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Yasnas Lächeln

von Sabine Scholz


Nachts bei Vollmond, wenn alle schlafen, geht er auf den Friedhof, wo noch tiefer geschlafen wird. Er sucht Yasna. Da ist ihr Grab, doch es ist leer. Man hat ihn getäuscht. Sie hatten gedacht, er würde seine Rosen dorthin legen, als ob ein Ort eine Erinnerung auslöschen könnte. Doch er gibt nicht auf. Er wird sie finden und sie wird seine Rosen nicht mehr brauchen, weil sie ihn hat. Für immer und ewig vereint.

Die Erde ist feucht, als er die Blumenkränze beiseite geschoben hat. Der Duft ist intensiv, er atmet ihn ein, während er sich niederkniet. Dann beginnt er mit bloßen Händen zu graben. Es vergeht eine Stunde, eine Wolke schiebt sich vor den Mond, es wird noch dunkler und er kann nun überhaupt nichts mehr sehen. Er kauert in einem metertiefen Loch. Die Fingerspitzen bluten, doch er spürt keinen Schmerz. Er arbeitet keuchend weiter. Da endlich stößt er auf Holz. Sein Herz beginnt zu rasen. Der Schweiß läuft ihm über das schmerzverzerrte Gesicht. Endlich! Er ist am Ziel. Nichts mehr trennt ihn von Yasna. Gleich wird er sie in die Arme nehmen und alles wird so sein wie früher. 

Er holt ein Brecheisen hervor, das er unter der Jacke verborgen hat. Mit all seinen Kräften stemmt er sich dagegen, der Deckel knarrt, gibt nach und springt auf. Er zögert, doch dann blickt er hinein.
Yasna schläft. Friedlich liegt sie da in ihrem weißen Kleid. Ein Strahl des Mondlichts erhellt ihr liebliches Gesicht. Weinend vor Glück nimmt er sie in die Arme. Tränen fließen über sein Gesicht. Erfüllt von Dankbarkeit drückt er ihr einen zärtlichen Kuss auf die Lippen. Doch dann hält er plötzlich inne.
"Freust du dich nicht, meine Liebste?" stammelt er und heftet seinen Blick auf ihre geschlossenen Augen.
"Sieh mich an!" Sie reagiert nicht.
"Yasna, warum lächelst du nicht?" Er ist verzweifelt.
"Ich habe dir etwas mitgebracht." 
Mit hektischen Bewegungen greift er in seine Jackentasche und holt eine Praline hervor. Er will sie ihr in den Mund schieben. Doch plötzlich fährt er zusammen.
"Liebste, was ist mit dir? Warum antwortest du nicht?" Ein Schluchzen durchfährt ihn. 
"Das darfst du mir nicht antun! Yasna, liebst du mich denn nicht mehr?"
Keine Antwort, nur das Rauschen der Bäume ist zu vernehmen.
Er muss sie bestrafen. Sie hat kein Recht, ihn so zu behandeln.
Er tut, was er ungern tun muss. 
Danach bleibt er lange Zeit neben ihr kauern. Ihr Kopf liegt auf seinem Schoß. Er wird ihr Lächeln mit sich nehmen. Für immer.

Am nächsten Tag kurz nach der Öffnungszeit sitzt der Friedhofsaufseher bei seiner zweiten Tasse Kaffee und blättert in der Zeitung. Plötzlich hört er fürchterliche Schreie. Er stürzt aus dem Büro.
Da sieht er auch schon die Frau des alten Mannes, den sie gestern beerdigt haben, auf sich zulaufen. 
"Hilfe, Hilfe!" schreit sie.
"Was ist denn los?" fragt der Aufseher.
"Oh Gott, mein armer Mann!" Ihre Stimme droht zu versagen.
"Was ist passiert?" fragt er.
Die Frau packt ihn an der Jacke und sieht ihn mit aufgerissenen Augen an. Sie versucht zu sprechen, doch kein Laut kommt über ihre Lippen.
"Nun sagen sie doch, was los ist!" Der Aufseher wird ungeduldig.
"Mein Gott, es ist so schrecklich!" schreit die Alte schließlich.
Der Aufseher reißt sich von ihr los, sie sackt zusammen. Er geht auf das frische Grab zu. 
Die Blumen und Gebinde mit den Schleifen liegen verstreut herum. Neben dem Grab erhebt sich ein Hügel Erde. Jemand muss das Grab gewaltsam geöffnet haben. Vorsichtig nähert er sich. Er hat in seinem Leben schon viel gesehen, aber das, was ihn erwartet, schockt selbst ihn.

