EXKURS: Warum hier eine Lücke von 20 Jahren klafft, und warum Dikigoros einige
Schreiber nicht unter die Reiseschriftsteller des 20. Jahrhunderts aufgenommen hat

DOMINIQUE LAPIERRE

[Dominique Lapierre]

Die erste Frage ist leichter zu beantworten: Als die zwischen 1912 und 1932 Geborenen in dem Alter waren, in dem man Freude am Reisen gewinnt, herrschte Krieg oder Nachkrieg, und die Besten, d.h. die Unternehmungslustigsten und Wagemutigsten, waren gefallen oder gefangen - da dachte man allenfalls an Flucht, nicht an Weltreisen - zumal die meisten Besatzungs-Regimes ohnehin keine Freizügigkeit gewährten. Gewiß waren gerade damals viele Menschen unterwegs, die Vertriebenen - aber die waren froh, wenn sie lebend durch kamen, ohne nach rechts oder links zu blicken, denn die "Gastfreundschaft" der Völker, mit denen sie dabei in Kontakt kamen, hielt sich für gewöhnlich in sehr engen Grenzen. Die zweite Frage wäre schwieriger, wenn es nicht Dominique Lapierre - Jahrgang 1931 - gäbe, anhand dessen Person man sie beispielhaft beantworten kann. Er wäre der einzige Franzose in dieser Übersicht gewesen (obwohl er vorzugsweise auf Englisch schrieb - nach dem Krieg verkaufte sich das besser), und er wäre sicher eine Bereicherung für die Geschichte der Reiseliteratur geworden, denn seine Bücher sind so packend geschrieben, daß man sie - obwohl sie meist ziemlich dick sind - in einem Zug durch lesen kann, sie behandeln durchweg interessante Themen und sind meist hervorragend recherchiert. Leider ist er der Reisebücher-Fangemeinde verloren gegangen. Diese Gefahr liefen viele Schriftsteller, die merkten, daß z.B. historische Romane - auch wenn sie eigentlich nur mittelmäßig waren - beim Publikum (und bei den Verlegern!) besser ankamen als noch so gut geschriebene Reiseberichte. Manche erlagen der Versuchung, auf andere Felder abzuschweifen, aber die meisten kehrten irgendwann wieder zurück. (Leider nicht der 1997 verstorbene James A. Michener, der so viele interessante Länder bereiste und dessen "Caravans [Karawanen der Nacht]" man jedem Afģānistān-Reisenden zur Pflichtlektüre machen sollte - der hatte einfach zu viel Erfolg mit seinen Romanen.) Die spektakulärsten Beispiele für ein gelungenes Come-back als Reiseschriftsteller waren Mark Twain und Norman Lewis, die traurigsten Gegenbeispiele Richard Katz und - Dominique Lapierre, die sich freilich dadurch unterschieden, daß ersterer mit seinen Romanen erfolglos blieb, während letzterer damit noch größeren Erfolg hatte als mit seinen Reisebeschreibungen.

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Lapierre begann - wie A. E. Johann - mit zwei Büchern über Reisen durch Nordamerika und Sowjet-Rußland; sie sind auch das beste, was seit A. E. Johann über diese beiden Reiseziele geschrieben worden ist. Er hat die Werke seines Vorläufers wohl auch gekannt, zumindest das Amerika-Buch - schon der Titel "Ein Dollar pro tausend Meilen" (Lapierre legte angeblich 30.000 Meilen mit 30 US-$ in der Tasche zurück - das hat nicht einmal Dikigoros in Mexiko geschafft) ist offenbar "Mit 20 Dollar in den Wilden Westen" nach empfunden; und "Frei auf sowjetischen Straßen" (die deutsche Übersetzung erschien unter dem Titel "So lebt man heute in Rußland") erinnert auch inhaltlich stark an 40.000 Kilometer. Mit seiner Frau machte Lapierre eine "Hochzeitsreise um die Erde", und ein neuer Stern am Himmel der Reiseschriftsteller schien aufzugehen.

