Stirner Forum
Ueber Stirner Ueber Marie Theaterstueck Drehbuch Fotos Links Home
Neues Textforum Gaestebuch
   
Stirners Biograph
Stirners Kritiker
Stirner Zitate
Stirners Ideen
Stirners Einfluss
Literatur

 

Textforum

 

Die Untermieterin

von Sabine Scholz

Jeden Morgen stieg er in seinen Wagen, um in die Universität zu fahren. Immer war er darauf bedacht, nie zur selben Zeit aus dem Haus zu gehen. Auch schlug er nie dieselbe Richtung ein, mal fuhr er über die Schnellstraße, mal über die vielen Einbahnstraßen der Innenstadt, mal direkt.

Ein Zimmer der philosophischen Fakultät war sein Dienstzimmer. Er hielt es penibel sauber. Nie lagen irgendwelche Papiere oder aufgeschlagene Bücher herum. Alles befand sich am dafür vorgesehene Ort. Er mochte es nicht, wenn man Rückschlüsse auf seine derzeitige Tätigkeit ziehen konnte. Vielleicht aber hatte er nur einfach Angst davor, dass es herauskam, wie wenig er in letzter Zeit arbeitete. Kaum noch las er ein Buch vollständig. Oft zitierte er einfach den Titel, ohne näher auf den Inhalt einzugehen. In den vergangenen Monaten hatte er sogar meistens seine Sprechstunde ausfallen lassen, um nicht ständig Fragen beantworten zu müssen, worauf er selbst keine Antwort wusste.

Er glaubte an die Magie der Kleidung. Um sich besser zu fühlen, warf er oft  bestimmte Kleidungsstücke fort und kleidete sich vollkommen neu ein, in der Hoffnung, damit auch störende Gedanken vertrieben zu haben.

So wollte er es auch heute tun. Er steckte einige wichtige Unterlagen in seinen Aktenkoffer und verließ das Zimmer. Auf dem hellen Gang war niemand zu sehen. Leise drangen Stimmen aus den angrenzenden Räumen. Niemand hatte bemerkt, dass er da gewesen war. Eilig betrat er den Aufzug und fuhr ins Erdgeschoss.

Draußen war es wieder Frühling geworden. Das konnte man schon am Duft der Luft merken. Nun hatte er doch keine Lust mehr, einkaufen zu gehen. Er kehrte zu seinem Wagen zurück und fuhr nach Hause.

Er legte sich auf den Teppich und fühlte sich einsam. Er sehnte sich nach einer Frau mit Gefühl. Später sagte er seiner Freundin zu, mit ihr ins Kino zu gehen.

Am nächsten Tag hatte er schon kurz nach dem Aufwachen das Gefühl, unendlich viel Zeit zu haben. Es waren Semesterferien und er musste überhaupt nichts tun.

Seine Freundin war für ein paar Tage verreist.

Er schloss die Augen und versuchte sie sich zu vergegenwärtigen. Aber es gelang ihm nicht. Wenn sie außer Reichweite war, änderte sich sein ganzer Lebensrhythmus. Er schlief dann bei Tag und stand nachts auf. Nicht dass er dies absichtlich so einrichtete, es ergab sich einfach von selbst.

Er wusste dass sich seine Freundin maßlos ärgern würde, wenn sie ihn so sähe. Sie hasste es, dass ihm alles zufiel, da sie sich selbst alles hart erarbeiten musste. Ständig war sie im Stress, immer hatte sie neue Aufgaben zu erledigen, während er sich schon mittags ins Bett legte. Sie arbeitete in einem Jahr so viel wie er in zehn.

Sein Leben bestand aus dem Warten auf sie. War er dann bei ihr, konnte er vor lauter Freude über ihre Gegenwart kaum ein Wort herausbringen. Sie saßen sich am Tisch gegenüber und er legte seine Hand auf ihre. Er schaute in ihre Augen  und fühlte sich plötzlich müde.

Er schlenderte an erleuchteten Schaufenstern vorbei, die Schmuck und Uhren in allen möglichen Ausführungen enthielten. Man musste sehr viel arbeiten, Selbstverleugnung betreiben, um sich dies alles leisten zu können. Er trug seine alte Armbanduhr seit 15 Jahren. Sie hatte bereits einige Kratzer und war unansehnlich geworden. Er liebte alte Gegenstände, die ihn an gewisse Epochen in seinem Leben erinnerten. Doch woran ihn die Uhr bisher immer erinnert hatte, wusste er plötzlich nicht mehr.

