DER WOLF VON TAMBOW . . .
UND DIE PROVINZRATTEN

************************************
[Das Buch] [Der Film] [Die DVD]
von Sowjet-Rußland nach Schweden
(und von Poltawa nach Stalingrad)

PËTR JEFIMOWISCH TODOROWSKIJ:
INTERDEWOTSCHKA (INTERGIRL)
*********************************
Ein Kapitel aus Dikigoros' Webseite
"AVEZ-VOUS BOURBON . . . ?"
Reisefilme des 20. Jahrhunderts

Den meisten Nicht-Russen dürfte der letzte große Film-Erfolg der untergehenden Sowjet-Union - einer ihrer größten überhaupt - völlig unbekannt sein, sowohl unter seinem Original-Titel als auch unter dem Titel, mit dem er auf den westlichen Markt gekommen ist: "Intergirl". (Lediglich fleißige Leser von Dikigoros' "Reisen durch die Vergangenheit" sind ihm an anderer Stelle schon einmal begegnet.) Das ist schade, denn es ist ein toller Film, der ausdrücklich auch für den Export gedacht war. [Woran erkennt man das, liebe Leser? Nun, das russische "jo", das im internen russischen Gebrauch genauso geschrieben wird wie das "je", nämlich einfach "e", wird hier - wie in den Lehrbüchern für Ausländer - "ë" geschrieben; achtet mal auf den Zettel, mit dem die bösen Schüler ihre Lehrerin in den Selbstmord treiben: "Zdjesdch zhiwët match prostitutky"!] Es ist dies einer der seltenen Fälle, in denen ein (trotz seines geringen Umfangs - was der ausdrücklichen Erwähnung bedarf im Lande der Dostojewskij und Tolstoj :-) hervorragender Roman stark abweichend, aber dennoch ebenso hervorragend verfilmt worden ist. (Die Regel sind ja leider langweilige Schinken, die - nachdem sie einmal von einer rüden Werbung in den Markt gedrückt worden sind - noch schlechter verfilmt werden.) Hinzu kommt eine sehr gute Film-Musik, was Dikigoros immer besonders wichtig findet (obwohl der schönste Titel - ein Tango - eigentlich nicht so recht nach Rußland paßt); Pjotr Todorowskij, der Regisseur, hat sie höchstpersönlich geschrieben. Und der Film hat auch noch eine Moral. Gewiß, eine ziemlich "spießbürgerliche" und dazu noch pro-sowjetische Moral; aber wer Dikigoros kennt weiß, daß ein Film nicht in dieser Sammlung auftauchen würde, wenn er sonst nichts zu bieten hätte. Stellen wir sie dennoch an den Anfang. Sie lautet, kurz gefaßt: "Bleibe im Lande und nähre dich redlich." Etwas ausführlicher könnte man sagen: "Saufe nicht, hure nicht, heirate keinen Ausländer und reise nicht ins Ausland." Ist das wirklich so schlimm? Dem Nicht-Russen fällt es schwer - meinen zumindest die Russen - sich in "die russische Seele [Duschá]" hinein zu versetzen. Noch schwieriger wird das - meint zumindest Dikigoros - wenn die Seele des Russen (und der Russin) von der "revolutionären" Psyche des Sowjet-Menschen überlagert wird, denn der Sowjet-Mensch verhält sich zum Russen wie der Ossi zum Deutschen. [Darf Dikigoros denjenigen, die ihn ob dieses etwas flapsigen Satzes kritisiert haben, entgegen halten, was Fëdor Stepun - neben Aleksandr Solzhenitsyn einer der letzten Russen, die Anspruch darauf erheben durften, eine echte "Duschá" zu haben - in seinen Memoiren dazu geschrieben hat: "Das Fundament aller sozialistischen Utopien war die Überzeugung, daß die Revolution wichtiger sei als die Nation. Aus dieser Verkehrung der natürlichen Weltordnung erklären sich alle Fehler und Verbrechen unserer Internationalisten. In ihrer blinden Begeisterung für die Revolution zerstörten sie gefühllos die lebendige Seele Rußlands." Und wenn Ihr noch etwas mehr über das Thema "die Seele des Sowjetmenschen ist eine Funktion der sowjetischen Wirklichkeit" lesen wollt, dann empfiehlt Euch Dikigoros die Memoiren von Gregorij Klimow ("Berliner Kreml", Kapitel VII, Unterkapitel 3). Und da er gerade bei den Lese-Empfehlungen ist: 1958 schrieb eine russische Adelige, die vor der Revolution von 1917 ins Ausland geflohen war und rund 40 Jahre später als Frau eines westlichen Diplomaten für einige Jahre nach Moskau zurück kehrte, ein Buch, dem sie den Titel gab: "Mein Rußland, verkleidet als UdSSR" - aber aus dem wird Dikigoros Euch hier ohnehin noch einiges zitieren, weil er glaubt, daß es zeitlos gültig ist, auch noch 30, ja sogar 50 Jahre nach seinem Erscheinen.] Wobei dann noch die Frage bliebe, inwiefern die Schweden typische Nicht-Russen sind - und die Antwort müßte lauten: "Überhaupt nicht, ganz im Gegenteil; denn es waren ja schwedische Waräger, die das Reich der Rūs, gründeten!" Man hätte den Film also besser zwischen Rußland und Finnland spielen lassen sollen. (Aber das sind Überlegungen eines Nordi; wenn Dikigoros ein Ossi wäre, hätte er hier vielleicht geschrieben, daß sich der Schwede zum Europäer verhält wie der Wessi zum Deutschen :-) Spaß beiseite; ein wenig ernsthafte Inhaltsangabe muß sein, bevor wir auf die Feinheiten und Tücken der Völker-Psychologie kommen.

[Wappen der Sowjet-Union]

Die erste Hälfte des Films spielt in Leningrad. (So, liebe jüngere Leser, hieß mehr als sieben Jahrzehnte lang die Stadt, in der einst ein gewisser Wladímir Uljanów - der sich "Lenin" nannte, nach dem Fluß Lena, an den er mal gereist war - die wodka-, nein rum-, pardon ruhmreiche russische Oktober-Revolution anzettelte. Heute heißt sie wieder nach ihrem Gründer, einem russischen Tsaren, genauer gesagt nach seinem Namenspatron, dem Heiligen Peter, Sankt Peterburg - ohne daß der Wodka-Konsum darob wesentlich gesunken wäre, obwohl der Preis für Wodka gestiegen ist, und zwar kräftig. Ihr kennt sie wahrscheinlich eher unter dem falschen Namen "Sankt Petersburg", mit deutschem Genitiv-s.) Dort lebt die junge Krankenschwester Tatjana, genannt Tanja [bitte mit langem "a" aussprechen, liebe Leser, nicht "Tannja"!], blond, blauäugig, aber nicht dumm, und fragt sich, warum Ausländerinnen - und Russinnen, die ein Ausreisevisum haben - etwas Besseres sein sollten als sie selber. Wozu studieren? Um sich, wie ihre Mutter, als schlecht bezahlte Lehrerin an einer Schule mit frechen Bengeln herum zu ärgern? Da ist es doch viel bequemer und einträglicher, sich in Inter-Hotels an - für russische Verhältnisse allesamt steinreiche - Geschäftsreisende aus dem westlichen (und östlichen - Japan gehört dazu :-) Ausland zu verkaufen. Jawohl, verkaufen, nicht bloß vermieten wie irgendeine dumme Durchschnitts-Hure. (Huren, liebe hoch-, ober- und mitteldeutsche Leser, ist das - ganz neutrale - niederdeutsche und niederländische Wort für "[ver]mieten".) Ihr Stamm-Freier Edward ["Edik"] Larsson aus Stockholm ist für westliche Verhältnisse kein sonderlich attraktiver Mann (und deshalb noch immer ledig): mittlerer Angestellter mittleren Alters, fast glatzköpfig (jedenfalls im Film - im Roman hat er noch Haare, die allerdings schon grau-meliert sind; im Film trägt dafür Tanja eine silberblonde Perücke, wenn sie im "Dienst" ist), schwerhörig (jedenfalls im Film, wo er ein Hörgerät trägt - der Roman weiß auch davon nichts), pedantisch, geizig, auf den Mund gefallen und von seinem ekelhaften Vorgesetzten Rönn permanent schikaniert (im Roman hat er von dem auch Tatjana "übernommen"). Aber als der sie in seinem drolligen Russisch fragt, ob sie ihn heiraten wolle, stellt sie nur eine Gegenfrage: "Und würden wir dann zu dir nach Schweden ziehen?" Als er bejaht, sagt sie sofort zu, und auf die Frage ihrer Mutter, ob sie ihn denn wenigstens liebe, antwortet sie nur kurz und trocken: "Falls erforderlich, werde ich ihn lieben." [Ihr meint, liebe des Russischen unkundige Leser, das sei doch weder kurz noch trocken? Aber was in der deutschen Übersetzung ganz normal, ja fast weitschweifig klingt, lautet im Original: "Nado budjet - poljubljú!" (Da kommt selbst der berühmt-berüchtigte britische Humor nicht mit :-) Und daß "kurz" nicht zugleich plump und primitiv sein muß, sondern ganz im Gegenteil sehr elegant und melodisch sein kann, zeigt z.B. Lenins wohl bekanntestes Zitat: "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser" übersetzten es die Deutschen für gewöhnlich - aber wie viel schöner ist doch das russische Original: "Dowerai no prowerai!"] "Aber Töchterchen," sagt die Mama (die von deren "Nebenjob" im Inter-Hotel nichts weiß, sondern sie für eine ganz normale Krankenschwester hält, die öfters mal eine Nachtschicht extra schieben muß) ganz entsetzt, "heißt das nicht, sich zu verkaufen?" - "Ja," sagt Tatjana, "das heißt es. Na und? Wer verkauft sich denn nicht? Politiker, Ärzte, Professoren, Rechtsanwälte, Künstler, Architekten, Ingenieure... bin ich etwa weniger wert als die?"

[Karikatur von Götz Wiedenroth]

Und so beginnt Tanja denn mit der Jagd nach den für eine Heirat ins Ausland notwendigen Papieren.
(Im Film ist es "nur" der Papierkrieg ihrerseits mit den russischen Behörden; im Roman kommt noch der Druck seitens des schwedischen Konsulats auf Edik hinzu. Der Generalkonsul weiß um Tanjas Vergangenheit und will verhindern, daß Edik diesen "Abschaum der russischen Gesellschaft" ins Land holt - er hält ihm die Scheidungs-Statistik vor: "80% der Ehen werden gleich wieder geschieden, und die Frauen landen in der Strip-show oder im Puff." Eigentlich schade, daß uns der Film diese Szene vorenthält, die damit endet, daß die bei dieser Gardinenpredigt anwesende Tanja ihm zum Abschied sch...freundlich für die nette Einladung dankt - auf Schwedisch, das sie bereits zu lernen begonnen hat, während der doofe Diplomat bis dahin geglaubt hatte, daß sie kein Wort von dem, was er da sagte, verstünde, und nun peinlich berührt aus allen Wolken fällt. Tatsächlich predigte er bloß bei Edik "tauben" Ohren :-)
Tatkräftig unterstützt wird sie dabei von den Kolleginnen ihrer Zunft (im Film spöttisch "Gewerkschaft" genannt), den Intergirls, die uns in einer köstlichen Szene vorgestellt werden als diejenigen, die bei der jüngsten Polizei-Razzia im Hotel "Inturist" aufgegriffen wurden: die Schnapsdrossel Sina[ida] Melejko [also eine Ukraïnerin, wie man am Nachnamen erkennt], die schon auf die vierzig zugeht, das aber hinter ihrer Takelage gekonnt versteckt; S[eraf]ima, genannt "Gulliver", die blonde, kräftig gebaute Sportwissenschaftlerin und Ex-Meisterin im Volleyball, Nina, genannt "Kísulja" [Verkleinerungsform von "Kísa", Miezekatze], die kleine, geschäftstüchtige Rothaarige, und schließlich die erst 16-jährige Natascha, die von den Älteren geschnitten wird, da sie mit ihrem Hurenlohn-Dumping die Preise verdirbt. Die meisten haben offiziell einen "ordentlichen" Beruf: Wie Tanja Krankenschwester, so ist Sina Bauarbeiterin und Natascha Schülerin - was freilich gar nicht zu ihrem Lebensstil paßt, wie die schlecht bezahlten Polizisten neidvoll bis cynisch feststellen. (Dieser Cynismus ist ein notwendiger Bestand der Sowjet-Gesellschaft.) Fragt der Polizei-Hauptmann Natascha: "Hattest du nicht versprochen, die Schule zu beenden? Dein Vater, was ist er doch gleich..." - "Professor für Afrikanistik," sagt sie, "obwohl er noch nie in Afrika war. In der Vorlesung an der Uni erzählt er seinen Studenten irgendwelchen Quatsch, und wenn er nach Hause kommt, lacht er sich darüber mit Mutter schief." Tja, an was soll ein Mädchen glauben, das so aufwächst? (Es sind für gewöhnlich nicht die "Schmuddelkinder" armer Leute, liebe Leser, die auf die schiefe Bahn geraten, sondern die Brut der "gutbürgerlichen" Taugenichtse, denen es zu gut geht, der Baader, Meinhof und wie sie sonst heißen - darin unterscheiden sich die Länder und Völker dieser Erde offenbar nicht! Und was die Professoren für Völkerkunde im allgemeinen und für Afrikanistik im besonderen anbelangt, so haben die auch bei uns oft keinen blassen Schimmer von den Dingen, über die sie im Hörsaal daher faseln, bloß daß sie meist nicht so ehrlich sind, ihren Frauen - und sich selber - das einzugestehen :-) Natascha (die im Roman später an AIDS sterben wird - der Film erspart uns diesen Seitenhieb auf die Unvorsichtigkeit mancher Anfängerinnen) und Sina werden verhaftet - wegen Aufenthalts im Ausländerhotel nach 23 Uhr im angetrunkenen Zustand, denn Prostitution gibt es offiziell nicht in der SU, also kann sie auch nicht verboten oder gar strafbar sein -, die anderen läßt man laufen. Als Tanja das Hotel verläßt - ein Polizei-Leutnant begleitet sie hinaus -, macht der Portier einen Bückling und hält die Hand auf. Im Roman ist es bloß ein Unterleutnant a.D., und Tanja mokiert sich, daß der vor einem Leutnant katzbuckelt - aber was wäre schon dabei? Im Film ist es ein Oberst a.D., und das macht die Sache schon peinlicher. (Ja, auch pensionierte Offiziere hatten es in der Endfase der SU nötig, sich etwas hinzu zu verdienen; und die Türsteher-Posten in Valuta-Hotels waren besonders begehrt! Aber diese Filmversion ist ja noch harmlos - im Roman entpuppt er sich später als Schwarztauscher, der die Verhaftung Ninas und damit indirekt den Selbstmord von Tanjas Mutter verschuldet.)

Szenenwechsel. Eine häßliche Plattenbausiedlung am Stadtrand von Leningrad, cynischer Weise "frohe Siedlung" genannt. (Nachtrag: Erst Jahre später erfuhr Dikigoros, daß das eine bewußte Anspielung auf die ebenso häßlichen Plattenbausiedlungen des Schweizer Baupfuschers und Städteverschandelers Le Corbusier war, der seine Machwerke als "Cité radieuse" zu bezeichnen pflegte.) In einer anderthalb-Zimmer-Wohnung dortselbst hausen Tanja und ihre allein erziehender Mutter Alla Sergejewna - eine brave, von ihrem Mann gleich nach Geburt der Tochter verlassene Lehrerin. Nebenbei lernen wir ihre Etagen-Nachbarn kennen: einen alten Säufer, dessen ständig keifendes Eheweib (das typische sowjet-russische Ehepaar?!) und deren noch unschuldige Tochter Ljalka, die zusammen mit Tanja in der städtischen Klinik als Krankenschwester arbeitet. (Im Roman gibt es eine rührend peinliche Episode, weil dort als Patientin zufällig die Ehefrau des Polizei-Hauptmanns liegt, der für Tanjas Hotel zuständig ist; sie ist Tanja dankbar für die ungewöhnlich gute Behandlung und stellt sie ihm als ihre Wohltäterin vor, aber beide eiern herum und verheimlichen ihr, daß sie einander kennen.) Noch weiß auch sie nichts von Tanjas "Nebentätigkeit", aber allmählich muß es ihr dämmern: Woher hat die so viel Geld, daß sie ihren Freundinnen einen edlen Silberfuchs-Pelzmantel abkaufen kann für 7.000 Rubl? [Im Roman sind es "nur" 4.000 Rubl; ein Rubl war damals - 1989 - ca. 50 Pf wert; aber das war der Schwarzmarktkurs. Tatsächlich lag die Kaufkraft des Rubls wesentlich höher, jedenfalls auf dem Papier: Ein Arbeiter verdiente vor dem Zusammenbruch der Sowjet-Union und der danach einsetzenden Hyper-Inflation 90 Rubl im Monat, ein Lehrer 140, ein Polizei-Leutnant 220, ein Hauptmann 290; ein Freier im Valuta-Hotel brachte ca. 400 pro Nacht - so die Zahlen aus dem Roman. Freilich mußte der Normalverbraucher, der nicht in "Spezialgeschäften" für Valuta-Ausländer und Partei-Bonzen einkaufen konnte, nicht nur Pelzmäntel, sondern auch andere Artikel gehobener Qualität (die man in der DDR "Bück-Ware" nannte) auf dem Schwarzmarkt erstehen und entsprechend mehr bezahlen. Und selbst im Supermarkt wurde es als ganz normal empfunden, daß z.B. die aus Deutschland importierte Ware gar nicht mehr umverpackt wurde, sondern nur das "DM" in "US-$" geändert, d.h. der Preis verdoppelt wurde. Seit der Währungsumstellung auf Teuro und der Stabilisierung des Rubl ist es nicht mehr ganz so einfach mit der Umrechnerei; aber unterm Strich läuft es immer noch darauf hinaus, daß die Ware in Rußland rund doppelt so teuer ist wie im Herkunftsland, also für Normalverbraucher unerschwinglich.] Und was sind das überhaupt für Mädchen? "Tanja, nimm mich doch mal mit," bettelt Ljalka; aber das lehnt Tanja strikt ab, nicht weil sie die Konkurrenz fürchtet (anders als ihre Kolleginnen, denn Ljalka ist blutjung und bildhübsch), sondern aus moralischen Gründen. Das ist freilich eine ziemlich doppelte Moral - im Roman wird das noch deutlicher als im Film: Ständig versucht Tanja, Ljalka zu bevormunden und zu einem "anständigen" Mädchen zu erziehen: sie solle nicht an Ausländer und Auslandsreisen denken, sondern brav für die Aufnahmeprüfung an der Uni büffeln und sich einen russischen Mann angeln - am besten den netten Stationsarzt aus dem Krankenhaus -; aber ein paar Tage später erzählt Tanja ihrer eigenen Mutter, daß es doch gar nicht lohne, zu studieren, weil Bus- und Taxifahrer eh mehr verdienten als Ärzte oder andere Akademiker.

