"Großtun bringt Zinsen"
Egon Erwin Kisch
(1885 - 1948)

[E. E. Kisch] [E. E. Kisch] [E. E. Kisch]

"Um jeden Zehner, für den man nicht ein Stückerl Welt gesehen hat, ist's ewig schade."
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"Über fremde Wege wölbt sich der eigene, und manchmal kommt einer
vom verklärten Urwald her: aus dem Lande Vergangenheit."
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"Es gibt keine gedruckte Lüge. Denn die Lüge,
die Tausende glauben, wird zum Dogma.
Und sie geht in die Geschichte ein."
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[E. E. Kisch]

EIN KAPITEL AUS DIKIGOROS' WEBSEITE
ALS ES NOCH KEIN INTERNET GAB
Reiseschriftsteller des 20. Jahrhunderts

Als Dikigoros den Ausdruck zum ersten Mal hörte oder vielmehr las, war das in einem scheinbar ganz anderen Zusammenhang, nämlich in einem Comic des großen sächsischen Humoristen Rolf Kauka: "Lupo, der rasende Reporter". Später verband er damit den Nachbarn ein Stockwerk tiefer, den es immer rasend machte, wenn Niko Klavier spielte, weil er doch tagsüber seinen Schlaf brauchte - er war nämlich Nachtreporter beim örtlichen Käseblatt, und als solcher dünkte er sich etwas Besseres als all die kleinen und mittleren Beamten, die sonst im Haus ihre billigen Dienstwohnungen hatten, und nahm deshalb das Privileg der absoluten Ruhe für sich in Anspruch. (Dikigoros hat das nie verstanden: Wenn er rechtschaffen müde ist, dann läßt er sich auch von den Posaunen des jüngsten Gerichts nicht im Schlaf stören - er träumt dann eben, daß er zuhört, wie sie spielen, und denkt gar nicht daran, aufzuwachen.) Und noch viel später verstand er erst, daß Kauka - der nicht nur ein großer Humorist, sondern auch ein großer Patriot und Kommunistenfresser war - damit tatsächlich den roten Journalisten aus Prag parodieren wollte. Egon[ek] Kisch (der seit seinem 15. Lebensjahr den zweiten Vornamen "Erwin" führte - angeblich die Idee eines Redakteurs, dem er seine ersten Gedichte unter dem Namen "E. Kisch" vorgelegt hatte) wurde "der rasende Reporter" genannt nach dem Titel seines ersten echten Reise-Buchs von 1924 mit Reportagen aus der Sowjet-Union (über Lenins Begräbnis), Österreich (über die Währungs-Reform) und Savoyen (über die erste "Winter-Olympiade" in Chamonix). [Über seine ersten Reisen durch Bayern und Österreich hatte er noch nichts geschrieben, sondern nur Gedichte verfaßt, obwohl er sich schon damals in der Tradition von Harry Chaim alias "Heinrich Heine" sah, der in jungen Jahren nicht nur Lyrik, sondern auch Reiseberichte geschrieben hatte - aber das ist eine andere Geschichte. Über seine beiden Mittelmeer-Reisen in den Jahren 1907 und 1909 hatte Kisch einen kleinen Bericht unter dem Titel "Orientreisepech" verfaßt, der aber nur ein schlechter Abklatsch von Heines "Reisebildern" war; das gleiche galt für "Dunkles London", geschrieben nach einer England-Reise anno 1912; und hinter den - gut verkauften - "Prager Streifzügen" aus dem selben Jahr verbirgt sich nichts weiter als eine Sammlung älterer Zeitungs-Reportagen, meist über das lokale Kriminellen-Milieu, aber auch über eine Moldau-Fahrt als Hilfs-Flößer von Prag nach Magdeburg. Damals war Kischs Lieblings-Schriftsteller - wie der so vieler Deutsch-Österreicher, u.a. auch der eines gewissen Adolf H. - freilich schon der Sachse Carl May.] Wie Bert Brecht ließ sich Kisch kaum je ohne Kippe im Mund ablichten (außer im Schlaf :-). [Das Bild, das Metin Buz auf einer Webseite des Geest-Verlags der Abschrift einer älteren Version dieses Berichts vorangestellt hat, hält Dikigoros für nicht authentisch.] Und wie Brecht galt Kisch als der Vorzeige-Schriftsteller der DDR. (Dabei war er schon gestorben, als die DDR gegründet wurde, und streng genommen war er nicht einmal Deutscher, sondern hatte erst einen böhmischen, dann einen tschechischen Paß - und er selber hat mal in einer köstlichen Reportage beschrieben, welche Probleme er zu Lebzeiten mit seinem ungarischen Namen hatte.) Diesem Umstand verdanken wir, daß seine Werke immer wieder neu aufgelegt wurden, unter anderem in einer schönen Gesamtausgabe von 1960-1985, deren Bände man heute preiswert antiquarisch erstehen kann.

