaber beschäftigten (der natürlich zum Islām konvertieren mußte - auch Gahmuret muß das getan haben, denn Herzeloide fordert ihn vor ihrer Heirat eindringlich auf, sich von der "Heidenschaft" zu lösen und wieder zum Segen der Taufe zurück zu kehren), nämlich Abū Tamin al-Mu'izz und dessen Nachfolger Abūl Mansūr Nizar al-Azīz. (Danach wurden alle Nicht-Muslime, ja alle Nicht-Schī'iten wieder grausam verfolgt.) Das brachten die Umstände so mit sich, denn die Ismā'īliten bildeten in Ägypten zunächst nur eine kleine Oberschicht. Um die sunnitische Mehrheit ihrer Untertanen nieder zu halten, waren sie gezwungen, sich der Hilfe der anderen Minderheiten zu bedienen: orthodoxer ("armenischer"), römisch[-katholisch]er und koptischer Christen, aber auch und vor allem der Juden. Abū Tamin wurde dafür berühmt-berüchtigt - und daher erklärt sich auch sein Beiname. Wie nannte man in Deutschland bis 1945 einen Juden? "Itzig". Wie nannte und nennt man ihn in Tunesien? "Barukh". Wie nannte und nennt man ihn in Ägypten? "Moses" (oder "Moische"). Was wurde bei Wolfram aus al-Barukh? "Der Bâruc". Was wurde in den arabischen Chroniken aus al-Moische? "al-Mu'izz". Beide Beinamen bedeuten das gleiche!

Ja, aber Gahmuret ist doch verhältnismäßig jung (Wolfram läßt Herzeloide diesen besonderen Umstand ausdrücklich beklagen) gefallen, und Dschawar der Sizilianer hat noch Karriere gemacht und bis 992 gelebt?! Gemach, liebe Leser, wir sind noch nicht fertig mit Gahmuret, dem Lügner und Betrüger. Er hat nämlich nicht nur Abū Tamin beim Einstellungsgespräch belogen, er hat nicht nur Belacâne belogen und betrogen, sondern auch - Herzeloide. Gahmuret ist nicht vor "Baldac" gefallen, und Wolfram weiß das auch ganz genau: Es ist zwar nicht die einzige, aber die längste Stelle im Parzivâl, wo er Berichte nicht aus zweiter, sondern aus dritter Hand wiedergibt. Er schreibt nicht: "Meine Quelle sagt...", sondern: "Meine Quelle sagt, daß Gahmurets Knappe gesagt hat..." Und habt Ihr Euch schon mal Gedanken gemacht, warum direkt im Anschluß an jene - völlig unglaubhafte - Story des Knappen vom Adamas-Helm, der nicht mehr dicht gewesen sei, weil irgendein böser Verräter ein Glas mit Blut vom Bock drüber gekippt haben soll, Wolframs langer Exkurs über verlogene und untreue Weiber kommt? Etwa, weil ihm das ein persönliches Anliegen ist, das er schon immer mal gerne los werden wollte, und ihm dafür gerade keine bessere Stelle einfiel? Das könnt Ihr den Germanistik-Professoren erzählen, aber nicht Dikigoros. Wolfram will uns durch die Blume sagen: "Dieser Gahmuret hat die Weiber zwar ganz übel belogen und betrogen, aber die meisten verdienen es ja auch nicht besser..." (Nun, die arme Herzeloide schon, denn die ist eine der wenigen positiven Ausnahmen, und die tut ihm ja auch entsprechend leid, aber da läßt sich nichts machen - es trifft halt immer die falschen.) Und jetzt lest bitte noch einmal die Verse vom Turnier in Kanvoleis: Gahmuret wollte Herzeloide eigentlich von Anfang an gar nicht heiraten, mußte mehr oder weniger dazu gezwungen werden. Fazit: "Gahmuret" und "Dschawar der Sizilianer" sind ein- und dieselbe Person. Und nun kann Euch Dikigoros ja auch die richtige Transskription seines Namens verraten - er wollte Euch oben nicht schon die Spannung nehmen: Das "Dsch" ist ein "Ğ"; der erste Vokal ist ein Diftong, der sich zwar "aw" (oder "av") schreibt, aber wie ein indisches "au" (dumpfes, offenes "o", von Dikigoros bevorzugt "å" transkribiert) gesprochen wird; zwischen der ersten und der zweiten Silbe steht noch ein Dehnungs-h, das von westlichen Schreibern meist geschlabbert wird. Das arabische Wort für Edelstein ("Juwel") schreibt sich also richtig "Ğåhar" [wobei das "ğ" in Ägypten statt "dsch" auch "g" ausgesprochen wurde und wird]. Und woher kommt "-muret"? Dikigoros ist sich nicht ganz sicher; er schwankt zwischen "murīd" - was den jungen Mann bezeichnen könnte, der Gahmuret war, als er in die Dienste des "Bâruc" eintrat - und "muwallad" - was wörtlich "adoptiert" heißt und Christen bezeichnete, die zum Islam übergetreten waren. Seht Ihr, liebe Germanisten, ein wenig Fremdsprachen-Kenntnisse können nicht schaden.