So sind sie denn im Krankenhaus völlig ahnungslos und fallen aus allen Wolken, als Tanja eines schönen Tages eine Abschiedsfeier veranstaltet und ihrem Abteilungsdirektor ein Leumundszeugnis abverlangt, daß er ihre Heirat ins Ausland befürworte. Beides sind - äußerlich lustige, aber eigentlich recht unschöne - Schlüsselszenen des Films: "Nein, das unterschreibe ich nicht," sagt der alte Professor, "damit lade ich mir gesellschaftliche Verantwortung auf. Ihr sägt doch schon alle an meinem Stuhl, außerdem bin ich parteilos und - Jude." In der deutschen Filmfassung ist das letzte Wort zensiert und durch "... na ja" ersetzt - in der SU durfte es natürlich keinen Anti-Semitismus geben, denn der ist ja bekanntlich eine weltweit einzigartige Erscheinung, die nur in Deutschland vorkommt! Auch an einer anderen Stelle eiern die deutschen Übersetzer herum, als die 'Intergirls' über ihre Finanzen diskutieren. Als Nina sich wundert, daß Tanja nicht mehr Geld zur Verfügung hat, obwohl sie doch in letzter Zeit gut verdient hat, antwortet die ihr im Film: "Ich kann nicht sparsam sein wie du" und im Roman: "Ich bin nicht so knickrig wie du". Das sind nicht nur zwei unterschiedliche, sondern geradezu entgegen gesetzte Übersetzungen, und da der Unterschied bzw. Gegensatz zwischen "sparsam" und "geizig" auf dieser Filmreise eine so große Rolle spielt, muß die Frage erlaubt sein, was denn im russischen Original steht. Kunin gebraucht ein Fremdwort, daß Ihr nicht im "normalen" russischen Wörterbuch finden werdet, liebe Leser, aber als Deutsche gleichwohl kennen müßtet, denn es stammt aus dem Jiddischen: "schmu". (Im Videoclip bei 00:23) Im Fremdwörter-Duden steht für "Schmu": "auf nicht ganz redliche Weise erzielter Gewinn"; und für "Schmu machen": "beiseite schaffen, für sich behalten, etwas übrig behalten und nicht zurück geben". Schau an - das trifft in Tanjas Augen genau auf Ninas Verhalten zu: erst erzielt sie aus der Prostitution (bzw. dem Umrubeln des Hurenlohns aus der Valuta) illegalen Gewinn, dann schafft sie das Geld beiseite bzw. behält es für sich, statt ihren Freundinnen damit auszuhelfen. Pfui! Und daraus lernen wir, pardon, lernen die russischen Zuschauer - die deutschen sollen es ja nicht wissen -, daß auch Nina (die Tanja erst beim Pelzkauf kräftig übers Ohr haut, sie dann beim Umrubeln gnadenlos abzockt und schließlich, als sie beim Schwarztauschen erwischt wird, Tanja und deren Mutter schwer belastet, sie beinahe ins Gefängnis bringt und so in den Selbstmord treibt) Jüdin ist - aha! Fairerweise muß man dazu sagen, daß die Verfilmung nicht anti-semitisch ist; und auch von einer Diskriminierung jüdischer Schauspieler[innen] kann nicht die Rede sein - ganz im Gegenteil: Während die äußerst attraktive "Ljalka"-Darstellerin Anastasija Nemoljajewa völlig in der Versenkung verschwand und es auch für die Litauerin Ingeborga Dapkunaite (die die Nina spielt) nur noch für kleinere Nebenrollen in "Mission Impossible" und "Sieben Jahre in Tibet" reichte, machte "Intergirl" die Jüdin Jeljena Jakowljewa zum Star.

[Ljubow Polischtschuk war es schon - wenngleich nur in der SU und ihren Nachfolgestaaten - und blieb es auch, bis sie 2006 viel zu früh an Krebs starb. Sie konnte alles spielen, von der rassigen Süditalienerin bis zur nordischen Blondine - aber die "Sina" in Intergirl war vielleicht ihre stärkste schauspielerische Leistung.]

Zurück zur Handlung. "Dann unterschreibe ich eben an Ihrer Stelle," sagt der Oberarzt. "Na kommen Sie", sagt Tanja, "ich diktiere: Tatjana Nikolajewna Seitsewa raucht nicht, trinkt nicht, kifft nicht, arbeitet in Übereinstimmung mit allen Direktiven der Partei, kämpft für den Sozialismus, und überhaupt ist ihr Lebensprinzip: Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" Schallendes Gelächter - außer vom Direktor, der sie ob dieser Albernheit scharf rügt; aber am Ende gibt er sich doch einen (im Film deutlich sichtbaren) Ruck und unterschreibt, nach dem Motto: "Wer liest das schon..." Auch die Kolleginnen reagieren nicht unbedingt wohlwollend: "Ein Ausländer - wo haste den bloß aufgegabelt?" fragt eine grell geschminkte Blondine, die viel nuttiger wirkt als alle 'Intergirls' zusammen. Nicht von ungefähr; aber die spätere Passage, auf die das hinaus läuft, hat die Zensur nicht nur aus Todorowskijs Film, sondern auch aus der russischen Originalausgabe von Kunins Roman heraus geschnitten - Dikigoros kennt sie nur aus der deutschen Übersetzung: Die Blondine unterschlägt Morphium, um es auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen, und läßt die armen Patienten, denen sie dafür irgendein Placebo verabreicht, Schmerzen leiden. Das war den sowjetischen Behörden denn doch etwas zuviel des Unguten. Das gilt wohl auch für die nur im Roman vorkommende Schilderung der katastrofalen Wohnverhältnisse "mitten im Zentrum der Heldenstadt" Leningrad. Tanja und ihre Mutter leben in einer Neubauwohnung am Stadtrand, die zwar klein, aber ansonsten gar nicht so unfein ist; aber über die Hinterhofwohnungen - in einer solchen haust ihr Vater - ist Tanja in höchstem Maße schockiert: "Zwischen der Passage und der Musikkomödie! Gegenüber dem russischen Museum, nebenan die Philharmonie und das Europa, wo die Ausländer herum spazieren! Wenigstens vor denen sollten sie sich schämen..." Tja, liebe Leser, und glaubt bloß nicht, daß das im heutigen Sankt Peterburg besser aussieht als früher in Leningrad - ein neuer Name macht noch keine Renovierung! Ach, das ist Euch noch gar nicht aufgefallen, obwohl Ihr inzwischen auch mal dort wart? Ja, lauft Ihr denn mit Scheuklappen immer geradeaus, ohne auch mal nach rechts oder links zu schauen? Dann solltet Ihr Euch schämen, denn denen, die Kunin meint, braucht es dann ja nicht mehr peinlich zu sein. Was schaut Ihr Euch eigentlich auf Reisen an? Nur die so genannten "Sehenswürdigkeiten"? Habt Ihr Euch mal gefragt, was "sehenswert" ist an Kirchen, Museen, Konzertsälen u.a. Einrichtungen, die leer stehen bzw. nur von ausländischen Touristen besucht werden? Ist es nicht viel interessanter zu sehen, wie die Einheimischen leben? Wohlgemerkt, in Polen, Griechenland oder den USA mag es unter diesem Aspekt interessant sein, eine Kirche zu besuchen (in Rußland neuerdings auch wieder), und in islamischen Ländern eine Moschee und in Indien einen Tempel sowieso; aber in vielen anderen Ländern - z.B. auch der BRDDR - würde das doch bloß in Begaffen toter Wände ausarten. Schaut Euch ruhig einmal an, wie die Menschen abseits der für den Tourismus heraus geputzten Zentren - oder bisweilen auch mitten drin, wie Kunin schreibt - leben; sprecht sie an und laßt es Euch zeigen - nicht alle sind so verschlossen wie die Menschen in Mittel- und Westeuropa, zumal gegenüber Ausländern. Jetzt geht das ja auch in Rußland problemlos, nachdem man nicht mehr auf Schritt und Tritt von Inturist-Führern verfolgtbegleitet wird, das ist also keine Ausrede mehr! (Es ging auch früher schon; aber man brauchte halt doch etwas Mut - vor allem als Sowjet-Bürger, der eigentlich keine Kontakte mit westlichen Ausländern pflegen sollte - und russische Sprachkenntnisse. Dikigoros will diesen Hinweis aber nicht auf Rußland beschränkt wissen; wenn Ihr etwas Polnisch, Türkisch und Urdu könnt, dann schaut und hört Euch auch mal in - ansonsten so glänzenden - Städten wie Krakau, Berlin und London etwas genauer um. Es gibt übrigens in all diesen Städten Straßen, wo junge Künstler für ein Butärbrod, pardon, so schreiben das ja nur die Russen, für ein Butterbrot bessere Musik machen als so manches professionelle Orchester im Konzertsaal, und die wesentlich bessere Bilder malen als manche berühmte Maler, deren Werke in vielen großen Museen hinter Panzerglas herum hängen, die für Millionen Steuergelder gekauft wurden - tote, objektiv wertlose Möchtegern-Kunst, die man sich viel bequemer zuhause in einem Bildband - neuerdings auch im Internet - anschauen kann; eine Reise lohnen nur die Werke der lebenden Künster - und die anderen Menschen.)

[Nachtrag: Ein Vierteljahrhundert nach diesem Film hat sich in Sankt Peterburg manches geändert - nicht nur, aber auch zum Besseren. Die alten Slums sind mehr oder weniger saniert und durch teure Neubauten ersetzt worden - Tanjas Vater würde jetzt wohl in einer anderen Gegend, etwas weiter außerhalb, leben, wo auch Dikigoros nicht mehr so ohne weiteres vorbei käme. Aber laßt Euch nicht täuschen, liebe Touristen des 21. Jahrhunderts, die Ihr Euren Tagesausflug von einer Ostsee-Kreuzfahrt in die einstige Hauptstadt des Tsarenreichs macht: Dieser neue Wohlstand beruht hauptsächlich auf Tourismus, genauer gesagt auf Prostitutions-Tourismus (es hat sich also seit dem Film doch nicht gar so viel verändert :-) - aber das gilt ja für andere "aufstrebende" Metropolen Osteuropas, wie Prag, Budapest oder Rīga, nicht minder. Die breite Masse dürfte von den schönen neuen Fassaden nicht reicher geworden sein - im Gegenteil, sie muß dafür die kräftig gestiegenen Preise zahlen; und noch immer kann eine clevere Valuta-Prostituierte in einer Nacht mehr verdienen als ein durchschnittlicher Arbeitnehmer in einem ganzen Monat. Nachtrag Ende.]

"Ja, wieso denn keinen Ausländer?" ergreift Ljalka die Partei Tanjas, "sind das etwa keine Menschen?" [Ja, auch das sonst so knappe Russische hat diese überflüssigen Füllwörter wie das deutsche "etwa" - bei Kunin kommt "zhe" fast in jedem zweiten gesprochenen Satz vor.] "Was weißt du denn, du Küken" giftet die alte Oberschwester, "zu Stalins Zeiten, da gab es sowas nicht." - "Ausgerechnet Stalin. Kaum war er unter der Erde, ist seine Tochter nach Indien abgehau'n und hat'n Ausländer geheiratet." - "Alles Lügen, das kann gar nicht sein!" Tja, liebe Leser, denn was nicht sein darf kann nicht sein - glaubt Ihr das auch? Dikigoros will Euch gar nicht erst mit Beispielen aus der älteren Geschichte kommen, sondern sich auf die (un-)bekanntesten des 20. Jahrhunderts beschränken. (Und er läßt wohlgemerkt die Kinder der bösen Nazis außen vor, die nach 1945 durch brutale Gehirnwäschen ihrer alliierten Folterer zu Todfeinden ihrer Eltern "umerzogen" wurden - die zählen nicht mit!) Wer floh in die USA und rief dort zum Sturz des kommunistischen Regimes in Kuba auf? Die Tochter von Fidel Castro! Wer floh in die USA und rief dort zum Sturz des Mullah-Regimes im Iran auf? Der Sohn des Ayatullah Khomeini! Und wer blieb in den USA, hetzt dort bis heute gegen das kapitalistische Regime und plädiert vehement für seine Ersetzung durch ein kommunistisches? Die Tochter von Ronald Reagan! Zurück zum Film: "Ausländische Männer sind viel besser als unsere," sagt Ljalka, "schaut sie euch doch mal an: immer gepflegt, gut gekleidet, mit Kameras..." - "Haben russische Männer etwa keine Kameras?" fragt die Oberschwester. (Wortspiel, liebe der russischen Umgangssprache nicht mächtige Leser; "Kamera" kann auch etwas anderes bedeuten :-) "Aber keine so guten," versetzt Ljalka.

[Exkurs. Hier taucht, wenngleich nur am Rande, ein Fänomen auf, das wir auch aus den Entwicklungsländern kennen: Der Tourist aus dem Westen - zuhause ein armes Würstchen, das sich mit Überstunden-Kloppen gerade mal das Charter-Ticket nach Bangkok, Havanna, Manila, Nairobi, Recife oder Santo Domingo zusammen gespart hat - nutzt den günstigen Wechselkurs (oder den noch günstigeren Schwarzmarktkurs), um wenigstens im Urlaub mal ein paar Wochen den dicken Max zu markieren. Den armen Mädchen dort imponiert das mächtig, obwohl sie doch eigentlich sehen müßten, daß er häßlich (im wahrsten Sinne des Wortes - hassenswert!) fett, versoffen und was sonst noch alles ist - eine dicke Brieftasche macht auch aus dem ekelhaftesten alten Frosch einen strahlenden jungen Prinzen. Eine von ihnen heiratet also diesen Märchenprinzen (der sich verständlicher Weise gerne mit einem hübschen, exotischen Mädchen schmückt), geht mit ihm ins vermeintliche Schlaraffenland, und dort kommt dann das böse Erwachen... Binnen kurzem ist die Ehe geschieden, und das Mädel wird entweder abgeschoben oder landet auf dem Strich. Aber das ist es nicht in 'Intergirl' - und das macht die Sache eigentlich noch viel schlimmer. Die Valuta-Nutten in Leningrad (und in Moskau) sind überdurchschnittlich intelligent und gebildet; im Film haben alle außer Tanja ein Universitätsstudium absolviert und sprechen mehrere Fremdsprachen. (Im Roman lernt auch Tanja im Handumdrehen Schwedisch, indem sie jede freie Minute ihres Bereitschaftsdienstes in der Klinik mit Büffeln verbringt. Im Film spricht Edik weiter sein gebrochenes Russisch - das ist bequemer für die Zuschauer, die kein Schwedisch können :-) Sie wissen ganz genau, was sie erwartet, zumal sie permanent mit sowjetischer Negativ-Propaganda gegen die "NSW-Staaten" (für Wessis: das sind die kapitalistischen Länder des "nicht-sozialistischen Wirtschaftsgebiets") berieselt werden, und sie würden auch auf keinen armen Arbeiter herein fallen. (Edik verdient als Ingenieur 20.000 SK - etwa 6.000.- DM - im Monat, wie Tanja genau weiß. Was sie als "Freischaffende" freilich nicht weiß ist, daß das ein Brutto-Gehalt ist, und wie hoch in Schweden die Steuern und Sozialabgaben sind.) Aber in einem Land, wo man kaum Urlaub kennt - jedenfalls nicht in unserem Sinne von Reisen ins Ausland - fällt es schwer zu begreifen, daß auch besser situierte Zeitgenossen im Urlaub (oder auf Geschäftsreise, wenn sie zusätzliches "Buschgeld" bekommen oder gar auf Spesen reiten) schon mal etwas spendabler sind als sie es zu Hause wären - und gerade deshalb wieder mehr auf's Geld sehen müssen, wenn sie zurück kommen. (Edik ist so ein Typ, der im Ausland ohne weiteres 100.- US-$ für eine Liebesnacht hinblättert, aber im Alltagsleben den Rasierschaum zweimal benutzt und mit seiner Frau schimpft, wenn sie den Rasierpinsel schon nach dem ersten Gebrauch auswaschen will.) Fühlt sich der eine oder andere Leser 'ertappt'? Soll er auch! Exkurs Ende.]