Man fragt sich allerdings, warum Kisch in der DDR so viel offizielle Verehrung genoß. Gewiß, er war bekennender Kommunist - jedenfalls nach dem Ersten Weltkrieg. Vor dem Krieg hatte er dagegen (nach einem Semester Studium der [Bau-]Ingenieurs-Wissenschaften an der Deutschen TH in Prag - das er hauptsächlich auf dem Paukboden der schlagenden Burschenschaft Saxonia verbracht hatte - und einem Semester "Zeitungs-Wissenschaften" an der Journalistenschule in Berlin - von dort hatte er den Spruch aus der Titelzeile mitgebracht) für die stramm deutsch-national[liberal]e Prager Zeitung Bohemia gearbeitet und fünfzehn Jahre lang für den deutschen Fußball-Club Sturm gespielt (er hatte sogar im Jahre 1898 - also noch als Schüler - zu dessen Gründungs-Mitgliedern gezählt), zwar als Linksaußen - aber das war auch alles, was damals an Kisch links war. Und, um Wortspielen vorzubeugen: Er war auch nicht "link" - weder Kisch noch sein Fußballverein -, das war vielmehr der andere Prager Fußballverein jener Zeit, der sich "deutsch" nannte und dem Kisch bezeichnender Weise nicht beigetreten war, nämlich der rein jüdische DFC Prag - der [Gründungs-]Mitglied des DFB war und an den deutschen Meisterschaften teilnahm, von denen er die erste, anno 1903, beinahe gewonnen hätte, und zwar auf eine ziemlich "linke" Tour: Vor dem Halbfinalspiel gegen den Karlsruher FV - damals die wohl stärkste deutsche Mannschaft - schickte man einfach ein Telegramm nach Baden des Inhalts, daß der Spieltermin verschoben sei, schöne Grüße, DFB. Die doofen Vereinsfunktionäre des KFV (die kein bißchen mißtrauisch waren, daß das Telegramm aus Prag kam - nicht etwa aus Leipzig, wo der DFB saß :-) sagten daraufhin die Reise ab; die DFC-Elf fuhr hin und zog kampflos ins Endspiel ein. (Da traf man allerdings auf den VfB Leipzig, und dort war man auch mit allen Abwassern gewaschen: Da das Endspiel in Hamburg-Altona statt fand - also gleich nebenan von Sankt Pauli -, luden die netten Leipziger die Prager am Vorabend des Spiels für eine "Nacht ohne Reue" ins damals berühmteste Amüsierviertel Europas ein - über das Kisch, im Gegensatz zu Kishon leider nie geschrieben hat -; und da es damals noch keine Trainer gab, die den Anstandswauwau gespielt und darauf geachtet hätten, daß die Spieler pünktlich und nüchtern ins Bett gingen, ließen es sich die Prager Juden wohl sein; am nächsten Tag wurden sie von den Leipzigern - die sich beim Trinken zurück gehalten hatten - mit 7:2 überfahren :-).

Auch im Krieg war Kisch's patriotisches Bewußtsein zunächst ungetrübt. Er sollte es zwar später so darstellen, als hätte er den Militärdienst gehaßt, die meiste Zeit in der Arrestzelle zugebracht und sei nicht als Reserve-Offizier zugelassen worden; aber tatsächlich war er 1913 - wie Colin Ross - als begeisterter Kriegsberichterstatter in die Balkankankriege gezogen, und 1914 als ebenso begeisterter Soldat in den Krieg gegen Serbien und Rußland, hatte es bis zum Oberleutnant gebracht, war zweimal wegen Tapferkeit ausgezeichnet und einmal schwer verwundet worden. Nicht nur bei Kriegsausbruch äußerte er sich begeistert, wie so viele Hurra-Patrioten, sondern noch im Sommer 1918, als andere längst nicht mehr an den Endsieg glaubten und vom Krieg die Schnauze gestrichen voll hatten, machte er als Presseoffizier von Admiral Horthy die letzte Ausfahrt der k.u.k. Flotte gegen die italienische mit und schrieb nach Hause, wie schön und interessant sein Dienst sei. Überhaupt gibt sich Kisch erzkonservativ, spielt mitten im Krieg den Ahnenforscher in Sachen eigene Familie und schreibt begeistert über den Sinn für Tradition, den er einmal "das Bewußtsein" nennt, "was einer Reise, einem Abenteuer, einer Situation, einem Reichtum oder der Abstammung erst einen Wert gibt."

Aber nun ist es ja so, daß man auf Reisen durch die Welt vielfältige Eindrücke sammelt und daß einem dabei vielfältige Gedanken durch den Kopf gehen - auch Dikigoros (der sich keineswegs dem linken Spektrum zurechnen würde) hat auf so mancher Reise durch so manches Land schon so manche "linke" Überlegung angestellt. Wenn man sie sucht, findet man sie auch bei Mark Twain, ja selbst bei Colin Ross. Und ebenso findet man eben bei Kisch umgekehrt "rechte" Passagen, die der Zensor übersehen haben muß. Zum Beispiel, daß schon vor dem Ersten Weltkrieg deutsche Findelkinder in Prag tschechischen Waisenhäusern übergeben und so "ihrer Nation entfremdet und slawisiert" wurden. Dabei hatte er doch noch zwei Jahre vor Kriegsausbruch geschrieben, wie "flammend" er diese deutsche Stadt liebe, "in der alle rot-blau-weiße [die Farben der tschechischen Flagge, Anm. Dikigoros] Tünche das deutsche Material wird niemals zum Verschwinden bringen können" - so kann man sich täuschen! [Die Geschichte der Deutschen - einschließlich der deutschen Juden - in Prag ist ein Trauerspiel, über das Dikigoros an anderer Stelle mehr schreibt. 1880 hatte die Metropole im Herzen Europas eine gute Viertelmillion Einwohner, davon fast 15% jüdische und weitere 5% nicht-jüdische Deutsche; 20 Jahre später - inzwischen hatte man das schöne alte, pardon das häßliche alte Ghetto platt gemacht, pardon saniert - hatte sich die Gesamteinwohnerschaft fast verdoppelt, aber die der Deutschsprachigen war in absoluten Zahlen um 20% gesunken und erreichte nicht einmal mehr 10%, hatte sich in Prozentpunkten also sogar halbiert. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Deutschsprachigen brutal unterdrückt - wie alle anderen Minderheiten in der "Tschecho-Slowakei" auch - und dann, nach dem Zweiten Weltkrieg, ganz ausgerottet.]

Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die alten Reichslande Böhmen und Mähren von Österreich abgetrennt und unter Mißachtung all der hehren Grundsätze, mit denen die Propaganda der Entente ihre Gegner im Krieg berieselt hatte, mitsamt der Slowakei - die von Ungarn abgetrennt wurde - den Tschechen in den Rachen geworfen. "Das Selbstbestimmungsrecht der Völker," schrieb Kisch mit beißendem Sarkasmus, "die geographische und die strategische Notwendigkeit und alle 14 Punkte Wilsons sind endlich erfüllt: Der Rhein, ohne den New York ganz vom Wasser abgeschnitten und San Francisco überhaupt nicht lebensfähig gewesen wäre, ist vorläufig wenigstens teilweise amerikanisch." [Das erinnert Dikigoros an die Politiker des 21. Jahrhunderts, die meinen, Deutschland müsse am Hindukusch verteidigt werden, aber zuhause alle muslimischen Terroristen mit offenen Armen und Geldbörsen der Steuerzahler aufnehmen, um ihnen und ihren "Schläfern" (d.h. Terroristen in spe) politisches Asyl zu gewähren.] Kisch gehörte zu den schärfsten Kritikern der Verträge von Versailles und St. Germain. Wieso auch nicht? Das konnte auch ein guter Kommunist - zu dem sich Kisch urplötzlich gemausert hatte (er war sogar in den Nachkriegswirren für kurze Zeit Kommandant der "Roten Garden" von Wien gewesen) - durchaus mit seinem Gewissen vereinbaren; hatten doch bis 1933 die KPD und die NSDAP einander überboten in der Bekämpfung dieser schändlichen Friedens-Diktate, in die sich die laschen bürgerlichen Parteien, allen voran die Sozial-Demokraten, gefügt hatten! Von wegen deutsch-österreichische Kriegsschuld - Kisch war überzeugt, daß Serbien schuld war: seine Hetzpropaganda gegen Österreich, seine Aufwiegelung in Bosnien, Syrmien und Slawonien, seine Beihilfe zum Meuchelmord in Sarajewo... A propos deutsch-österreichisch - das Anschlußverbot wurde auch von den österreichischen Kommunisten bekämpft, die ihre Partei demonstrativ KPDÖ - Kommunistische Partei Deutsch-Österreichs - nannten. (Gewiß, Kisch übte auch - berechtigte - Kritik an der maroden Habsburger Dynastie; aber die konnte man ganz ähnlich auch bei Adolf H. in Mein Kampf wieder finden.) Ebenso einig waren sich die Kommunisten mit den "rechten" Parteien in ihrer Beurteilung der Ruhrbesetzung und der Völkerbund-Kommission, die auch solche Teile Oberschlesiens, die es gewagt hatten, trotz massiver alliierter Schikanen bei der Volksabstimmung für Deutschland zu votieren, Polen zuschlug. Was Polen anbelangte, waren sich Nazis und Sowjets überhaupt einig - zumal vom Herbst 1939 bis zum Sommer 1941, als ihre beiden Diktatoren die besten aller Freunde waren. Und wenn Ihr, liebe Briefmarkensammler, meint, daß die Marke, welche die Bundespost 1985 zu Kisch's 100. Geburtstag heraus gegeben hat, zu den häßlichsten zählt, die je verbrochen wurden, dann mögt Ihr wohl Recht haben - aber vielleicht hat sich der Künstler doch etwas dabei gedacht und wollte ihn bewußt so verquert darstellen?

Aber Dikigoros hat vorgegriffen. Kehren wir zurück ins Wien der Nachkriegsjahre. Kisch merkte bald, daß das mit der Revolution nichts wurde und ging zurück erst nach Prag, dann nach Berlin - wo er sich schon vor dem Krieg hatte niederlassen wollen -, um wieder Reporter zu werden. "Revolutionär mit Retourbillet" nannte ihn sein Intimfeind Karl Kraus in der Wiener Fackel - den Begriff hätte Dikigoros nicht besser prägen können. Kisch unternahm einige kleinere Reisen in die Slowakei (wo ihm in Preßburg und Kaschau, pardon Bratislava und Košice, vor allem die Ausrottung alles Ungarischen auffiel), nach Frankreich (seine erste Flugreise) und in die wohlhabenden, da vom Kriege verschonten Länder Dänemark und Schweiz. Dann veröffentlichte er das schon erwähnte Buch "Der rasende Reporter".