Doch nun könnte ein anderer Einwand kommen: Die Datierung kann nicht stimmen, denn wenn Gahmuret alias Dschawar 975 nach Nordafrika zurück gekehrt ist, dann muß das Turnier von Kanvoleis, auf dem er Herzeloide heiratet, im selben Jahr statt gefunden haben, denn er haut ja schon ab, als sie noch mit Parzivâl schwanger geht. Aber während dieses Turniers, als er noch schwankt, ob er Belacâne für Herzeloide verlassen soll oder nicht, kommen Boten der "Königin Amphlîse", die ihm auch einen Heiratsantrag macht, denn "nû was ouch rois de Franze tôt". Friede seiner Asche, und auch Dikigoros' Theorie - oder? Welcher französische König soll denn 975 gestorben sein? Das ist eine gute Frage, liebe Leser, und sie ist schwierig zu beantworten, wenn man nur die gängigen Geschichtsbücher kennt. Wir wissen zwar, wie frei Wolfram den Begriff "künec [König]" gebraucht; aber hier schreibt er ja "Roi[s]", und offizieller Herrscher des [West-]Frankenreichs war damals ein gewisser Lothar, der sich bester Gesundheit erfreute und erst 986 das Zeitliche segnen sollte. Allerdings hatte der schwerlich etwas zu regieren; vielmehr war er, seit er 954 als Kind den Thron bestiegen hatte, nur eine Marionette in den Händen der mächtigen Herzöge von Franzien (denen auch Paris gehörte), erst Hugos des Älteren (so ist "Magnus" zu übersetzen, nicht mit "der Große", liebe Historiker!) - der freilich schon 956 starb -, dann Hugos des Jüngeren (später wurde "cadet" zu "Capet [Mantel]"), der 987 den Königsthron an sich reißen und die Dynastie der Capetinger begründen sollte. Aber auch die waren im Jahre 975 noch am Leben. Also Fehlanzeige? Nun, liebe Leser, nehmt Euch mal einen historischen Atlas vor und schaut nach, woraus Frankreich und Franzien damals bestanden: "Frankreich" war ein kleines Fleckchen Land, eingeklemmt zwischen der Normandie, den englischen Festlandsbesitzungen, den süd-französischen Ländereien, dem Königreich und dem Herzogtum Burgund sowie Flandern-Brabant-Niederlothringen. Und Franzien war kaum mehr als Paris mit Vororten; der Rest von "Frankreich" gehörte während jener Jahre, als der letzte Karolinger aus dem allerletzten Loch pfiff und der erste Capetinger die Macht noch nicht offiziell ergriffen hatte, einem Herrscher, dem die Nachwelt den unschönen Namen "tricator" oder "le tricheur" [der Betrüger] verliehen hat: Theobald (oder "Tedbald" oder "Thibaud") I von Blois, "von Gottes Gnaden" (ein Titel, den er sich selber zugelegt hatte) Graf von der Champagne, von Rennes, von Chartres, von Troyes und von Beauvais, Vicomte von Tours und Châteaudun, Seigneur von Chinon, Saumur, Montagne, Montagu, Vierzon und Beaugency (Dikigoros hofft, daß er keine seiner nach und nach zusammen gerafften Ländereien vergessen hat :-), Vetter von Hugo dem Älteren von Franzien. Dieser Theobald hatte seinem Neffen Hugo Capet bereits den größten Teil Franziens entrissen, den Titular-König Lothar eingefangen und de facto abgesetzt; er war der heimliche "rois de Franze", und verlaßt Euch drauf: er wäre auch offiziell dessen Nachfolger geworden, und die nächste Dynastie auf dem französischen Thron hätte das Haus Blois gestellt, nicht die Capetinger, wenn Theobald nicht - 975 gestorben wäre.