Er fühlte sich alt und einsam. Seine Freundin fehlte ihm. Es waren noch einige Tage hin bis zu ihrer Rückkehr. Sie konnte so traurig aussehen, wenn sie sich über ihn ärgerte. Er hatte dann unendliches Mitleid mit ihr, weil sie an einen so schrecklichen Mann wie ihn geraten war. Wäre er in seinen Augen nicht so furchtbar schrecklich, dann könnte er sie bestimmt nicht so sehr lieben.

Nach ihrer Rückkehr ging alles wieder seinen Gang. Er saß ihr erwartungsvoll gegenüber, gespannt auf das, was sie von der Reise zu erzählen hatte. Sie aß mit großem Appetit das Essen, das er für sie zubereitet hatte. Ein italienisches Rezept von damals, als sie das erste Mal in Italien gewesen waren. Er aß mit einer Bedächtigkeit Bissen für Bissen von seiner Erinnerung, sah das Meer grün und blau vor sich liegen. Manchmal wenn das Essen besonders gut gelungen war und die Atmosphäre stimmte– wenn er ein sensibles Gegenüber für solche Gefühle der Schwermut hatte – konnte er sogar den modrigen Duft der Gässchen wittern, die am Strand entlang verliefen.

Die Freundin wollte nichts von ihrem Besuch bei Verwandten erzählen. Ihr einziger Kommentar dazu war, dass es wie immer fürchterlich langweilig gewesen sei, man hätte einige Familienangelegenheiten geklärt, die nicht von Belang wären.

Er war enttäuscht, seine Neugierde war abgewürgt worden. Er interessierte sich sogar für banale Familienangelegenheiten, wenn sie lebendig genug dargestellt wurden.  Die Freundin hatte auf ihrer Reise anscheinend wirklich nichts erlebt.

Hatte sie denn nicht einmal etwas gesehen? Karin war zu bequem, aus dem Wirrwarr der vergangenen Tage eine Erzählhandlung zu machen. Deswegen schwieg sie, obwohl sie den Ausdruck des Unwillens auf seinem Gesicht sehr wohl zu interpretieren wusste. Es interessierte sie nicht, was er von ihr hören wollte. Sie war froh, die Reise hinter sich zu haben. Am nächsten Tag musste sie wieder zur Arbeit. Ein harter Kampf mit dem Chef stand ihr bevor. Alles, was sie an diesem Abend noch wollte war, mit ihm zu schlafen und dann wieder Kräfte zu sammeln für den kommenden Tag.

Am nächsten Morgen stand sie pünktlich auf, trank eine Tasse Kaffee im Stehen, küsste ihn zum Abschied auf die Wange und verließ die Wohnung.

In letzter Zeit hatte er begonnen zu trinken. Schon am frühen Morgen fing er damit an.  Es half ihm über das Gefühl hinweg, auf einem endlosen Meer dahin zu treiben – ohne Ziel – doch mit der Gewissheit, irgendwann darin unterzugehen. Er setzte sich mit seinem Glas an den Tisch, starrte in die Luft oder las dabei ein Buch, die Zeitung oder irgendetwas, das ihm zwischen die Finger gekommen war. Er las wahllos. Eigentlich hätte er einen ganzen Stoß Fachliteratur studieren müssen, um sich auf das kommende Semester vorzubereiten. Doch auch davon las er mal dies mal das ohne Konzept zwischen dem Fernsehprogramm der folgenden Woche und den Groschenromanen, die er ab und zu am Kiosk kaufte.

Wenn Karin ihn ausnahmsweise einmal besuchte, standen sie sich verlegen gegenüber, weil keiner damit beginnen wollte, den anderen zu umarmen. Diese Ratlosigkeit hatte vor zwei Wochen eingesetzt. Karin war auf der Türschwelle gestanden, und er hatte erwartet, dass nun sie ihm um den Hals fallen würde, wie er es sonst immer tat, wenn er sie besuchte, so als gäbe es ein Gesetz, das lautete: Derjenige, der zu Besuch kommt, umarmt automatisch den anderen.  Doch nichts davon geschah. Sie stand wie angewurzelt da, sah ihn skeptisch an und als die selbstverständliche Umarmung ausblieb, fragte sie ihn wütend, ob er etwas gegen sie hätte.