Doch dann, mit Mitte 20, traf Lapierre den US-Iren Larry Collins, der ihn überzeugte, daß er fortan mit ihm zusammen als "Zeuge der Geschichte" auftreten müsse, und sie begannen, gemeinsam zeitgeschichtliche Romane mit "populär-wissenschaftlichem" Anspruch im Stile eines Paul Carrell oder eines Frederick Forsyth zu schreiben - geschickt zusammen gefügt aus Interviews mit (angeblich) "Dabeigewesenen" und einer aus dem Geschichtsbuch abgeschriebenen Rahmenhandlung. Was dabei heraus kam, war von durchaus unterschiedlicher Art und Güte: Ihr Erstlingswerk war 1965 "Brennt Paris?" Es handelte vom Einzug der US-Amerikaner in Paris, pardon, von der "Befreiung" von Paris durch die "frei"-französischen Truppen De Gaulles.

Es war ein grottenschlechtes Machwerk - was man Lapierre allerdings nachsehen muß: Er war nun mal ein Produkt der französischen Schulen, und anders als auf deutschen Schulen (wo man damals - anders als heute - noch die Wahrheit lehren durfte, zumal sie ohnehin noch jeder kannte) bleuten die ihren Schülern schon damals einen Haufen abstruser Märchen ein über jenes Ereignis sowie über die Ereignisse davor und danach. Aus gutem Grund: Während sich die Deutschen als Besatzer in Frankreich 1940-44 geradezu peinlich korrekt verhalten hatten, hatten die Franzosen in jenen Tagen ungeheure Verbrechen auf sich geladen, vom Völkermord an den Elsässern über die "épuration" (ja, das unschöne Wort von der [ethnischen] "Säuberung" ist keine Erfindung der 1990er Jahre!), der rund eine Million französischer "Kollaborateure" zum Opfer fielen, bis zu den Mordorgien als Besatzer im Südwesten Deutschlands. Um davon abzulenken, mußte man schon mal etwas dicker auftragen bezüglich angeblicher "Verbrechen" der bösen "Nazi-Deutschen" in Frankreich, und wenn einem partout nichts einfiel, dann erfand man halt imaginäre Gefahren wie die, daß sie Paris hätten anzünden können... Hätten sie? Theoretisch ja; aber in der Praxis räumten sie es kampflos, wie sie es auch mit Rom und mit jeder anderen Stadt taten, von der sie fürchteten, daß die alliierten Terror-Bomber sie mitsamt ihrer Kulturgüter vernichten könnten, wenn sie sie denn verteidigen sollten. (Deutschland war übrigens die einzige Krieg führende Macht, die so handelte, aber das nur am Rande.) Es gab also nichts zu "befreien", und von Charly dem Gallier - der bloß in der Etappe herum gesessen und ein paar potentielle Konkurrenten hatte ermorden lassen - schon gar nicht. Aber halten wir Lapierre zugute, daß er das alles nicht wußte, weil dieses Wissen damals in Frankreich tabu war (und heute noch ist) und irgendwelchen Lügnern aufgesessen ist - er selber war schließlich nicht dabei.