Halten wir hier kurz inne, denn außer diesem Schlagwort (das wahrscheinlich nicht einmal zutreffend ist - Kisch soll, verglichen mit anderen Zeitungsschreibern, eher langsam, ja geradezu gewissenhaft gearbeitet haben) wissen wir über Kisch kaum etwas, das wir nicht aus den autobiografischen Passagen in seinen Reisebüchern und Reportagen, vor allem in "Abenteuer in Prag", "Mein Leben für die Zeitung", "Soldat im Prager Korps" (späterer Titel: "Schreib das auf, Kisch") und "Abenteuer im Tintenstrom (späterer Titel: "Marktplatz der Sensationen"), erfahren haben (wenn man mal davon absieht, was manche Biografen aus dem Roman Barbara oder die Frömmigkeit von Franz Werfel heraus lesen wollen, nämlich daß Kisch mit dem Romanhelden "Ronald Weiß" identisch sei). Dagegen ist im Prinzip nichts einzuwenden, denn es regt das Interesse und die Fantasie des Publikums an - Dikigoros kennt das von seinen "Reisen durch die Vergangenheit", aus denen einige Leser ja auch versucht haben, Rückschlüsse auf seine Identität und seine Biografie zu ziehen, mit z.T. recht ulkigen Resultaten. (Dikigoros hat auf diese Weise schon viele interessante Leute kennen gelernt, mit denen man ihn verwechselt hat und mit denen er daraufhin Kontakt aufgenommen hat; einige hat er sogar als Mitarbeiter gewinnen können :-) Nun kann niemand von einem Autoren erwarten, daß er sein ganzes Leben vor seinen Lesern breit tritt - auch Dikigoros läßt manches bewußt weg, anderes hat er vielleicht vergessen oder verdrängt. Aber er erfindet nichts hinzu, und er verdreht die Tatsachen nicht nachträglich ins genaue Gegenteil. Eben das hat aber Kisch öfters getan; deshalb darf man nicht alles, was über sein Leben geschrieben wurde - von ihm selber und von anderen, einschließlich Dikigoros - für der Weisheit letzter Schluß halten. Seine Zeitgenossen taten das auch nicht; sie nannten ihn einen "Münchhausen", einen "Märchenerzähler aus 1001 Prager Nacht", und ein Kollege schrieb resignierend: "Wer Egon Erwin Kisch kennt, läßt sich nicht foppen, weiß, daß er ein Schwindler ist. Man kann Kisch nach dieser Feststellung trotzdem lieben, vielleicht sogar gerade deshalb." Eben - da kann man nur hoffen, daß die Verfälsch..., pardon Veränderungen nur Kisch's eigene Person betreffen, nicht auch die Personen und Dinge, die er sonst beschrieben hat.

Im Dezember 1925 waren "die sieben mageren Jahre", wie Kisch die Nachkriegszeit genannt hatte, vorbei, und er brach zu einer längeren Reise in die Sowjet-Union auf - zuvor hatte er ordentliches Mitglied der KPD werden müssen - ein Beitritt, den man nicht überbewerten sollte; Dikigoros hätte das gleiche getan, wenn das denn der Preis gewesen wäre. Erstaunt, liebe Leser? Aber wieso denn? Nicht umsonst stellt Euch Dikigoros auf dieser "Reise durch die Vergangenheit" überwiegend Reisende vor, die zu Stalins Zeiten in die SU gefahren sind, denn das ist nach seiner Überzeugung die Nagelprobe für jeden Reiseschriftsteller, der dazu die Gelegenheit hatte. Reisen, egal wann und wohin, ist immer gut zur Erweiterung des Horizonts, wenn man Augen hat um zu sehen und Ohren, um zu hören. Aber im Laufe der Geschichte gibt es immer wieder bestimmte Länder, auf die das ganz besonders zutrifft: bis zum 18. Jahrhundert waren es Italien und Frankreich, bis zum Ersten Weltkrieg China und Britisch-Afrika, nach dem Zweiten Weltkrieg Indien und Japan, und in der Zwischenkriegszeit die USA und die SU. Kisch bereiste sie fast alle (außer Indien - aber dieses Manko teilte er ja mit den meisten Schriftstellern seiner - und nicht seiner - Zeit). Die Sowjet-Union bereiste Kisch weiter und länger als irgendeiner seiner Zeitgenossen - von Moskau nach Süden über das Donezbecken bis in den Kaukasus, wieder zurück und nach Norden bis Leningrad in fast fünf Monaten. Aber ob er auch mehr sah als etwa ein A. E. Johann, der auf eigene Faust reiste und sich ein Bild abseits von den offiziellen Pfaden machte? Das ist eine schwierige Frage, die man am besten mit "jein" beantwortet, wenn man das anschließend entstandene Buch liest, das ursprünglich einfach "Recherchen in Rußland" heißen sollte, dann aber vom Verlag den werbewirksamen Titel "Zaren, Popen, Bolschewiken" erhielt. [Wer die Bücher von Richard Katz und A. E. Johann kennt, weiß, wie beliebt solche "griffigen", aus drei Schlagwörtern bestehende Titel für Reisebeschreibungen damals in Deutschland waren.] Kisch sah durchaus, was Sache war: Not und Elend der Bevölkerung, resultierend aus Mangel an allem Lebensnotwendigen, von anständigem Wohnraum über Kleidung bis Nahrung, lange Schlangen vor allen Geschäften, Schiebertum und Schwarzmarkt, Bettelei, Landstreicherei, Alkoholismus, Kriminalität... Aber er verschloß die Augen vor den Ursachen; denn er schrieb das alles nicht etwa der ruhmreichen Sowjet-Union, sondern vielmehr den Nachwirkugnen des bösen Tsaren-Regimes und des "vom Westen angezettelten Bürgerkriegs" zu. Unter Stalin würde sicher alles besser werden...

