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Individualismus contra Kollektivismus bei Stirner und Marx

von Sabine Scholz

Jede Erörterung der Frage, welche Lebensform der menschlichen Natur am angemessensten ist, muss sich vor allem mit der Unterscheidung von Individualismus und Kollektivismus auseinandersetzen. Was ist meine wahre Natur: Bin ich ein Individuum, also ein Einzelwesen oder ein Gemeinschaftswesen? Kann ich mich besser allein verwirklichen oder brauche ich dazu die Gemeinschaft mit anderen Personen?
Als ein Lebensmodell für die individualistische Auffassung kann Robinson Crusoes weltabgekehrtes Inseldasein angesehen werden. Robinson überlebt als Einziger ein Schiffsunglück. Ihm gelingt es, sich auf eine einsame Insel zu retten. Dort ist er gezwungen, täglich ums Überleben zu kämpfen, indem er vor allem auf seine eigenen Kräfte vertraut. Der Gestrandete baut sich eine neue Existenz auf in einer idyllischen und naturnahen Welt. Eines Tages stößt er auf Freitag, einen wilden Ureinwohner. Verkürzt wiederholt sich nun der gesamte Kulturgang der Menschheit. Freitag lernt durch Robinson sprechen und die moralischen Grundprinzipien, die sein Verhalten bestimmen sollen. Doch er ist nicht eigentlich notwendig für das Überleben seines Herrn. Sie bilden eine Art gesellschaftliche Zelle, die genau auf die Ansprüche Robinsons zugeschnitten ist. Andere Personen werden nicht gebraucht und sogar ausgegrenzt. Dieser "atomistische" Individualismus geht davon aus, dass wir nur als Einzelwesen glücklich werden können und dass die Gesellschaft oder der Staat unsere Selbstverwirklichung gefährden oder ganz und gar zunichte machen.
Die Vertreter eines kollektivistischen Lebensmodells dagegen behaupten, dass der Mensch ohne andere Menschen nicht überleben kann. Als Beispiel können wir das Märchen von den "Bremer Stadtmusikanten" anführen. Das wirkt zwar ein bisschen lächerlich, tut aber gute Dienste. Allein sind der Esel, der Hund, die Katze und der Hahn dem Tode geweiht. Doch zusammen sind sie stark, da jeder komplementäre Fähigkeiten besitzt. So gelingt es ihnen in der Kollektivität die bösen Räuber davonzujagen und sich einen eigenen Lebensraum zu sichern. Die zentrale Frage ist nur: Welches der beiden Modelle trifft nun besser auf unsere Natur zu?
Stirner würde das Robinson-Crusoe-Modell wählen und Marx die Bremer Stadtmusikanten.
Stirner sagt über den Wilden: "Je freier Ich indes werde, desto mehr Zwang türmt sich vor meinen Augen auf, desto ohnmächtiger fühle Ich mich. Der unfreie Sohn der Wildnis empfindet noch nichts von all' den Schranken, die einen gebildeten Menschen bedrängen".1 Natürlich bedeutet "unfrei" für Stirner in diesem Kontext etwas Positives, nämlich "von den Kommunisten noch nicht zum armen Schlucker befreit!" Man könnte diesen Gedankengang folgendermaßen übersetzen: Werde ich Kommunist, habe ich mehr Zwänge zu ertragen als der Individualist, für den Stirner die Metapher des Wilden gebraucht.
Darauf entgegnet Marx in der "DEUTSCHEN IDEOLOGIE" in dem Kapitel, das Stirner gewidmet ist: "Daß der ‚Sohn der Wildniß' die Schranken des Gebildeten nicht kennt, weil er sie nicht erfahren kann, ist ebenso klar, als daß der "gebildete" Berliner Bürger, der den "Sohn der Wildniß" nur vom Theater kennt, von den Schranken des Wilden nichts weiß. Die einfache Tatsache ist diese: die Schranken des Wilden sind nicht die des Zivilisierten."2 Marx nimmt hier Stirner zu wörtlich! Stirner spricht nicht von einem wirklichen Wilden, sondern gebraucht ihn hier als Metapher für eine individualistische Lebenskonzeption.

