IGNAZIO SILONE* (1900 - 1978)
(*Secondo Tranquilli, 1946 Ignazio Tranquilli, 1947 Ignazio Silone)

"La libertà è la possibilità di dubitare, la possibilità di sbagliare, la possibilità di
cercare, di esperimentare, di dire di no a una qualsiasi autorità... anche politica.
[Freiheit ist die Möglichkeit zu zweifeln, zu irren, zu suchen, zu experimentieren,
nein zu sagen einer wie immer gearteten Macht - und sei es auch die politische]"

[Ignazio Silone] [Ignazio Silone] [Ignazio Silone]

EIN KAPITEL AUS DIKIGOROS' WEBSEITE
ES STEHT GESCHRIEBEN . . .
Große Schriftsteller des 20. Jahrhunderts

Mehr als aus seinen - durchweg autobiografisch angehauchten - Romanen erfährt man von und über Ignazio Silone aus einem kleinen Sammelband, den er 1950 zusammen mit einigen anderen am Kommunismus irre gewordenen Schriftstellern verfaßte: "Il Dio che è fallito [Der Gott, der versagt hat - man kann auch übersetzen: der Bankrott gemacht hat]". (Es ist eines der ersten Bücher, die Dikigoros auf Italienisch gelesen hat, da Silone als jemand, der Hoch-Italienisch selber erst auf der Schule erlernte, sehr klar und einfach schrieb, was dem Anfänger entgegen kommt.) Die deutsche Übersetzung ("Ein Gott, der keiner war", 1952) ist zuletzt 1962, im Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer, erschienen - bereits gekürzt um das verfängliche Vor- und Nachwort; danach war es nicht mehr opportun, den Sozialismus zu kritisieren. (In Italien wurde die Neufassung, die 1965 unter dem Titel "Uscita di Sicurezza [Notausgang]" erschien, sogar vorübergehend "aus dem Verkehr gezogen".) Vier Jahre später kam dieser Sozialismus in Nordrhein-Westfalen (wo Dikigoros inzwischen lebte) und weitere drei Jahre später in ganz Deutschland an die Macht und verbreitete ein Klima geistiger Unterdrückung, wie es Silone aus seiner eigenen Kindheit in der italienischen Monarchie beschreibt und als Grund dafür angibt, daß er selber einst zum Kommunisten wurde: In der katholischen Privatschule, auf der er den größten Teil seiner Schulzeit verbrachte, erklärten ihm die Geschichtslehrer, wie es wirklich war mit dem Mythos des "Risorgimento", was für Banditen die "Helden" Mazzini, Garibaldi, Vittorio Emanuele und Cavour tatsächlich waren; aber zugleich brachten sie ihm bei, welche Antworten er bei der Reifeprüfung vor der staatlichen Examenskommission heucheln sollte, nämlich das genaue Gegenteil: die von Amts wegen verbreiteten Lügen zum Aufsagen. Das fand er widerlich und abstoßend - mit Recht. Aber er erkannte damals nicht, daß genau dies das Wesen des Sozialismus und seines Zwillingsbruders im Geiste, des Kommunismus, ausmacht: Die Fälschung der Geschichte und die erzwungene öffentliche Verbreitung dieser Lügen als unumstößliche Wahrheit, deren Leugnen von den staatlichen Gerichten streng bestraft wird. Damals gab es noch Lehrer, die ihren Schülern beides beibrachten: Die Wahrheit, um sie zu bewahren, und die Lügen, um sie bei der Prüfung aufsagen zu können; später wurden im Unterricht nur noch letztere gelehrt, sowohl in den offen sozialistischen Staaten wie auch in denen, wo der so genannte "demokratische Sozialismus" als Wolf im Schafspelz an der Macht war (und ist).