Wieder im Westen, versuchte sich Kisch als Schauspieler und reiste als solcher zu Dreharbeiten nach Algerien und Tunesien. Von dem Film hat man nicht viel gehört oder gesehen; aber Kisch veröffentlichte seine nordafrikanischen Reiseerlebnisse später unter dem etwas übertriebenen Titel "Wagnisse in aller Welt". Dabei hatte er zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal die "Neue Welt" gesehen - aber das sollte sich nun endlich ändern. Mit dem Dampfer fuhr er 1928 nach New York, blieb dort zwei Monate und schrieb Reportagen, die er später zu einem Buch ("Paradies Amerika") zusammen fassen sollte: über "Spanish Harlem" (den Stadtteil Manhattans, der damals, nach dem Einzug der Schwarzen in großem Stil, gerade zum Slum abzusinken begann), die Bowery (wo damals noch die jüdische Textilindustrie konzentriert war) und - amerikanische Gefängnisse. Nein, liebe Leser, dagegen ist gar nichts zu sagen. Dikigoros wird nie müde zu schreiben, daß er solche Dinge zur Beurteilung eines Landes für viel wichtiger hält als das Ablatschen und Ablichten von Museen, Denkmälern oder anderen "Sehenswürdigkeiten". Und Kisch - der ja mal als Kriminal-Reporter angefangen hatte - bewahrte sich halt zeitlebens ein besonderes Faible für just das letzte Thema und besuchte in allen Ländern, die er bereiste, Gefängnisse. Dikigoros hätte fast geschrieben "die Gefängnisse" - aber das stimmt nicht, und da liegt der Hase im Pfeffer. Nicht jeder ausländische Reporter hat in jedem Land zu jedem Gefängnis Zutritt - und in der Sowjet-Union hatte man Kisch natürlich Mustergefängnisse gezeigt, über die man auch im Westen berichten konnte. In den USA dagegen sah er z.B. das berüchtigte Zuchthaus Sing Sing; und so ist es nicht weiter verwunderlich, wenn sein Vergleich zwischen der SU und den USA - der sich für ihm auf einen Vergleich zwischen ihren Strafvollzugsanstalten zuspitzte - vernichtend für die letzteren ausfiel. Gewiß, die Gefangenen wurden hüben wie drüben nicht mit Samthandschuhen angepackt; aber - so Kisch - in den USA mußten sie für ein paar Cents am Tag Zwangsarbeit verrichten; in der SU dagegen erhielten sie dafür den gleichen Lohn wie die Arbeiter draußen in Freiheit. [Kisch scheint nicht einen Augenblick darüber nachgedacht zu haben, ob das wirklich für die sowjetischen Gefängnisse sprach oder nicht vielmehr gegen die Lebens- und Arbeitsbedingungen in der dortigen "Freiheit", und ob nicht die Kaufkraft dessen, was ein Knacki in den USA erhielt, noch immer größer war als in der SU, wo man zu offiziellen Preisen schon damals praktisch nichts bekam, wenn man nicht zur privilegierten "Nomenklatura" gehörte, sondern auf dem Schwarzmarkt einkaufen mußte, wo die Preise für Mangelwaren um ein vielfaches höher lagen als in den viel bekrittelten US-Ramschläden à la Woolworth.]

Dann verdingte sich Kisch als Matrose auf einem Frachtschiff, um durch die Karibik und den Panama-Kanal nach Kalifornien zu gelangen. Er besuchte Los Angeles und vor allem Hollywood, wo er Billy Wilder und Charly Chaplin traf - angeblich, so wie er angeblich zwischendurch auch in Washington Station machte, um dem Präsidenten die Hand zu schütteln; Dikigoros hegt da gewisse Zweifel, denn weder Wilder noch Chaplin sollten sich später an Kisch erinnern, und der einzige Beleg, der Kisch und Chaplin zusammen zeigt, ist offenbar eine Fotomontage, bei der die aufgesetzten Köpfe für die darunter befindlichen Körper deutlich zu groß geraten sind. Dann fuhr Kisch noch nach San Francisco, Sacramento, Chicago, Detroit und Boston - es wurde seine längste Reise, und wenn man seinen Briefen nach Hause glauben darf, auch seine schönste: "Ich habe eine wunderbare Zeit verlebt", schrieb er an seine Mutter. Doch später las sich alles ganz anders: "Amerika ist nicht mehr das Land der unbeschränkten Möglichkeiten - Amerika ist das Land der unmöglichen Beschränktheiten." Das ist verblüffend. Gewiß, auch Colin Ross, und vor allem A. E. Johann haben sehr Widersprüchliches über die USA geschrieben, je nachdem wie es für die Zeit des Erscheinens politisch opportun war; aber diese Aussagen sind praktisch zur selben Zeit geschrieben worden - und nur eine kann Kisch's wahren Eindrücken entsprochen haben. Welche? Nun will man ja, wenn man seiner alten Mutter von unterwegs schreibt, nicht, daß die sich unnötige Sorgen macht - also färbte Kisch wohl hier etwas zu schön? Aber es ist ja noch ein Unterschied, ob man schreibt: "alles in Ordnung" oder "das war die wunderbarste Reise meines Lebens". Nun, des Rätsels Lösung ist hier einmal verhältnismäßig einfach: Kisch war im Auftrag des kommunistischen "Tagblatts" in die USA gereist; und selbst seine wohlwollendsten Biografen räumen ein, daß der Inhalt seiner Reportagen "vorgegeben" war. Bliebe noch die Frage, warum er sich nach dem Ersten Weltkrieg derart von den Kommunisten vereinnahmen ließ - aber es gibt halt Lebenswege, die, wenn sie erst einmal auf eine bestimmte Schiene geraten sind, sich nur noch schwer umleiten lassen. Was hätte Kisch z.B. tun sollen, als er 1930 wiederum in die SU eingeladen wurde - zur "Weltkonferenz der Revolutionären Schriftsteller" in Charkow? [Dikigoros weiß sehr wohl, liebe Ukraïner, daß Ihr die Hauptstadt Eurer östlichen Reichshälfte "Charkiw" nennt; aber sie wurde und wird nun mal hauptsächlich von Russen bewohnt; und die sagten und sagen "Charkow".] Zusammen mit so illustren Kollegen wie Johannes R. Becher, Anna Seghers und Ludwig Renn? Dazu noch verbunden mit einer Ernennung zum "Professor" der Universität Charkow? Natürlich fuhr er hin...