Indes sind die Menschen in der Sowjet-Union nicht nur materiell ärmer als die in den westlichen Staaten, sondern entgegen der ständigen Propaganda vom "hohen Bildungs-Niveau" auch geistig - das will uns der nächste Dialog zeigen: "Tanja hat doch nur einen Schweden kennen gelernt," meint der Oberarzt, "stellt euch vor, es wäre ein Deutscher gewesen. Die Deutschen waren bis Stalingrad gekommen [das Ihr, liebe Leser, doch bitte richtig aussprechen wollt, nämlich "ßtalingrátt", nicht "Schtálingrahd", ebenso wie "Ljäningrátt", nicht "Léningrahd"], die Schweden bloß bis Poltawa." - "Was, Tanja" wirft die stalinistische Oberschwester ein, "du hast deinen Schweden in Poltawa kennen gelernt?" Immerhin können einige - historisch offenbar doch nicht ganz ungebildete - Kolleg[inn]en über diese dumme Frage lachen. [Hand auf's Herz, liebe Leser, besonders diejenigen, die aus der ehemaligen SU kommen - die anderen brauchen es nicht unbedingt zu wissen -, hättet Ihr gewußt, was 1709 in Poltawa geschah? Auch wenn Ihr 'Sonnenblumen und Schwarzer Ginster' nicht gelesen hättet?] Ein Russe oder eine Russin, zumal aus Sankt Peterburg, die Poltawa nicht kennt [der Sieger von Poltawa war der Gründer von Sankt Peterburg], ist wie ein Deutscher oder eine Deutsche, zumal aus Preußen, die Fehrbellin nicht kennt - also in bester Gesellschaft! [Spart Euch die Suche im Lexikon, liebe Leser, Ihr lebt in einer Zeit, da Ihr dort nichts mehr finden werdet über die geschichtsträchtige Vergangenheit jenes Städtchens; Ihr - Russen und Deutsche - findet dort nur noch etwas über Stalingrad, freilich schwerlich die bittere Wahrheit, sondern nur dummes, ideologisches Gewäsch; Dikigoros hat diesen Film nicht umsonst ausgewählt - er will Euch einen Spiegel vorhalten!]

[Medaille auf den 275. Jahrestag der Schlacht von Poltawa]

Tanja rettet die Situation, indem sie eine Flasche Johnnie-Walker-Whisky (im Roman nur eine Flasche Eierlikör, aber immerhin Markenware aus Deutschland; dafür fehlt der Exkurs über Poltawa und Stalingrad - der ist Todorowskijs Erfindung) spendiert, und nun ist auch die alte Oberschwester wieder zufrieden: "Vernichten wir den Genossen Leberschädling!" ruft sie und greift sich gleich die ganze Flasche. Die schöne Feier wird jäh unterbrochen, als so ein blöder, lästiger Patient ins Zimmer platzt mit den Worten: "Entschuldigen Sie die Störung, aber mein Bettnachbar ist gestorben." [Findet Ihr das skandalös, liebe Leser, daß sich die Ärzte und Krankenschwestern einer Station auf einer Party im Suff verlustieren, während ihre Patienten abkratzen? Ja, aber das kann doch nur in sowjet-russischen Krankenhäusern geschehen, oder...? Wann wart Ihr zum letzten Mal in einem deutschen Krankenhaus? Nicht als Besucher, sondern als Patient? Bei Dikigoros ist es zum Glück Jahrzehnte her; damals, als die Ärzte vergeblich versuchten, ihn an einem simplen Blinddarm zu Tode zu operieren. Doch er war jung - Mitte 20 - und auf dem Höhepunkt seiner fysischen Widerstandskraft, so daß sie es trotz aller Anstrengungen nicht schafften. Aber die Narbe des verpfuschten Eingriffs trägt er noch heute, und seitdem ist er kein Freund der Medizinmänner mehr. Und als 30 Jahre nach diesem Film ein Haufen daher gelaufener Quacksalber etwas von einer lebensgefährlichen Grippe-Pandemie zu faseln begann, wußte er gleich, was davon zu halten war.] (Im Roman stellt sich nachher heraus, daß der Patient gar nicht tot, sondern nur ohnmächtig geworden war; aber Todorowskij läßt diesen Passus einfach weg und erweckt durch diesen Kunstgriff beim Zuschauer den Anschein, daß der Patient wirklich gestorben sei.)

Die - auch im Roman nur kurze - Szene "Eheschließung auf dem Standesamt" erspart uns der Film. (Allerdings wurde sie gedreht und erst später heraus geschnitten; durch eine Schlamperei beim Cut wurde vergessen, die eine Sekunde - 1:11,11 - auch aus der Szene zu entfernen, als Tanja im Suff ihre jüngste Vergangenheit bruchstückhaft an sich vorbeiziehen sieht :-) Er schwenkt gleich über zum Hochzeitsschmaus im Restaurant eines anderen großen Hotels. Natürlich nicht in dem, wo Tanja sonst "arbeitet", und das ruft gleich die dortigen "Intergirls" auf den Plan, die neue Konkurrenz wittern. (Im Roman findet diese zweite Szene bei einem anschließenden Zirkusbesuch statt; Todorowskij zieht das geschickt zusammen.) Und noch ein Schmankerl für Leute, die um die Probleme einer ordentlichen Synchronisation wissen: Die Wortführerin der Konkurrenz trägt im Original den Spitznamen "Królik" - das bedeutet "Kaninchen". Die Anspielung ist klar: Sie rammelt von Berufs wegen. Aber dieses deutsche Wort hat drei Silben, betont sich ganz anders, und die Mundbewegungen sind auch andere. Man kann es auch nicht durch irgendein anderes, harmloses er-setzen, denn Tanjas Mutter ist ganz ent-setzt ob dieses befremdlich unanständigen Namens. Was macht der deutsche Film-Übersetzer als dem Kaninchen? Nein, natürlich keine Schlange, sondern... eine Kröte! Die hat auch zwei Silben, wird auch auf der 1. betont, die Mundbewegung ist ganz ähnlich wie bei "Królik", und die mit schwingende Bedeutung - eine Kröte ist glitschig - paßt auch wunderbar auf den Berufsstand. So arbeiten Profis - nicht mit wörtlichen, "richtigen" Übersetzungen, sondern besser als wörtlich, auch wenn es eigentlich "falsch" ist!

A propos Tanjas Mutter: Die ist ganz begeistert, daß ihr Edik aus Schweden Bücher russischer Autor[inn]en mitgebracht hat, die man in der SU nicht so ohne weiteres bekommt. Nicht, daß sie offiziell verboten wären, aber halt auch nicht gerade erwünscht - und dann fallen die Auflagen schon mal etwas knapper aus als die Nachfrage: Pasternak, Wyssotskij, Zwetajewa... Was, die kennt Ihr alle nicht, liebe Leser? Traurig, denn Ihr hättet sie Euch - schon zu Sowjetzeiten - relativ problemlos besorgen können, sowohl im Original als auch in Übersetzung. Wie schrieb die Frau des französischen Diplomaten - die diesem Problem ein ganzes Kapitel widmet: "Es ist viel leichter, die neu erschienenen sowjetischen Bücher in Buchhandlungen unserer westlichen Städte zu finden als in der UdSSR; und einige meiner russischen Freunde baten mich sogar, ihnen Bücher zeitgenössischer sowjetischer Autoren zu übersenden, die in ihrem Ursprungsland nicht aufzutreiben waren..." Dikigoros kann das nur aus eigener Anschauung bestätigen - und es galt nicht nur für die SU, sondern auch für alle anderen Staaten des Ostblocks. (Aber tröstet Euch, liebe Leser; wenn ein Buch im Westen unerwünscht ist, dann wird es gar nicht erst gedruckt - nicht mal für den Export; das wißt Ihr doch auch, wenn Ihr z.B. Dikigoros' Webseiten über die großen Reiseschriftsteller des 20. Jahrhunderts gelesen habt. So groß ist der Unterschied zwischen "Kapitalismus" und "Sozialismus" also auch in diesem Punkt nicht :-)

Der Papierkrieg geht weiter - denn die Heirat ist ja kein Selbstzweck, sondern Mittel zur Erlangung der Ausreisegenehmigung. Als nächstes muß Tanja die notariell beglaubigte Erklärung ihres Vaters - den sie für längst gestorben hielt - beibringen, daß er mit ihrer Heirat und Ausreise ins Ausland einverstanden ist und keine materiellen Ansprüche gegen sie erhebt. Halt, liebe Leser, findet ihr das unerhört, wohl gar eine Schikane des Sowjet-Systems, um seine Bürger an der Ausreise zu hindern? Dann seid Ihr wahrscheinlich keine Juristen. In der Sowjet-Union waren - wie in jedem ordentlichen Rechtsstaat - Verwandte direkter Abstammung (also Großeltern, Eltern, Kinder, Enkel usw.) einander zum Unterhalt verpflichtet; in westlichen Rechtsordnungen besteht diese Pflicht auch fort, wenn man ins Ausland zieht. Theoretisch in der SU auch; aber sowjet-russische Urteile - egal welcher, also auch familienrechtlicher Art - waren (aus gutem Grund) im westlichen Ausland nicht vollstreckbar, d.h. wer sich einmal erfolgreich ins Ausland abgesetzt hatte, war praktisch vor der Inanspruchnahme durch in der SU zurück gebliebene Unterhaltsberechtigte sicher. So war es nicht mehr als folgerichtig, daß die SU nur solche Leute ausreisen ließ, gegenüber denen solche Unterhalts-Ansprüche nicht bestanden. So steht also Tanja eines Tages bei ihrem bis dato unbekannten Vater (der sie anfangs für eine Mitarbeiterin des Sozialamts hält) auf der Matte und ist ganz entsetzt: Ein herunter gekommener Penner, der mit einer ebensolchen Frau und ihren zwei (im Roman sogar drei) verwahrlosten Kindern zusammen in einer Bruchbude haust, von Alkoholismus und anderen Krankheiten gezeichnet - aber hellwach, als er hört, daß seine Tochter ins Valuta-Ausland heiraten will: "Man muß für alles im Leben bezahlen, Töchterchen," sagt er, "sonst fährst du nirgendwo hin." 3.000 Rubl verlangt er für seine Verzichtserklärung - eine ungeheure Summe, ungefähr zwei Jahresgehälter eines Lehrers. Doch für Tanja ist das nur der Hurenlohn einer Woche: Ein japanischer Pelzhändler, der vor Jahren schon einmal ihr Kunde war, erinnert sich an sie; und damit sie so kurz vor der Ausreise nicht noch Gefahr läuft geschnappt zu werden, sei es im Inter-Hotel, sei es beim Umrubeln, überläßt ihr Kollegin Nina alias "Kisulja [Kätzchen]" für wenig (im Roman: für viel) Geld ihr Appartement und verspricht, daß sie die Valuta bei ihr bestens los wird.

Der Pelzhändler erscheint. Tanja zerbricht sich den Kopf über die Psyche der Japaner und kehrt wieder (wie schon bei Ljalka) den moralischen Zeigefinger hervor: "Hast du zuhause keine Frau?" - "Doch, ich bin glücklich verheiratet." - "Warum gehst du dann zu unsereiner, wenn du auf Geschäftsreise bist?" - "Weil ich eine Frau wie dich noch nie hatte." - "Das verstehe ich nicht." - "Aber Tanja-san, du rätselhafte russische Seele, ich verstehe sehr wohl, daß du zum Beispiel gerade Geld brauchst. Wieviel?" Und nun bricht bei Tanja ein typisch russischer Charakterzug durch: Sie ist nicht geschäftstüchtig - man könnte auch positiv sagen: sie ist nicht berechnend. Sie verlangt nicht mehr, als sie für ihren Vater braucht (obwohl der Freier auch mehr bezahlt hätte): "3.000 Rubl." - "Ich habe keine Rubl," sagt er, "wieviel ist das in US-$?" Schau mal an: Der Japaner macht nicht die geringsten Anstalten, Tanjas offensichtliche Notlage auszunutzen, um den Preis herunter zu handeln, sondern wäre sogar bereit, noch etwas drauf zu legen: "Bitte, wenn du mehr brauchst... hier ist meine Brieftasche, nimm soviel du willst." Das ist ein wichtiger Punkt im Film, und nicht etwa nur, weil es um Prostituierte geht. Der Roman bringt gleich im ersten Kapitel einen Absatz mit Überlegungen Tanjas, daß Edvard, dieser Ausländer, doch ziemlich berechnend sei, so ganz anders als russische Männer [und Frauen]. Im Film macht Todorowskij das mit einer von ihm dazu erfundenen Szene im Vorspann (deren Rahmen er der Schlußszene des Romans entnommen hat) noch deutlicher: Abends in einem Nobel-Hotel. Reiche alte Sugar-daddies sitzen an der Bar mit elegant zurecht gemachten Intergirls herum. Ein besonders widerwärtiger alter Fettsack schiebt einer "Dame" - Sina - ein Kärtchen zu, dessen Text in den deutschen Untertiteln wie folgt übersetzt wird: "Ich bin ein ausländischer Geschäftsmann und möchte die Nacht mit Ihnen verbringen. Wenn Sie wollen, behalten Sie das Kärtchen; wenn nicht, geben Sie es zurück." Das könnte man einfach so [miß]verstehen, daß der Herr die Sache diskret erledigen will, ohne großes Palaver - aber das ist es nicht. Vielmehr steht im russischen Original noch ein Nachsatz: "Sie [die Kärtchen] gehen mir zur Neige." Na und, kann das nicht stimmen? Ach, liebe Leser, wie war das gleich mit der Münze, um deren Echtheit und Alter gestritten wird? Wenn drauf steht "100 v.C.", muß es dann nicht stimmen? Eben - zumindest wenn die Prägeanstalt damals schon wußte, daß 100 Jahre später Christus geboren wurde! [In Wirklichkeit würde auch eine Inschrift "100 n.C." die Fälschung belegen; denn nach Christus begann man erst viel später zu datieren; aber das ist eine andere Geschichte.] Wenn der Geschäftsmann [im Russischen steht da übrigens nicht das neumodische "Bisnismän", sondern das schöne altmodische "Komersant"] das auf die Kärtchen drucken läßt steht das ja schon bei der ersten drauf; es ist also purer Geiz! (Dennoch steckt Sina das Kärtchen ein - Job ist Job, und eine muß ihn ja tun :-)

Zurück zum Film: "Teile durch vier," sagt Tanja. Das ist damals der Schwarzmarktkurs, wenn man US-$ kaufen will (den Nina ihr auch für den Pelzmantel in Rechnung gestellt hat - jedenfalls im Roman; im Film wird daraus sogar 1:7); und Tanja ist schockiert, als sie ihr nun für die 750 US-$ bloß 1:3 bietet. Die Woche Sex hat sie mehr oder weniger widerwillig (und im Suff - diesmal ist es eine Flasche Ballantine's Whisky, man will ja schön ausgewogen bleiben bei der Schleichwerbung :-), aber routiniert über sich ergehen lassen [jedenfalls im Film - im Roman stellt sie fest, daß sie mit dem Japaner im Bett viel besser zurecht kommt als mit Edik, was wohl zeigen soll, daß sie den letzteren tatsächlich nur heiratet, um außer Landes zu kommen und ins westliche Konsum-Paradies einzugehen]; aber soviel Treulosigkeit haut sie um: "Wir sind doch Freundinnen, oder?" - "Ja was, der Staat ist doch auch nicht dein Feind, oder? Wenn er dir auf Wunsch der Werktätigen eine allgemeine Preiserhöhung verordnet, bist du doch auch nicht dagegen. Du glaubst doch nicht, daß ich mir das zum selben Kurs ans Bein binde wie ich es nachher auf mein Risiko weiter verkaufe? Das ist ja wie Suppe ohne Fettaugen..." (Eigentlich hatte sie ja Recht, zumal bei dem Risiko: Auf Schwarztauschen stand bis zu 5 Jahre Gefängnis; und in Rußland war - und ist - auch der Frauenknast kein Zuckerschlecken.) "Also, was ist, nimmst du die Spielmäuse?" Was bleibt Tanja übrig? Aber sie nimmt das zum Anlaß für einige filosofische Ausführungen über die Valuta-Nutten im allgemeinen und die vom Lande im besonderen.

Und damit kommen wir zurück zu der Frage: Das sind das überhaupt für Mädchen? Tanjas Urteil ist - aus der Wut des Augenblicks heraus - schnell gefällt: "Ihr, die Provinz-Ratten, seid die gierigsten; während wir uns noch abstrampeln habt ihr euch schon Zuzug gekauft [in Rußland, wo keine Freizügigkeit herrscht, mußte - und muß - man sich die Genehmigung zum Zuzug zumal in die größeren Metropolen wie Leningrad und Moskau in der Regel durch Bestechung erkaufen], fahrt ein dickes Auto und habt immer das teuerste Make-up..." - "Du bist geborene Leningraderin," gibt Nina zurück, "und das sind zwei gewaltige Unterschiede. Während du noch immer zurück gehen kannst zu Muttern, müssen wir uns schon sputen, um überhaupt zu überleben; uns fragt niemand, ob wir schon ein Butterbrot gegessen und ein Dach über dem Kopf haben..." Dieser Dialog ist ein genialer Schachzug Todorowskijs: Im Roman sind das alles bloß Überlegungen, die Tanja selber anstellt und ihrer Hündin Frosja erzählt, als sie längst in Schweden ist; aber im Film wird daraus eine lautstarke Auseinandersetzung zwischen drei Frauen in Leningrad, die Tanja mit dem sarkastischen Satz beendet: "Ein dreifach Hoch den Provinz-Ratten!" Dieses Wort kommt im Roman gar nicht vor - Kunin schreibt einfach nur "Provinzler". Aber Todorowskij hat sich von dem Satz, der ihrer ersten Erwähnung folgt, inspirieren lassen: "Während wir noch zuschauen, haben sie sich schon ein Stück vom Kuchen heraus gerissen und es verschlungen." So machen es Mäuse und Ratten, und deshalb paßt dieses Wort hier genau.