Als Dikigoros zur Schule ging, wußten seine dummen Lehrer zwar nichts von Mazzini (den sie wohl für ein Speiseöl gehalten hätten) und den anderen eben genannten Italienern, aber natürlich hatten auch sie aus jener Zeit staatlich verordnete "Helden" anzubieten: die gescheiterten Revoluzzer, pardon guten "Demokraten" der Paulskirchen-Versammlung von 1848. Einer dieser Lehrer - ein "engagierter Christ", d.h. einer von der Sorte, die an die Vereinbarkeit von "Christentum und Kommunismus" glaubte - ließ erst bei der Abitur-Prüfung die Maske fallen. Gewiß, er hatte im Deutsch-Unterricht allerlei linkes Zeug durchgenommen, von Brecht bis Dürrenmatt, aber das war damals Mode und fiel nicht weiter auf; so hielt ihn Dikigoros in seinem jugendlichen Leichtsinn für einen ganz normalen, vernünftigen Menschen, denn über Politik hatte er mit seinen Schülern nie gesprochen. Wer beschreibt jedoch das allgemeine Entsetzen, als im schriftlichen Abitur als Aufgabe die Analyse eines Textes des guten Onkel Jo Stalin gestellt wurde! Dikigoros machte aus seinem Herzen keine Mördergrube und zerpflückte das Machwerk, wie es das verdiente. Er ahnte nicht, daß er den heimlichen Kommunisten und Stalinisten damit tödlich beleidigt hatte. Zur Strafe mußte er in die mündliche Prüfung, wo er seinem Gedanken-Verbrechen noch die Krone aufsetzte, indem er so konservativ-reaktionäre Themen wählte wie das Nibelungenlied und die Schriften Nietzsches (besagter Lehrer kannte weder das eine noch die anderen, wie sich bei der Gelegenheit heraus stellte). Das miese rote Männchen wollte ihn - im Verein mit der ebenso roten Abgesandten des sozialistischen Kultus-Ministeriums, die von beiden Themen ebenfalls noch nie gehört hatte - in die Pfanne hauen, aber sein Direktor und die übrige Prüfungs-Kommission hielten ihre schützende Hand über ihn. Dikigoros verstand immer noch nicht richtig - erst als er Herrn W. ein paar Tage später zufällig auf der Straße traf und der ihn nicht mehr zurück grüßte, begriff er es endlich.

[Sieht der aus wie ein Stalinist? Aber er war einer!]

Warum tritt Dikigoros das hier so ausführlich breit, obwohl es doch scheinbar gar nichts zur Sache beiträgt? Weil man bei kaum einem der in diesem Kapitel seiner "Reisen durch die Vergangenheit" vorgestellten Schriftsteller so sehr über seine politische Einstellung und deren Zustandegekommen gerätselt hat wie bei Silone - noch Jahrzehnte nach seinem Tode -, und ebenso rätselhaft erscheint Dikigoros im Rückblick die seines Deutschlehrers. Gewiß, er hatte bei Stalingrad gekämpft, war dort in Kriegsgefangenschaft geraten und mit einem Arm weniger heimgekehrt. Verständlich, wenn er danach ein Kriegsgegner und "Antifaschist" war - aber mußte er deshalb gleich ein Kommunist und Stalinist sein? (Dikigoros war damals noch nicht klar, daß jemand - auch als einarmiger Krüppel - nur dann vor 1955 von den Sowjets aus der Gefangenschaft entlassen wurde, wenn sie überzeugt waren, daß er vollständig "umgedreht" war; der "Marsch durch die Institutionen" hatte nicht erst mit den "68ern" begonnen.) Hatte er nicht auch andere kriegsversehrte Lehrer, bei denen davon nicht die Rede sein konnte? Gewiß, auch sein - unversehrter - Kunstlehrer war Kommunist. (Zum Ausgleich war sein Fysiklehrer ein alter Nazi - woraus er überhaupt keinen Hehl machte -, und seine Klassenlehrerin in der Unterstufe begann und schloß jede Unterrichtsstunde mit einer Bemerkung, die frei übersetzt lautete: "Im übrigen meine ich, daß man FDP wählen sollte!" Übrigens vollzog sie später die Wende vom national-liberalen Berufsoffizier der "Nazi"-Wehrmacht, Major a.D. Mende, zum links-liberalen Stasi-IM 'Tulpe' problemlos mit - sie war halt kein weiblicher Silone :-) Aber den nahm eh niemand ernst, denn er unterrichtete ja nur ein Fach, das eh nicht für die Versetzung zählte, anders als Herr W., dem die "Gesinnungsfächer" Deutsch und evangelische Religion oblagen, und für den sein - sorgsam verborgener - Stalinismus und seine - betont zur Schau getragene - religiöse Frömmigkeit offenbar keinen Widerspruch darstellten... Und damit kommen wir wieder nach Italien, wo ja auch lange der Streit tobte um die Frage der Vereinbarkeit von Christentum und Sozialismus/Kommunismus, die vom Vatikan immer wieder verneint wurde, während andere - nicht nur die Anhänger der "Befreiungskirche" in Lateinamerika, über die Dikigoros an anderer Stelle schreibt - einen "compromesso storico" schließen woll[t]en (den Dikigoros hier - wie auch an anderer Stelle - unübersetzt läßt, damit seine deutschen Leser sich selber aussuchen können, ob sie darunter einen "historischen Kompromiß" oder eine "historische Kompromittierung" verstehen wollen).