Der alte Wiesner, das heißt, das was von ihm übrig ist, liegt nackt neben dem aufgebrochenen Sarg. Man hat ihm den Kopf abgetrennt.
Dem Aufseher wird es übel, er hält sich die Hand vor den Mund und versucht, sich zu beherrschen. Sein Blick schweift umher, aber er kann den abgetrennten Kopf des Toten nirgends entdecken. 
Zur gleichen Zeit geht die siebzehnjährige Karoline zur Schule. Sie ist entschlossen, heute in der großen Pause endlich ihre Jungfräulichkeit zu verlieren. Sie kann es gar nicht mehr erwarten, diesen Makel von sich abzustreifen. Alle ihre Freundinnen sind schon erfahren auf diesem Gebiet, nur sie nicht. 

Karoline kontrolliert noch einmal, ob sie auch wirklich die Präservative in ihren Rucksack gesteckt hat. Sie denkt an Oliver, den süßen Jungen aus der 13A, Deutscher Meister im Turmsprung. Er wird sie heute zur Frau machen. Das hat sie so seit langem geplant.

Als sich Karoline in der großen Pause neben Oliver stellt und ihn von ihrem Wurstbrötchen abbeißen lässt, ist sie enttäuscht. Oliver geht gar nicht auf ihre Andeutungen ein. Er möchte lieber mit ihr in die Disco gehen. Na ja, Tanzen ist gar nicht so schlecht. Da kommt man sich auch näher, und im Dunkeln geht dann alles wie von selbst. Sie ist wieder optimistisch und grinst Oliver herausfordernd an, als sie seine Einladung für denselben Abend annimmt.

Yasnas Kopf liegt auf seinem Kopfkissen. Zärtlich streichelt er ihre Wange.
"Du bist so blass, mein Kind." sagt er leise.
"Jetzt bist du wieder so wie ich dich liebe. Ich habe keinen Grund mehr, dir böse zu sein." 
Er gibt ihr einen leidenschaftlichen Kuss. Doch ihre sonst so vollen Lippen sind eigenartig spröde, fast ausgetrocknet. Er holt ein Glas Wasser und setzt er es ihr vorsichtig an die Lippen.
"Trink mein Liebling."
Das Wasser läuft über Yasnas Gesicht, ihr Mund bleibt verschlossen.
"Du weinst?" flüstert er und leckt versonnen die gallertige Flüssigkeit aus ihren Augenhöhlen. Es schmeckt widerlich, doch er zeigt es nicht, weil er sie liebt.
"Weißt du noch, Yasna, wie wir über die Wiesen gegangen sind, nach Sommer hat es da geduftet? Wie dein schönes goldenes Haar." 
Verzückt versucht er eine Locke um seinen Finger zu wickeln. Ihr Haar ist plötzlich so kurz und gar nicht geschmeidig.

"Habe ich dir nicht verboten, dein Haar zu schneiden!" herrscht er sie an. Er hat sich erhoben und ist außer sich.
"So kann das nicht weitergehen mit uns. Entweder du versuchst, meinen Wünschen zu entsprechen oder ich bringe dich sofort wieder zurück. Und was das bedeutet, weißt du selbst am besten." Er ist wütend.
Yasna antwortet nicht. Schweigend liegt sie da und sieht aus den leeren Augenhöhlen. Er wird rasend vor Wut, wenn sie nicht tut, was er von ihr verlangt.

Zornig packt er den Kopf und schleudert ihn gegen die Wand. Ein dumpfer Schlag ertönt. Der Kopf bricht entzwei. 
Er tritt in vorwurfsvoller Haltung neben sie, mustert das, was von ihr übrig geblieben ist und versetzt ihr dann einen Tritt mit den schweren Stiefeln.
"Ich hoffe, du hast mich verstanden!" schreit er triumphierend.
Yasnas zerschmetterter Kopf erinnert an ein geschlachtetes Lamm.

Oliver ist zusammen mit einem Freund erschienen, um Karoline für die Diskothek abzuholen. Der Freund fährt einen seltsamen Wagen. Er sieht aus wie ein Leichenwagen. Karoline findet das interessant. Sie lachen viel unterwegs. Der Freund ist älter. Sie schätzt ihn auf dreißig, hat ihn aber vorher noch nie gesehen. 

"Möchtest du eine Praline?" fragt er und legt ihr eine in die Hand. Karoline sitzt vorne neben ihm. Oliver möchte auch eine haben. 
"Danke." Die Praline schmeckt sonderbar, so als hätte sie monatelang herumgelegen.

Die Diskothek ist überfüllt. Das stört sie aber nicht, da ihr die Musik gefällt. Karoline tanzt die ganze Zeit mit dem seltsamen Freund. Oliver hat sich zu seiner Clique gestellt und scheint sie völlig vergessen zu haben. Sie ist ein bisschen enttäuscht. Aber da ist ja zum Glück der neue Freund.