"Ach, was streiten wir uns denn herum?" fragt Sima, "im Grunde wollen wir doch alle das gleiche: Ein bißchen Geld sparen und dann irgend wohin gehen, wo uns niemand kennt, einen netten Mann heiraten, einen Arzt, einen Architekten..." - "einen Maschinisten, einen Traktorfahrer," wirft Nina biestig ein. "Na und, wenn schon," meint Sima, "ist doch völlig egal; Hauptsache er ist gut zu mir, schlägt mich nicht und trinkt nicht. Und Kinder will ich." Folgen mit Ressentiments geladene Auseinandersetzungen zwischen der Nicht-Studierten und den Akademikerinnen, wie sie in jedem Land der Welt statt finden könnten (besonders unter Frauen, die in der Regel nicht darauf angewiesen sind, ein Studium als Broterwerb zu betreiben und deshalb glauben, Wunders was das wert sei), von denen Dikigoros nur eine Szene heraus greifen will, deren Witz in der Übersetzung verloren geht, gebildeten Russ[inn]en aber zeigt, wie "ungebildet" Tanja ist: "Du hast doch Sport studiert," stichelt sie gegen Kisulja, "und bist sogar Magister..." - "Kandidatin," gibt die zurück. "Ach, Kandidatin nur?" versetzt Tanja, "schade." Sie weiß offenbar nicht, daß letzteres mehr ist als ersteres, d.h. dem deutschen Dr.-Grad entspricht. [Das russische Doktorat entspricht - wie in der "DDR" die "Promotion II" und in den USA der "Ph.D." - der Habilitation in der BRD.] Den Rest - u.a. die Ausführungen zur "moralischen Stütze" unter dem Kopfkissen - läßt Dikigoros weg; er erlaubt sich nur noch die Anmerkung zur "Moral" von der Geschicht', daß diejenigen Intergirls, die tatsächlich auf einen "Ausstieg" hin gespart haben, am Ende die Dummen waren; denn zwar war die Prostitution in der SU nicht verboten, wohl aber der Besitz von Valuta, deshalb mußten sie ihren sauer verdienten Hurenlohn immer gleich "umrubeln", und so war er bald nichts mehr wert. Der Maschinist oder der Traktorist konnten nach der "Wende" wenigstens noch ihre Maschine oder ihren Traktor aus dem staatlichen Betrieb mitgehen lassen und sich so selbständig machen. (Die geneigten Leser[innen] mögen Dikigoros diesen seinen Cynismus nachsehen - er ist leider nur zu begründet.)

Szenenwechsel. Tanjas Mutter hat Probleme mit einem aufsässigen Schüler namens "Zicke". (Im Russischen erklärt sich dieser Spitzname ganz einfach: Er heißt richtig Koslow, und als Kurzform paßt dazu halt Kosjol, Ziegenbock. Woraus Ihr, liebe Ruhrpötter, die Ihr aus Osteuropa stammt und "Koslowski" oder ähnlich heißt, getrost schließen dürft, daß Eure Vorfahren Ziegenhirten waren. Ist ja nichts Ehrenrühriges :-) Als sie ihn freilich mit zum Direktor schleppt, damit der ihm einen Anpfiff verpaßt, geschieht genau das Gegenteil: Der Direktor liest ihr gehörig die Leviten, da ihm zu Ohren gekommen ist, daß ihre Tochter einen Ausländer heiraten und die teure Heimat verlassen will. "Aber es ist doch nicht mehr wie früher," meint Alla zaghaft. "Für uns als Pädagogen ändert sich da nichts," antwortet der Direktor, "wie wollen Sie ein Vorbild sein und Kinder zu guten Sowjet-Menschen erziehen, wenn Sie das nichtmal mit Ihrer eigenen Tochter schaffen?" Schau an: Einen Ausländer zu heiraten und ins Ausland zu gehen, gilt auch in Rußland als ehrenrührig; und wenn man so etwas in der Verwandschaft hat ist das ein Grund, aus dem Staatsdienst entlassen zu werden. Selbst wenn es sich nicht um "Republikflucht" handelt, sondern um einen ganz legalen Vorgang?!? Vorsicht, liebe Leser, mit dieser Frage will Euch Todorowskij aufs Glatteis führen, denn das ist gar keine sowjet-russische Spezialität, sondern wird in vielen, ja sogar den meisten Ländern der Erde genau so gesehen - wenn auch nicht immer offen ausgesprochen -; und nur weil es in Deutschland seit nicht einmal sechs (und in Schweden seit nicht einmal vier) Jahrzehnten anders ist, sollte uns das nicht den Blick auf die möglicherweise richtige Antwort verstellen, die da lautet: "Ja, und das ist auch gut so!"

[Exkurs. Ein Überbleibsel - das freilich nicht einmal Dikigoros gut heißen kann - hat sich auch in der BRD erhalten, nämlich im Auswärtigen Dienst: Ein Diplomat, der eine Ausländerin heiraten will, muß vorher die Genehmigung seiner Dienststelle einholen; bekommt er sie nicht und heiratet sie dennoch, dann fliegt er raus. Die offizielle Begründung lautet: Diplomaten sind potentielle Geheimnisträger; eine ausländische Frau könnte solche Geheimnisse - womöglich im Ehebett ausgeplaudert - an ihren Heimatstaat verkaufen. Aber das ist lächerlich, denn wie die Erfahrung lehrt, wird eine solche Ausforschung nicht durch Ehefrauen betrieben, sondern vielmehr durch Prostituierte oder andere Ehebrecherinnen, die ein solcher Staat auf ausländische Diplomaten ansetzt; und der beste Schutz gegen solche Ansetzungen ist... eine gute Ehefrau, die so etwas vom Bett ihres Mannes fern hält. Nein, der wahre Grund ist ein ganz anderer - jedenfalls im deutschen Auswärtigen Dienst: Dort sind Diplomaten unerwünscht, die mehr Fachwissen haben - oder vor Ort ansammeln könnten - als ihre vorgesetzten Sesselpupser in der Zentrale (und dazu gehört nicht viel :-). Deshalb kommen Sinologen nicht nach China, sondern nach Afrika, Slawisten nicht nach Rußland, sondern nach Lateinamerika, Anglisten auf den Balkan, Historiker in die Visa-Abteilung, Juristen werden Kultur-Attachés usw. (Entsprechend waren - und sind - denn auch die Leistungen und "Erfolge" dieser teuersten und ineffektivsten deutschen Behörde; oder glaubt jemand im Ernst, Deutschland hätte im 20. Jahrhundert zwei Weltkriege führen - und verlieren - müssen, wenn es statt des Auswärtigen Amts mit all seinen Pfeifen das Foreign Office mit seinen hochkarätigen Diplomaten und Spionen - und deren Frauen! - gehabt hätte? Der Ehemann der von Dikigoros wiederholt zitierten Exilrussin wurde vor allem deshalb in die UdSSR versetzt, weil sie perfekt Russisch sprach - auch im französischen Außenministerium gilt das nicht als Nach-, sondern als Vorteil; und niemand käme dort auf die Idee, einer solchen Frau grundsätzlich verräterische Neigungen zugunsten ihres Geburtslandes zu unterstellen!) Wenn nun so ein armer Diplomat, der diese Zusammenhänge vielleicht noch nicht durchschaut hat, sich bemüht, vor Ort tiefere - also aus Sicht seiner Zentrale zu tiefe - Einblicke ins Gastland zu gewinnen, etwa mit Hilfe einer dortigen Frau, dann macht er sich sofort verdächtig, falschen Ehrgeiz zu entwickeln. Selbst wenn er die Genehmigung zur Heirat erhält, wird er alsbald in ein anderes Land strafversetzt werden - wenn möglich irgendwo in die Tropen, wo er alsbald seine Gesundheit ruiniert und danach auf einen unbedeutenden Posten im Inland abgeschoben werden muß - aus medizinischen Gründen. Aber eine Lehrerin, deren Tochter einen Ausländer heiraten will, braucht keine Genehmigung und wird auch nicht entlassen (es sei denn, sie käme demnächst mit Kopftuch zum Unterricht :-). Wenn Ihr oben Dikigoros' zweiter Lese-Empfehlung zum Thema "russische Seele" - Klimow, Kapitel VII.3. - gefolgt seid, dann habt Ihr dort ja auch etwas zum diplomatischen Dienst aus sowjet-russischer Sicht gelesen, das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Exkurs Ende.]

* * * * *

Von nun an gehen Roman und Film getrennte Wege: Im ersteren wird Alla Sergejewna aus dem Schuldienst entlassen, aber Tanja dreht "Zicke" um und macht aus ihm einen hilfsbereiten jungen Mann, der ihrer geplagten Mutter zur Hand geht; im Film wird nicht ganz klar, warum Alla Sergejewna irgendwann keine Lehrerin mehr ist, und "Zicke" gibt zwar Ruhe, spielt aber vorerst, d.h. bis auf den tragischen Schluß, keine große Rolle mehr - die übernimmt vielmehr Ljalka, die plötzlich "erwachsen" wird (und der alternden Sina ihren gut betuchten italienischen Freier Luigi ausspannt - aber das trägt nichts zum roten Faden der Handlung bei, deshalb läßt Dikigoros diese und ähnliche Episoden beiseite; im Roman wird Ljalka das erst im letzten Absatz, gewissermaßen als Tanjas Nachfolgerin).

Schließlich hat Tanja alles beisammen, und es wird noch einmal groß Abschied gefeiert. Etwas Wehmut [Toská] und Abschiedsschmerz gibt es schon; allerdings nicht so viel wie im Roman, wo Ljalka mit nach Schweden will und Alla Sergejewna versucht, ihre Tochter in letzter Minute zurück zu halten. Dafür ist die Musik bei Todorowskij schöner: Während sie im Roman nur das alte Lied von Chas-Bulat und den Anfang von "Unter der Platane saßen wir zu zweit... [dem russischen 'Lili Marleen']" singen, hat sich Todorowskij von einem kurzen Satz, den Kunin Tanja denken läßt, zu einem richtigen Choral inspirieren lassen: "Mein Haus, meine Heimat..." Ja, die Heimat, ródina. Zu diesem Begriff muß Dikigoros Euch, liebe Leser, die Ihr des Russischen nicht mächtig seid, weil Ihr es etwa nur auf der Schule oder an der Universität "studiert" habt, statt es richtig zu lernen, ein paar erklärende Zeilen schreiben.

[Mutter Heimat ruft zum Krieg]

"Ródina" ist das, woran Stalin im Zweiten Weltkrieg appellierte, um auch die Nicht-Kommunisten in der Sowjet-Union zum Kampf gegen die Deutschen aufzustacheln, nämlich zunächst einmal das Land, in dem man geboren ist (geboren werden heißt "rodítsja", die Eltern "rodítjeli"); aber darüber hinaus ist es das Land, in dem die Muttersprache ("rodnój jazék") gesprochen wird, wo diejenigen leben, die man liebt, diejenigen, die man früher auch auf Deutsch "die Lieben" genannt hat, also die Verwandten (nicht die Verschwägerten - das waren "die Vriunde" [das Wort "Freund" hat erst später seine heutige Bedeutung angenommen, infolge der sprachlichen Inflation, die aus jedem Mann einen Herrn, aus jedem Weib eine Frau und eben aus jedem besseren Bekannten einen "Freund" machte]). Im Russischen ist dieser Kreis noch weiter gefaßt: Wenn Tanja z.B. zu ihrer Freundin und Kollegin Sima "meine liebe" sagt, dann gebraucht sie das Adjektiv "ródnaja" - nicht etwa "milaja" (dieses Wort werdet Ihr im deutsch-russischen Wörterbuch finden, wenn Ihr die weibliche Form von "lieb" nachschlagt - Sima gebraucht es beim Verhör als Anrede für den Polizei-Hauptmann, und wie "lieb" ihr der ist, kann man sich lebhaft vorstellen) oder "dorogaja" (mit diesem Wort werdet Ihr als Ausländerinnen z.B. von Euren russischen Brieffreund[inn]en angeredet; es entspricht dem italienischen "cara" - so wird Sina von ihrem Freier Luigi genannt -, dem französischen "chère", dem englischen "dear", dem ossinesischen "werte" oder dem deutschen "teure" - und, um mit Billy Wilder in "One two three" zu sprechen: für manche Frauen ist das ja auch genau der richtige Ausdruck :-). Wenn also Tanja von ihrem Vater gefragt wird, wie sie denn ihre teure Heimat und ihre Mutter verlassen kann, dann meint er damit viel mehr als jemand, der einen deutschen Ex-Pat fragt, warum er nach Thailand oder sonst wohin ausgewandert ist. (Und umgekehrt meint Tanja viel mehr, wenn sie daraufhin zurück gibt: "Du hast es gerade nötig; du hast dich doch 23 Jahre lang nicht um uns [deine 'Lieben'] gekümmert!")

[Exkurs, der eine Frage betrifft, die Dikigoros schon an vielen anderen Stellen diskutiert hat, aber hier einmal unter dem spezifisch russischen Aspekt darlegen will. "Die Heimat verlassen" - was heißt das heute schon noch, da die meisten Länder doch nur noch Staaten sind, die kaum mehr als Heimat empfunden werden, weil dort nicht mehr die Verwandten leben (damit meint Dikigoros hier nicht nur die "Lieben", sondern auch die im weiteren Sinne Verwandten, das, was die bösen Nazis früher "Volksgenossen" nannten), sondern vielmehr "Staatsbürger" und "Migranten" aus aller Herren Länder? Auch in der BRDDR weiß man das inzwischen, aber in Rußland weiß man es schon längst - nie waren die (Aus-)Wanderbewegungen dort so groß wie nach dem Zusammenbruch der Sowjet-Union, denn viele der neuen, unabhängigen Staaten ekelten ihre russischen "Mitbürger" - die in ihren Augen lediglich Besatzer gewesen waren - hinaus, und viele Nicht-Russen folgten ihnen, als sie merkten, daß es ihnen ohne die Umverteilung via Moskau nun noch dreckiger ging als zuvor. (Selbst Armenier gingen nach der "Unabhängigkeit" von der SU scharenweise in die Türkei, um dort ihr Brot zu verdienen - obwohl sie dort keineswegs so gepampert wurden wie die Juden in der BRD, ganz im Gegenteil!) Wohlgemerkt, denen ging es beileibe nicht so gut wie es Tanja in Leningrad relativ gesehen schon ging. Aber was soll's - nimmt man seine Heimat nicht mit? Zitiert Dikigoros nicht dauernd den Spruch: "Ein Pferd, das in einem Schweinestall geboren wird, bleibt doch ein Pferd, und umgekehrt!" (Oder, wie es in Afrika etwas weniger griffig heißt: "Einem Leoparden kann man die Flecken nicht abwaschen!")? Ja, sicher, aber wo bekommt es dort seinen Hafer her? Muß es eventuell auf Kartoffelschalen umsteigen? Und wie unterhält es sich mit seinen Nachbarn, wenn die allesamt grunzen statt zu wiehern? Wie bewahrt es seine pferdische Kultur? Und selbst, wenn es im Schweinestall noch ein paar andere Pferde trifft... Die Deutschen haben es im 20. Jahrhundert besonders bitter erfahren, wie verderblich das Auswandern in die Fremde - von Amerika bis Rußland - sich noch nach Generationen erweisen kann, vom vollständigen Kulturverlust bis zur Auslöschung der fysischen Existenz; und die Russen, die sich über ihre sowjetischen Kolonien verteilt haben, sind gerade dabei, es ebenfalls zu erfahren, von Estland bis Kazakhstan. Die Schweden haben es schon viel früher bemerkt: Was ist denn von den alten Rus und ihrer Kultur geblieben in "Rußland"? Eben - nichts. Und was wird umgekehrt von den Russinnen bleiben, die nach Schweden - oder sonstwohin - gehen? Dazu gibt es in Rußland zwei Meinungen, die, obwohl sie völlig entgegen gesetzt argumentieren, doch beide zu negativen Schlüssen kommen: Die einen sagen: "Geh bloß nicht ins Ausland, weil du dort deine Sprache, Kultur usw. verlierst". Die anderen sagen: "Auch wenn du von zuhause wegläufst, du bleibst doch immer, was du bist und wirst deshalb im Ausland unglücklich sein". Die o.g. russische Exilantin traf in der UdSSR wiederholt Leute, die so argumentierten und sich deshalb das Im-Lande-bleiben schön redeten - wahrscheinlich, weil sie gar nicht die Alternative hatten, abzuhauen. Umgekehrt redet sie sich selber - die keine Alternative hatte, als abzuhauen, weil man sie sonst umgebracht hätte, wie den Rest ihrer Familie, der dort blieb - schön, daß man sich sehr wohl ändern und anpassen könne, zwar nicht genetisch, aber: "Seine Herkunft ändert man nicht, nein; doch seine Mentalität kann man ändern, seine Gewohnheiten, seine Haltung, die Art, die Dinge zu sehen..." Wirklich? Wenn das so wäre, bräuchte Tanja ja keine Bedenken zu haben, ins Ausland zu heiraten - hat sie auch nicht. Aber je länger er darüber nachdenkt, desto mehr gelangt Dikigoros - mit Kunin und Todorowski - zu der Überzeugung, daß sie da falsch liegt; und sowohl der Roman als auch der Film schicken sich nun an, diese Auffassung zu bestätigen, deshalb kann Dikigoros den Exkurs an dieser Stelle enden lassen.]

Nachtrag: Dikigoros lernte, gut 30 Jahre nachdem "Intergirl" in die Kinos gekommen war, im MIX-Markt mal wieder eine Russin kennen, die aus Kazakhstan in die BRDDR gekommen war - fließend und grammatisch völlig korrekt Deutsch sprechend, aber noch immer mit leichtem Akzent, an dem er sie gleich als solche erkannte. Sie erinnerte sich mit Schaudern, wie die Russ[inn]en damals, nach der Unabhängigkeit, schon auf der Schule schikaniert wurden - schlimmer als in Deutschland seit dem Februar 2022, und das will bekanntlich etwas heißen. "Sie sollten niemandem erzählen, daß Sie Russin sind. Geben Sie sich einfach als Ukraïnerin aus, die doofen Deutschen merken das doch nicht. Auch der MIX-Markt bezeichnet sich ja jetzt als ukraïnisch, nicht mehr als russisch." - "Ja, aber Ihnen kann ich es doch sagen." (Sie hielt ihn für einen Rußland-Deutschen, und Dikigoros ließ sie in dem Glauben :-) "Binnen drei Jahren wurden alle Schulbücher umgeschrieben. Wir waren alle Kazakhen und auch nie etwas anderes gewesen. Russen gab es nicht mehr, und die russische Sprache wurde gecancelt; selbst die eigenen Namen sollte man ändern - wie heute in der Ukraïne..." Sie müsse es wissen, denn ihre Schwiegereltern lebten dort. Folgte ein Gedankenaustausch über das Grenzland im allgemeinen und den dort tobenden Krieg im besonderen. Zum Abschluß fragte Dikigoros: "Und als was fühlen Sie sich heute?" - "Als Russin natürlich - was denn sonst?" Nachtrag Ende.