Noch Fragen? Ach so, Theobalds Witwe hieß doch gar nicht Amphlîse, sondern Luitgard, oder? Richtig, aber die gute Frau war Mitte 50 und konnte schwerlich erwarten, daß Gahmuret, der schätzungsweise Mitte 20 war, sie heiraten würde. (Auf ein paar Jährchen Altersunterschied kam es damals nicht an; ein Mann heiratete aus dynastischen Gründen auch eine zehn Jahre ältere Frau; aber sie mußte noch gebärfähig sein, sonst war es ja nichts mit der Dynastie; und Luitgard war schon von Theobald als Witwe übernommen worden - von Herzog Wilhelm I von der Normandie, über den Wace in seinen "Roman de Rou" ebenfalls geschrieben hat, so schließt sich der Kreis :-) Amphlîse soll aber eine Jugendbekanntschaft von Gahmuret gewesen sein - geht also mal getrost davon aus, daß es sich bei der "Königin" (auch diese Bezeichnung gebraucht Wolfram bekanntlich äußerst großzügig) nicht um Theobalds Witwe handelte, sondern um seine ältere Tochter, und die hieß: Emme Louise (oder Emmeline - die Quellen sind sich mal wieder nicht einig), woraus Wolfram in seinem berühmt-berüchtigten Hang zu neuen Wort- und vor allem Namensschöpfungen halt "Amphlîse" macht. (Was nicht ausschließt, daß die auch schon - wie Herzeloide - verwitwet war, angeblich war sie mit Wilhelm IV von Aquitanien verheiratet, aber ob vor oder nach 975 und wie lange wissen wir nicht.) Warum sie mit dem Heiratsantrag wartete, bis ihr Vater gestorben war? Vielleicht weil der gegen eine Ehe mit dem Hallodri Gahmuret alias Dschawar gewesen wäre. Vielleicht, weil sie erst jetzt, als Erbin, etwas darstellte. Vielleicht weil sie jetzt einen starken Mann und erfahrenen Krieger brauchte, der ihr Erbe verteidigte. (Ihr ältester Bruder war schon gefallen, der zweite im Kloster, der dritte noch unerfahren, und ansonsten hatte sie nur noch eine jüngere Schwester.) Dikigoros weiß es nicht, es spielt auch keine Rolle, denn jeder der drei Gründe hätte als Motiv ausgereicht. Und vielleicht müssen wir den Schluß des vorigen Absatzes wie folgt ergänzen: "und es seiner Tochter nicht gelang, einen Ehemann zu finden, der ebenso tüchtig war wie ihr Vater." Exkurs Ende.

* * * * *

Was sollte dieser lange Exkurs eigentlich? Er sollte uns den zeitlichen Bezugsrahmen liefern für den Willehalm. Und das tut er auf den Punkt genau: 969 erobert Gahmuret alias Dschawar Ägypten, 972 fällt er in Ungnade und kehrt nach Europa zurück, gewinnt erst Patelamunt und Belacâne, dann das Turnier von Kanvoleis und Herzeloide. 975 verschwindet er wieder nach Nordafrika und ward nicht mehr gesehen. In jenen drei Jahren hat auch sein "neve" Kailet alias Willalm das spanische Tudela verlassen und ist nach Burgund zurück gekehrt - und zwar endgültig, nicht nur vorübergehend für ein kurzes Turnier, sonst hätte Gahmuret ja in Tudela auf seine Rückkehr warten können, statt ihm nachzureisen. (Wie wir später erfahren, ging es um die Regelung der Nachfolge des verstorbenen Gandîns bzw. des getöteten Gâlôes - ein triftiger Grund, der ohne weiteres glaubhaft und einleuchtend ist.) 975 erobert Wilhelm III "Taillefer" Fraxinetum. Kein Zweifel: der zeitliche Rahmen paßt wie angegossen, wenn wir in Wilhelm Taillefer den "Willalm" aus Wolframs Willehalm und den "Kailet" aus Wolframs Parzivâl sehen! Wenn aber nun "Willalm", "Kailet" und "Kyot" identisch sind, wie Greub meint (und Dikigoros folgt ihm darin - halt nur nicht darin, daß er auch noch identisch sei mit dem heiligen Willehalm) und Kyot wiederum die Quelle für Wolfram von Eschenbach ist (so schreibt er es schließlich selber, und nur ein paar ungläubige Professoren für Germanistik wollen ihm das nicht abnehmen; aber schon Chrestien de Troyes beruft sich auf ihn), dann... ja dann müssen wir möglicherweise die Geschichte des Minnesangs neu schreiben, jedenfalls das erste Kapitel, das dann rund ein Jahrhundert früher anzusetzen wäre. Allgemein gilt Wilhelm IX von Aquitanien (1071-1127) als "der erste Troubadour". Allerdings ist die Forschung schon seit einigen Jahrzehnten zu der Überzeugung gelangt, daß er wohl nur derjenige war, dessen Lieder als erste schriftlich aufgezeichnet wurden. Vielleicht ist aber auch das ein Irrtum; vielleicht waren die Epen Wilhelms III, aus denen Wolfram von Eschenbach den Willehalm und den Parzivâl gemacht hat, schon vorher da. Und vielleicht hatte auch Wace davon gehört, und vielleicht meinte er deshalb, Wilhelm "Taillefer" müsse als erster Troubadour auch der Verfasser der "Chanson de Rollant" gewesen sein und setzte ihn deshalb einfach mit dem "Taillefer" gleich, der es bei Hasting sang und danach fiel.

(Fortsetzung folgt)

zurück zu Roland und das Olifant

heim zu Reisen, die Geschichte[n] machten