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Joán Ujházy

Bildnis und Totenschädel Stirners

Was wissen wir eigentlich von Max Stirner? Eigentlich gar nichts. Zwar wird behauptet, Mackays Stirner-Biographie sei ein Standardwerk (Jochen Knoblauch: Die zweite Verstaatlichung von Max Stirner. In: espero, 3. Jg., Nr. 8, September 1996, S. 23), aber was bot dieses Werk wirklich?! Es konnte nur das sein, was er durch Erzählungen von noch zu der Zeit seiner Stirner-Recherchen lebenden Zeitgenossen Max Stirners, wie z. B. Hans von Bülow oder Rudolf von Gottschall usw. usf. erfuhr. Im Grunde genommen trug er „nur“ Eckdaten des Stirnerschen Lebens zusammen, versehen mit an Stirner erinnernden überlieferten Anekdoten.

Nun soll hier nicht der Eindruck entstehen, daß das, was Mackay geleistet hat, ein Nichts sei. Was er zusammentrug, ist wesentlich mehr, als das, was bis zu seiner Zeit über Stirner bekannt war. Dennoch: die von Mackay (ich sag’s jetzt mal ganz „böse“) „angeblich“ benutzten Dokumente für die Erstellung seiner Stirner-Biographie wurden von ihm in diesem Werke nicht genannt, so daß manches, was er über Stirner schrieb, auch in Zweifel gezogen werden konnte. Zwar kündigte Mackay in der 2. Ausgabe seiner Stirner-Biographie an, dieses Material der interessierten Öffentlichkeit zu übergeben, indem es nach seinem Tode an das Britische Museum gehen würde, aber daraus wurde meines Wissens nichts. Zum einen hat Mackay sein Stirner-Material dem Marx-Engels-Lenin-Institut in Moskau für wenig Geld überlassen, zum anderen ordnete er an, daß alle seine persönlichen Sachen, also auch alle Unterlagen und Briefe Max Stirner betreffend, zu vernichten seien, was bedauerlichweise zum größten Teil geschah. Und der Anarchismus-Forscher Max Nettlau hatte u. a. in einer Rezension der Stirner-Biographie Mackay dazu aufgefordert, diese von ihm benutzten Quellenangaben in einer gesonderten Broschüre zu veröffentlichen (DER EINZIGE. Vierteljahresschrift des Max-Stirner-Archivs Leipzig, Heft 3(7), 3. August 1999, S. 31/32*). Aber diesem Wunsch ist Mackay nie nachgekommen.

Aber wozu diese Ausführungen? Nun wissen wir das von Stirner, was uns Mackay in mühevoller Arbeit zusammentrug. Wissen wir aber z. B., wie Stirner ausgesehen hat? Es gibt ausführliche Beschreibungen, die Mackay wohl auf Grund der Zeugenaussagen in seiner Biographie machte. Diese möchte ich nicht in ihrer Ausführlichkeit wiederholen. Diese können daselbst nachgelesen werden.

Was uns alle aber mehr interessieren würde, ist sein Aussehen angesichts eines an uns überlieferten Bildes. Jedoch gibt es dergleichen nicht.

Das einzig nachweisbare Bild, das je entstand, wurde vom Maler und späteren Schriftsteller Ludwig Pietsch angefertigt. Er schrieb in seinen Memoiren: „... [Bauers] Zartheit und Innigkeit der Empfindung, die niemand, der ihn nur oberflächlich kannte, in ihm vermutet haben würde, bekundete sich besonders in seinem Verhalten zu den wenigen Menschen, für die er wahre Zuneigung oder Liebe hegte. Der eine derselben war sein alter, verwitweter Vater ... Der andere war Max Stirner, ein einsamer, weltverachtender, mutiger, tief- und scharfsinniger Denker, wie Bruno, der in den vierziger Jahren mit seinem sozialphilosophischen Werk: ‚Der Einzige und sein Eigentum‘ der ersten, reifen Frucht dieses ganz eigenartigen Denkens, die gebildete Welt und nicht zum wenigsten auch diejenigen, welche es nie gelesen oder doch nie verstanden hatten, in heftige Aufregung versetzt hatte, seitdem aber fast gänzlich verstummt war. - An einem der letzten Junitage des Jahres 1856 kam Bauer mit einer Bitte um einen Freundschaftsdienst zu mir. Max Stirner sei gestern gestorben. Es läge ihm viel daran, ein Bild, eine Zeichnung des Toten von mir zu erhalten. Ob ich hingehen und eine solche für ihn ausführen wolle. Mich für die Arbeit und die Zeit zu entschädigen, zu honorieren, vermöge er freilich nicht. Natürlich bat ich ihn, über diesen Punkt kein Wort zu verlieren und erfüllte ihm seinen Wunsch mit um so größerer Freude, als der Kopf seines toten Freundes, in seiner charaktervollen Formation, in welcher sich die geistige Bedeutung des Verstorbenen mit voller Entschiedenheit ausprägte, mir als ein höchst interessanter und zeichnenswerter Gegenstand erschien. Bauers Freude an der fertigen Zeichnung und seine Erkenntlichkeit äußerte sich in seiner knappen, wortkargen Weise, in der sich doch eine mir sehr wohlthuende Wärme unverkennbar kundgab.“ (Ludwig Pietsch: Wie ich Schriftsteller geworden bin. Erinnerungen aus den Fünfziger Jahren. Zweite vermehrte und verbesserte Auflage. Erster Band. F. Fontane & Co. Berlin 1898, S. 263-266.) Obwohl Mackay davon wußte, stellte er zwischen den von ihm in seiner Biographie benannten „Bekannten“ Bruno Bauers und dem Maler Ludwig Pietsch keine namentliche Verbindung her -, dies ist verwunderlich und zugleich schade, denn er bat diesen nicht, den Versuch zu wagen, Stirner aus dem Gedächtnis zu zeichnen. Vielleicht wäre hier etwas gelungen, was aus Mackays Sicht und auf Grund seiner Befragungen von Augenzeugen Friedrich Engels mit seiner Stirner-Zeichnung nicht gelungen sein soll.

