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Der Einzige und die Sexualität des geschlechtslosen Ichs

von Sabine Scholz

Replik auf Jürgen Mümkens Artikel (DER EINZIGE, Vierteljahrsschrift des Max-Stirner-Archivs Leipzig, Nr.2(18), 3. Mai 2002, S. 3 ff

Zu dem Thema "Das geschlechtslose Ich bei Max Stirner" kann man sich  folgende Fragen stellen: Ist das Ich entweder männlich oder weiblich, oder hat das Ich etwa gar kein Geschlecht, also ist es etwa geschlechtsneutral? Sind bereits Gedanken und Gefühle männlich oder weiblich, d.h. können wir immer nur als Mann oder Frau denken? Oder kommt das Männliche und Weibliche zu den Gefühlen und Gedanken nur hinzu? Kann der Mensch außerhalb seines Körpers denken? Determiniert allein der Körper das Geschlecht?
Was antworten Psychologen: "Gelingt es uns nicht, einen Menschen nach seinem Geschlecht zu bestimmen, so entsteht eine gewisse Spannung, ein gewisses Unbehagen. Der Drang, das Geschlecht festzulegen, geht bei manchen Völkern so weit, daß auch leblosen Dingen, ja allen im Universum vorgefundenen Gegenständen ein Geschlecht zugeschrieben wird. So ist im Deutschen der Mond männlich, die Sonne weiblich; im Gegensatz zu den romanischen Sprachen, die die Himmelskörper zwar auch geschlechtstypologisch einordnen, nur in entgegengesetzter Weise.“1

Sind wir Subjekte der Sexualität oder nur ihre Instrumente? Einige Sexualwissenschaftler gehen von der Repressionshypothese aus, d.h. der Sexualität werden subversive Qualitäten, aber auch emanzipatorische Eigenschaften zugeschrieben, weswegen sie in den bestehenden Gesellschaften nach dem Modus der Unterdrückung funktioniert. Ist also der Satz: "Ich bin ein Mann (eine Frau)" bereits repressiv? Ich glaube, die Sexualität ist in der Geschichte nie wirklich unterdrückt worden, es sei denn in unglücklichen Einzelfällen. Es gab immer sehr viele Individuen, die sie über die Standes- und Moralgrenzen hinweg ausgelebt haben. Ja, ich gehe sogar soweit zu behaupten, dass der Sex besonders viel Spaß macht, wenn er verboten ist, was zum Teil auch auf die Homosexualität zutrifft. Die Frage nach der Repression stellen meistens nur Individuen, die ein asexuelles Leben praktizieren und sich deshalb gern als Opfer sehen. Das Ich scheint wirklich geschlechtslos zu sein, denn der Satz "Ich bin ein Mann bzw. eine Frau" sagt nichts über meine sexuelle Veranlagung aus, da man a priori nie wissen kann, mit wem ein bestimmtes Individuum gerne Sex hätte (ob mit einem Mann, einer Frau oder beiden, mit einer Person in Uniform, mit einer Kindfrau etc.) Die Kategorien "männlich" und "weiblich" erfassen die Individuen natürlich nicht. Sie dienen einer groben Klassifizierung, die bei manchen Angelegenheiten wie z. B. beim Personalausweis nützlich sind, mehr auch nicht. Meiner Ansicht nach gibt es so viele Geschlechtsveranlagungen wie es Individuen gibt. Vielleicht tut die deutsche Sprache gar kein Unrecht, wenn sie das Kind nicht als männlich oder weiblich betrachtet, übrigens auch nicht das Mädchen. (Aber das hängt wahrscheinlich nur an dem Suffix "-chen")