* * * * *

Secondo Tranquilli kam aus einem relativ wohlhabenden Elternhaus. [Sind diese lateinisch-italienischen Vornamen nicht ungemein praktisch, liebe Leser? Man weiß gleich, daß es der zweitgeborene Sohn der Familie ist, so wie Primo der erste ist, Quinto der fünfte, Octavio der achte und Decimo der zehnte - ja, die Italiener waren mal ein fruchtbares Volk!] Sein Vater war Gutsherr und Großgrundbesitzer in einem Abruzzen-Dorf. Eine solche Abstammung ist wohl notwendiger Ausgangspunkt für eine Lebensreise wie die Silones, denn wer tatsächlich aus ärmlichen Verhältnissen stammt, hat andere Sorgen, als sich den Kopf mit kommunistischen Flausen zu füllen. 1913 starb sein Vater, zwei Jahre später tötet ein Erdbeben seine Mutter und seinen äteren Bruder und ruiniert die Familiengüter. (Nein, liebe Leser, gegen solche Natur-Katastrofen gab und gibt es keine Versicherung!) Mit sechzehn brach Secondo die Schule ab und ging nach Rom, um Journalist zu werden (beim sozialistischen "Avanti [Vorwärts]", wo ein gewisser Benito Mussolini gerade die Brocken hin geworfen hatte, um eine eigene Partei zu gründen). 1918 organisierte er - als Mitglied der italienischen Jungsozialisten - eine Demonstration gegen den Krieg, wurde dafür verurteilt, und damit war die italienische Monarchie für ihn gestorben. 1921 gehörte er zu den Gründern der Kommunistischen Partei Italiens (die größtenteils aus den Jungsozialisten hervor ging), deren faktische Leitung er übernahm, als sie ein Jahr später, nach Mussolinis "Marsch auf Rom", in den Untergrund ging. Bald darauf nahm er seinen neuen Namen an, nach Quintus Silo, einem Führer der "groß-griechischen" (süd-italienischen) "Bundesgenossen" Roms, die im ersten Jahrhundert v.C. um die staatsbürgerliche Gleichstellung mit den Römern kämpften. [Dikigoros verdankt diesen Hinweis einem Kollegen, der selber als Pseudonym den Namen von Roms größtem historischen Feind gewählt hat: Annibale Gentile.] Unterdessen hatte sich sein sauberer Parteigenosse Togliatti, der offiziell KPI-Vorsitzender war, in die Schweiz verpißt. Als es jedoch darum ging, auf einer außerordentlichen Sitzung des Exekutiv-Komitees (das in Wahrheit ein Exekutions-Komitee war) der Komintern in Moskau dem allmächtigen Stalin gegenüber zu treten, war Silone ihm gut genug, um mit zu fahren und den Kopf hin zu halten.