1967 brachten Collins und Lapierre ein Buch heraus, das für ihr Erstlingswerk mehr als entschädigt - Dikigoros ist geneigt, es als "Meisterwerk" zu bezeichnen: "Oder Du wirst Trauer tragen". Vordergründig ist es nur die Biografie des Stierkämpfers Manuel Benitez alias "El Cordobés" vor dem Hintergrund des Spanischen Bürgerkriegs - ein Eindruck, den der Herausgeber noch durch den irreführenden Untertitel "Das Epos des Spanischen Bürgerkriegs" zu verstärken suchte. Aber tatsächlich bringt einem dieses Buch Spanien näher als alle Reiseführer und Reiseschriftsteller zusammen. Dikigoros war mehrmals in Spanien, und durchaus nicht nur auf Mallorca, geschweige denn am Ballermann o.ä. Lieblingsorten der 08/15-Touristen; er versteht die Sprache sehr gut (jedenfalls das Kastilianische - und auch die anderen sind ihm nicht ganz unverständlich); aber Spanien und die Spanier hat er nie richtig verstanden. (Seine Frau übrigens auch nicht, dabei war die noch öfter in Spanien und hat sogar dort studiert; aber jedesmal war es ihr undurchschaubarer, unheimlicher und unsympathischer.) Er hat sich damit zu trösten versucht, daß es "die" Spanier ja eigentlich gar nicht gibt; aber wenn er ehrlich ist, dann hat er die Andalusier, die Asturier, die Basken, die Galizier, die Kastilier und die Katalanen ebenso wenig verstanden. Er hat das darauf zurück geführt, daß er sie erst in den 1970er Jahren kennen gelernt hat, als sie durch den Massen-Tourismus schon ziemlich verdorben waren - wenn jedes Jahr Millionen Ausländer ins Land strömen, sind sie für die Einheimischen halt nicht mehr so interessant, daß sie sich mit ihm unterhalten wollen (anders als etwa in Lateinamerika, Afrika oder Asien, wo man vielleicht der erste Tourist ist, den sie zu Gesicht bekommen, und dem sie gerne etwas über sich und ihr Land erzählen). Also hat er versucht, sich aus Büchern anderer Reisender schlau zu machen, die früher als er da waren, die das alte, unverfälschte Spanien kennen gelernt haben, wenn es das denn gab. Aber was er auch anfaßte - nichts half ihm richtig weiter: "Fiesta" von Ernest Hemingway? Ein Haufen bekloppter Angelsachsen fährt nach Spanien, um sich dort von morgens bis abends zu besaufen. Zwischendurch streiten und prügeln sie sich oder gehen zum Stierkampf; und am Ende schreibt einer von ihnen alles auf, unter besonderer Berücksichtigung der Frage, welche Sorte Alkohol sie in welchen Mengen zu welchen Preisen konsumiert haben. "Basken, Stiere, Araber" von Kasimir Edschmid? Im selben Jahr - 1926 - geschrieben, ist es nur um Nuancen besser (vom Sprachstil mal abgesehen, aber hier geht es ja um den Inhalt): Der Autor geht nicht nur in die Kneipe, sondern auch in den Puff, sieht nicht nur einen Stierkampf, sondern auch einen Hahnenkampf und ein Pelotaspiel; aber wenn er sich über Spanien schlau machen will, fragt er besser die Engländer (deren Urteil über die Spanier er sich anschließt: "unliebenswürdig, unhöflich", ganz ähnlich wie das von Frau Dikigoros :-), die er ohnehin für eine Art Kolonialmacht hält - von Gibraltar ist er schwer beeindruckt, und von dort fährt er gleich weiter nach Marokko, das wars. Dann die vielen Bücher über den Bürgerkrieg... Dikigoros hat sie alle gelesen, denn sein Vater hat sie mit Leidenschaft gesammelt; aber selbst die, deren Inhalt sich nicht aufs rein Militärische beschränkt, haben ihm über Spanien nicht viel erklärt: "Wem die Stunde schlägt" von Hemingway berichtet aus dritter Hand, was der alte Säufer in irgendwelchen Kneipen aufgeschnappt hat, ist also nicht authentisch; "Hommage an Katalonien" von George Orwell handelt hauptsächlich vom Streit innerhalb der "Internationalen Brigaden". Gewiß, auch das mag interessant sein - und erklären, warum die "Republikaner" letztlich den Bürgerkrieg verloren -, aber in Sachen Spanien gibt es nicht viel her. "Die Zypressen glauben an Gott" von José María Gironella hat sicher mehr Gewicht; aber erstens handelt auch das in erster Linie vom Bürgerkrieg, und zweitens ist das Schicksal der Familie, von der es handelt, eben nur ein sehr kleiner Aspekt Spaniens, nein Kataloniens, und kann nicht verallgemeinert werden, auch wenn es seinerzeit von allen Seiten sehr gelobt wurde - selbst von Franco, dessen Freund der Autor bestimmt nicht war. Aber das Buch von Collins und Lapierre - die es meisterhaft verstanden haben, Interview-Partner[innen] zu finden, die etwas zu sagen hatten (z.T. werden deren Aussagen einfach nur seitenweise wörtlich wiedergegeben) - hat Dikigoros erstmals die Augen geöffnet über Spanien, einschließlich des von ihm so verabscheuten Stierkampfs.