1.1 Philosophiegeschichtlicher Hintergrund

Die Betrachtungen über das menschliche Zusammenleben gehören von Anfang an zu den wichtigsten Themen der Philosophie. Generationen von Denkern haben sich den Kopf zerbrochen bei der Suche nach denjenigen Gemeinschaftsformen, die dem Menschen am angemessensten erscheinen. Wer verleiht dem Menschen das Recht, Dinge zu besitzen? Die Götter? Die Arbeit, mit deren Hilfe der Mensch Sachen erwerben kann? Die Natur? Bei den griechischen Sophisten im 5. Jahrhundert vor Christus finden wir eine naturalistische Rechtsauffassung. Der bis heute sprichwörtliche Ausdruck des Protagoras lautet nämlich: "Der Mensch ist das Maß aller Dinge". Es handelt sich dabei um eine Art sozialdarwinistisches Prinzip: Nach Ansicht der Sophisten wird sich das Recht des Stärkeren also immer durchsetzen. Diese "materialistischen" Auffassungen kritisiert Platon in seinem Werk. Er entwickelt eine dualistische Wirklichkeitsbetrachtung, also einerseits die ewigen unveränderlichen Ideen und andererseits die Welt der Vergänglichkeit und des Flusses. Nach Platon ist der beste Staat ein Gemeinwesen nach Art der griechischen Polis, dessen Leitung in die Hand von Philosophenkönigen gelegt ist. Das Wissen der Philosophen basiert auf Einsicht in die Idee des Guten. Bei Platon dreht sich alles um die Idee der Gerechtigkeit, die unsere Wirklichkeitsauffassung, aber auch unser Handeln bestimmt.

1.2 Stirners Ablehnung eines idealen Staates

Was hält Stirner von dieser Konzeption? Er hat etwas daran auszusetzen, dass andere - in diesem Fall zwar Philosophen - über die einzelnen Mitglieder des Staates entscheiden sollen. Stirner hegt sehr starke Zweifel daran, dass ein anderer erkennen kann, was für mich gut ist. Und die Idee des Guten schließlich ist nichts anderes als eine "fixe Idee": "Der Gegensatz des Realen und Idealen ist ein unversöhnlicher, und es kann das eine niemals das andere werden: würde das Ideale zum Realen, so wäre es eben nicht mehr das Ideale, und würde das Reale zum Idealen, so wäre allein das Ideale, das Reale aber gar nicht. Der Gegensatz beider ist nicht anders zu überwinden, als wenn man beide vernichtet."3 Platons idealer Staat löst sich bei Stirner in Nichts auf, da er auf einer unsinnigen Voraussetzung beruht, nämlich, dass Ideales real werden kann.

1.3 Stirner und Aristoteles

Aristoteles dagegen versteht wie Hegel sein Denken als geschichtlich. Der Naturzustand muss durch stetiges Bemühen der Menschen so gut es geht überwunden werden. Er macht sich dabei keine Illusionen. Einen idealen Staat wie bei Platon gibt es nach seiner Auffassung nicht. Steht Aristoteles, der große Empiriker, Stirner näher? Ich denke ja, denn bei Aristoteles finden wir einen moderaten Individualismus. Aristoteles bestimmt den Menschen als ein von Natur aus politisches Wesen. Sein Ziel ist herauszufinden, was für den Menschen gut ist. Bis hier ist Stirner einverstanden, denn auch er sucht nach dem, was für ihn gut ist. Nach Aristoteles sucht jeder Mensch letztlich nach seinem Glück. Das ist der Maßstab für ein gelungenes Leben. Auch das gefällt Stirner, denn auch sein "Einziger" sucht nach Glück: "Was soll nicht alles Meine Sache sein!...Nur Meine Sache soll niemals Meine Sache sein."4 So beginnt Stirners Hauptwerk "DER EINZIGE UND SEIN EIGENTUM". Nur heißt Glück bei Stirner eben "Meine Sache"! Doch der aristotelische Mensch wird nicht von sich aus tugendhaft. In diesen Prozess greift der Staat durch Erziehung und Gewöhnung ein. Hier protestiert Stirner, denn von der "Erziehung" hält er nicht viel. Er nennt sie geringschätzig "Dressur". Die Schulen und Universitäten machen seit Jahrhunderten aus den Schülern passive Geschöpfe, die sie dressieren wollen, anstatt sie zu kreativen Menschen heranzubilden. Durch die Unterdrückung der Persönlichkeit des Schülers hoffen sie brauchbare Untertanen zu erzeugen: "Seminaristen sind ein lebendiger Beleg dieser traurigen Wendung. Zugestutzt auf's Trefflichste stutzen sie wieder zu, dressiert dressieren sie wieder. Persönlich aber muss jede Erziehung werden, und vom Wissen ausgehend doch stets das Wesen desselben im Auge behalten, dies nämlich, - dass es nie ein Besitz, sondern das Ich selbst sein soll. Mit einem Worte, nicht das Wissen soll ausgebildet werden, sondern die Person soll zur Entfaltung ihrer selbst kommen; nicht vom Zivilisieren darf die Pädagogik ferner ausgehen, sondern von der Ausbildung freier Personen, souveräner Charaktere; und darum darf der Wille, der bisher so gewalttätig unterdrückte, nicht länger geschwächt werden. Schwächt man ja doch auch den Wissenstrieb nicht, warum denn den Willenstrieb?"5