Ja, so schöne Musik wird Tanja in Schweden so bald nicht mehr hören, nachdem sie ihr Haus und ihre Heimat verlassen hat; aber das ist ihr wohl auch weniger wichtig: Unausgesprochen hängt der Spruch "ubi bene, ibi patria (wo [es mir] gut [geht], dort [ist meine] Heimat)" in der Luft (ein lateinischer Satz von geradezu russischer Kürze :-); und Tanja meint ja, daß es ihr in Schweden sooo gut gehen wird. Todorowskij hält dagegen, indem er für den Film fast unauffällig ein paar Sätze einfügt, die Dikigoros für sehr wichtig hält: "Töchterchen," läßt er Alla Sergejewna sagen, "man darf vom Leben nicht verlangen, was es einem nicht geben kann. Auch ein Armer kann glücklich sein." (Dabei ist sie für sowjet-russische Verhältnisse durchaus nicht arm zu nennen: in ihrer kleinen, aber feinen Dienst-Wohnung stehen u.a. ein großer Konzertflügel - Dikigoros hat bis heute nur ein Klavier! -, ein Fernseher und ein Telefon - längst keine Selbstverständlichkeit für russische Privatpersonen!) Aber Tanja widerspricht: "Ich mache das hier nicht mehr mit. Ich will eine eigene Wohnung, ich will ein eigenes Auto, ich will mir den Fummel kaufen können, der mir gefällt, ich will nicht mehr irgendwelchen Schwarzmarkt-Händlern hinterher laufen müssen, ich will die Welt nicht mehr nur im Fernseher vorgesetzt bekommen, ich will reisen, ich will die Welt mit eigenen Augen sehen, wie..." (Folgen Namen von Schauspieler[inne]n, die Deutschen nichts sagen würden. Im Roman gibt es später in Schweden noch eine häßliche Begegnung mit einigen dieser bewunderten Ikonen des sowjetischen Show-business, die zeigen soll, daß auch die unter der Knute gestrenger KGB-Aufseher stehen, wenn sie auf Auslands-Tournee sind, und den Mund nicht aufmachen dürfen, geschweige denn die Welt mit eigenen Augen sehen.)

Hat Dikigoros oben geschrieben, daß Tanja nicht berechnend sei? Ja, aber das ist kein Widerspruch, denn es schließt nicht aus, daß sie gierig ist. (Also genau das, was sie den "Provinzratten" zum Vorwurf macht!) Wohlgemerkt: Der Mensch muß essen und trinken, etwas anzuziehen haben und ein Dach über dem Kopf. Aber muß man wirklich immer die letzte Modetorheit mitmachen, das neueste Auto fahren, die teuerste Urlaubsreise buchen, bloß weil Großkotzistan gerade "in" ist? Selbstgenügsamkeit ist eine Tugend, die den Menschen der heutigen Zeit, die ständig mit den verlockenden Botschaften der Werbewirtschaft berieselt werden, nur noch selten gegeben ist, am seltensten denen weiblichen Geschlechts. (Einer der beiden eingangs genannten russischen Schriftsteller schrieb schon 100 Jahre vor Kunin: "Besuchen Sie nur in der ersten besten Großstadt die Verkaufsläden. Millionenwerte stecken in ihnen; unschätzbar ist die Summe menschlicher Arbeitskraft, die auf die Herstellung der feil gehaltenen Waren verwandt worden ist. Schauen Sie mal, ob in neun Zehnteln dieser Läden überhaupt etwas zum Gebrauch der Männer zu haben ist. Aller Luxus des Lebens ist ein Bedürfnis der Frauen und wird von ihnen gefördert. Gehen Sie durch die Fabriken, durch eine wie die andere. Ein ganz beträchtlicher Teil von ihnen verfertigt überflüssigen Schmuck, Möbel, Nippsachen für die Frauen. Wie absolute Kaiserinnen halten die Frauen neun Zehntel des Menschengeschlechts in Sklavenfron und schwerer Arbeit fest." Das mag überzogen sein, aber etwas ist schon dran, auch wenn Frau Dikigoros dazu bemerkt, daß das restliche Zehntel in noch unsinnigere Bedürfnisse der Männer gesteckt wird, von A wie Alkohol bis Z wie Zigaretten :-) Die Generation von Dikigoros' Eltern und Schwiegereltern, der es nach dem Krieg dreckig ging, oft sogar verdammt dreckig, ist überwiegend glücklich und zufrieden gewesen mit dem bescheidenen Wohlstand, den sie sich dann doch noch erarbeitet hat. Zu dieser Generation mag auch Alla Sergejewna noch gehört haben. Aber schon die "Ich-will"-Generation der Töchter (und erst recht die der Enkelinnen) ist ganz anders - nicht nur in Rußland: Mit Ansprüchen über Ansprüchen aufgewachsen, kennen sie nur noch das Motto aus Gittes Schlager - einem der widerwärtigsten deutschen Liedertexte, die je geschrieben wurden: "Ich will alles, ich will alles, und noch viel mehr..." bzw. "Ich will alles, ich will alles, und zwar sofort..." Konsumverzicht? Lernen? Arbeiten? Sparen? Gemeinsam etwas aufbauen? Das ist doch mega-out: Ein paar Männer im Valuta-Hotel abzocken (ja, auch im Westen gibt es gut zahlende Freier!) oder auch nur einen auf einmal, irgend einen verkalkten und/oder liebesblinden Sugar-daddy (oder noch besser dessen Sohn, von Beruf Erbe), bei dem frau sich ins gemachte Bett legt und ihn dann bei der Scheidung rupft (oder auch mehrere, je nachdem wie viele Dumme frau findet, die es noch einmal mit ihr probieren :-) - das ist das Ideal der heutigen weiblichen Jugend. Und für diese Generation steht Tanja mit ihrer Einstellung - wenn die kommunistischen Sowjet-Menschen da den moralischen Zeigefinger heben, kann ihnen Dikigoros nur Recht geben. [Nein, liebe Leser, das ist nicht das ewige Jammern der Älteren über "die Jugend von heute". Das hat es in allen Ländern und zu allen Zeiten gegeben; aber so schlimm wie jetzt war es noch nie.] Da Tanja im Roman nach ihrer Heirat mit Edik ständig auf Schwedisch mit "Fru Larssen" angeredet wird - anders als im Film, wo die Anrede auf Pseudo-Französisch "Madame" lautet - muß Dikigoros an das Märchen vom Fischer und seiner Frau Ilsebill denken - das im pladdütschen Original (von dem sich in den hochdeutschen Versionen nur noch der Spruch "Manntje, Manntje, Timpe te, Buttje, Buttje, in der See..." erhalten hat) "Von dem Fischer un syner Fru" heißt -, deren unersättliche Gier sie schließlich ins Unglück stürzt. (Wenn Ihr den vorigen Link anklickt, liebe Leser, dann schaut bitte auch mal in den Quellcode und wundert Euch - oder auch nicht - über die Zeile: "Veröffentlicht unter den Zulassungsnummern US-W-1044 und 1101 der Nachrichtenkontrolle der Militärregierung" - solche Vermerke sind offenbar auch noch nach dem so genannten "2+4-Vertrag" und der vermeintlichen Wiedererlangung der deutschen Souveränität angezeigt.)

[Sonderbriefmarke der Deutschen Bundespost] [Filmplakat Doris Dörre, Der Fischer und seine Frau]

Als Kind empfand er diese Geschichte als völlig absurd, viel absurder als alle anderen Märchen, weil er sich überhaupt nicht vorstellen konnte, daß eine Frau so sein könnte. Heute ist dieses Märchen traurige Wirklichkeit geworden, und nicht nur bei einem armen Fischer und nicht nur bei einer Frau, die ihren Mann hetzt, immer noch mehr Überstunden zu kloppen und immer noch mehr Kredite aufzunehmen, um immer noch mehr überflüssigen Schnickschnack zu kaufen, um ihre Nachbarn immer noch mehr zu übertrumfen und zu ärgern. Und wer fragt heute noch nach der Moral von der Geschicht'? Ein paar Moralapostel von der Kirche - und deren Worte verhallen ungehört. Und die schöne - da in die aktuelle Gegenwart "übersetzte" - Verfilmung des Märchens, die ausgerechnet Doris Dörre anno 2005 in die deutschen Kinos brachte, trug ihr - besonders von weiblicher Seite - nichts ein als mehr oder weniger wütende Kritik ("als ob wir alle Ilsebills wären!"); der Streifen wurde ihr größter Flop. Schnitt.

[Wappen Schwedens]

Tanja ist mit Edik in Schweden, wohnt in einem schönen Einfamilienhaus (das freilich noch nicht abbezahlt ist, also noch der Bank gehört); ihr Mann hat ihr auch einen eigenen Zweitwagen, einen Volvo 343, gekauft (genauer gesagt geleast, was so teuer ist, daß künftig alle Urlaubsreisen flach fallen), ferner Schmuck und modische Kleider; und sie kann jeden Tag im Supermarkt einkaufen, was das Herz begehrt: frisches Fleisch, Obst und Gemüse... (Ob die russischen Kinogänger das glauben, wenn sie die Riesenauswahl im Film sehen? Oder ob sie das nur für ein Märchen halten?) Tanja hat also nun die Fummel und all die anderen Dinge, die sie ihrer Mutter zur Rechtfertigung der Ausreise aufgezählt hat. Die Nachmittage und Abende verbringt sie in der Kneipe nebenan bei der netten Wirtin Reja, zunehmend gelangweilt, da ihr Mann so lange arbeitet. (Im Roman stört sie das weniger; denn da hat sie wie gesagt eine kleine Hündin, die ihr das liebste Wesen in Schweden ist - wenn sie nicht mit Edik schlafen will, nimmt sie einfach die mit ins Bett -, gefolgt von ihrem Auto, dem netten Tankwart und dem jungen Einkaufstütenträger im Supermarkt; aber ganz so deutlich wird es im Film nicht, daß Tanja sich von Anfang an nichts aus Edik macht - Todorowskij will das Drama sich langsamer entwickeln lassen.) So weit so gut. Schwierigkeiten macht allerdings die Integration in die schwedische Gesellschaft, und zwar in scheinbar ganz unbedeutenden Kleinigkeiten, die der Film leider nicht so deutlich macht wie der Roman. Nur ein Beispiel: In Rußland ist es üblich, daß Nachbar[inne]n einander aushelfen, wenn sie zum Beispiel einen Kuchen backen wollen und gerade mal kein Mehl, Salz oder Eier im Haus haben - dafür werden sie dann zum Essen eingeladen, wenn er fertig ist. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit - jedenfalls für Tanja: "In Leningrad hätte ich mir nie Gedanken zu machen brauchen, ob es passend oder unpassend ist, eine Nachbarin um ein bißchen Salz oder ein Stückchen Brot zu bitten," sagt sie im Roman zu Edik.

[Exkurs. Dikigoros erinnert sich dunkel, daß das auch in Deutschland mal so war - jedenfalls noch in den 1950er Jahren; denn selbst seiner Mutter, die sonst eine tüchtige Hausfrau war, passierte es schon mal, daß irgendetwas in der Speisekammer nicht oder nicht in ausreichender Menge vorhanden war, und dafür lief man doch nicht extra zum Markt! Und er kann sich nicht vorstellen, daß das in Schweden so viel anders gewesen sein sollte - im Gegenteil: Eine der ersten Lektionen seines Schwedisch-Lehrbuchs handelt davon, wie jemand die Nachbarin um die Ausleihe ihres Staubsaugers bittet - ein Gerät, das damals offenbar noch nicht jeder sein eigen nannte -; eine Bitte, die diese "mit dem größten Vergnügen" bewilligt. (Aber jenes Buch wurde anno 1966 geschrieben, spielte also soziologisch gesehen fast in der Steinzeit; da ging manfrau ja auch noch nicht in den Supermarkt einkaufen, wie Tanja, sondern im Kolonialwarenladen von Tante Emma :-) Und es gibt bzw. gab sogar eine eigene Redewendung im Schwedischen, um beim Zurückgeben den Dank für die Ausleihe zum Ausdruck zu bringen - das wäre doch nicht so, wenn das schon immer als "Bettelei" verpönt gewesen wäre! Und jemandem Brot und Salz zu verweigern, ist bei allen Völkern, die nur ein Bißchen Gefühl für Anstand und Gastfreundschaft haben, ein ungeheuerlicher Verstoß gegen die guten Sitten des nachbarschaftlichen Zusammenlebens. (Was glaubt Ihr denn, woher das Wort "Bißchen" kommt? Daher, daß man seinen Nächsten nicht von der Türschwelle weist, wenn er Hunger hat, sondern ihn wenigstens mit einem kleinen Bissen "abspeist"!) Dieser Sinn für Gastfreundschaft hat sich selbst bei arabischen und türkischen Völkern aus ihrer vor-islamischen Zeit so weit erhalten, daß man ihrer sogar als Nicht-Muslim bisweilen noch teilhaftig werden kann. Und auch die Russen, die Ostslawen überhaupt, haben sie sich aus ihrer vor-kommunistischen Zeit bewahrt. (Die West- und Südslawen weniger, die sind wohl schon zu "fortschrittlich" - Dikigoros' Mutter hat ihm allerdings erzählt, daß sie diese Gastfreundschaft auch bei den Südslawen noch erlebt habe, aber das ist lange her, als man dort noch "rückständig" war.) Und was die eingangs erwähnte Diplomatenfrau schrieb, gilt auch heute noch: "Die russische Gastfreundschaft ist eine wundersame Sache; sie ist ein Zug des National-Charakters (...) Dieses verarmte Volk gibt das Geld aus, als brenne es ihm auf den Fingern. Verachtung straft alle Anzeichen des Geizes. Die Russen ruinieren sich, um jemandem eine Mahlzeit oder ein Geschenk anbieten zu können." Exkurs Ende.]

Aber Edik ist ganz entsetzt, als er hört, daß seine Frau bei der Nachbarin "betteln" gegangen ist. Überhaupt werden heutzutage Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft in Schweden (wie überall im Westen, außer in gewissen Teilen der USA, wo die Nachbarschaftshilfe in Form der "neighborhood watch" - der gemeinschaftlichen Selbstjustiz, pardon Selbsthilfe gegen die überhand nehmende Kriminalität - in letzter Zeit wieder Auferstehung gefeiert hat) nicht sonderlich groß geschrieben; ganz anders als in Sowjet-Rußland, wo der feindliche Staat die Untertanen seit je her gezwungen hat, zusammen zu stehen und einander zu helfen. Als Tanja - nun wieder im Film - in aller Unschuld Witja [Koseform von Witalij, allen Boxsportfans sicher ein Begriff], einen Lkw-Fahrer aus Leningrad kennen lernt, nach Hause einlädt und ihm ein paar Klamotten schenkt, ist Edik nicht nur eifersüchtig, sondern ganz empört ob solcher Verschwendungssucht. "Nun laß mir doch meine kleinen russischen Eigenarten," sagt sie. "Ihr Russen habt die Eigenart, nicht sparsam zu sein," versetzt er. "Du verdienst doch genug, oder?" fragt sie. "Dann paß mal auf," sagt er, greift zum Taschenrechner und kalkuliert das Monatsbudget durch: Steuern, Sozialabgaben, Versicherungen, Hypothek, Leasingrate, Verpflegung... "Sieh selbst, was noch übrig bleibt," sagt er, "und was wird morgen sein?"

Also, die Ansicht, daß Russ[inn]en nicht sparsam sein können, ist weit verbreitet, auch und gerade unter Russen - selbst die wiederholt zitierte Diplomatenfrau schreibt gegen Ende ihres Buches resigniert: "Die russische Verschwendungssucht ist eine Geisteshaltung..." Vielleicht kennt Dikigoros "die" Russen nicht genügend; vielleicht kennen aber "die" Russen auch einfach zu wenige andere Völker, um einen objektiven Vergleich anstellen zu können - und letzteres hält er für wahrscheinlicher; deshalb wird er dazu weiter unten eine Gegenrede wagen. Was Edik da zuletzt sagt, ist allerdings in der Tat eine Frage, deren Sinn den Russen abgeht. Man lebt heute, und das meist zu schlecht, um sich auch noch den Kopf über morgen zu zerbrechen. Kunin läßt Tanja an einer anderen Stelle im Roman einen alten russischer Witz zitieren (Todorowskij läßt die Szene im Film leider weg), der vielleicht mehr über die russische Psyche aussagt als viele gelehrte ethnologische Abhandlungen: Sagt der Mann zu seiner Frau: Zhora, morgen kommen Gäste zum Essen. Brate Fisch. Sagt die Frau: Aber wo ist denn der Fisch? Darauf der Mann: Brate du nur, brate, Fisch wird schon da sein. [Zhora, zhar' rybu! - A gdje ryba? - Ty zhar', zhar', ryba budjet!] Budjet - das ist eine unvollendete Futur-Form von "sein", also: er/sie/es wird [da] sein oder werden, will meinen: Es wird sich schon alles irgendwie finden. Kurzum (und wie kurz drückt das Russische diesen Gedanken im Dialog aus!), Tanja ist nicht bereit, Abstriche bei ihrem neuen Lebensstandard zu machen. Ja, liebe Leser, der Mensch ist ein anpassungsfähiges Wesen; er gewöhnt sich schnell an gehobene Bedürfnisse, zumal wenn er Nachholbedarf hat; das ist etwas, das viele westliche Männer nicht begreifen, die sich Ehefrauen aus armen Ländern holen und allen Ernstes glauben, die müßten dankbar und zufrieden sein, wenn sie bei ihnen in bescheidenem Wohlstand leben können. Aber warum sollten sie dann ins Ausland heiraten? Wenn sie nur bescheidene Ansprüche hätten, könnten sie doch zuhause bleiben! Und manches kann sogar Dikigoros nachvollziehen: Im Roman regt sich Edik z.B. auf, weil Tanja in der Kneipe ständig einen "sündhaft teuren" Mix aus Ananassaft und Kokosnußmilch trinkt. (Diese Szene fehlt im Film, weil Todorowskij sie da Alkohol trinken - und anschließend Auto fahren - läßt.) Aber das ist etwas, das es in der SU nicht gab und das sie sich nun endlich gönnen will - außerdem ist es gesund, wie sie zurecht sagt. Und man kann es - etwa im Gegensatz zu Bier, das man auch billig im Supermarkt kaufen und zuhause trinken könnte - nicht selber herstellen, jedenfalls nicht ohne größeren zeitlichen und finanziellen Aufwand. (Das ist nicht zu vergleichen mit der Asiatin, die ihr Essen unbedingt im teuren Asia-shop kaufen will, obwohl es Fisch und Reis auch für viel weniger Geld in normalen Läden gibt - wenn ihr die nicht gut genug sind, hätte sie zuhause bleiben sollen, wo es genug von dem ihr gewohnten Zeug gibt!)