Karoline schmiegt sich an ihren mysteriösen Tanzpartner. Irgendetwas an ihm ist anders als bei normalen Menschen. Sie kommt nur nicht drauf, was es ist.
Bei einem besonders gefühlvollen Stück raunt er ihr ins Ohr:
"Ich möchte mit dir schlafen."
Sie erschrickt. Damit hat sie nicht gerechnet. Sie denkt an ihren Vorsatz vom Morgen und lächelt. Wird ihr Traum also doch noch wahr? Aber mit ihm?
Der seltsame Freund hat ihren Kopf zwischen die Hände genommen und sieht sie prüfend an. Irgendetwas an seinem Blick gefällt ihr nicht. Sollte sie sich in Acht nehmen? 
Ach was, denkt sie, sie hat auf diesem Gebiet wirklich noch keine Erfahrungen. Daher kommt ihr Misstrauen. Für Männer ist das eine ganz andere Sache, viel einfacher als für sie. 
Wenn er nun keine Lust mehr hat, mit ihr zu schlafen, weil sie ihn irritiert hat? 
Schnell verjagt sie die negativen Gedanken und lächelt ihn mit leicht geöffneten Lippen an.
Er küsst sie leidenschaftlich wie ein Ausgehungerter. Sie spürt seine Zunge überall in ihrem Mund. Sie versucht es zu genießen, schreit dann aber vor Schmerz auf, als er zubeißt. Doch dann nimmt sie sich zusammen, wischt sich das Blut von der Unterlippe und zieht ihn an sich. Dieses Mal ist sie aktiv. Er lässt es genussvoll mit sich geschehen. Seine Augen sind starr auf sie gerichtet, wie hypnotisiert wickelt er ihr langes blondes Haar um seine Finger.
"Jetzt wird es gleich passieren." Denkt sie glücklich, als er sie ins Freie bringt. Er hat sie an der Hand genommen und führt sie wie ein Kind. Es ist weit. Wohin gehen sie? Ihre Füße in den eleganten Schuhen beginnen weh zu tun.
"Ist es noch weit?" fragt sie unsicher.
"Nein, wir sind gleich da." Antwortet er atemlos.

Sie erreichen ein Tor. Es führt auf einen Friedhof. 
Nicht gerade nach meinem Geschmack, denkt sie, lässt sich aber nichts anmerken.
Es das erste Mal auf dem Friedhof zu machen, ist nicht gerade romantisch. 
Aber hier sind sie zum Glück allein, versucht sie sich zu beruhigen.

Der Mann führt sie durch das Dunkel. Sie kann nichts erkennen und spürt nur seine heiße Hand. Schließlich bleibt er vor einem Grab stehen. Sie hat den Eindruck, dass es sich um ein frisch ausgehobenes Grab handelt. Ihr fällt der modrige Geruch der Praline wieder ein. Jetzt war ihr klar, was sie an dem Mann so irritiert hatte. Er roch sehr stark wie nach Mottenkugeln. 
Ihr Begleiter reißt sie an sich und beginnt sie leidenschaftlich zu küssen. Sie erwidert seine Küsse mit wachsender Lust. Es ist still. In der Ferne heult ein Hund. Der Mottenkugelgeruch weicht einem starken Duft nach Rosen. Karoline bekommt eine Gänsehaut. Plötzlich hat sie Angst vor diesem Mann, der sie in seinen starken Armen hält, als würde er sie nie wieder loslassen wollen.
Er scheint es zu merken, hebt sie hoch und trägt sie zu dem Loch. Sie beginnt sich zu wehren und versucht zu schreien. Doch er hält ihr den Mund zu. Verzweifelt schlägt sie um sich und versucht ihn zu treten. Doch er ist viel stärker. Gegen ihn hat sie keine Chance. 
In Todesangst verdreht sie die Augen. Der Mann zwängt ihren mageren Körper in den Sarg, legt sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie. Ihr Atem stockt. Dann schließt er den Deckel. 
Karoline wird fast ohnmächtig vor Angst. Was hat er vor? Sie hat das Gefühl zu ersticken und beginnt hysterisch zu husten. Doch der Mann stoppt auch dies mit seinen groben Händen. Sie ist ihm völlig ausgeliefert. Er kann mit ihr machen, was er will.
Das ist es also, was sie erwartet.

Sie vernimmt dumpfe Töne, als würde jemand Erde auf den Sarg werfen. Ja, jetzt ist sie sicher. Jemand schaufelt das Grab wieder zu. 
"Bumm, bumm, bumm..." wird ihr Schicksal besiegelt.
"Nein!!!" brüllt sie mit all ihrer Kraft. Doch niemand scheint sie zu hören.
"Endlich Yasna, sind wir für immer vereint." Flüstert der Mann ihr ins Ohr.
Sein Mund versucht sie zu küssen.
"Bumm, bumm, bummm..." 
"Alles wird wieder so sein wie früher." Sagt er und streicht ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
"Ja, so ist es schön! Lächle, meine Liebste, lächle!"


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