Diese Reise im Mai 1927 wurde für Silone zum Schlüssel-Erlebnis: Er erkannte an der Art und Weise, wie die Funktionäre der Komintern (nicht nur die russischen, sondern auch die deutschen, finnischen, ungarischen und bulgarischen, allen voran Thälmann und Kuusinen) Trotski und Sinowjew zum Abschuß frei gaben, daß der Kommunismus mindestens ebenso schlimm, wenn nicht schlimmer war als der Fascismus. [Ja, so schreibt sich das richtig, liebe deutsche Leser, auch wenn Ihr gewohnt seid, zwischen dem "c" und dem "i" ein "h" einzufügen und Euch damit den Schuh der Urheberschaft anzuziehen. Vergeßt nie - besonders wenn Ihr mit Italienern diskutiert -, daß der Fascismus eine italienische Erfindung ist, daß die Fasces ein altrömisches Symbol sind, so wie die Falanx ein griechisches, die Falange ein spanisches, die Francisque ein französisches und der Swastik ein asiatisches. Und wenn Ihr auf Amerikaner oder Franzosen trefft, die Euch etwas vom "deutschen Faschismus" erzählen wollen, erinnert sie daran, daß die Fasces bis vor einigen Jahren noch Bestandteil ihres eigenen Staatswappens waren, als Symbol der Eintracht, die stark macht.] Und von einem in die Sowjet-Union emigrierten italienischen Arbeiter erfuhr Silone unter der Hand, daß auch die Ausbeutung der Arbeiterklasse im Kommunismus um vieles schlimmer war als die im Kapitalismus - und dieser Vergleich hatte Gewicht, denn die Arbeitsbedingungen in italienischen Fabriken waren damals alles andere als ein Zuckerschlecken. Während Togliatti Stalin gleichwohl bedingungslos die Treue hielt, zog Silone die Konsequenzen: Er verließ die KPI (die sich nicht entblödete, ihn ein Jahr später pro formo ihrerseits auszuschließen), emigrierte in die Schweiz, schrieb sich seinen Frust in einem kurzen Roman über das "armselige, verlassene und zurück gebliebene" 100-Hütten-Dorf "Fontamara [Bitterquelle]" von der Seele und wurde inoffizieller Mitarbeiter des fascistischen Geheimdienstes. (Der Franzose Jacques Doriot war diesen Weg vom Kommunismus zum Fascismus schon vor ihm gegangen - und wie hatte Silone ihn dafür verachtet!)

Halt, werden da einige Silone-"Kenner" rufen, was schreibt Dikigoros denn da? Steht nicht in allen klugen Büchern, daß "Fontamara" ein Buch gegen den Fascismus sei? Ach ja? Habt Ihr es gelesen? Welche Fassung? Die 1930 geschriebene und 1933/34 (auf Deutsch) erschienene Original-Ausgabe, die italienische Ausgabe von 1947 (die Silone - der inzwischen nach Italien zurück gekehrt, Mitglied der Sozialistischen Partei und der Verfassungsgebenden Versammlung geworden war - auf "Antifa" trimmen mußte, damit sie überhaupt erscheinen durfte), deren deutsche Übersetzung (24 Seiten Großformat auf Zeitungspapier) oder das stark veränderte Remake von 1961? Silone legt Wert auf die Feststellung, daß es auf die Sprache der Veröffentlichung nicht ankomme, da Deutsch und "Italienisch" (er meint damit das Fiorentinische, das heute als "Hochsprache" gilt) für ihn ebenso auf der Schule erlernte Fremdsprachen seien wie Lateinisch, Französisch oder Esperanto: Echte "Cafoni" [Einwohner von Abruzzen-Käffern] sprechen und denken in ihrem lokalen Dialekt, und wenn sie sich des Italienischen bedienen, werde der Kern ihrer Gedanken verändert, ja entstellt. Und noch größeren Wert legt Silone auf die Feststellung, daß das Remake von 1961 seine endgültigen Gedanken zu diesem Thema wiedergebe - also nehmen wir uns das vor. Es ist, selbst oberflächlich betrachtet, schwerlich ein anti-fascistischer Roman, sondern die von der Parteipolitik ziemlich unabhängige Schilderung der Sorgen und Nöte einer armen - und daher machtlosen - kleinen Dorfgemeinschaft und ihrer Probleme mit einer Obrigkeit, die sie gnadenlos ausbeutet. Als "Ausbeutung" empfinden die Süditaliener bis heute alles, was von der Zentralregierung kommt (aber die Subventionen aus Brüssel nehmen sie gerne) - und damals waren es halt "die Fascisten". Vorher waren es "die Piemontesen" (Vittorio Emanuele, der erste italienische König der Neuzeit, stammte aus Piemont) - was hatten sie den Abruzzen gebracht? "Das elektrische Licht und die Zigaretten." Der Strom wurde ihnen bald wieder abgestellt, weil niemand im Dorf die Stromrechnung bezahlen konnte (oder wollte), und auf die Zigaretten konnte man gut verzichten - ein Cafone raucht sein Pfeifchen. Dann kam der Fascismus: Einige Habenichtse aus den Nachbardörfern (eigentlich ganz normale, arme Schweine, die sonst buchstäblich verhungert wären) liefen den Schwarzhemden nach und gaben sich als Hilfspolizei-Truppe her, wie so viele deutsche Ex-Kommunisten nach 1933 in die SA eintraten für ein Kochgeschirr voll heißen Eintopfs am Tag - aber das ist eine andere Geschichte. Ja, es kam auch zu Übergriffen und Vergewaltigungen; aber selbst in der Ausgabe von 1947 behauptet Silone nicht, das sei "typisch fascistisch" - er wußte wohl auch, daß eher das Gegenteil zutraf: Wenn jemand gegen solche Auswüchse hart durchgriff, dann waren es gerade die Rechten.