Aber dann kam ein Bruch, den auch seine kommunistischen Biografen nur schwer kitten können: Kisch warf seine Professur nach wenigen Vorlesungen hin; eine Reise durch die Industriezenten Sibiriens, nach Magnitogorsk, Kusnetskstroj und Nowosibirsk, um die Errungenschaften des Fünf-Jahres-Plans zu preisen, wurde abgesetzt; statt dessen schickte man Kisch auf eine Reise durch die Turk-Republiken der SU - wo auch er nicht übersehen konnte, mit welcher Hartnäckigkeit sich der Islam gegen die ach-so-fortschrittlichen sowjetischen "Gesellschaftsreformen" wehrt - und schließlich nach China, wo der Bürgerkrieg tobte. Auch dort waren die Bauern alles andere als begeistert vom Kommunismus, den ihnen ein gewisser Mao Tse-tung bringen wollte; aber wieder schob Kisch alles auf die bösen Kapitalisten und Kolonialherren von einst - und auf die gegenwärtigen, vor allem auf die Japaner, die gerade in die Mandschurei eingedrungen waren, wo sie 1932 einen unabhängigen Staat, Mandschukuo, gründen sollten. [Was die Japaner dort alles aufbauen, was die Chinesen nie selber zustande gebracht hätten - geschweige denn die chinesischen Kommunisten - schrieb er nicht; aber das konnte er vielleicht nicht voraussehen.] Seine Eindrücke von China, wie er sie in "China geheim" schildert; waren verheerend: Armut, Krankheit, Hunger, Kinderarbeit... Und dabei ließ man ihn durchaus nicht alles sehen: China war und ist fremdenfeindlich und wird es immer sein; die Langnasen sollen gefälligst nicht überall herum schnüffeln! Kisch reiste zurück nach Moskau, aber er hatte die Schnauze bald endgültig voll: Er kehrte zurück in den Westen, und diesmal endgültig: Offiziell nach Prag, aber dort machte er nur kurz Station, dann direkt weiter nach Berlin. Soweit, sogut, wenn nicht... dort kurz darauf die National-Sozialisten an die Macht gekommen wären. Im Januar 1933 wurde Hitler Reichskanzler, im Februar brannte der Reichstag. Kisch war überzeugt - oder tat jedenfalls so -, daß die Nazis ihn selber angesteckt hatten, um gegen die mißliebigen Kommunisten vorgehen zu können. (Dikigoros glaubt das nicht; aber das ist eine andere Geschichte). Wie dem auch sei: Kisch wurde verhaftet und als Staatsbürger der CSR über die Grenze abgeschoben. Aber in Prag, wo Deutsche und Juden brutal verfolgt wurden, wollte Kisch wie gesagt nicht bleiben; im Mai 1933 emigrierte er nach Paris. Auch dort war er freilich nur geduldet - aber wohin sonst sollte er gehen? Die Schweiz und England verweigerten ihm die Einreise (er schrieb darüber ein Buch mit dem Titel "Eintritt verboten"); und wie das außerhalb Europas aussah, sollte er bald merken.

1934 erhielt Kisch eine Einladung nach Australien, zum (kommunistisch inspirierten) "Antikriegs-Kongreß" in Melbourne. Er fuhr hin und - stand vor verschlossenen Toren: Die australische Regierung ließ ihn nicht einreisen. Kisch, nicht faul, versuchte illegal von Bord zu gehen, genauer gesagt zu springen, und brach sich dabei einen Haxen. Statt ihn aber ins Hospital zu bringen, wie das die Australier heutzutage mit illegalen Einwanderern zu tun pflegen, die sich selber irgendein Wehwehchen beigebracht haben, um nicht abgeschoben zu werden, steckte man ihn erstmal in Quarantäne, dann machte man ihm den Prozeß - wegen versuchter illegaler Immigration, denn er hatte die Sprachprüfung nicht bestanden. Die Sprachprüfung? Na klar, liebe Leser, die gibt es auch heute noch in Australien - freilich nicht für Leute, die nur mal an einem Kongreß teilnehmen wollen und die Rückfahrtkarte schon in der Tasche haben, wie Kisch, und natürlich auf Englisch, nicht auf... Gälisch. Ihr habt richtig gelesen: Gälisch wurde geprüft, und zwar nicht etwa irisches Gälisch (das damals noch einige Menschen auf der Welt sprachen), sondern schottisches - das praktisch ausgestorben war. Ihr glaubt das nicht, liebe Leser? Dann erinnert Euch an das Wort von A. E. Johann: "Je unwahrscheinlicher und merkwürdiger die Geschichten klingen, desto sicherer mag indes der Leser davon überzeugt sein, daß sie sich so und nicht anders abgespielt haben... Denn erfinden kann man nur Wahrscheinliches; das Unwahrscheinliche - passiert." Ja, die Australier wollten Kisch nicht im Lande haben, weil er Kommunist war - aber dann hätten sie jenen Kongreß gar nicht erst erlauben sollen, statt die Teilnehmer jetzt mit juristischer Haarspalterei fern zu halten. (Kisch war nicht der einzige Betroffene; seinem Kollegen Gerald Griffin - einem Waliser, der den Test in seiner vermeintlichen "Muttersprache" Gälisch auch nicht bestand - ging es nicht besser.) Die ersten beiden Instanzen des Prozesses verlor Kisch; aber da sich spendable Gönner fanden, blieb er gegen Kaution auf freiem Fuß bis zur Revisionsverhandlung - die dann gar nicht mehr statt fand, denn in der Zwischenzeit reiste Kisch durch's ganze Land (was er ursprünglich gar nicht vor gehabt hatte; aber was sollte er tun? Sein Dampfer war längst ohne ihn zurück gefahren :-) und blamierte Australien bis auf die Knochen, denn für seine linken Journalisten-Kollegen aus aller Welt war das natürlich ein gefundenes Fressen, um Australien als Unrechtsstaat hinzustellen. Am Ende war die Regierung so verzweifelt, daß sie auf die Revisionsverhandlung verzichtete, das Urteil aufhob, Kisch voll rehabilitierte und auf ihre Kosten zurück nach Europa schickte. Sein boshaftes Buch "Landung in Australien", das Ende 1936 erschien, besteht zur Hälfte aus diesem Verfahren und seinen Begleiterscheinungen; der Rest sind wie gehabt Reportagen.