1.4 Die Kritik am Staat bei Stirner und Marx

Antithese: Staat - Gruppe von Personen/Gesellschaft/Club/Verein
Antithese: Individuum - Gattungswesen/Mensch

Im Folgenden stelle ich dem Begriff "Staat" die Begriffe "Gruppe, Gesellschaft, Club und Verein" gegenüber, die synonym verwendet werden. Außerdem wird der Begriff "Individuum" dem Begriff "Gattungswesen, Mensch" entgegengesetzt. Sowohl Marx als auch Stirner lehnen den Staat ab, befürworten aber ein alternatives Zusammenleben der Menschen, das bei Stirner "Verein der Egoisten" und bei Marx "Klassenlose Gesellschaft" heißt. In der klassenlosen Gesellschaft werden Privateigentum und Staat aufgelöst. Marx schwebt "ein Verein freier und gleicher Menschen" vor. Sie arbeiten mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln. Marx behauptet: Der Kommunismus ist die Realisierung des Gattungswesens. Stirner postuliert: Der Verein ist die Realisierung des Individuums.

2 Stirners Konzept: Individualismus
Antithese: Freiheit - Eigenheit

Für Stirner bedeutet Freiheit: Abwehr fremder Macht. Dagegen setzt er die Eigenheit, den Besitz eigner Macht. Diese Antithese kann auch folgendermaßen ausgedrückt werden: Freiheit ist idealistisches Trachten nach Lossein von Fremdbestimmung. Eigenheit dagegen ist wirkliches Lossein und Genuss am eigenen Dasein.6 Stirner betont, dass auch das Leben von Sklaven wertvoll sein kann: "Auch unfrei, auch in tausend Fesseln geschlagen, bin Ich doch, und Ich bin nicht etwa erst zukünftig und auf Hoffnung vorhanden, wie die Freiheit, sondern Ich bin auch als Verworfenster der Sklaven - gegenwärtig."7 Für Stirner will der revoltierende Sklave nicht sich selbst von den Fesseln befreien, sondern alle Sklaven. Damit ist Marx überhaupt nicht einverstanden: "der Sklave, der den Entschluß fasst, sich zu befreien, muß schon darüber hinaus sein, dass die Sklaverei seine ‚Eigenheit' ist. Er muß ‚frei' von dieser ‚Eigenheit' sein." Marx verwechselt hier Eigenheit mit Eigenschaft, denn Stirner würde nie zugeben, dass Sklaverei eine Eigenheit sei. Unter "Eigenheit" versteht er vielmehr "Selbstwertgefühl". Auch Sklaven sollen sich selbst als wertvolle Personen empfinden und damit nicht darauf warten, bis sie jemand befreit.