(...)

Es folgten "Freiheit um Mitternacht" (über die Unabhängigkeit Indiens 1947 - die deutsche Übersetzung erschien unter dem Titel "Gandhi", dabei hätte man gerade den Deutschen ein wenig mehr die Parallelen aufzeigen können zwischen ihrer Nachkriegs-Geschichte und der des Panjāb und Bengalens, wo es auch über zehn Millionen Vertriebene gab), "O Jerusalem" (über die Gründung des Staates Israel 1949) und "Der fünfte Reiter" (ein aus heutiger Sicht nicht mehr ganz so utopischer Roman über Gaddafi, der 1969 in Libyen die Macht ergriffen hatte, und seine erpresserische Politik gegenüber den USA, wie die Autoren sie 1979 kommen sahen - verwirklich wurden diese Drohungen freilich erst gut zwei Jahrzehnte später mit dem Kamikaze-Anschlag anderer muslimischer Terroristen auf das World Trade Center in New York City). Sie wurden durchweg große kommerzielle Erfolge.

Dann trennte sich Lapierre von Collins und fuhr nach Indien. Dies war der Wendepunkt seines Lebens, denn damit hatte er den meisten großen Reiseschriftstellern ein Erlebnis voraus, das andere Reiseziele nur schwer - wenn überhaupt - ersetzen können. Hier hätte er zurück kehren können zum Reisebericht (wie es nach ihm Naipaul tun sollte); aber Lapierre kehrte zwar immer wieder nach Indien zurück, beschränkte sich jedoch darauf, historische "Tatsachen"-Romane zu schreiben: "Stadt der Freude" (über Ānandnagar, einen Stadtteil - manche würden auch sagen: ein Elendsviertel, obwohl es das für indische Verhältnisse nicht wirklich ist - von Kålkattā), "Fünf Minuten nach Mitternacht" (über den Unfall in einer Chemie-Fabrik der Firma Union Carbide bei Bhopāl 1984) und in einem seiner jüngsten Bücher, "Tausend Sonnen" (1999) das einzig neue Kapitel über Udayan (der Rest ist ein Sammelsurium aus älteren Büchern - es schien sein Schwanengesang zu werden).

Das wäre ja nicht weiter schlimm, sondern könnte geografisch sogar die empfindliche Lücke schließen helfen, die bis dahin alle großen Reiseschriftsteller in Indien gelassen hatten. Leider muß man feststellen, daß Lapierre gerade seine Indien-Bücher (mit Ausnahme des ersten über Gāndhī) schlecht recherchiert hat. Er liebt dieses Land und seine Menschen offenbar (jedenfalls wenn man das aus den Geldsummen schließen darf, die er dort in Hilfsprojekte gesteckt hat), aber er kennt es nicht - vielleicht stimmt es wirklich, daß Liebe blind macht. (Wie um das zu beweisen, sollte Lapierre sein nächstes Buch - eine Geschichte der Immunschwäche-Krankheit AIDS unter besonderer Berücksichtigung der mildtätigen Arbeit von "Mutter Teresa" - "Jenseits der Liebe" nennen.) Bisweilen hat Dikigoros (der selber in Bophāl war) den Verdacht, daß Lapierre zu "Fünf Minuten nach Mitternacht" vor allem seinen Namen beigesteuert und sich inhaltlich allzu sehr auf seinen Co-Autor Javier Moro verlassen hat. A propos Co-Autor: Nach dem bereits erwähnten Kamikaze-Angriff auf das World Trade Center vom 11. September 2001 tat sich Lapierre noch einmal mit Larry Collins zusammen und schrieb ein Buch mit dem Titel: "Brennt New York?", das die grundsätzliche Bedrohung, die für die christliche Welt vom Islām ausgeht, ebenso unterschätzt wie "Brennt Rom?" die Bedrohung Roms durch die Deutschen im Zweiten Weltkrieg übertrieb - manche Leute wollen eben noch immer nicht wahr haben, daß das angebliche Streben der bösen Nazi-Deutschen nach der Weltherrschaft ein zu Propagandazwecken erfundenes Märchen der Alliierten war, während das Streben der Muslime nach der Weltherrschaft ein ganz offen verkündetes Ziel aller wahren Gläubigen - und nicht nur einer kleinen Minderheit fanatischer "Fundamentalisten" - ist. (Das Buch kam vielleicht nicht umsonst am 1. April [2004] auf den Markt :-)