Nun war Kisch also weltberühmt - also wollte er endlich auch aktiv am Weltgeschehen teilnehmen. Was bot sich da an in jenen Tagen? Natürlich der Spanische Bürgerkrieg. Vom "Internationalen Schriftsteller-Kongreß zur Verteidigung der Kultur" in Valencia ging es direkt an die Front. Wirklich an die Front? Oder doch nur in die Etappe? Das festzustellen ist ganz schwierig, liebe Leser, dabei ist das ein wichtiger Unterschied, der offenbar darüber entschied, wie man diesen Krieg und seine ideologischen Hintergründe später bewertete. Dikigoros weiß nicht, ob er selber damals nach Spanien gereist wäre - aber sein seliger Reisefreund Melone wäre es mit Sicherheit, und viele andere bekannte Schriftsteller taten es damals auch. Der einzige, der danach noch immer voll hinter den Kommunisten stand - bzw. saß - war der notorische Dummschwätzer und Säufer Ernest Hemingway, der das Geschehen hauptsächlich in der Bar aus der Zeitung verfolgte und später einen frei erfundenen Bestseller ("For whom the bell tolls [Wem die Stunde schlägt]") über seine angeblichen Heldentaten schrieb. George Orwell brach sofort mit dem Kommunismus, Arthur Koestler und Ignazio Silone - denen schon zuvor Zweifel gekommen waren, nämlich direkt in der Sowjet-Union - etwas später (aber das sind andere Geschichten). Und Kisch? Natürlich sah er auch, was Sache war, und woran die Linken schließlich scheiterten: nicht an Francos marokkanischen Söldnern, auch nicht an den paar deutschen und italienischen (und portugiesischen) Hilfstruppen, sondern an ihrer eigenen Uneinigkeit: Hinter der Front bekämpften sich Republikaner, Sozialisten, Kommunisten, Anarchisten, Trotzkisten und baskische und katalanische Nationalisten bis auf's Messer - und das ist wörtlich zu nehmen. Nein, so blind konnte Kisch gar nicht sein; und diesmal verschloß er auch nicht die Augen vor den Realitäten - wohl aber den Mund und die Feder: "Die drei Kühe" und "Soldaten am Meeresstrand" sind eher nichtssagende Anekdoten, kaum geeignet, begeisterte Mitkämpfer für die rote Sache zu gewinnen.

Im Sommer 1939 war der Spanische Bürgerkrieg für die Roten verloren. Was nun? Kisch kehrte zurück nach Frankreich, wo er unter Hausarrest gestellt wurde. Aber nach Prag konnte er nicht zurück, denn im Frühjahr hatte der tschechische Präsident Hacha Böhmen und Mähren vertrauensvoll in den Schutz des Deutschen Reichs gestellt, nachdem sich die Slowakei für unabhängig erklärt haten und die Polen in Hultschin einmarschiert waren. Im Herbst verbündeten sich Hitler und Stalin im Ribbentrop-Molotow-Pakt gegen Polen - spätestens da mußte Kisch innerlich mit dem Kommunismus gebrochen haben. In die ruhmreiche Sowjet-Union konnte er also auch nicht mehr emigrieren, selbst wenn er gewollt hätte. Sein Bruder Friedrich ging nach [Britisch-]Indien. (Dikigoros weiß nicht, was dort aus ihm geworden ist; aber das spricht nur dafür, es ihm gleich zu tun, wenn man einmal in die Verlegenheit kommen sollte :-) Aber das war eine britische Kolonie, und dort wäre Egon wie in Australien unerwünscht gewesen. Wie wäre es denn mit dem vor einigen Jahren noch so gescholtenen "Paradies Amerika"? Ja, nun ist es ihm auf einmal gut genug - aber er den Amerikanern nicht. Ein Freund bei der chilenischen Botschaft hilft ihm, die US-Immigration auszutricksen: Er besorgt ihm ein chilenisches Visum und ein "Durchreisevisum" für die USA - Kisch vertraut darauf, daß es ihm dort ebenso gelingen wird, wie einst in Australien... Aber die Amerikaner husten ihm etwas; nach kurzer Zeit wird er abgeschoben - nach Mexiko, wo sich inzwischen einige deutsche Exilanten versammelt hatten ("Freies Deutschland" nannte sich der Haufen). Kisch's kommunistische Biografen versuchen es meist so darzustellen, als ob das allesamt linientreue Kommunisten gewesen seien, die dort unter ärmlichen Bedingungen ihren heldenhaften Kampf mit geistigen Waffen gegen den bösen Faschismus fortgeführt hätten, und auf einige - wie Anna Seghers, Ludwig Renn oder Bodo Uhse - mag das auch zugetroffen haben. Aber Kisch? "Gemeinsam mit der Familie Uhse verbringen die Kischs [Kisch hatte zwei Jahre zuvor seine langjährige Sekretärin Gisela Lyner geheiratet, Anm. Dikigoros] mehrere Wochen in Chapala, einem kleinen und billigen Badeort etwa 400 km nordwestlich von Mexico City," schreibt ein Biograf. So so... Tatsächlich war Chapala damals (und bis Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts) ein exklusiver Kurort am gleichnamigen See, nicht nur für die Oberschicht des benachbarten Guadalajara, sondern auch für den internationalen Jetset. (Seitdem ist es zu einer Art Miami-Ersatz für amerikanische Ex-pats im Rentenalter geworden :-) Kisch und Uhse residierten in der Villa des englischen Konsuls von Guadalajara. Im übrigen fuhr Kisch - finanziell offenbar bestens ausgestattet - überall im Lande umher, bis nach Yucatán; aus seinen Reisenotizen sollte eine der besten zeitgenössischen Reportage-Sammlungen über das mexikanische Alltagsleben entstehen: "Entdeckungen in Mexiko".