2.1 Stirners Kritik am Konzept des Kollektivismus

Stirner widerlegt den Marxschen Kollektivismus folgendermaßen: Weil "Wir Uns zu Dienern von Egoisten gemacht" sehen, "sollen Wir" nicht selbst zu Egoisten werden - sondern "lieber die Egoisten unmöglich machen! Wir wollen sie Alle zu ‚Lumpen' machen, wollen Alle Nichts haben, damit ‚Alle' haben. - So die Sozialen. - Wer ist diese Person, die ihr ‚Alle' nennt? - Es ist die ‚Gesellschaft'!"8 Stirner wirft den Kommunisten vor, dass alle Menschen gleich sein sollen, d.h. sie sollen alle arme Lumpen sein, die nichts mehr besitzen. Gegen diese Argumentation wendet sich Marx in der "DEUTSCHEN IDEOLOGIE" in dem Abschnitt, der Stirner gewidmet ist: "Stirner identifiziert zuerst das ‚Haben' als Privateigentümer mit dem ‚Haben' überhaupt." Dass die Kommunisten nichts haben ist also nicht richtig. Sie besitzen nur kein Eigentum an Produktionsmitteln. Nach Stirners Auffassung schwebt "den Freien, den Liberalen", wozu auch die Kommunisten gehören, eine Existenzform vor, wo alle Menschen zusammenhalten und sich gegenseitig schützen. Sie bilden eine Gemeinschaft und jeder akzeptiert die Menschenwürde des anderen. Diesen Zusammenhalt nennt der Liberale Staat.9 Dieser Staat ist es, der den Menschen ihre Menschenrechte verleiht.10 Ein Staatsbürger zu sein ist das höchste Ziel des Bürgertums. Das Bürgertum kämpft gegen die privilegierten Stände, von denen es als dritter Stand abqualifiziert wird: alle sollen gleich sein! Jeder Bürger soll sich dem Wohle des Staates widmen. Man sucht infolgedessen eine gerechte Staatsverfassung. Diesem Staat zu dienen ist höchstes Interesse der Bürger. Der Staat vergibt nun Rechte. Der gehorsame Diener dieses Staates ist der freie Mensch, polemisiert Stirner. Dem, der gegen die Gesetze des Staates verstößt , drohen härteste Strafen. Stirners Argumentation kulminiert in folgendem Ausspruch: "Politische Freiheit", was soll man sich darunter denken? Etwa die Freiheit des Einzelnen vom Staate und seinen Gesetzen? Nein, im Gegenteil die Gebundenheit des Einzelnen im Staate an die Staatsgesetze."11 "Sie bedeutet nicht Meine Freiheit, sondern die Freiheit einer Mich beherrschenden und bezwingenden Macht;"12 Der Staat verlangt von uns, menschlich zu sein. Es ist unsere Pflicht. Sind wir es nicht, bezeichnet er uns als "Unmenschen". Stirner nennt diesen Staat der Freien, die kommunistische Gesellschaft, eine Utopie denn er ist erst noch zu realisieren.13

2.2 Stirners Konzeption des Vereins von Egoisten

Stirner wünscht sich mehr als Freiheit für das Individuum. Es sollte nicht nur frei sein von dem, was es nicht will, sondern es sollte auch haben, was es ersehnt.14 Dass wir Menschen sind, ist eine unserer geringsten Eigenschaften, fährt Stirner fort. Mehr als alles andere ist jeder ein Ich und damit Egoistisch!15 Dieses Stirnersche Ich ist ein Ich, das endlich und damit wirklich ist, im Gegensatz zu der Ichkonzeption der Idealisten, deren Ich absolut und unendlich, also unwirklich ist.16 Sobald die Individuen auf ihrem eigenen Willen bestehen, ist der Staat in Gefahr, denn der eigene Wille und der Staat sind Todfeinde.17 Wie steht es mit dem Volk und der Familie? Gelten sie bei Stirner als positive Werte? Da in diesen Gemeinschaften kein egoistisches Interesse aufkommen soll, lehnt sie Stirner als Lebensformen ab. In Stirners Verein von Egoisten ist jeder Eigentümer und verständigt sich mit anderen über sein Eigentum. Wenn ihm etwas nicht passt, dann empört er sich und verteidigt sein Eigentum. Jeder ist Eigentümer von allem, er nimmt sich, was er braucht. Dazu ist keine Gesellschaft nötig, die es ihm großzügigerweise überlässt.18 Das klingt aber sehr stark nach einer Utopie! Nur bei Stirner handelt es sich nicht um die Gemeinschaft der Eigentümer wie bei den Marxisten, sondern Ich selbst bin Eigentümer. Doch die Frage ist, ob Stirners "Verein von Einzelnen" im Grunde sehr verschieden ist von der Marxschen Konzeption der klassenlosen Gesellschaft. Das werden wir im Folgenden untersuchen.