Oder ist Lapierre einfach nur alt geworden? Nun, wenn man es genau nimmt, zeichnet eigentlich auch schon "Stadt der Freude" ein ziemlich verzerrtes Bild, wenn man dieses Slum auf ganz Indien oder Bengalen verallgemeinern will oder auch nur auf dessen Hauptstadt - die Dikigoros ebenfalls besser zu kennen glaubt. (Und, da wir gerade dabei sind: Wer sich dafür interessiert, was Franzosen der Generation Lapierres unter "Stadt der Freuden" verstehen, und welche Freuden sie damit speziell meinen, kann das hier exemplarisch nachlesen. Allerdings hat sich noch niemand getraut, über das Schicksal des Schwarzwaldstädtchens Freudenstadt und seiner Einwohner[innen] seit der französischen Besetzung, pardon "Befreiung" 1945 einen Roman mit dem Titel "Stadt der Leiden" zu schreiben, und der "Schwarzwälder Bote" vom Mai 1995 ist längst vernichtet, pardon "vergriffen", jedenfalls nicht mehr erhältlich.) Nein, wer das wirkliche Indien kennen lernen will, für den gilt, mehr noch als für alle anderen Länder dieser Welt: Selber hinfahren macht schlau; und zur Einstimmung liest man besser nicht Lapierre, sondern den folgenden Autor, mit dem die Reihe der großen Reiseschriftsteller des 20. Jahrhunderts wieder aufgenommen wird.

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Nachbemerkung. Je älter Dikigoros selber wird und je länger er darüber nachdenkt, desto mehr gelangt er zu der Überzeugung, daß Lapierre es eigentlich richtig gemacht hat - nicht nur aus kommerziellen Gründen. Wenn man Jahrzehnte lang in der Welt[geschichte] herum gereist ist, um fremde Länder und Leute, andere Menschen und Kulturen kennen und verstehen zu lernen, um vielleicht sogar Verständnis für sie zu entwickeln (was wesentlich mehr ist), dann begreift man irgendwann, daß das geflügelte französische Wort "Tout comprendre, c'est tout pardonner [alles verstehen heißt alles verzeihen]" falsch ist. Auf manche Fälle mag das zutreffen, aber mindestens ebenso häufig wird man, gerade wenn man etwas richtig verstanden hat, kein Verständnis mehr dafür aufbringen, und dann konzentriert man sich halt auf diejenigen Länder, die Verständnis verdienen. Lapierre hat dafür Indien ausgewählt, und das ist sicher keine schlechte Wahl, auch wenn viel Geld in falsche Hände geraten mag - an vielen anderen Orten wird viel mehr Geld in viel falschere Hände gegeben, nicht nur von Reisenden (Individual- nicht weniger als Massentouristen), sondern auch von frommen Spendern - man denke nur an die Millionen, durch die nach dem Weihnachts-Tsunami von 2004 die schon fast eingeschlafenen Bürgerkriege in Nord-Ceylon und in Nord-Sumatra wieder entfacht wurden. Und damit sind wir bei einem Thema, das heute vielleicht wichtiger ist als Reiseberichte: beim Kampf der Kulturen. Wer mit offenen Augen und Ohren durch die Welt gereist ist, der weiß, daß er allen Dementis zum Trotz statt findet, und zwar immer in der gleichen Konstellation: Die "Kultur" des Islām gegen den Rest der Welt, gegen alle anderen Kulturen, Religionen und Gesellschaften, nicht nur in Asien und Afrika, wie früher, sondern längst auch in Europa und neuerdings sogar in Amerika. Lapierre gebührt - unbeschadet seiner verharmlosenden Alterswerke - das Verdienst, diesen Kampf in jungen Jahren an drei der wichtigsten Brennpunkte ganz objektiv und ohne einseitige Polemik, aber gleichwohl höchst eindringlich dargestellt zu haben: in Indien, in Palästina und in den USA - deshalb sind "Oh Jerusalem", "Freiheit um Mitternacht" und "Der 5. Reiter" noch heute so aktuell wie eh und je, denn sie zeigen uns - den Atheïsten, Buddhisten, Christen, Hindus, Juden und sonstigen Nicht-Muslimen -, wo der skrupellose und unerbittliche Feind steht, den wir gemeinsam - ebenso skrupellos und unerbittlich - bekämpfen und vernichten müssen, wenn wir nicht selber von ihm vernichtet werden wollen.