Interessant ist die Rechtsfrage, was Zwitter betrifft. Falls es Zweifel über das Geschlecht eines Kindes gibt, soll ein Arzt die entsprechende Bescheinigung ausstellen. Dabei werden nur das männliche und das weibliche Geschlecht in Betracht gezogen, ein drittes wird somit aus juristischen Gründen ausgeschlossen:
„Wenn die Ärzte soviel anstellen, um Zwittern entweder das Geschlecht "Mann" oder das Geschlecht "Frau" zuzuweisen, werden sie... dafür ihre Gründe haben. Eine Hoffnung, die durch Paragraph 266 Absatz 5 der Dienstanweisung für Standesbeamte genährt wird: Auch dort wird verlangt, daß in Zweifelsfällen eine Bescheinigung des Arztes über das Geschlecht des Kindes einzuholen ist. Tatsächlich wurde der Amtsrichter im klinischen Wörterbuch "Pschyrembel" fündig: "Geschlecht" ist, so wird dort erläutert, die "Zuordnung von Individuen zweigeschlechtlicher Spezies zum männlichen oder weiblichen Geschlecht nach unterschiedlichen Kriterien". Das klingt klar. Die Definition macht bei genauerer Betrachtung allerdings auch medizinische Laien stutzig, denn sie setzt schon voraus, was doch erst erklärt werden sollte. Daß es sich bei Menschen um eine zweigeschlechtliche Spezies handelt, hatte der Antragsteller zudem gerade unter Verweis auf seine eigene Konstitution und sein eigenes Befinden bestritten.“2
Deutlich ist, wie restriktiv der Staat in diesen Fällen vorgeht. Er ist nicht im Entferntesten daran interessiert, einer bestehenden Wirklichkeit gerecht zu werden, denn um eine Realität handelt es sich ja auch bei Zwittern, die sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsmerkmale besitzen. Jürgen Mümken stellt zu Beginn seines Artikels fest, dass es bei Stirner auch den „Mann“ oder die „Frau“ nicht geben dürfe, wenn es den „Menschen“ nicht gibt. Bei Stirner hat das Selbst des „Einzigen“ keinen fest Kern und keine feste Identität und seine Existenz liegt vor allen kategorialen Bestimmungen: „kein Begriff drückt Mich aus, nichts, was man als meine Wesen angibt, erschöpft Mich; es sind nur Namen“ (EE 412). Der „Einzige“ ist keine Definition des Ich, sondern bezeichnet den existierenden einzelnen Menschen, wobei jeder Mensch ein „Einziger“ ist.“ Worauf will Mümken also hinaus mit seinem Titel „Der „Einzige“ und die Sexualität des „geschlechtslosen Ich‘s“? Er will zeigen, wie Der Einzige seine „eigene“ Sexualität praktiziert. Das macht neugierig. Mümken schreibt: „Stirner hätte sich lustig gemacht über all die, die an eine freie Sexualität glauben und diesen Spuk anstreben und vor allem über die, die glauben, sie würden eine freie Sexualität leben.“ Das sagt noch nicht viel aus. Wie sieht denn nun die Sexualität des Einzigen aus? Mümken fährt fort: „Es stellt sich aber die Frage, woher die eigene Sexualität der/des „Einzigen“ kommt, und hier wird ein Unterschied zu Foucault deutlich. Im Gegensatz zu Foucault scheint Stirner ausschließlich von einem Selbstverhältnis auszugehen, d.h. ohne jedwedes „Nicht-Ich“ in gesellschaftlich-voraussetzungsloser Form.“ Das Problem ist also, dass man Sex schlecht nur allein praktizieren kann und immer ein anderes Individuum dazu benötigt, was man auch als finale Du-Beziehung bezeichnen kann. Bleiben dem Einzigen also nur die Masturbation oder wilde Perversionen übrig, da er ja an so einer Du-Beziehung nicht interessiert ist? Leider gibt Mümken keine klaren Antworten. Stirner gibt eben für Sexualtheorien nichts her. In dieser Beziehung ist z.B. Schopenhauer viel interessanter. Er erklärt z.B. Phänomene wie die Vergewaltigung:
„Was aber im Bewußtseyn erscheint als auf ein bestimmtes Individuum gerichteter Geschlechtstrieb, das ist an sich selbst der Wille, als ein genau bestimmtes Individuum zu leben. In diesem Falle nun weiß der Geschlechtstrieb, obwohl an sich ein subjektives Bedürfniß, sehr geschickt die Maske einer objektiven Bewunderung anzunehmen und so das Bewußtseyn zu täuschen: denn die Natur bedarf dieses Stratagems [Kriegslist] zu ihren Zwecken. Daß es aber, so objektiv und von erhabenem Anstrich jene Bewunderung auch erscheinen mag, bei jedem Verliebtseyn doch allein abgesehn ist auf die Erzeugung eines Individuums von bestimmter Beschaffenheit, wird zunächst dadurch bestätigt, daß nicht etwa die Gegenliebe, sondern der Besitz, d.h. der physische Genuß, das Wesentliche ist. Die Gewißheit jener kann daher über den Mangel dieses keineswegs trösten: vielmehr hat in solcher Lage schon Mancher sich erschossen. Hingegen nehmen stark Verliebte, wenn sie keine Gegenliebe erlangen können, mit dem Besitz, d.i. dem physischen Genuß, vorlieb. Dies belegen alle gezwungenen Heirathen, imgleichen die so oft, ihrer Abneigung zum Trotz, mit großen Geschenken, oder sonstigen Opfern, erkaufte Gunst eines Weibes, ja auch die Fälle der Nothzucht. Daß dieses bestimmten Kind erzeugt werde, ist der wahre, wenn gleich den Teilnehmern unbewußte Zweck des ganzen Liebesromans: die Art und Weise, wie er erreicht wird, ist Nebensache.“3 Jürgen Mümken schreibt: „Stirner hätte sich lustig gemacht über all die, die an eine freie Sexualität glauben und diesen Spuk anstreben und vor allem über die, die glauben, sie würden eine freie Sexualität leben.“ Der Grund ist, dass „Nicht die/der „Einzige“ hat ihre/seine eigene Sexualität, sondern die „freie Sexualität“ hätte sie/ihn.“