Im Sommer 1941 erlöste Hitlers Angriff auf Stalins Sowjet-Union endlich die Kommunisten in aller Welt aus ihrem ideologischen Dilemma: Fortan konnte man wieder guten Gewissens für Stalin und gegen Hitler sein. Und nun reichte vielleicht auch nur eines von beidem: Die Mexikaner z.B. waren für Hitler und die Deutschen, weil sie gegen Roosevelt und die nordamerikanischen "Gringos" waren (deren Ölgesellschaften sie ein paar Jahre zuvor enteignet hatten.) Und der Oberleutnant a.D. Kisch war vielleicht gar nicht mehr so für den Kommunismus als vielmehr gegen dessen Gegner. Sein politisches Lebensmotto war jedenfalls bis Herbst 1939 und wieder ab Sommer 1941: "Wer gegen Stalin ist, ist für Hitler." Und so hetzte er denn noch in seinem letzten Reise-Buch heftig gegen "Nazi-Deutschland" und lobte die Sowjets - schließlich wollte er nicht ebenso enden wie der "Verräter an der sowjetischen Sache" Leo Bronstein alias 'Trotski', der auch nach Mexiko geflohen war, wo ihn Stalins Schergen gerade aufgespürt und ermordet hatten. Aber dann klingt es wieder nicht sehr kommunistisch, wenn Kisch beklagt, daß sich mexikanische Landarbeiter in den USA verdingen. Nein, nicht etwa, weil sie dort ausgebeutet würden - im Gegenteil: Weil die bösen Amerikaner sie mit Tageslöhnen von 8.- US-$ ködern, werden den armen mexikanischen Großgrundbesitzern die billigen Arbeitskräfte knapp! Wenn Colin Ross ein merkwürdiger "Nazi" war, dann war Kisch ein mehr als merkwürdiger "Kommunist".

1946, als die Waffen in Europa schwiegen (nein, nicht in ganz Europa, denn in Griechenland und in der Ukraine herrschte noch Bürgerkrieg - aber das ist eine andere Geschichte) und die Friedhofsruhe der Besatzungszeit eingekehrt war, kehrte Kisch nach 18-jähriger Abwesenheit in seine Heimatstadt Prag zurück, denn Deutschland war zwar von allem möglichen "befreit" worden, aber nicht frei. Schon zwei Jahre später starb er - ein ausschweifendes Leben, vor allem der übermäßige Alkohol- und Nikotin-Konsum (eines seiner letzten Fotos zeigt ihn bei einem Kindergeburtstag - natürlich mit brennender Zigarette), mit dem er den Journalisten-Streß zu bekämpfen suchte, ließ ihn nicht allzu alt werden. So hatte Kisch das Glück, nicht mehr mit zu erleben, wie bald auch die Tschecho-Slowakei ihren Traum von Befreiung und Freiheit begraben mußte, wie sehr sie in den nächsten vier Jahrzehnten unter der Knute der Sowjet-Union zu leiden hatte - ungleich mehr als in den sieben vergleichsweise fetten Jahren als deutsches "Protektorat", ganz zu schweigen von den drei Jahren danach, als in allen anderen, vom Krieg schwer mitgenommenen Ländern Mittel- und Osteuropas um sie herum Menschen (ver-)hungerten und (er)froren, während die Tschechen nach Herzenslust und ungestraft alle Deutschen in Böhmen und Mähren enteignen und vertreiben - oder gleich ermorden - konnten und von diesem Raub kurze Zeit in Saus und Braus lebten in ihrem schönen Land, das als einziges in Mitteleuropa kaum Kriegsschäden erlitten hatte.

Doch dann reisten die Sowjet-Russen ein... Irgendwie wäre es ja schon interessant gewesen zu wissen, wie Kisch auf deren Besatzungs-Regime reagiert hätte, ob und was er darüber geschrieben hätte. Hätte er protestiert? Oder einfach geschwiegen und weiterhin brav seine Diäten als Stadtrat von Prag verzehrt? Oder den kommunistischen Terror gar belobhudelt, wie seine Landsmännin und Glaubensgenossin Netty Radvanyi-Reiling alias "Anna Seghers", die alte Hexe, die im Auftrag der Kommunistischen Partei einen Nachruf auf ihn verfaßte, der ihn zu einem braven Stalinisten stempeln sollte? Oder wäre er noch einmal ins Exil gegangen? Wenn ja - wohin? Etwa wieder nach Mexiko? Oder Wien? Oder [West-]Berlin? Nun, das sind Spekulationen, lassen wir das. Sieht man einmal über einige von Kisch's politisierende Äußerungen hinweg, so findet man in seinen Büchern eine Fülle humorvoller, scharfäugiger und scharfsinniger Reportagen - er kann den Zeitungsmann nicht verleugnen -, die es noch heute allemal wert sind, gelesen zu werden. Gewiß, Kisch war in mancherlei Hinsicht ein opportunistischer Kotzbrocken; aber der Mann hat so viele und so interessante Dinge erlebt, daß ihre Schilderung - unabhängig von Fragen der politischen Wertung - einfach unbezahlbar ist.

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