2.3 Die Organisation der Arbeit bei Stirner

Interessant ist, wie sich Stirner in seinem Gemeinschaftsmodell die Organisation der Arbeit vorstellt: "Die Organisation der Arbeit aber betrifft nur solche Arbeiten, welche Andere für Uns machen können, z.B. Schlachten, Ackern usw.; die übrigen bleiben egoistisch, weil z.B. Niemand an deiner Statt deine musikalischen Kompositionen anfertigen, deine Malerentwürfe ausführen usw. kann: Raphaels Arbeiten kann Niemand ersetzen. Die letzteren sind Arbeiten eines Einzigen, die nur dieser Einzige zu vollbringen vermag, während jene ‚menschliche' genannt zu werden verdienen, da das Eigene daran von geringem Belang ist, und so ziemlich ‚jeder Mensch' dazu abgerichtet werden kann."19 Stirner unterscheidet also zwischen gemeinnütziger und individueller Arbeit, was Marx nicht tut. Für Marx sind alle Arbeiten gleich, ob sie nun von einem Künstler oder einem Arbeiter stammen. Der Gedanke, dass man bei der Arbeit Spaß empfinden kann, ist Marx fremd. Um diese Argumente zu widerlegen verfährt Marx wieder polemisch, indem er meint, dass Stirner hier unglückliche Beispiele gewählt habe: Er "könnte doch wohl wissen, dass nicht Mozart selbst, sondern ein andrer Mozarts Requiem größtenteils angefertigt und ganz ausgefertigt, dass Raffael von seinen Fresken die wenigsten selbst ‚ausgeführt' hat." Natürlich widerlegen diese Beispiele Stirner nicht: Auch die Fresken des falschen Raffaels sind individuell! Ein Nichtkünstler hätte sie nicht ausführen können! Ihre Schönheit besteht gerade in ihrer Einmaligkeit.