Bei Stirner lautet das folgendermaßen: “Wer das Glück hat, führt die Braut heim. Der Lump hat das Glück; er führt sie in sein Hauswesen, die “Gesellschaft”, ein und vernichtet die Jungfrau. In seinem Hause ist sie nicht mehr Braut, sondern Frau, und mit der Jungfräulichkeit geht auch der Geschlechtsname verloren. Als Hausfrau heißt die Geldjungfer “Arbeit”, denn “Arbeit” ist der Name des Mannes. Sie ist ein Besitz des Mannes.“4
Hier stellt sich ein großes Problem: Wie sieht eine „freie“ Sexualität aus? Kann sie jede ihrer Tendenzen ausleben, also z.B. auch die Vergewaltigung (ein krasses Beispiel)? Also der Vergewaltiger wird von seiner „freien Sexualität“ tyrannisiert. Das leuchtet ein. Wie sieht dann also im Unterscheid dazu die Sexualität des Einzigen aus? Hier kommt Stirner in die Bredouille. Um sich dieses Problem vom Hals zu schaffen (also einen Einzigen, der seine Freude in der Vergewaltigung findet), muss Stirner also davon ausgehen, dass der Einzige geschlechtslos ist. Kann der Einzige ohne Geschlecht sein und dennoch eine Sexualität besitzen? Ich denke, ja.
Das Ich wird im Deutschen, wie der Artikel schon deutlich macht, als Neutrum aufgefasst. Das scheint zu implizieren, dass es Eigenschaften besitzt, die nicht als geschlechtsspezifisch abgesehen werden. Ist Sexualität nicht „geschlechtsspezifisch“? Hat man unter der Philosophie des geschlechtslosen Ichs vielleicht ein androgynes Menschenbild zu verstehen? Ist die Androgynität nicht auch eine Geschlechtsform? Man sieht, es herrscht auf diesem Gebiet eine große Begriffsverwirrung. Stirner würde meiner Meinung nach behaupten, obwohl er das nicht explizit tut, dass es ebenso viele Geschlechter wie Individuen gibt. Will Mümken  also untersuchen, wie sich die Sexualität des Einzigen von den übrigen Formen unterscheidet? (Was sehr interessant wäre) Ist sie weder Hetero- noch Homosexualität? Mümken schreibt: „Grundsätzlich wurde aber übersehen, daß es nicht nur den „Einzigen“ gibt, sondern auch die „Einzige“. So bleibt Stirners „Einzige“ in der ganzen Rezeption männlich bestimmt.“ Auch wenn es bei Stirner eine „Einzige“ geben würde, hätte sie die gleichen Probleme mit ihrer selbstischen Sexualität wie ihr Namensvetter, der Einzige. Interessant wäre es allerdings, zu untersuchen, wie „Der Einzige“ von den Frauen rezipiert wurde. Nun bemüht Mümken Essbach, für den die Sexualität die Aufgabe hat, die Wahrheit zu sprechen über die Subjekte:
„Der Bezug zu Sexualität folgt einer eigentümlichen Strategie: Sexualität ist eine Art absoluter Test für Wahrheit von Aussagen über das Individuum. Der ‚Unmensch‘. der ‚absonderliche Mensch‘, der ‚Egoist‘, der ‚Verbrecher‘, auf all diesen Ebenen, die Stirner anspricht, kann gestritten werden, angegriffen und verteidigt. Ist aber die Ebene der Sexualität erreicht, steht das ‚geschlechtslose Individuum‘ zur Debatte, gibt es keine Debatte mehr: Der Index der Wahrheit, die Sexualität ist erreicht.“
Die Sexualität als „Index der Wahrheit“? Was soll das bedeuten?
Das Individuum als Subjekt einer Sexualität.
„Die drei darin enthaltende Sex-Indexe sind: 1. das Sex-Individuum (Mann), 2. die Sex-Beziehung (Mann-Weib) und 3. die Sex-Generationsfolge (Mann-Weib-Kind).“
Wo steht da Stirners Einziger? Ich würde sagen, er hat keinen Sex-Index, da der Einzige ja gerade nicht „wahr“ sein will. (Wahrheit ist eine fixe Idee und wird deshalb von Stirner abgelehnt.)