Gewiß, "Fontamara" ist sozialkritisch, aber Silone legt seinen Personen auch Kritik am parlamentarischen Demokratismus in den Mund. Zunächst beschreibt er ausführlich, wie ein korrupter Anwalt sich die Wählerstimmen kauft, einschließlich der "toten Seelen", deren Sterbefälle er dem Standesamt einfach nicht meldet (die Cafoni sind durch die Bank Analfabeten). Und selbst wenn es anders wäre - wen soll ein armes Abruzzen-Schwein schon wählen? "Eine Regierung, die aus Wahlen hervor gegangen ist, hat Angst vor den reichen Leuten, die die Wahlen entscheiden," sagt Michele, "wenn aber einer allein regiert, haben die Reichen Angst vor ihm. Jede Regierung setzt sich aus Gaunern zusammen. Für die Cafoni ist ein einziger naturgemäß besser als 500 Gauner. Ein großer Dieb, und sei er noch so gierig, hat doch nicht so viel Appetit wie 500 kleine Diebe." Insgeheim, nein ganz offen, erwarten sich die armen Tagelöhner von jeder neuen Regierung das gleiche: daß endlich das durch die Trockenlegung des Fucino-Sees gewonnene Neuland des Fürsten Torlonia enteignet und an sie verteilt (oder wenigstens verpachtet) wird. Und als Mussolini das nicht tut, sind sie enttäuscht, nicht mehr und nicht weniger. Ist das "Anti-Fascismus"? Wohl kaum; und alle anderen unerfreulichen Erfahrungen mit der Obrigkeit (oder faulen, geldgierigen und versoffenen Rechtsanwälten und Priestern), die der Roman schildert, kann man in so ziemlich jedem System unter so ziemlich jeder Regierung machen. Im Grunde ihres Herzens sind die Cafoni Monarchisten geblieben und träumen - wie Baldissera erklärt- von der guten alten Zeit, "als zwischen den Hütten der Armen und dem Königsschloß noch keine Kasernen und Regierungs-Gebäude standen, und der Herrscher sich einmal im Jahr als Bettler verkleidete und die Märkte besuchte, um zu erfahren, worüber das Volk sich beklagte. Später sind dann die Wahlen gekommen, und die Herrscher haben die armen Leute aus den Augen verloren." Soviel dazu, was Silone, pardon, der durchschnittliche Abruzzen-Cafone von "Demokratie" hielt...