2.4 Stirners "verifizierendes" Prinzip

Die Gesellschaft löst sich bei Stirner in freiwillige Gruppen auf. Marx schreibt in der "DEUTSCHEN IDEOLOGIE": "Alle Kollisionen, in die die Menschen durch ihre wirklichen Lebensverhältnisse mit sich oder mit Andern geraten, erscheinen" Stirner "als Kollisionen, in die die Menschen mit Vorstellungen über das Leben ‚des Menschen' geraten, die sie entweder sich selbst in den Kopf gesetzt haben oder sich von Schulmeistern haben in den Kopf setzen lassen. Schlügen sie sich diese aus dem Kopf, ‚wie glücklich' könnten ‚diese armen Wesen leben', welche ‚Sprünge' dürften sie machen, während sie jetzt ‚nach der Pfeife der Schulmeister und Bärenführer tanzen' müssen.20 Es geht hier um die zentrale Frage von Möglichkeit und Wirklichkeit. Stirner will sagen, dass wir uns nicht nach von anderen errichteten Maßstäben richten sollen, sondern nur nach unseren eigenen Erwartungen. Wir haben viel mehr Möglichkeiten als wir oft glauben. Doch Marx verdreht hier wieder Stirners Gedankengang und denkt, ihn mit einem einfachen Beispiel zu widerlegen: "Hätten z.B. die Menschen sich nicht fast immer und fast überall, in China sowohl wie in Frankreich, in den Kopf gesetzt, dass sie an Übervölkerung litten, welch einen Überfluß an Lebensmitteln würden diese ‚armen Wesen' nicht alsbald vorgefunden haben." Hier tut Marx so, als könnte man materielle Probleme schon durch ein anderes Denken aus der Welt schaffen. Das meint Stirner nicht. Dass ein Volk nicht genug zu essen hat, ist nichts, was ihm von Schulmeistern eingeredet worden ist. Das merkt jeder am eignen Leib. Allerdings kann man es auch nicht beheben, indem man sich einen gedeckten Tisch vorstellt. In der Marxschen Konzeption von der idealen Lebensform, die er von Hegel übernommen hat, fallen Möglichkeit und Wirklichkeit, Idee und Realität zusammen. Das ist nicht schon im preußischen Staat der Fall, wie Hegel annahm, sondern in der zukünftigen klassenlosen Gesellschaft. Gegen diesen Gedanken wehrt sich Stirner: Weder der reale preußische Staat noch Marx' Utopie von der klassenlosen Gesellschaft gefallen ihm. Was wir als Potentialität in uns tragen, geht über diese unbefriedigenden Lebensformen weit hinaus. Stirners Direktive lautet infolgedessen: "Sieh Dich als mächtiger an, als wofür man Dich ausgibt, so hast Du mehr Macht; sieh Dich als mehr an, so hast Du mehr."21 Hier wird deutlich, dass es sich bei Stirners Lebenskonzeption um Richtlinien handelt und nicht um ein konkretes Gesellschaftsgebilde. Stirners Verein von Egoisten ist kein Ideal, sondern als Direktive zu verstehen: Wir sollen uns täglich empören, wenn uns etwas nicht gefällt. Es gibt keine idealen Zustände, an unserem Verein werden wir immer etwas finden, was wir kritisieren können. Auf diese Weise werden wir schwierige Zeitgenossen. Aber wir sind ja nicht auf der Welt, um anderen zu gefallen. "Wahr ist, was mein ist, unwahr das, dem ich eigen bin; wahr z.B. der Verein, unwahr der Staat und die Gesellschaft."22 Stirner fordert die absolute Selbstdeterminierung des Individuums. Jedes Recht und jede Rechtfertigung leitet er vom Individuum ab, denn es ist zu allem, was es tun will oder erwerben will, berechtigt.

3 MARX KONZEPTION DER KLASSENLOSEN GESELLSCHAFT 

Bei Marx gibt es keine Individuen: Das menschliche Wesen ist die Kollektivität, d.h. die Menschheit. Marx hoffte, die politischen Zustände in Preußen durch eine Verwirklichung der Philosophie - d.h. eine Gestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit gemäß den Gesetzen der Vernunft, die in Hegels Philosophie zwar ausgesprochen, aber voreilig für schon wirklich erklärt worden waren, auf weltgeschichtliches Niveau zu bringen. Marx folgt Hegel und erklärt die Arbeit als Wesen des Menschen. In der Arbeit schafft der Mensch ein Äußeres , ein Produkt. Dieses Produkt jedoch beginnt ihn zu beherrschen und an der Verwirklichung seiner wahren Bestimmung zu hindern. Diese Bestimmung heißt Freiheit. Der Staat tritt dem Menschen als etwas Fremdes gegenüber, als Bürokratie. Marx misst die gesellschaftliche Wirklichkeit am Ideal des Gemeinwesens und an der wahren Bestimmung des Menschen. Idee und Wirklichkeit müssen versöhnt werden. Die Idee muss in die Wirklichkeit überführt werden. In der kapitalistischen Gesellschaft hat der Produzent das Alleineigentum an den Produktionsmitteln. Der Lohnarbeiter ist gezwungen seine Arbeitskraft zu verkaufen, er wird ausgebeutet. Die Kapitalisten müssen enteignet werden zugunsten der Gesellschaft, die eine klassenlose Gesellschaft sein wird. Diesen Zustand herbeizuführen ist die Aufgabe der proletarischen Revolution. Wie Hegel sieht Marx in der gesamten Weltgeschichte einen Prozess, der auf ein Endziel hinstrebt. In diesem Prozess ist für Marx wie für Hegel das jeweils tatsächlich Gewordene auch "vernünftig" in dem Sinne, dass es notwendig ist, aber bald überwunden werden muss. Hinter Marx Theorie steht ein idealer Glaube an die vollständige Vereinigung von Idee und Wirklichkeit. Der junge Marx war ein historischer Materialist. Für ihn bestimmt Das Sein das Bewusstsein. Sein Denken hatte ein praktisches und politisches Ziel. Marx leitete seine Annahmen zunächst nicht von empirischen Befunden, sondern von der sozialphilosophisch begründeten Überzeugung ab, die bürgerlichen Verhältnisse seien unhaltbar. Diese würden notwendigerweise revolutioniert. Ausgangspunkt ist der Klassenkampf. Dabei geht es geht um die Frage, wem sollen die Produktionsmittel gehören? Am Ende dieses Prozesses steht die klassenlose Gesellschaft, d.h. die Produktionsmittel gehören allen. Stirner schreibt: "Die Kommunisten behaupten: ‚die Erde gehört rechtlich demjenigen, der sie bebaut, und die Produkte derselben denjenigen, die sie hervorbringen. Ich meine, sie gehört dem, der sie zu nehmen weiß, oder, der sie sich nicht nehmen, sich nicht darum bringen läßt. Eignet er sie sich an, so gehört ihm nicht bloß die Erde, sondern auch das Recht dazu. Dies ist das egoistische Recht, d.h. Mir ist's so recht, darum ist es Recht."23