"Dann werde ich eben selber arbeiten gehen," sagt Tanja und stiefelt zum Arbeitsamt, wo sie erfährt, daß ihre sowjetische Ausbildung zur Krankenschwester in Schweden nicht anerkannt wird. "Ich nehme auch jede andere Arbeit an," sagt sie; aber da ist nichts zu machen. ("Ich kann doch dich, die Ehefrau eines Ingenieurs und Abteilungsleiters, nicht bei mir in der Kneipe anstellen," meint Reja im Roman auf Befragen.) Auf dem Arbeitsamt (im Roman: bei einem Autounfall) lernt Tanja eine Leidensgenossin und Landsmännin aus Moskau namens Vera kennen, klein, fett und häßlich. "Du hast es gut," meint die nur, "denn du wirst geliebt. Aber mein Typ hat sich für die Heirat fast all mein Geld geben lassen, und kaum waren wir hier, hat er sich wieder scheiden lassen." Und nun lebe sie von Sozialhilfe und Gelegenheits-Prostitution, die zu ihrem Leidwesen schlechter bezahlt wird als im Moskauer Interkontinental "Du wirst bald feststellen, daß wir Russinnen hier in Schweden als Menschen dritter Klasse angesehen werden. Im Ausland spielen sie uns wer weiß was vor, und hier, in ihrer tollen Demokratie... Aber ich habe ein Angebot, wenn das klappt..." Später stellt sich heraus, was das für ein Angebot ist: Ein Drogendealer hat Vera als Kurier mißbraucht; sie wird erwischt und eingebuchtet. (Und bei der Gelegenheit kommt auch heraus, daß sie Tanja ein Märchen aufgetischt hat von wegen Heirat und Scheidung; vielmehr ist sie - wie, erfahren wir nicht - als Asylantin nach Schweden gekommen.) Als diese Nachricht über den Fernseh-Bildschirm flackert, sitzt Tanja gerade wieder in der Kneipe und trinkt. Als sie das sieht, dreht sie durch, randaliert, wirft im Suff den Fernseher mit einem schweren Aschenbecher ein und muß von Edik abgeholt werden.

Überhaupt ist der Alkoholismus ein Thema, das Todorowskij viel stärker thematisiert als Kunin, und das mit Recht: In einem Land wie Schweden - wo zwar nicht offiziell, aber aufgrund der hohen Alkohol-Steuer de facto fast Prohibition herrscht - fällt der russische Hang zum Trinken besonders unangenehm auf. Auf einer Feier mit Bekannten besäuft sich Tanja, stößt mit der Kellnerin zusammen und bekommt dabei Wein auf ihr Kleid geschüttet (im Roman macht sie es sich nur beim Spielen mit den Kindern der Gäste im Garten schmutzig), wird beim Umziehen von Rönn sexuell belästigt und zieht ihm die leere Flasche über den Kopf. [Im Roman ist das eine der unschönen Szenen, die Todorowskij im Film - wohl mit Rücksicht auf potentielle schwedische Zuschauer - stark gekürzt hat. Als Tanja Rönn anfaucht: "Wie kannst du es wagen, in meinem eigenen Hause..." gibt der ungerührt zurück: "Das ist nicht dein Haus, und wir sind hier in meinem Land; mir verdankst du, daß du überhaupt hier bist. Vergiß nie, was du warst (in der deutschen Übersetzung steht sogar "bist"): eine Nutte. Was willst du eigentlich - ich bezahle es dir, zum gleichen Tarif wie in Leningrad." Ja, so ist das: Irgendwann holt einen die Vergangenheit wieder ein; viele Europäer, die z.B. eine Thai-Nutte geheiratet haben, müssen das peinlichst feststellen, wenn die ihre Ex-Kolleginnen nachholt, um Zockergrüppchen zu gründen, und sich deren Ehemänner dann als Ex-Freier der eigenen Frau entpuppen.] Das kostet Edik die bereits fest zugesagte Ernennung zum Ausstellungsleiter seiner Firma in Leningrad (und wie hatte er sich schon darauf gefreut - zumal ihn das der Notwendigkeit enthoben hätte, die von Tanja ständig angemahnte Reise nach Leningrad aus eigener Tasche zu bezahlen).

Auch dem Lastwagenfahrer aus Leningrad bringt Tanja kein Glück: Als die sowjetischen Behörden heraus bekommen, daß Witja im Ausland private Kontakte gepflegt (und wohl auch die eine oder andere Kleinigkeit geschmuggelt) hat, wird er abgelöst. Und als Tanja seinen Nachfolger fragt, was denn aus Witja geworden sei und ihm mit dem blöden Spruch kommt: "Wir sind doch Genossen...", da zitiert der bloß den bösen sowjetischen Satz, aus dessen erstem Teil Dikigoros die Überschrift gebildet hat: "Der Wolf von Tambow ist dein Genosse." [Wenn Ihr Tambow im Internet suchen solltet, liebe Leser, versucht es auch mal unter "Tambov" - heute wird es meist so transkribiert.] Von Wölfen ist im Roman schon vorher einmal die Rede, nämlich als Tanja ihren Vater besucht und ihn gnadenlos zur Schnecke macht ob seines verkommenen Lebenswandels. "Warum seid ihr bloß alle so hart, Genossen?" fragt er, und sie antwortet brutal: "Der Wolf von Tambow ist dein Genosse." [Das ist die ureigenste Idee Todorowskijs, der diese Parallele zur späteren Szene in Stockholm richtig erkannt hat - Kunin läßt sich diesen effektvollen Clou entgehen, indem er Tanja "nur" (aber gleichfalls eisig) erwidern läßt: "Weil ich unter Wölfen lebe [s wolkami zhitch - die russische Sprache kommt mit halb so vielen Silben aus, um das gleiche auszudrücken]." (Marlene Milack-Verheyden übersetzt das völlig falsch mit: "Man muß mit den Wölfen heulen." Dabei ist sie nicht etwa konsequent - wenn das russische Original einmal nicht kurz und knapp ist, dann ist es ihre Übersetzung. Der Roman beginnt z.B. mit dem für russische Verhältnisse geradezu poëtischen Satz: "Es war mitten in einer weißen Sommernacht." [Leningrad lag und Sankt Peterburg liegt nahe genug am Polarkreis, um solche Nächte zu erleben.] Wie beginnt Milack: "Weiße Mittsommernacht." Kurz, plump und falsch - da vergeht einem fast schon die Lust, weiter zu lesen. Inzwischen gibt es das russische Original im Internet, wenn Ihr also Interesse habt, klickt den Link an.) Erst daraufhin verlangt Tanjas Vater von ihr die 3.000 Rubl.

Aber was bedeutet der Satz "Tambowskij wolk tebje towarischtsch (wörtlich: "[Der] Tambow'sche Wolf [ist] dir Genosse") nun richtig, und woher kommt diese Redewendung? Darüber streiten die Gelehrten. Ältere Semester werden sich vielleicht noch erinnern, daß 1944, beim Rückzug der Heeresgruppe Nord, ein ähnlicher Satz in Umlauf war, den wohl zuerst russische HiWis dem anderen nachgebildet hatten. Wenn ein Landser bei einem anderen eine Zigarette schnorren oder sonst irgend etwas von ihm wollte, wozu dieser nicht verpflichtet, nicht bereit oder nicht in der Lage war, bekam er zunehmend auf die stereotype Anrede "Kamerad[en]..." statt des Erhofften nur die ebenso stereotype Antwort zu hören: "Die Kameraden liegen am Ilmensee!" So ganz decken sich die beiden Redensarten freilich nicht. Tambow ist ein geheimnisvoller Ort, wo sich Fuchs und Has' nicht mehr "gute Nacht" sagen, und diese Geheimnisse sind düster.

[Heimat des Wolfs von Tambow]
[Sergej Rachmaninow]

In Tambow, der Heimat jenes sprichwörtlichen Wolfs, standen schon zu Tsarenzeiten die schlimmsten Zuchthäuser Sibiriens, später die Kriegsgefangenenlager, und schließlich die Konzentrations- und Vernichtungslager der Sowjets; bis vor kurzem war diese Ecke für Normal-Sterbliche nicht zugänglich; inzwischen werden sogar historische Exkursionen nach Tambow veranstaltet - freilich nicht, um diese Vergangenheit kennen zu lernen, sondern allenfalls um zu erfahren, daß der große, später in die USA emigrierte Komponist Sergej Rachmaninow hier mal eine Sommerresidenz hatte. Wenn man heute Russen fragt, woher die Redewendung komme, räumen sie entweder ganz offen ein, daß sie es selber nicht wissen, oder sie eiern herum: "Tambowskij wolk" sei schon lange eine Bezeichnung für den primitiven sibirischen Bauern gewesen, der mit niemandem Freund sei usw. Aber das ist Unsinn, liebe Leser. Verbannungs- und Gefängnisorte in Sibirien gab es in der Tat viele und schon lange; doch wirklich berüchtigt wurde Tambow erst unter den Sowjets. Aber wie das so ist, gibt es gewisse Tabus, die bis heute fortbestehen - jedenfalls in Deutschland. So dürfen Deutsche z.B. bis heute nicht wissen, daß der in Frankreich vom Amts wegen hoch gejubelte Napoleon Bonaparte zu Lebzeiten beim französischen Volk ebenso verhaßt war wie bei seinen Nachbarvölkern; ebenso wenig, daß John F. Kennedy heute in den USA als das Arschloch gilt, das er war; und in Deutschland darf auch niemand wissen, daß bereits anno 1998 ein russischer Historiker namens Wiktor Suworow eine weitere "Lichtgestalt" entlarvt hat: Michail Nikolajewitsch Tuchatschewskij. Aber - war das nicht der großartige Organisator der Roten Armee, ihr fähigster Marschall, der dann einer bösen Verschwörung zwischen Hitler und Stalin zum Opfer fiel? Ja, das hättet Ihr gerne so, liebe Gutmenschen; aber nichts von alledem ist wahr: Tuchatschewskij - der Wolf von Tambow, der sprichwörtlich wurde - führte zwar den Bürgerkrieg gegen wehrlose Zivilisten und die ersten "Säuberungen" in und um Tambow mit ungeheurer Grausamkeit (wie sie kein echter Wolf aufbrächte - lest mal bei Konrad Lorenz nach, was das eigentlich für liebe, harmlose Tiere sind, ganz im Gegensatz zu dem Viehzeug, das der Mensch aus ihnen gezüchtet hat); aber als General war er eine völlige Niete, wie sich im Krieg gegen Polen heraus stellte. Gleichwohl bedrohte er Stalin, der ihn nicht umsonst umbringen ließ. Es stimmt wohl, daß die Nazis das nicht ohne Schadenfreude sahen, hatte Tuchatschewskij doch zu denjenigen Russen gehört, die in der Systemzeit das geheime Militärbündnis mit der verhaßten Republik von Weimar zustande gebracht und gepflegt hatten (das übrigens von heutigen Historikern weit überschätzt wird - aber das ist eine andere Geschichte). Doch daß Hitler Stalin falsche Papiere zugespielt haben soll, die Tuchatschewskij zum "Verräter" stempelten, gehört ins Reich der Märchen.

Zurück zum Film. Nachdem aus dem Treffen mit Witja nichts geworden ist, geht Tanja statt dessen in eine orthodoxe Kirche. [Ja, liebe Leser, so etwas gibt es auch in Schweden, und sogar in Deutschland, und Dikigoros rät Euch dringend, ab und zu mal hinzugehen; es ist nämlich interessant zu sehen, wie sich die ausländischen Gemeinden dort treffen - auch die polnischen und die lateinamerikanischen in katholischen Kirchen, die man ihnen mangels Auslastung durch Deutsche zur Verfügung gestellt hat, wenn Ihr Euch denn nicht in Hindu-Tempel oder muslimische Moscheen trauen solltet bzw. eh nicht versteht, was dort gesprochen wird. Dikigoros hat oben etwas über die Bewahrung der eigenen Kultur geschrieben und dabei vielleicht etwas zu einseitig auf die Sprache abgestellt. Die Religion gehört genauso dazu - auch wenn das im christlichen Abendland allmählich in Vergessenheit zu geraten scheint.] Ach - ist in ihr, dem Sowjetmenschen, urplötzlich der Glaube erwacht? I wo, sonst würde sie nicht so aufgebretzelt, wie sie sich für Witja hat, ein orthodoxes Gotteshaus betreten; das kommt dort nämlich ganz schlecht an. Euch fällt das nicht auf, liebe westliche Leser[innen], da Eure Kirchen so schlecht besucht sind, daß man dort vor Freude, überhaupt noch ein paar Schäflein zu Gesicht zu bekommen, jeden und jede herum laufen läßt wie er bzw. sie will, und sei es wie im Puff, ohne was zu sagen. (Als Dikigoros jung war, wäre es auch für eine anständige Katholikin noch undenkbar gewesen, eine Kirche ohne Kopfbedeckung zu betreten, die ihr Haar vollständig verhüllte, geschweige denn in voller Kriegsbemalung, oder ungeniert herum zu tratschen!) Aber in orthodoxen Kirchen kommt das nach wie vor ganz schlecht an. Todorowskij vertieft das nicht. (Dabei ist es seine ureigenste Szene - im Roman ist es umgekehrt: Da hat sich Tanja für das Treffen mit Witja tüchtig aufgebrezelt und will so vorher noch in die Kirche gehen, traut sich dann aber doch nicht hinein, sondern macht auf der Schwelle wieder kehrt. Im Film nimmt sie zwar auch nicht am Gottesdienst teil - scheut sich sogar, ein Kreuz zu schlagen -, zündet aber wenigstens eine Kerze an.) Deshalb zitiert Dikigoros hier einmal mehr die besagte russische Exilantin: "Die Sitten der orthodoxen Russen sind puritanisch. Weder geschminkte Lippen werden in der Kirche geduldet noch eine zu kokette Kleidung. Wenn das jemand nicht weiß und durch seine Aufmachung auffällt, macht man ihn stets mit großer Strenge darauf aufmerksam: 'Dies ist das Haus Gottes, und nicht ein öffentlicher Ball.' Ebenso werden Leute, die sich in der Kirche miteinander unterhalten, von den Nachbarn zur Ruhe gewiesen." Was solls, wird sich Todorowskij gedacht haben, gläubige Russen wissen das ohnehin, und die anderen geht es ja nichts an; es ist halt bloß einer der vielen kleinen Mosaïksteine, die ein insgesamt schlechtes Licht auf Tanja werfen. Viel schlimmer - und offensichtlicher - sind allerdings ihre anderen Laster: Kaum ist sie wieder in ihrer Stammkneipe, ertränkt sie ihren Kummer wieder in Alkohol - es folgt die unschöne Szene, die Dikigoros oben im Zusammenhang mit der erwischten Rauschgift-Schmugglerin schon vorweg genommen hatte.

Am Ende kommen auch noch schlechte Nachrichten von zuhause: Tanja erfährt, daß ihre Mutter die Stellung als Lehrerin verloren hat und sich nun mit privaten Nachhilfestunden über Wasser halten muß; und eine ihrer Ex-Kolleginnen ist beim "Devisenvergehen" erwischt worden (im Roman erfahren wir auch, mit wem sie schwarz getauscht hat: dem Portier "ihres" Ausländerhotels, dem pensionierten Offizier, der Tanja um ein paar Rubl Trinkgeld angebettelt hatte) und hat behauptet, die Valuta für sie, Tanja, schwarz getauscht zu haben. "Ich muß sofort nach Leningrad und das alles richtig stellen!" Edik - ganz die Vernunft in Person - ist natürlich dagegen: "Du gehst nicht in so ein beklopptes Land zurück. Überall auf der Welt darf man Geld tauschen, nur bei euch nicht..." - "Das verstehst Du nicht, das läuft bei uns unter 'Spekulation'!" Nun rastet der eben noch so vernünftige Edik völlig aus und brüllt sie auf Schwedisch an. (Im Film tut er das wenigstens in den eigenen vier Wänden, im Roman dagegen auf einem öffentlichen Parkplatz, wo alle mithören können.) Fazit: keine Reise in die SU, basta!