Während Mackay der Auffassung war, daß die Pietschsche Stirner-Zeichnung (und eine weitere vermutete) „unrettbar verloren“ gegangen sei, wollte sich 1921 der damals 32jährige Stirner-Forscher Rolf Engert nicht damit abfinden.

Eigens zu diesem Thema gab er das zweite und dritte Heft (in einer Ausgabe) seiner „Neuen Beiträge zur Stirnerforschung“ heraus: „Das Bildnis Max Stirners. Das Bild der Freien“. Darin veröffentlichte er zwei Zeichnungen: mit diesem Hefte hoffte er, eine Sensation anbieten zu können, denn eines Tages erhielt er von einem jungen Arbeiter eine Zeichnung, die angeblich den jungen Stirner (wahrscheinlich in der Zeit als Student in Berlin) darstellte. (Eine ausführliche Schilderung dieser Umstände und Zusammenhänge siehe: DER EINZIGE. Nr. 2, 3. Mai 1998, S. 6-10: „Max Stirner und die ‚Liszt‘ des Faust R. Wie ein Berliner Tischler zwei Bayreuther Persönlichkeiten ‚synthetisierte‘ und drei Generationen narrte.“ Von Paul Jordens.) Es blieb nicht aus, daß Engert erfuhr, einem Irrtum unterlegen gewesen zu sein. Hätte übrigens auch Paul Jordens genauer recherchiert, hätte er feststellen können, daß auch die Aufdeckung dieses Irrtums keine Sensation war, denn einige Jahre nach der Veröffentlichung dieser Engert-Schrift erkannte Leo Kasarnowski „es als Bildnis des jungen Franz Liszt ... Gemeinsam haben er und ich es dann als eine, übrigens sehr mangelhafte, Zeichnung nach einem Lisztbilde von Ary Scheffer erweisen können. Rolf Engert hat darauf die Zeichnung als Stirnerbildnis preisgegeben.“ (Hans Sveistrup: Stirners drei Egoismen. Wider Karl Marx, Otmar Spann und die Fysiokraten. Rudolf Zietzmann Verlag, Lauf/Plegnitz 1932, S. 99**) - Es sei noch am Rande erwähnt, daß zwar Engert, wie Sveistrup es schreibt, dieses (wie wir jetzt wissen) falsche Bild unter „Vorbehalt veröffentlicht hatte“ (Ebenda), dennoch war Engert so sehr erfreut darüber, vielleicht doch das Jugendbildnis Stirners gefunden zu haben, daß er es über seinen Schreibtisch in seiner Dresdener Wohnung am Wachwitzer Weinberg aufhängte. Er wird es dann schweren Herzens wieder abgehängt haben.

Heißt nun auch dies alles, daß wir je darauf verzichten müssen, jemals zu erfahren, wie Stirner wirklich ausgesehen hat?