Nein, liebe Leser, das war noch längst nicht alles; das war vielmehr, wie Dikigoros ausdrücklich angemerkt hat, bloß die Oberfläche. Um die tiefgründige Wahrheit zu begreifen, muß man "Fontamara" in engem Zusammenhang lesen mit dem eingangs erwähnten "Gott, der versagte". Was antwortet Silone dort dem bulgarischen Kommunisten, als der ihn fragt, was ihn denn daran störe, Trotski zu verurteilen, ohne das inkriminierende Schriftstück gelesen zu haben: "Dazu müßte ich dir erstmal erklären, was mich am Fascismus stört." Im Remake von 1961 stößt er den Leser, der nicht gerade mit Scheuklappen durch die Seiten blättert, mit der Nase drauf. Wodurch wird das Dorf letztendlich ruiniert? Dadurch, daß ein zugereister Kapitalist (nicht Fascist!) das Wasser des Dorfbaches umleiten läßt auf seine Felder, die er gerade einem anderen Gutsbesitzer für wenig Geld abgeluchst hat, da sie ja schlecht bewässert seien. Wie bringt er das fertig? Durch fascistische Gewalt? Mitnichten - durch einen pseudo-demokratischen Betrug: Eines Tages kommt ein "fremder Herr" namens Don Pelino ins Dorf mit einem Packen leerer Briefbögen und nötigt den Cafoni ihre Blanko-Unterschriften ab. "Was soll denn das werden?" - "Eine Eingabe." - "Was für eine Eingabe?" - "Eine Eingabe an die Regierung." Dikigoros zitiert den folgenden Passus wörtlich: "Die Eingabe selbst war nicht da. Don Pelino kannte sie nicht. Seine Vorgesetzten würden die Eingabe verfassen. Er hatte nur die Pflicht, Unterschriften zu sammeln. Und die Cafoni hatten die Pflicht zu unterschreiben. Jedem seine Pflicht. 'Habt ihr verstanden?' fragte er. 'Die Zeiten sind vorbei, in denen die Cafoni unwissend und verachtet waren. Wir haben jetzt eine neue Obrigkeit, die großen Respekt vor den Cafoni hat und ihre Meinung kennen lernen will. Also unterschreibt und schätzt die Ehre, die euch die Behörde erweist, indem sie einen Beamten schickt, um eure Ansicht zu erfahren.'" (Am Ende unterschreiben alle, bis auf einen; aber dessen Name wird einfach so mit drauf geschrieben.) Analysieren wir das mal, liebe Leser. Die erste Hälfte findet sich fast wortgleich in "Der Gott, der versagte" wieder: Trotskis angeblich so konter-revolutionäres Schreiben ist nicht da. Auch Thälmann, den Silone darauf anspricht, kennt es nicht. Sein Vorgesetzter Stalin hat die Resolution verfaßt, blanko. Thälmann hat nur die Pflicht, Unterschriften zu sammeln. Und die Delegierten aus Italien haben die Pflicht zu unterschreiben. Jedem seine Pflicht. (Und später liest Silone, daß Stalin für die Presse-Erklärung auch die Unterschriften der englischen und amerikanischen Delegation mit drauf gesetzt hat, obwohl die sich geweigert hatten, zu unterschreiben. Geht es noch deutlicher? Und die zweite Hälfte? Diesen "demokratischen" Schmu hörten die Italiener fast wortgleich nach dem Zweiten Weltkrieg, als sie darüber abstimmen sollten, ob die Monarchie abgeschafft werden sollte (sie wurde abgeschafft), und sie hören ihn seither immer wieder, von jeder neuen "demokratischen" Regierung.