Ihm schnürte sich der Hals zu er spürte überhaupt kein Vergnügen mehr dabei, liiert zu sein.

Um seinem Alleinsein ein Ende zu bereiten und sich von Karin unabhängig zu machen, beschloss er, ein Zimmer seiner großen Wohnung zu vermieten.

Schon in der nächsten Woche stellten sich die ersten Interessenten für das Zimmer vor. Es waren zwei Männer und eine Frau. Er hatte sich noch nicht überlegt, ob er eine Frau oder einen Mann vorziehen würde. Nachdem er die Bewerber gründlich in Augenschein genommen hatte, bat er um einige Tage Bedenkzeit, um die endgültige Entscheidung zu treffen.  Was würde Karin dazu sagen, wenn plötzlich eine fremde Frau bei ihm wohnte?

Wenn er sich allerdings für einen der beiden Männer entschied, würde ihm dieses Vergnügen versagt bleiben, andererseits würde er sich wahrscheinlich viel Ärger und Unruhe ersparen.

Der größere und hübschere von beiden war Informatikstudent, Wochenendheimfahrer. Der andere war Montageingenieur und suchte vor allem einen Ort, wo er seine Habseligkeiten unterbringen konnte, wenn er auf Reisen war. Eigentlich sagte ihm keiner der beiden zu, dann doch eher die Frau. Sie war kleiner als Karin, doch nicht so hübsch. Ihr braunes Haar fiel locker auf die Schultern, fast ein bisschen vernachlässigt. Als er zu grübeln anfing, was sie beruflich machte, fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, sie danach zu fragen. Sie war keine Frau, nach der man sich umdrehte. Eigentlich sprach nichts dagegen, sich für sie zu entscheiden. Wenn sie keine Arbeit hatte, konnte sie auch umsonst bei ihm wohnen. Entschlossen ging er zum Telefon, wählte die Nummer, die sie ihm gegeben hatte und ließ ihr ausrichten, dass sie das Zimmer haben konnte.

Am nächsten Tag stand sie mit zwei Koffern vor der Tür. Nachdem er ihr geholfen hatte, ihre Sachen in das Zimmer zu bringen, bat sie telefonieren zu dürfen. Um sie nicht dabei zu stören, zog er sich in sein Arbeitszimmer zurück und begann zerstreut in seinen Unterlagen zu blättern.  Von dem Gespräch, das sie führte, konnte er nur Bruchstücke verstehen. „Wann?“...“Schade“...“Also dann bis morgen“. Es war ihm unmöglich, mehr als diese Wortfetzen aufzuschnappen, so sehr er sich auch bemühte. Er war nahe daran, an der Tür zu horchen, nur um etwas mehr über sie zu erfahren. Kurz nach dem Gespräch waren Schritte zu hören. Sie klopfte an seine Tür. Schnell nahm er Haltung an und bat sie herein. Sie wollte nur den Wohnungsschlüssel und verschwand gleich wieder. Dann war nur noch ein beständiges Rumoren im Nebenzimmer zu vernehmen, so als ob Möbel verschoben würden. Einmal fiel auch etwas zu Boden. Nach dem Knall zu urteilen musste es ein schwerer Gegenstand gewesen sein, vielleicht ein dickes Buch. Anschließend hörte er die Badezimmertür und kurz darauf lief Wasser in der Dusche. Sehr lange. Er hatte sich auf die Couch gelegt und mit einer Decke zugedeckt. Er musste eingeschlafen sein, denn als er sich anstrengte, um noch weitere Geräusche aus dem Badezimmer zu vernehmen, war nichts mehr zu hören. Es herrschte Totenstille in der Wohnung. Wahrscheinlich hatte sie sich auch hingelegt oder war fortgegangen. Wer war sie? Was machte sie? Ohne es zu wollen, beschäftigte sie seine Phantasie. Als ob ihm das Schicksal einen Wink gegeben hätte.  Wieder und wieder versuchte er, sich die Farbe ihres Haars genau vorzustellen, ihre leise, mädchenhafte Stimme.