Es gibt vielleicht noch eine Möglichkeit [neben anderen Möglichkeiten, die nur dank eines „notwendigen Zufalls“ (Kurt W. Fleming) Wirklichkeit werden können, was sonst jegliche Forschung nicht vermag], und diese Möglichkeit besteht in der Existenz eines Totenschädels. Als Mackay im Laufe seiner Recherchen das Stirner-Grab auf dem Friedhof der Sophiengemeinde fand, entwendete er den darin befindlichen Schädel. Etwa bis 1916 (?) blieb er in seinem Besitz. Als aber Mackay der finanzielle Ruin drohte, machte er öffentlich, alles zu Stirner in seinem Besitz Befindliche zu vernichten, wenn sich nicht Leute fänden, die ihn aus dieser Kalamität herausholten. Zu diesem Grunde muß wohl die „Vereinigung der Stirnerfreunde“ entstanden sein, die „den offen ausgesprochenen Zweck“ hatte, „Geldmittel für seinen [Mackays; J. U.] Lebensunterhalt aufzubringen. In ihren Besitz übertrug Mackay dafür sein Stirner-Archiv mitsamt dessen Schädel, den er bei den Fundamentierungsarbeiten für die Grabplatte geborgen hatte, aber, da nicht ganz rechtmäßig erworben (durch ein Goldstück an den Maurer!) kaum jemand zeigte, ja sogar nur ungern davon sprach. Selbst mir hat er ihn niemals gezeigt, obwohl Gelegenheit genug dazu gewesen wäre.“ (John Henry Mackay als Mensch. Auf Grund langjährigen, freundschaftlichen Verkehrs dargestellt von Friedrich Dobe. Edition Plato, Koblenz 1987, S. 82) „Der Dichter verkaufte dann das Stirner-Archiv mitsamt dem Schädel an Dr. Rolf Engert für 2000.- Mark.“ (Ebenda, S. 83) Nach der Auflösung der „Vereinigung der Stirnerfreunde“ hielt Mackay sich für berechtigt, „sein Eigentum an dem Archiv zurückzunehmen“. Was von diesem Archiv bei Engert verblieb bzw. was davon für 28.000.- Mark an das o. g. Moskauer Institut ging, weiß ich nicht. Sicher dagegen ist, daß der Schädel in dem Besitz von Rolf Engert verblieb. Nach seinem Tode im Jahre 1962 ging der Schädel an seine zweite Frau Ursula und dem gemeinsamen Sohn Frank über.

Kurt W. Fleming, Leiter des Max-Stirner-Archivs Leipzig, hatte eines Tages die geniale Idee, daß es doch möglich sei herauszufinden, ob dieser Totenschädel wirklich der von Stirner sei. Einerseits wissend, wo sich der Schädel befand, andererseits wissend, daß die moderne Kriminologie in der Lage ist, Gesichter auf Grund vorliegender Totenschädel zu rekonstruieren, setzte er sich sowohl mit den Engerts als auch mit entsprechenden Experten in Verbindung. Ohne jetzt indiskret werden zu wollen, sei nur soviel gesagt, daß aus diesem Projekt nichts wurde. Frau Engert und ihr Sohn taten sich mit diesem Projekt sehr schwer. Vielleicht schreckte sie auch ab, daß für die Durchführung dieses Unternehmens sehr viel Geld aufgebracht werden müßte, denn die Rekonstruktion eines Gesichtes anhand eines vorliegenden Totenschädels ist alles andere als billig. Andererseits gab es die vage Zusage seitens eines Experten, dies auch unter Umständen umsonst zu machen.

Was hätte die Idee von Kurt W. Fleming zur Folge?

1. Wir hätten erfahren, wie dieser Mensch wirklich ausgesehen haben mag.

2. Wir hätten erfahren, ob es sich bei diesem Schädel um den eines Mannes oder einer Frau gehandelt hätte.

3. Denn folgernd aus 2. gibt es die Vermutung von Jochen Knoblauch, daß das Stirner-Grab - es war ja ein Armenbegräbnis, das ihm zuteil wurde - möglicherweise mehrmals benutzt wurde, daß also gar nicht von der Gewißheit ausgegangen werden kann, daß es sich bei besagtem Schädel wirklich um den von Max Stirner handelt.

Hätte sich letzteres herausgestellt, wären wir wieder am Anfang, nämlich immer noch nicht zu wissen, wie Stirner wirklich aussah.