4 Der Begriff des Rechts

Stirner führt einen individualistischen Rechtsbegriff ein: "Alles bestehende Recht ist - fremdes Recht, ist Recht, welches man Mir ‚gibt', Mir ‚widerfahren läßt.'...Und doch, was ist das Recht, das Ich im Staate, in der Gesellschaft, erlange, anders, als ein Recht von Fremden?...Ob Ich Recht habe, ist völlig unabhängig von dem Rechtgeben des Toren und des Weisen.24 Eine Eigenschaft, wie sie die Gewalt darstellt, wird zum Recht, wenn sie vom gewaltigen Ich losgelöst wird. Recht ist die den Einzelnen transzendierende Gewalt, die institutionalisiert ist. Nach Stirner hat der Staat prinzipiell kein Recht.

5 Empörung contra Revolution 

Anders als in Frankreich gab es in Deutschland zu Stirners Zeit keine politischen Traditionen, an die revolutionäre Denker anknüpfen konnten. Es herrschte der restaurierte Absolutismus. In Deutschland bildete infolgedessen die Philosophie den Ausgangspunkt anarchistischer Theorien. Stirner nennt den Übergang vom gegenwärtigen Zustand zur künftigen Anarchie nicht "Revolution", sondern "Empörung": "Die mündigen Griechen jagten ihre Tyrannen fort, und der mündige Sohn macht sich vom Vater unabhängig. Hätten jene gewartet, bis ihre Tyrannen ihnen die Mündigkeit gnädigst bewilligten: sie konnten lange warten.... Der Freigegebene ist eben nichts als ein Freigelassener, ein libertinus, ein Hund, der ein Stück Kette mitschleppt."25 Diese "Empörung" beruht nicht auf wirtschaftlichen oder politischen Missständen, sondern auf der Verzweiflung des Einzelnen, den die gegenwärtige Herrschaft hindert, Egoist zu sein.

Empörung als eine individuelle Tat
im Gegensatz zur Revolution, die eine kollektive Tat ist