An einigen Stellen hilft Silone etwas nach, indem er Parallelen zieht, die es eigentlich nicht gab: Im Roman ist es plötzlich verboten, ohne Paß in die Hauptstadt Rom zu fahren - daß das nicht stimmt, schreibt er ein paar Seiten weiter selber; denn zwei Cafoni fahren ja unbehelligt auch ohne Paß nach Rom. Aber in der Sowjet-Union war es so: Wer nach Moskau (oder in irgendeine andere attraktive Stadt) fahren will, braucht einen Paß. "Das war doch im Krieg schon mal so," sagt ein Dörfler. Auch das stimmt nicht - oder jedenfalls nicht in Italien. Wohl aber in Rußland: Dort wurde gleich 1914, noch vor Kriegsausbruch, mit der Mobilmachung, auch die Paßpflicht eingeführt. Auch das offizielle Verbot des Politisierens ("Es ist verboten, sich Gedanken zu machen") gab es in Italien nie - auch nicht unter dem Fascismus -, wohl aber in der SU. Einige links Angehauchte in Fontamara sprechen vom besseren Leben in Rußland, da sagt einer: "Rußland? Sagt mir die Wahrheit? Gibt es dieses Rußland überhaupt?" Die Frage stellen heißt sie verneinen, denn Silone hat ja inzwischen geschrieben, wie es wirklich war in der SU. Die Quintessenz seiner Überlegungen legt er Berardo, dem Romanhelden, in den Mund (der später im Gefängnis erselbstmordet wird): "Redefreiheit? Wir sind doch keine Advokaten. Pressefreiheit? Wir sind keine Zeitungsdrucker. Warum sprichst du nicht lieber von Arbeitsfreiheit, von dem Recht auf Arbeit, von dem Recht, Land zu besitzen?"

"Fontamara" endet ziemlich abrupt mit dem Tode der meisten Hauptpersonen; aber Silone betont, daß seine folgenden Romane trotz des scheinbaren Bruchs, den seine Kritiker entdeckt haben wollen, die Fortsetzung darstellen.

Nach der Neufassung von "Uscita die Sicurezza" nahm der politische Druck auf Silone in Italien zu. "L'avventura d'un povero cristiano [Das Abenteuer eines armen Christen]" war 1966 das letzte Werk, das er schrieb; danach verstummte er und emigrierte erneut in die Schweiz, wobei er - wie schon 1916 beim Abgang von der Schule und 1930 bei seiner ersten Flucht aus Italien - "gesundheitliche Gründe" vorschützte (was allemal gute Gründe waren, denn gesundheitlich war er nie ganz auf der Höhe).

Zur Sprache:

Silone schreibt stilistisch nicht gut, er schreibt eher holperig. Leser, die ihn nur in deutscher Übersetzung kennen, merken das nicht. Man sagt, daß Übersetzungen wie Frauen seien: entweder schön oder treu. Wenn Dikigoros mit juristischen Verträgen zu tun hat, muß er sich naturgemäß auf letzteres besinnen; Silones literarische Übesetzerin dagegen, Hanna Dehio, hat sich für die erste Alternative entschieden:

I motivi della mia perplessità erano assai complessi

Die Ursachen meiner Unschlüssigkeit waren sehr verschiedener Art.

(Die herbe Einfachheit geht dabei allerdings verloren.)

Non è con facilità che ne parlo. Wie schwerfällig - halt wie ein Abruzzenbauer sich ausdrückt!

Flüssiger: Non è facile per me [di] parlarne.

Ma un particolare che dà gravità di tragedia a quel destino, era che... wie umständlich - man spürt richtig, wie Silone dieses Schicksal seines Bruders nahe geht und wie schwer es ihm fällt, sich auszudrücken.

Dehio macht daraus mit Eleganz, fast mit Leichtigkeit: "Die besondere Tragik seines Schicksals lag darin..."

Nein - so hat Silone eben nicht geschrieben! Er hat um jedes Wort gerungen, nicht nur aus sprachlichen, sondern auch aus inhaltlichen Gründen!

(...)

* * * * *

Ein gutes halbes Jahrhundert nachdem "Ein Gott, der keiner war" erschienen war, griff ein aus Deutschland in die USA emigrierter Wirtschafts-Wissenschaftler den Titel wieder auf und nannte seine Untersuchung der zu Beginn des 21. Jahrhunderts herrschenden politischen Verhältnisse: "Demokratie - ein Gott der keiner war". (Sein deutscher Übersetzer bzw. dessen Verlag machte es noch origineller: "Demokratie - ein Gott der keiner ist :-) Sein ebenso überzeugendes wie vernichtendes Fazit: Die heutige Parteien-"Demokratie" ist um keinen Deut besser als der real-existierende Sozialismus unseligen Angedenkens. Dikigoros will das an dieser Stelle lediglich nachgetragen haben; er hat Euch einschlägige Besprechungen auf der Ausgangsseite verlinkt.

(Fortsetzungen folgen)

[Ende]

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