Wäre es aber zu der Sensation gekommen, daß es zum einen der Schädel eines Mannes ist, daß zum andern das dann rekonstruierte Gesicht nahezu identisch ist mit dem, was uns Mackay und Engert über das Aussehen Max Stirners überliefert haben, würde sich das Bild[nis] Stirners vollends schließen. Denn die Ganzheit eines Menschen ist nicht nur sein Geist, sondern auch sein Körper. Was aus der ganzen Geschichte noch wird, ist abzuwarten. Uns bleiben nur die Zeichnungen, die einst Engels angefertigt hat. Da ist zum einen die Zeichnung, auf der er den Kreis der „Freien“ abbildete. Darunter befindet sich auch Max Stirner, sich mit dem linken Arm auf einen Tisch stützend. Zu diesem Bild schrieb Engert in der o. g. Ausgabe seiner Stirnerforschung (S. 7), daß es sich für ihn zweifelsfrei um eine „zeitgenössische[n] Darstellung Stirners“ handelt. Es bleibe für ihn „nur die Frage offen“, „inwieweit er [Engels; J. U.] ihn [Stirner; J. U.] naturgetreu wiedergeben wollte und konnte. ... Während er aber dabei die übrigen Gestalten mehr oder weniger stark karikierte, tritt diese Absicht bei Stirner fast gar nicht zutage. ... offenbar bot auch sein Äußeres der Karikatur keine besonders günstigen Ansatzpunkte.“ (Ebenda)

Zum anderen gibt es die aus 50jähriger Erinnerung angefertigte Zeichnung, von der wiederum Mackay behauptet, daß sie mitnichten Max Stirner darstelle. Diese letztgenannte Zeichnung wurde oft Ausgangspunkt für weitere Stirner-„Porträts“ (siehe: DER EINZIGE. Nr. 2, 3. Mai 1998, S. 3-5), die aber allesamt keinen Anspruch auf Authentizität erheben können.

FAZIT: Wenn sich die Engerts doch entschließen könnten, der genialen Idee von Kurt W. Fleming zu folgen und die Rekonstruktion des Gesichtes anhand des vorliegenden Totenschädels zu betreiben, würden wir recht bald wissen, was es mit diesem und mit dem Bildnis, dem Aussehen, Stirners auf sich hat.

Seien wir eingedenk dessen, was Stirner mal schrieb: „An großen wie an befreundeten Menschen kümmert uns Alles, selbst das Unbedeutendste, und wer uns Kunde von ihnen bringt, erfreut uns sicherlich.“ (Rheinische Zeitung. Nr. 132. Köln, Donnerstag den 12. Mai 1842, S. 2.) Die Realisierung dieser Flemingschen Idee entspräche mit Sicherheit den Intentionen Rolf Engerts, der eigens dafür ein über 30seitiges Heft herausgab, um dieser Frage auf den Grund zu gehen. Ich bin mir sicher: Würde Rolf Engert heute noch leben und wüßte er von den Möglichkeiten, die die Wissenschaft jetzt bietet, wüßten wir schon längst, was es mit diesem Schädel auf sich hat, ob dieser von Stirner stamme und - wie Stirner ausgesehen hat!

Engert schrieb in der o. g. Ausgabe seiner Stirnerforschungen (S. 5), daß er beide Zeichnungen (auch wenn die eine sich als Fälschung herausstellte) deshalb der Öffentlichkeit übergab, „weil ich auch in ihm [„das unsichere, zurzeit noch nicht letztgültig beweisbare Bildnis“; Einfügung aus diesem Bericht von mir; J. U.] zum mindesten ein wertvolles Hilfsmittel für weitere Nachforschungen erblicke und es mir deshalb wichtig erscheint, daß es in die Hände aller Stirnerinteressenten gelangt.“ Engert war sehr davon überzeugt, daß doch eines Tages, „im Laufe der Zeit“ weitere Bildnisse Stirners ans Licht kommen werden. Scheinbar gab es zu seiner Zeit nicht die Möglichkeit, etwas aus dem Schädel zu machen, also das Gesicht zu rekonstruieren.

Heute aber haben wir diese Möglichkeit; wann aber wird sie genutzt!?!

Joán Ujházy

* Es handelt sich hier um jenes Heft des Max-Stirner-Archivs Leipzig, das von dem „Stirner“-Mackayaner Uwe Timm im espero 21/22, November 1999 extrem verrissen wurde; eine unter allem Niveau stehende „Kritik“.
** In welchem Jahr genau die Aufdeckung dieses Irrtums gemacht wurde, weiß ich momentan nicht. Es ist aber anzunehmen, daß dies erst Anfang der 30er Jahre geschah. Zum einen wurde noch im Jahre 1924 in der “Philosophenecke” der Gastwirtschaft Stirnerhaus besagtes Bild, das in Wirklichkeit den jungen Liszt darstellt, aufgehängt (siehe: In der Philosophenecke des Stirnerhauses zu Bayreuth. Von Bernhard Rost. In: Bayreuther Land, 2. Jg., 15. August 1928 (!!!), Nr. 8, S. 161). Und noch 1931 wurde in der 5. Auflage des Buches Wegweiser. Studien zur Geistesgeschichte des Sozialismus”, in welchem Max Adler einen ausgezeichneten Artikel über Stirner verfaßte, dasselbe Foto “kritiklos als echt” wiedergegeben. (Sveistrup, a. a. O.)

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