Durch die Empörung kommen wir in die neue egoistische Welt. Die Revolution "besteht in einer Umwälzung der Zustände, des bestehenden Zustandes oder status, des Staats oder der Gesellschaft, ist mithin eine politische oder soziale Tat." Die Empörung "hat zwar eine Umwandlung der Zustände zur unvermeidlichen Folge, geht aber nicht von ihr, sondern von der Unzufriedenheit der Menschen mit sich aus". Sie ist "eine Erhebung der Einzelnen, ein Emporkommen..."26 Marx Antwort darauf ist polemisch: "Die Revolution und die Stirnersche Empörung unterscheiden sich nicht, wie Stirner meint, dadurch, dass die Eine eine politische oder soziale Tat, die Andere eine egoistische Tat ist, sondern dadurch, dass die Eine eine Tat ist und die andere keine." Marx verliert nie sein Ziel aus den Augen: die klassenlose Gesellschaft. Alle anderen Handlungen, die nicht damit im Zusammenhang stehen, sind für ihn unwichtig. Stirner dagegen betont, wie wichtig das individuelle Wohlbefinden ist. Er stellt es in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Wer von beiden Recht hat, hängt jedoch nicht davon ab, dass entweder die Revolution oder die Empörung keine Tat ist. Beide sind Taten, die eine ist individuell, die andere generell, kollektivistisch. Stirner entwickelt eine dreistufige Geschichtstheorie. Danach ist das Altertum den "Dingen", der Natur, verhaftet. Mittelalter und Neuzeit stehen unter der Herrschaft des "Geistes". Die Zukunft wird dem "Einzigen" gehören. Diesen Gang der Geschichte sieht er als eine notwendige Entwicklung an. Sie führt gradlinig auf den selbst ungeschichtlichen "Einzigen" zu. Mit ihm ist die Geschichte an ihrem Ende angelangt. Hier wäre die Frage aufzuwerfen: Stellt unsere gegenwärtige Gesellschaft bereits das Stirnersche Ideal dar? Wenn nicht, wie kann Stirner die gegenwärtige Gesellschaft, den gegenwärtigen Staat, als "Spuk" bezeichnen, da sie doch ebenfalls - allerdings uneingestanden - auf Egoismus beruhen?

6 KONKLUSION

Stirner wollte keine neue Utopie begründen, sondern er wollte Kriterien schaffen, die in der Lage sind, alle realen und idealen Staatsformen zu prüfen, ob sie den Individuen nützen oder sie zerstören. Die "Empörung" ist nie Zustand, sondern immer Akt. Ein konkreter Verein von Egoisten würde Stirner nicht gefallen. Denn es gibt ja keinen generellen Egoismus, d.h. dein Egoismus muss per definitionem anders sein als mein Egoismus. Der Staat muss ständig neu geschaffen werden mit Hilfe dieser Kriterien. Meiner Ansicht nach ist Stirners Konzeption also eher als Direktive zu betrachten. Marx dagegen entwirft eine Utopie, die klassenlose Gesellschaft, die an die Stelle des Staates treten soll. Das akzeptiert Stirner nicht. In diesem Sinne ist Stirner der eigentliche Revolutionär. Heute hat sich erwiesen, dass die Theorie von Marx dazu verurteilt zu sein scheint eine Utopie zu bleiben, während Stirners Direktive immer noch aktuelle Gesichtpunkte enthält, die uns dabei helfen, die für uns richtige Lebensform zu finden. Man kann nicht täglich Revolution machen, aber man kann sich täglich "empören"! Ich denke, Stirner will darauf hinaus. Wir sollen uns nicht damit abfinden schon bestimmte Rechte erhalten zu haben, denn so wären wir nur "Freigegebene, Hunde, die ein Stück Kette mitschleppen".




Anmerkungen

1 Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. Stuttgart: Reclam 1985. S.172
2 Karl Marx - Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. III Sankt Max. 1. Der Einzige und sein Eigentum. Internetausgabe: Dietz Verlag, Berlin/DDR 1969
3 Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. Stuttgart: Reclam 1985. S.407
4 ebenda. S.3
5 Max Stirner: Das unwahre Prinzip unserer Erziehung, oder: Humanismus und Realismus. Der Text entspricht der Edition: Max Stirner: Parerga, Kritiken, Repliken, hg. v. Bernd A. Laska. Nürnberg: LSR-Verlag 1986. S. 75-97
6 Vergl. Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. Stuttgart: Reclam 1985. S.173
7 Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. Stuttgart: Reclam 1985. S.180
8 Ebenda. S.127
9 Vergl. Ebenda. S.107
10 Vergl. Ebenda. S.108
11 Ebenda. S.116
12 Ebenda. S.117
13 Vergl. Ebenda. S.197 
14 Vergl. Ebenda. S.172 
15 Vergl. Ebenda. S.198
16 Vergl. Ebenda. S.199 
17 Vergl. Ebenda. S.214 
18 Vergl. Ebenda. S.287 
19 Vergl. Ebenda. S.298
20 Vergl. Ebenda. S.365
21 Ebenda. S.406
22 Ebenda. S.400
23 Ebenda. S.209
24 Ebenda. S.204
25 Ebenda. S.185
26 Ebenda. S.354


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