Jäh riss ihn das Klingeln des Telefons aus seinen Träumen. Karin wollte abends mit ihm essen gehen. Es waren auch ein paar ihrer Kollegen dabei. Widerwillig sagte er zu. Doch dann heiterte sich sein Gesicht auf. Nach dem Essen, wenn die Kollegen verschwunden waren, würde er ihr die Neuigkeit berichten.

Als er das Restaurant betrat, fühlte er die übliche Beklemmung in sich hochsteigen. Seine Füße wurden eiskalt, auf seine Stirn trat Schweiß. Er konnte mit Karins Kollegen einfach nichts anfangen. Jedes Mal, wenn sie sich trafen, war er sprachlos angesichts der Nichtigkeiten, die sie ohne Witz vorzutragen pflegten. Er trank in solchen Situationen mehr als ihm gut tat.

Als sich die Kollegen verabschiedet hatten, und Karin allein mit ihm am Tisch saß, bekam er plötzlich Hunger und bestellte sich einen großen Grillteller.

„Du warst ja wieder die Freundlichkeit in Person! Bist du schlecht gelaunt oder geht es dir nicht gut?“ fragte sie.

„Nein, ich fühle mich wohl, es ist nichts.“

Um wenigstens jetzt etwas zu äußern, machte er ihr umständlich einen erneuten Heiratsantrag. Sie lehnte ihn wie all die anderen mit einem herzlichen Lachen ab, wobei sie ihn wie immer an sich zog, um ihn zu beschwichtigen, als wäre sie sich dessen bewusst, dass man, wenn man liebt, so etwas wie sie jetzt nicht tat.

Dann wollte sie tanzen gehen. Sie hängte sich bei ihm ein und zog in mit sich in Richtung einer Diskothek, die sie schon oft besucht hatten.

Ihm war es widerlich, eine Sache mehrmals tun zu müssen. In der Wiederholung lag etwas Minderwertiges. Doch der Widerwille addierte sich nicht bei zunehmender Wiederholung, sondern potenzierte sich. Karin konnte solche Zusammenhänge nicht verstehen. Was sie nicht interessierte, das gab es nicht. Ihre Welt bestand aus lauter Löchern, das waren die Zwischenräume zwischen den Dingen, die sie großzügigerweise anerkannte, und das waren nicht sehr viele Dinge.

Dafür tanzte er an diesem Abend besonders innig mit ihr.

Am nächsten Mittag ging er ausnahmsweise in die Mensa essen. Er wollte die Studenten aus der Nähe betrachten. Am unauffälligsten konnte man das tun, wenn  man sich unter sie mischte. Er hatte sich sein Tablett extra voll geladen, damit er sich Zeit lassen konnte. Während er mit dem Besteck beschäftigt war, hielt er Ausschau nach seiner Untermieterin. Sein Blick schweifte umher und plötzlich hielt er inne. Noch bevor er eigentlich wusste, was er gesehen hatte, steuerte er schon auf einen ganz bestimmten Tisch in der Ecke zu.  Dort saß sie und unterhielt sich mit einigen anderen Studenten. Als er sie fragte, ob noch ein Platz frei wäre, stellte sie ihn als ihren neuen Vermieter vor. Alle grinsten frech, und ihm war äußerst unbehaglich. Aus Versehen hätte er beim Hinsetzen beinahe seine Suppe verschüttet. Umständlich zog er den Stuhl näher an den Tisch und begann zu essen. Sie bemerkte seine Unsicherheit und sah ihn neugierig an. Ihm fiel auf, dass sie ihre Lederjacke nicht ausgezogen hatte. Plötzlich stieß sie mit dem Zeigefinger in seinen noch geschlossenen Joghurtbecher. Die rosarote Flüssigkeit quoll aus dem Loch. Sie nahm den Becher und schleckte ihn ab.
So ein Zufall, denn er aß seit Jahren eigentlich kein Joghurt mehr.
Dann lächelte er sie an.


Mailen Sie der Autorin Ihre Meinung!

 

Zurueck nach oben

 

 

 

 

Hosted by www.Geocities.ws

1