Nach einer etwas verwirrenden Einleitung kommt Mümken endlich zur Sache: Welche Position nimmt der „Einzige“ ein zur sexuellen Befreiung und zur freien Liebe.
„Bei Stirner käme nach einer individuellen Befreiung der Sexualität von Herrschaftsverhältnissen und Unterdrückungspraktiken keine „freie Sexualität“ zutage, sondern eine „eigene Sexualität“. Oder um einen Satz von Stirner umzuformulieren: Von dieser freien Sexualität verschieden ist die eigene Sexualität, meine Sexualität“ Wie sieht denn nun diese „eigene Sexualität“ aus? Hier kann uns Joseph D. Lichtenberg mit seinem Ansatz weiterhelfen. Er geht davon aus, dass es eine Intimität mit dem geschlechtlichen Selbst gibt. In ihrem inneren Dialog mit sich selbst führen Erwachsene eine fortwährende Unterhaltung mit sich:
„Intimität, Vertrautheit mit dem geschlechtlichen Selbst - damit beziehe ich mich auf eine Gruppe von Erfahrungen, die wie die meisten Erfahrungen schwierig in Worte zu fassen sind. Bei Erwachsenen können wir die Vertrautheit mit dem geschlechtlichen Selbst untersuchen, indem wir Fragen stellen, etwa: Wie stehen Sie zu sich selbst? Glauben Sie, Sie verstehen sich selbst? Sind Sie zufrieden mit der Person, die Sie sind? Mögen Sie sich selbst als Frau (als Mann)? In ihrem inneren Dialog mit sich selbst führen Erwachsene eine fortwährende Unterhaltung mit sich und oft auch vorgestellten anderen, die sich mit all diesen Fragen beschäftigt. Im Vergleich zur Sprache, die sich an die äußere Welt richtet, ist der innere Monolog-Dialog schnell, bildhaft und weniger kontrolliert, er widersteht nicht einer universellen Tendenz zur Selbsttäuschung. Die Welt der Intimität mit dem geschlechtlichen Selbst eines Erwachsenen besteht größtenteils aus der inneren Sprache. Wenn Psychoanalyse erfolgreich ist, erschließt sie diese Welt, indem sie ein Gefühl der intersubjektiven Sicherheit schafft, das äußere Kommunikation durch Sprache und Körpersprache ermöglicht, die dem inneren Monolog so nah wie möglich kommt. Während für Erwachsene die Vertrautheit mit sich selbst als Inbegriff von Individuation und Separation betrachtet werden mag, erkennen wir, dass von Geburt an der innere Zustand eines jeden unter dem wechselseitigen Einfluss mit der Matrix der Gefühle der anderen steht. Vertrautheit beinhaltet für das geschlechtliche Selbst nicht nur, wie eine sich als Frau, oder einer sich als Mann fühlt, sie ist Gegenstand einer beständigen gegenseitigen Beeinflussung: Sie oder er, gesehen in den Augen anderer Frauen und Männer.“5 Die Psychoanalyse leistet also meiner Meinung nach einen wichtigen Beitrag dazu, wie eine stirnerianische "eigene" Sexualität konkrete aussehen könnte.

1 Manfred Koch-Hillebrecht: Kleine Persönlichkeitspsychologie, Wilhelm Heyne Verlag, München 1992, S.46

2 Oliver Tolmein: Wann ist ein Mann kein Mann? Bücherwissen statt Lebensweisheit: Urteil im Zwitter-Prozeß, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.10.2001, Nr. 241 / Seite 52

3 Arthur Schopenhauer: Metaphysik der Geschlechtsliebe, WWV Bd.2, Buch 4, Kapitel 44

4 Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. Stuttgart: Reclam 1985, S. 305/306

5 Joseph D. Lichtenberg: Intimität mit dem geschlechtlichen Selbst, Vortrag auf Einladung des Instituts für Psychoanalyse der Universität Frankfurt am Main und des Instituts der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft Frankfurt am Main vom 13.6.2001 (Vortrag in Englischer Sprache - Deutsche Übersetzung).



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