Pardon, liebe westliche Leser, aber an dieser Stelle kann sich Dikigoros einen weiteren Exkurs nicht verkneifen. Versteht Ihr auch nicht, was Tanja da gesagt hat, bzw. glaubt Ihr, was Edik sagt? Dann lebt Ihr mit Verlaub im Wolkenkuckucksheim, wie auch die wiederholt zitierte Diplomatenfrau, die ganz empört beschreibt, wie in der Sowjetunion Teppiche, Matrazen, Schallplatten, Kleider, Kinderwindeln, sogar junge Hunde oder Katzen heimlich verkauft werden müssen, als handele es sich um Rauschgift, weil eben "Spekulation" strafbar sei und jeglicher Privatverkauf nur über einen staatlichen Kommissionsladen - gegen Gebühr - statt finden dürfe. Aber auch in der BRD (und allen anderen Staaten, deren Rechtsordnung Dikigoros einigermaßen kennt) ist der nicht-lizensierte Handel mit Devisen strafbar. Und Ihr dürft zwar mal ein gebrauchtes Buch oder eine alte Schallplatte auf dem Flohmarkt oder einer Internet-Börse privat verkaufen (übrigens auch gegen Gebühren, sei es für den Stand, sei es für Ebay :-), aber keine Neuware, wenn Ihr nicht eine Lizenz zum Handeln habt und vor allem Umsatzsteuer alias "Mehrwertsteuer" abführt. Also laßt Euch bloß nicht einreden, daß dies der Hauptunterschied zwischen dem real-existierenden Sozialismus und dem real-existierenden Kapitalismus sei - eine "freie Marktwirtschaft" im echten Sinne des Wortes gibt es auch bei uns schon lange nicht mehr! Exkurs Ende.

Der Film endet, wie er enden muß: Tanja hört nicht auf ihren Mann, sondern bucht telefonisch einen Flug, setzt sich heimlich nachts ans Steuer ihres Kleinwagens und verunglückt, im Suff und auf regennasser Fahrbahn, tödlich. Kurz zuvor hat ihre Mutter Selbstmord begangen, indem sie den Gashahn aufgedreht hat. [Im Film wird sie von Ljalka gefunden, im Roman von Zicke, beide Male zu spät, und Kunin verkneift sich - anders als Todorowskij - nicht die Bemerkung, daß kein Schwein bereit ist zu helfen, woraus wir schließen können, daß es mit der von Dikigoros eben noch gerühmten Hilfsbereitschaft und dem Zusammenhalt unter den Menschen in Rußland sooo weit denn doch nicht her ist, jedenfalls dann nicht, wenn es ans Eingemachte geht; aber alles ist eben relativ.] Ende. Ja, liebe Sowjet-Menschen, das kommt davon. Wäre Tanja doch als Krankenschwester in Leningrad geblieben, hätte einen braven Russen geheiratet und so weiter...

* * * * *

Bisher haben wir die Geschichte fast ausschließlich aus Tanjas Sicht betrachtet - und so will es der Film ja auch. [Der Roman wird sogar in der Ich-Form von Tanja erzählt.] Aber nun wollen wir einmal versuchen, uns in den armen Edik hinein zu versetzen. Das alte Lied: Wenn man[n] zuhause - aus welchen Gründen auch immer - keine Frau findet (jedenfalls keine junge, hübsche oder wie man sie sonst gerne hätte), dann schaut man sich eben im Ausland um. Die Welt ist groß, und Frauen gibt es genug, in allen Farben und Formen, Abwechslung macht das Leben süß, und Gegensätze ziehen sich bekanntlich bis zu einem gewissen Grade an. Also auf nach Bangkok, Habana... usw., Dikigoros hat die Liste der einschlägigen Orte oben aufgezählt (politisch korrekt in alfabetischer Reihenfolge) und will sich hier nicht wiederholen. Nun sind leider die meisten Männer, die sich dort auf die Suche machen, keine studierte Ethnologen oder Sprachwissenschaftler, die sich in jenen Ländern besonders gut auskennen und schon aus beruflichen Gründen eine passende Partnerin zur Erweiterung ihres diesbezüglichen Horizonts suchen. Und die Bräute sind meist auch nicht gerade Deutsch-Lehrerinnen oder Germanistik-Professorinnen, die in etwa wissen, was sie im Ausland erwartet (obwohl man auch die auf den Heirats- und sonstigen Fleisch-Märkten zunehmend antrifft, zumal in der ehemaligen Sowjet-Union - aber das ist eine andere Geschichte). Wo lernen die künftigen Eheleute einander also in 99% der Fälle kennen? Richtig, im Rotlicht-Milieu. Ist das eigentlich schlimm, liebe Leser? Aus welchen Gründen? Medizinischen? Falsch - gegen die meisten Geschlechts-Krankheiten gibt es heute Mittelchen. Aus moralischen? Pardon, aber wo liegt denn der "moralische" Unterschied zwischen einer Disco-Gängerin, die jeden Abend einen anderen abschleppt, und einer Prostituierten, die es für Geld tut? Die eine gewöhnt sich nicht mehr und nicht weniger an häufig wechselnde Partner als die andere - warum sollte also die Gefahr des Fremdgehens nach Eheschließung bei der einen größer sein als bei der anderen?

Wohlgemerkt: Tanja betrügt Edik nicht, weder mit Witja (obwohl der Roman andeutet, daß sie es gerne täte - obwohl auch er anderweitig verheiratet ist) noch mit sonst irgendwem, wenngleich Edik das zu fürchten scheint. Aber diese Furcht ist der Preis, den jeder fysisch unattraktive Mann für die Heirat mit einer fysisch attraktiven Frau zahlen muß, egal ob Ex-Prostituierte oder nicht. Denn frau sucht neben dem möglichst gut verdienenden Versorger immer auch den gut aussehenden, gebildeten Begleiter zum Vorzeigen bei interessanten gesellschaftlichen Ereignissen, ferner den feurigen Liebhaber fürs Bett, und last not least den liebevollen Vater und Pantoffelhelden, der ihr im Haushalt hilft. (Oder, wie es in einem so genannten Frauenwitz heißt: "Eine Frau braucht vier Tiere: einen Nerz im Kleiderschrank, einen Hengst im Bett, einen Jaguar vor der Tür und einen Esel, der ihr das alles bezahlt!" :-)

[Eier legende Woll-Milch-Sau]

Und wenn sie diese Eier legende Wollmilchsau nicht in einer Person findet, dann muß sie die Last eben auf mehrere Schultern verteilen. (Dabei kann der Melkochse ruhig alt, dumm und häßlich sein, der Liebhaber arm wie eine Kirchenmaus, der Party-Begleiter schwul und der Pantoffelheld alles zusammen :-) Das ist umgekehrt übrigens nicht viel anders: Auch der Mann sucht nach Möglichkeit eine Frau, die eine schöne Mitgift mitbringt (oder einen guten Beruf, in dem sie mitverdient), eine attraktive, gebildete Begleiterin zum Vorzeigen auf gesellschaftlichen Veranstaltungen, die klug mitreden (oder schweigen :-) kann, eine feurige Liebhaberin fürs Bett, und last not least ein braves Hausmuttchen, das für wohl erzogene Kinder und einen perfekten Haushalt sorgt. Noch nie waren die gegenseitigen Ansprüche und Erwartungen von Eheleuten so hoch und unrealistisch wie seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; und deshalb sind auch noch nie so viele Ehen in die Brüche gegangen wie in dieser Zeit. (Wie war das: "Ich will alles, ich will alles..." - und natürlich alles auf einmal. Prioritäten setzen? Kompromisse treffen? Entscheiden, was einem wichtiger ist und was weniger? Nein, alles, ohne Abstriche!) Wen wundert's, wenn niemand bereit ist, diese Wahrheiten offen auszusprechen? In Heiratsanzeigen wird immer nur nach "Treue", "Humor" und anderen löblichen Charakter-Eigenschaften gesucht. Ja, liebe Leser[innen] - die mögen das Sahnehäubchen auf der ganzen Création "Ehe" sein; aber erstmal braucht der Topf einen Deckel und eine feste Grundlage, auf der er stehen kann! Dikigoros gebraucht ganz bewußt dieses Bild aus der Küchensprache, denn er glaubt an den alten Spruch, daß Liebe [auch] durch den Magen geht und daß daran viele "internationale" Ehen scheitern: Wer auf Eisbein mit Sauerkraut und Kartoffel-Püree oder Bratwurst mit Pommes und Mayo [be]steht, aber Fisch mit Reis verabscheut, der sollte keine Thai oder Filipinin heiraten, und wer keine Rote-Beete-Suppe und keine Piroggen mag, keine Russin oder Ukraïnerin. (Warum wurde der in seiner Heimat einst so populäre Boxer Klitschko bei den Bürgermeister-Wahlen von Kiew, die er so überlegen zu gewinnen gehofft hatte wie seine Ringschlachten gegen Fallobst - auch der Ex-Footballer Reagan und der Ex-Muskelprotz Schwarzenegger waren schließlich beim Wahlvieh gut angekommen, als sie in die Politik gingen - mit nur 1% der Stimmen abgestraft? Böse Zungen behaupten, weil sich unmittelbar vor der Wahl bis in die Hauptstadt der Ukraïne herum gesprochen hatte, daß er in einem deutschen Werbespot für die angeblich extra-leichte, gesunde "Milchschnitte" - in Wahrheit eine Kalorienbombe aus Fett und Zucker, die so manchen Schokoladenkuchen schlägt - die Piroggen schlecht machte!) Todorowskij vertieft das nicht; aber Kunin schreibt im Roman ausdrücklich, daß Piroggen Ediks Lieblingsspeise sind und daß Tanja sie ihm oft und gerne zubereitet - wohl um klar zu stellen, daß ihre Beziehung an diesem Punkt nicht scheitert. Er schreibt auch, daß es bei den Larssons einen Samowar gibt, den Edik aus Rußland mitgebracht hat. Habt Ihr mal mit russischen Emigranten gesprochen oder in ihren Memoiren gelesen? Was fehlt ihnen im Ausland am meisten? Der Samowar und - das russische Schwarzbrot. (Völlig unverständlich, denn es ist meist eine feuchte, klebrige Masse - nicht umsonst "Chleb" genannt -, etwa wie schlechtes Pumpernickel. Und der im Samowar zubereitete Tee schmeckt oft so bitter, daß er nur mit reichlich gezuckerter Marmelade genossen werden kann :-) Was läßt sich Tanja von Witja aus der Heimat mitbringen? Ein russisches Schwarzbrot! Es ist nur eine ganz kurze Szene, die Todorowskij zu streichen vergessen hat, im Restaurant, vor der Szene, in der Witja es ablehnt, sich von einer wie immer über-großzügigen Tanja eine teure West-Uhr schenken zu lassen.

A propos: Es gibt zwei Charakter-Eigenschaften, über die sich beide Partner vor der Eheschließung - vor allem bei einer "Hausfrauenehe", in der die Frau nicht mit verdient - unbedingt klar werden sollten, und zwar jeweils über beide Seiten der Medaille und was sie darunter verstehen: "Großzügkeit/Verschwendungssucht" und "Sparsamkeit/Geiz", denn während alle anderen Eigenschaften in der Regel von beiden Partnern gleichermaßen erwartet werden, sucht der Mann stets eine sparsame Frau, dagegen sucht die Frau stets einen großzügigen Mann; das sind fundamentale Gegensätze, die leicht in den gegenseitigen Vorwurf ausarten können, "verschwendungssüchtig" bzw. "geizig" zu sein. Frau Dikigoros z.B. betrachtet sich als sparsam und ihren Mann als geizig; der betrachtet sich dagegen als sparsam und seine Frau nicht; aber das sind Abstände, die sich noch überbrücken lassen - gefährlich würde es erst, wenn er sich selber für großzügig hielte und seine Frau für verschwendungssüchtig. (Damit verglichen ist der Konsens oder Dissens über andere Punkte, auf die manche Leser Dikigoros anmailen, eher harmlos: Dikigoros hält z.B. seine Frau für einen Putzteufel, während sie selber behauptet, viel weniger zu putzen als die durchschnittliche deutsche Hausfrau - aber sie vergleicht sich hauptsächlich mit ihrer Mutter, bei der es immer so sauber war, daß man "vom Fußboden essen" konnte. Dikigoros kannte diese Wendung auch von seiner eigenen Mutter, aber da ging der Satz noch weiter: "Bei Frau S." pflegte sie über ihre Nachbarin zu sagen, "kann man zwar vom Fußboden essen, aber wer hat was davon? Was die kocht würde ich nicht mal vom silbernen Tablett essen wollen!" Und hielt dann ihren Kindern den Vater als löbliches Beispiel vor, weil der weniger Wert darauf legte, daß jeden Tag Staub gewischt wurde als darauf, daß jeden Tag ordentliches Essen auf den Tisch kam - im Zeitalter vor Einführung des elektrischen Staubsaubers, der Tiefkühltruhe und der Mikrowelle reichte die Zeit für beides halt oft nicht aus. Das hat Dikigoros geprägt, und an dieser Reihenfolge der Prioritäten kann auch die beste aller Ehefrauen nichts mehr ändern :-)

Und weil das so ist, sollten heiratswillige Paare unabhängig davon, aus welcher Kultur sie stammen, darauf achten, daß sie aus ähnlichen finanziellen Verhältnissen kommen - Ehen zwischen "Arm und Reich" halten auf Dauer nur im Roman oder im Film. Ach, liebe verheiratete (oder geschiedene) Leserinnen, die Ihr endlich wieder auf die Frage zurück kommen wollt, was an der Heirat mit einer Prostituierten so schlimm sein soll, Ihr meint, Geld für Sex zu nehmen sei das Unmoralische? Warum habt Ihr dann einen Mann geheiratet, der wenigstens etwas Geld hatte? Warum nicht einen armen Arbeitslosen oder Sozialhilfe-Empfänger? Richtig, weil er Euch bei der Scheidung keinen ordentlichen Unterhalt zahlen könnte! So viel moralischer ist das auch nicht... Nein, es gibt ganz andere Gründe, die gegen das Heiraten einer Prostituierten sprechen. Dikigoros könnte mit dem ungesunden Lebenswandel beginnen: Fast jede Nacht durch machen, saufen, rauchen, Disco-Musik in den halbtauben Ohren... Aber nachdem er eben das Beispiel der Disco-Gängerin gebracht hat, könnte man ihn damit kontern: So ungesund leben heutzutage auch viele Nicht-Prostituierte, und nicht jeder kann eine völlige Abstinenzlerin heiraten wie Dikigoros... Aber es gibt einen ganz wesentlichen Unterschied, und damit sind wir wieder beim lieben Geld. Bei einem Streit ums Haushaltsgeld sagt Tanja zu Edik: "In Leningrad konnte ich über mein Geld immer frei verfügen." - "Ja," sagt Edik, "ich weiß, wie du in Leningrad dein Geld verdient hast." Sie ohrfeigt ihn. Recht hat sie - das hat er schließlich vorher gewußt! "Deshalb bekommst du auch keine Kinder," tritt er nach. Das ist bitterböse, liebe Leser, und es ist wieder einer dieser Sätze, die Todorowskij einfach so im Raum stehen läßt, obwohl es in Kunins Roman eine Fortsetzung gibt, die auf das genaue Gegenteil hinaus läuft. Wieso sollte eine Ex-Prostitutierte keine Kinder bekommen können, wenn sie sich nicht hat sterilisieren lassen oder durch irgend eine Geschlechtskrankheit unfruchtbar geworden ist? (Aber das schließt der Roman ausdrücklich aus - vor der Eheschließung mußte Tanja nämlich auch eine ärztliche Negativbescheinigung über diesen Punkt beibringen; das fehlt im Film.) Im Roman sagt sie denn auch: "Der Arzt meint, daß bei mir alles in Ordnung ist; nun mußt du dich aber auch untersuchen lassen." (Doch Edik denkt ja gar nicht daran - von der Möglichkeit, daß es an ihnen selber liegen könnte, wollen Männer nämlich in der Regel nichts wissen; und schon gar nicht wollen sie es sich auch noch ärztlich bescheinigen lassen. Wollt Ihr es einer Frau da verdenken, wenn sie sich in so einem Fall früher, d.h. vor Erfindung des Vaterschaftstests, anderweitig umsah und -tat? Wenn sie nicht ganz blöd war und sich dafür jemanden aussuchte, der eine völlig andere Körpergröße, Haar- und Augenfarbe hatte als ihr Ehemann, fiel das schwerlich auf; und es belastete eine Ehe sicher weniger als Kinderlosigkeit. Ernst zu nehmende Schätzungen gehen davon aus, daß früher ca. 30% auch der "ehelichen" Kinder außerehelich gezeugt wurden :-) Im Film hat Todorowskij diesen Satz in einer Szene kurz zuvor am Rande eingefügt; und nur besonders aufmerksame Zuschauer werden merken, daß sein Satz "deshalb bekommst du auch keine Kinder" schon deshalb jeglicher Grundlage entbehrt.