Aber diese fast schon banale Erkenntnis hat sich im politisch korrekten Westen immer noch nicht allgemein durchgesetzt, da einige "Gutmenschen" sie partout nicht wahr haben wollen und lieber den Kopf in den Sand stecken, den sie uns in die Augen zu streuen versuchen. So auch Lapierres Verleger, die sich nicht entblödet haben, statt jener wichtigen Werke seinen ersten Reisebericht wieder aufzulegen, der nun wahrlich nicht mehr aktuell ist, unter einem neuen, dümmlichen [N]Ostalgie-Titel: "Es war einmal die Sowjet-Union". Der braucht man 50 Jahre später nun wahrlich nicht nachzutrauern - auch wenn es manchen Leuten heute in Rußland noch schlechter gehen mag als damals, vor allem den Alten; aber wir wollen doch nicht vergessen, daß das die Generation ist, die den Sowjet-Karren einst in den Dreck gezogen hat, denen geschieht es also nur recht, wenn sie im Alter hungern. (Dursten tun sie nicht - zum Sich-Besaufen reicht es immer noch :-) Dabei haben die Russen heuer ganz andere Probleme, die mit dem selben Kampf der Kulturen zusammen hängen: Während sie selber - gespalten in Großrussen, Kleinrussen (Ukraïner) und Weißrussen (Bjelorussen) - ein rasantes Absinken der Geburtenrate zu beklagen haben (1940 hatten ihre Frauen im Durchschnitt noch 6,6 Kinder, 1970 noch 2,9, 2000 noch 1,4), der binnen einer Generation zu einer Halbierung ihrer Bevölkerungszahl führen wird, verzeichnen die benachbarten islamischen Republiken - aber auch die kleineren pseudo-autonomen Gebiete wie Tschetschnien - ein ebenso rasantes Ansteigen der Geburtenrate (1940 im Durchschnitt 6 Kinder, 1970 6,5, 2000 fast 10), welches binnen einer Generation zu einer Verdoppelung ihrer Bevölkerungszahl führen wird. Die Konsequenzen mag heute noch niemand sehen oder hören (obwohl die zahlreichen seit der Unabhängigkeit der Turkrepubliken vertriebenen oder hinausgeekelten Nicht-Muslime sie durchaus aufzeigen könnten; aber die sind in der alten Heimat nicht gerne gesehen und gehen deshalb gleich nach Westeuropa oder Amerika - obwohl das dort auch niemand wissen will); aber sie werden früher oder spälter in einer blutigen Katastrofe münden, gegen welche die von Lapierre in "Oh Jerusalem" und "Freiheit um Mitternacht" beschriebenen sich geradezu läppisch ausnehmen. Und die Wahrscheinlichkeit, daß irgendein muslimischer Kaukasier eine Wasserstoffbombe nach Moskau schmuggelt und sie dort hoch gehen läßt, ist heute schon größer als es anno 1980 die Wahrscheinlichkeit war, daß dies Gaddafi in New York City hätte gelingen können. Vielleicht sollte man Wladimir Putin diese frühen Bücher Lapierres zu lesen geben; noch ist es nicht zu spät für den großen Präventivschlag, zu dem sich der Westen nicht aufzuraffen vermag - im Kreml könnte man da etwas weniger Skrupel haben.


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