Exkurs. Bitte unterschätzt diesen Punkt nicht, liebe jüngere Leser, die Ihr glaubt, auch ohne Nachwuchs glücklich werden zu können. Ein Mann und eine Frau ohne Kinder sind nicht nur keine Familie, sondern auf Dauer auch kein richtiges Ehepaar; und wenn Ihr Eure Kinder so [v]erzogen habt, daß sie Euch keine Enkel schenken, dann läuft das - bloß mit zwei, drei Jahrzehnten Verzögerung - aufs Gleiche hinaus. Frauen sind von ihren Genen anders programmiert als Männer (auch wenn unwissende Soziolog[inn]en davor immer noch krampfhaft die Augen verschließen), nämlich auf ständige Betriebsamkeit; d.h. sie eignen sich hervorragend für die Erziehung kleiner Kinder, die einen ja immer auf Trab halten und auch immer auf Trab gehalten werden müssen. Wenn Frauen diesen Trieb nicht ausleben können, dann beginnen sie im Leerlauf allen möglichen Unsinn zu treiben. Zum Beispiel werden sie, denen die Fähigkeit zur Muße von Natur aus nicht gegeben ist, versuchen, mangels Kinder ihre Männer herum zu scheuchen - sie können es nicht ertragen, wenn sie die auch nur ein paar Minuten still, d.h. "faul" herum sitzen sehen. Oder sie folgen ihrem steinzeitlichen Trieb, die Höhleden Haushalt zu putzen - oder sich selber, stundenlang, ohne Sinn und Verstand. Oder sie folgen dem uralten Sammlertrieb, d.h. sie laufen ständig herum und kaufen ein, kaufen nochmal ein und wieder und wieder... auch wenn ihre Schuh- und Kleiderschränke längst überquellen mit Klamotten (was schlug Herr Kubalski in Kai aus der Kiste seiner Lydia als Ausweg vor: "Wir nehmen jeden Morgen neue Kleider, und die vom Tag vorher werden weggeworfen.") und die Wohnzimmerschränke mit Nippes usw. [Der Mann einer Freundin von Frau Dikigoros hat ihm erzählt, daß seine Frau - nach dem Tode ihrer einzigen, geistig behinderten Tochter kinder- und enkellos - an manchen Tagen Stunden lang über Prospekten, Katalogen und gewissen Webseiten brüte auf der verzweifelten Suche nach irgend etwas, wofür sie Geld ausgeben könnte. Das sei gar nicht so einfach, da sie schon alles habe - er ist gut situiert -, was langsam aber sicher zu ernsthaften Depressionen führe.] Und wenn beim besten Willen nicht noch mehr Überflüssiges in die Wohnung paßt, beginnen sie, die Möbel umzustellen - möglichst alle paar Wochen - oder ihren Männern die Ohren voll zu quengeln, endlich in eine größere Wohnung oder in ein größeres Haus umzuziehen. Da hilft kein Psychiater, denn das ist keine Krankheit, sondern ihre Natur; dem könnt nur Ihr selber abhelfen, liebe Männer - mit der natürlichen Methode. Aber auch Ihr, liebe Leserinnen, solltet über all das mal nachdenken. Womit wollt Ihr, wenn Ihr ohne Kinder und/oder Enkel älter werdet, dauerhaft die Zeit tot schlagen, wenn Eure Männer tagsüber auf Arbeit sind und, wenn sie abends müde von derselben nach Hause kommen, nur noch dazu taugen, schlapp vorm Fernseher herum zu hängen bis zum Einschlafen? Mit einem eigenen Job (wenn Ihr denn - anders als Tanja - einen findet)? Mit einem Affenpinscher Schoßhündchen, wie Tanja im Roman? Oder zwei Goldhamstern? Oder drei Meerschweinchen? Oder vier Kanarienvögeln? Oder fünf Goldfischen? Oder einem halben Dutzend alter Jungfern beim täglichen Kaffeeklatsch (aber bitte mit Sahne, wie mal jemand boshaft sang)? Seid Ihr sicher, daß Euch das nicht irgendwann furchtbar langweilig wird? Exkurs Ende.

"Ich Idiot," sagt Edik - und nun hat er mal Recht. Dabei ist er durchaus kein "Liebeskasper", sondern jemand, der seine Lage ganz realistisch einschätzt - im Roman wird das noch deutlicher, wenn er zu Tanja sagt: "Ich weiß, daß du mich noch nicht liebst, aber ich werde mich bemühen, deine Liebe zu gewinnen." Vergeb'ne Liebesmüh, lieber Edik, der Du nach dem (im Roman sogar wörtlich erklärten) Motto lebst: "Es ist Geld, woraus unser Leben besteht!" [Exkurs. Angeblich verabscheut Tanja dieses Motto, und sie macht ihm darob eine große Szene - "ich scheiße auf das Geld und auf dieses Leben" -; aber als Edik sie zur Versöhnung ins teuerste Restaurant von Stockholm ausführt, ist es für sie der mit Abstand netteste Abend in ihrem schwedischen Leben. Doch dieser Teil des Romans fehlt im Film - leider, weil er ein weiteres wichtiges Mißverständnis zwischen Heiratswilligen berührt, wobei es gar nicht so sehr um die Frage geht, wie gut und wie teuer das Essen ist, sondern wo und von wem es zubereitet wird: Vor der Eheschließung führt der Mann die Frau öfters mal zum Essen aus; und insgeheim hofft sie natürlich, daß das immer so bliebe, zumindest am Wochenende - und unter der Woche kann der Mann ja in der Werkskantine oder sonst auf Arbeit essen. (Eine Ausnahme macht allein Indien; dort geht der Mann morgens zur Arbeit, während seine Frau zuhause für ihn kocht und ihm das Mittagessen im Henkelmann vorbei bringt oder bringen läßt, um sicher zu gehen, daß er nichts ißt, was womöglich von Angehörigen niederer Kasten zubereitet wurde; aber dieser Service dürfte weltweit einzigartig sein :-) Der Mann erwartet dagegen, daß die Frau nach der Heirat täglich - oder abendlich - für ihn zuhause kocht. Und während heutzutage schon vor der Eheschließung alles ausprobiert wird, was so im Schlafzimmer laufen könnte, scheinen sich manche Paare über das, was in der Küche laufen könnte, vorher überhaupt keine Gedanken zu machen, und da kann es dann manch böse Überraschung geben (nicht nur, wenn man Dieter Bohlen heißt :-), zumal die Frauen heute in der Regel weder lernfähig noch lernwillig sind. Früher spielte eine gute Ehefrau ihrem Mann zur Not nicht nur im Bett etwas vor, sondern auch in der Küche. (Ältere Juristen erinnern sich vielleicht noch aus dem Studium an den Fall des Buches mit dem Titel "Was ein junges Mädchen vor der Ehe wissen muß", dessen Kauf die Erwerberin wegen arglistiger Täuschung anfechten will, da es sich als Kochbuch entpuppt :-) Als Dikigoros' Vater starb, stellte seine Mutter - von der er immer geglaubt hatte, daß sie nicht nur gut, sondern auch gerne kochte, wie er selber - zu seiner großen Überraschung das Kochen ein (mit Ausnahme des Kaffeekochens, aber das machte inzwischen eine Maschine), mit der Bemerkung: "Jetzt muß ich endlich nicht mehr kochen!" Fortan aß sie nur noch kalt - aber sie buk noch jedes Jahr zu seinem Geburtstag einen jener mörderisch-kalorienreichen Kuchen, die er so gerne gegessen hatte; den mußte dann ihr Sohn essen... Hätte sie früher gesagt, wie sehr sie das Kochen haßte (ihre Schwiegertochter hatte damit nie ein Problem :-) und es entsprechend reduziert, wäre ihr Mann - der sich förmlich zu Tode gefuttert hatte - vielleicht noch am Leben. Exkurs Ende.]

Nachtrag. Kürzlich erhielt Dikigoros eine Mail von einer Leserin - nach eigenem Bekunden Hausfrau, Mutter und berufstätig - die ihn mit einer Mischung aus Erstaunen und Empörung fragte, weshalb er auf seinen Webseiten stets so viel "Heckmeck" ums Essen mache; das sei doch pure Zeitverschwendung: Ihre Mutter habe täglich zwei bis drei Stunden mit der Vor- und Zubereitung des Essens verbracht, und nach 20 Minuten sei das dann verputzt und "weg" gewesen, das sei doch eine schlechte Quote, zumal verglichen mit den modernen Fertigprodukten, welche uns so segensreiche Erfindungen wie die Tiefkühltruhe und die Mikrowelle beschert haben. Und das meinte sie ganz im Ernst. Wie dumm, wie dumm! (Und jede Leserin, die das genauso sieht, möge sich angesprochen fühlen!) Wie kann man/frau nur glauben, daß das, was wir essen, "nach 20 Minuten weg" sei, bloß weil die Nahrungsaufnahme sich auf diese Zeit beschränkt? Ganz im Gegenteil: Der Mensch ist, was er ißt, denn die Nahrung wird doch umgewandelt in Körperzellen und lebt so in uns weiter, hält also länger als so manches Stück geschwärztes Papier, das eine jener "modernen" Frauen im Büro herstellt, wo sie in der durch die Tiefkühlkost eingesparten Zeit arbeiten geht, um das Geld für die Mikrowelle zu verdienen - und für die Ärzte und Apotheker, die sie (und die ihr und ihren Kochkünsten anvertrauten anderen Personen) sonst, d.h. bei einem gesünderen Lebenswandel, gar nicht bräuchte... Nachtrag Ende.

Das eigentlich Problematische an der Heirat mit Prostituierten ist ganz einfach, daß sie nicht mit Geld umgehen können; sie verdienen es zu schnell und zu leicht, um es nicht ebenso schnell und leicht wieder auszugeben (was eben - Edik und Sinaida S. zum Trotz - nicht einfach eine "spezifisch russische Eigenschaft" ist). Und das ist etwas, das man Frauen nur sehr schwer abgewöhnen kann - eigentlich gar nicht, zumal die heutigen Gesetze es ihnen relativ problemlos möglich machen, wenn sie einen Ehemann ruiniert haben, sich scheiden zu lassen und den nächsten Dummen zu suchen. (Und ob Ihr es glaubt oder nicht, liebe Leser, Dikigoros kennt mehr als genug Fälle, in denen sie auch einen gefunden haben.) Und überhaupt macht es keinen Sinn, eine Frau aus allzu armen Verhältnissen zu heiraten in der Hoffnung, die müßte doch sparsam zu wirtschaften wissen, denn das Gegenteil ist der Fall: Sie ist ja gewohnt, das bißchen Geld, das herein kommt, sofort und vollständig wieder auszugeben. [Das ist das Gesetz der mit den Einnahmen wachsenden Ausgaben, das der große Cyniker C. Northcote Parkinson in seinem berühmt-berüchtigten ersten "Gesetzbuch" vergessen hatte, weshalb er ihm sein zweites Buch vollständig widmete (wenngleich nicht auf der privaten, sondern auf der staatlichen Ebene, aber das ist nur ein quantitativer, kein qualitativer Unterschied :-).]

Und wenn es schon innerhalb desselben Kulturkreises nicht leicht ist, Übereinstimmung bei der Grenzziehung zwischen Verschwendungssucht, Großzügigkeit, Sparsamkeit und Geiz zu erreichen, so ist es bei Mischehen noch viel schwieriger: Was im Westen "viel" oder "wenig" Geld ist, das wird jemand aus dem Kraal, dem Kampong, dem Pueblo oder eben der Sowjet-Union unseligen Angedenkens nie ganz verstehen. Die "Intergirls" sprechen vom Rubl stets nur despektierlich als "Holzgeld" oder "Spielmäuse". In einer Hausfrauenehe (was soll man anderes mit einer Ausländerin führen, die keine Arbeitserlaubnis hat?) hängt das finanzielle Auskommen aber nicht allein davon ab, was man[n] an Geld nach Hause bringt, sondern auch - und vielleicht noch mehr - davon, was frau daraus macht, d.h. wieviel sie [oder er für sie] ausgibt; denn die Differenz entscheidet über Reserven, Spiel- und Freiräume. (Edik hat sich wegen Tanja finanziell derart übernommen, daß er nicht mal mehr eine Privat-Reise nach Leningrad bezahlen kann, obwohl sie ihm so in den Ohren liegt, endlich mal ihre Mutter zu besuchen. [Beim Abschied aus Leningrad hatte er ausdrücklich versprochen, daß sie das "oft" tun würden!] Nur deshalb macht sie sich an Witja heran, "das einzige Fädchen, das mich noch mit Mama verbindet".) Gewiß, es mag ein schönes Gefühl sein, wenn man nicht auf's Geld zu schauen braucht und es "großzügig" ausgeben kann (zumal wenn man es nicht selber hart erarbeiten muß) - aber wie viele Menschen auf der Welt sind schon in dieser glücklichen Lage? Und wenn man[n] einer Frau, die nicht sparsam wirtschaften kann, weil sie es nie gelernt hat, den Geldhahn zudreht, dann wird sie was tun? Eben... was bleibt ihr denn sonst übrig? Und dann heißt es wieder: "Einmal Nutte, immer Nutte." Dabei hat das im Zweifel gar nichts mit einem Hang zur Prostitution zu tun, sondern schlicht und einfach mit Geldproblemen. (Nicht nur in Rußland; ein Thailand-Kenner hat das an anderer Stelle treffend beschrieben.) Fazit: Eine [Ex-]Prostituierte als Ehefrau kann sich eigentlich nur ein Millionär leisten - und der bekommt auch zuhause (oder wo immer er sonst will) eine "anständige" Frau, hat es also gar nicht nötig. Ist das Dikigoros' Moral? Nur die halbe; aber da Edik sich wohlweislich eine Frau sucht, die zwar Ausländerin ist, aber rein äußerlich nicht als solche auffällt, also nicht ein Mädchen aus der Dritten Welt der Diskriminierung aufgrund ihrer Hautfarbe, Sprachunkenntnis usw. aussetzt wie so viele andere Narren heutzutage, gibt ihm dieser Film keinen Anlaß, auch über die andere Hälfte zu schreiben - das tut er an anderer Stelle. Aber wenigstens diese Hälfte erlaubt er sich, hier breit zu treten, obwohl er aus seiner Praxis weiß, daß doch niemand auf ihn hören wird. Also, liebe Mandanten in spe, fliegt weiter fleißig in die Rotlicht-Paradiese dieser Welt und holt Euch von dort eine Frau zum Heiraten; die Scheidungsrichter warten schon...

[konjets - Ende]

Nachtrag. Dikigoros hat versucht, diese Besprechung ganz aus der Sicht der Heiratswilligen aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen zu schreiben; und er meint, daß seine Ausführungen insoweit zeitlos gültig sind. Was indes die äußeren Umstände anbelangt, wie sie Intergirl schildert, so waren sie nur für eine ganz kurze Zeit gegeben, eben in der des Umbruchs von der Sowjet-Union zum "Neuen Rußland". Ist der Film deshalb heute überholt? Inzwischen haben es die Mädchen doch viel, viel schwerer, denn zum einen ist die Konkurrenz härter geworden, da es leichter geworden ist, vom Land in die Großstadt zu ziehen, zum anderen sind die ausländischen Spesenritter, die bereit sind, eine Russin zu heiraten, deutlich dünner gesät. Außerdem waren die "Intergirls" bei Todorowskij und Kunin "Freischaffende" im wahrsten Sinne des Wortes, d.h. sie konnten sich ihre Freier frei aussuchen und ihre Zeit frei einteilen, unbelästigt von Zuhältern und/oder Mafia. (Dagegen war die Hotelpolizei doch geschenkt!) Ihr einziges Problem bestand darin, ob sie ihre US-Dollars zum Kurs 1:4 oder nur zum Kurs 1:3 umrubeln konnten. Nun, dieses Problem gibt es nicht mehr, denn der Rubl ist inzwischen praktisch so gut wie konvertibel - bloß die umgerechnet 100.- $ pro "Nummer" sind nicht mehr die Regel (außer in einigen Luxus-Etablissements - aber dort kassiert das "Management" ja den Löwenanteil ab), und das, obwohl gerade in Moskau und Sankt Peterburg alles viel teurer geworden ist. (Einige meinen gar, daß das inzwischen mit die teuersten Städte der Welt seien - aber das kommt wohl auf die Ansprüche an :-) Was also tun, wenn die Männer vor Ort ausbleiben? Ganz einfach: man muß ihnen nachreisen, in den "Goldenen Westen". Aber der ist gar nicht so golden, wie die Russinnen sich das - noch immer - ausmalen, denn inzwischen gibt es auch dort Konkurrenz zuhauf: Seit dem EU-Beitritt Ungarns, Polens und der Tschechei (neuerdings sogar Bulgariens und Rumäniens) haben die Frauen von dort kein Problem mehr, per Touristenvisum einzureisen und drei Monate lang "einschlägig" tätig zu werden. Allerdings sind nun auch sie den Zwängen des "Business" unterworfen, und da bleibt vom ohnehin mageren Hurenlohn oft kaum noch etwas übrig. Wer im Nachrichtenmagazin Der Spiegel (Nr. 23/2003) den Artikel über russische Prostituierte gelesen hat, erfuhr dort von einer gewissen Tanja (ja, der Name ist noch immer beliebt :-), daß sie nach drei Monaten Auslandseinsatz in der BRD mit sage und schreibe 400.- (vierhundert) Euro "Ersparnissen" nach Hause kam und noch froh war, daß diese so üppig ausgefallen waren. (Zwar muß nicht alles, was Der Spiegel und andere Presseorgane schreiben, wahr sein - wie ein deutscher Journalist aus Dikigoros' Bekanntenkreis, der jetzt in Sankt Peterburg lebt, auf seiner einschlägigen Webseite mit Recht immer wieder betont -; aber Tatsache ist, daß "Haushaltshilfen", die schwarz als Altenpflegerinnen arbeiten, oft mehr verdienen, und sie brauchen weder jung noch hübsch noch polyglott zu sein, und ein AIDS-Risiko gehen sie auch nicht ein.) Von Heiraten war nicht die Rede - wer nimmt sich schon eine Frau aus dem einheimischen Puff? (Das tut man[n] doch nur in Thailand oder sonstwo in Exotistan :-) Deshalb gibt es jetzt in Moskau und Sankt Peterburg "Heiratsschulen" genannte Institute, auf denen manfrau lernen kann, sich einen reichen russischen Mann zu angeln - letztere soll es inzwischen auch geben, und dafür macht die russische Frau auch Abstriche an den übrigen Punkten, die Sima im Film aufgezählt hat, von wegen "nicht schlagen", "nicht trinken" usw. (Das sind nun mal Dinge, pardon, "nationale Eigenarten", wie Tanja sagen würde, die russische Männer sich nicht so einfach abgewöhnen lassen - und in den Augen russischer Frauen gibt es ja auch schlimmere, wie z.B. kein Geld zu haben :-) Und so scheint denn die Moral des Films für Heiratswillige trotz aller Veränderungen der Rahmenbedingungen doch überlebt zu haben und auch weiterhin aktuell zu sein - jedenfalls wenn man sie in dem Satz zusammen faßt, den Dikigoros oben zitiert hat: "Bleibe im Lande und nähre dich redlich"!


Anhang I: Brief von Kubo zu der Frage: Wer kann sich welche Frau "leisten"? (aus dem Nittaya-Forum)

Anhang II: Why do Russian women marry foreigners? (aus Russian Foods)


weiter zu Wer zweimal lügt

zurück zu Green Card

heim zu Avez-vous Bourbon?