DER PREUßISCHE SCHLAGETOT
HEINRICH v. KLEIST (1777-1811)
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"Schlag't ihn tot!   -   Das Weltgericht
Fragt euch nach den Gründen nicht!"

[Heinrich v. Kleist 1801, Miniatur von Peter Friedel] [Heinrich v. Kleist, Zeichnung Wilhelmines v. Zenge]

EIN KAPITEL AUS DIKIGOROS' WEBSEITE
DIE BRETTER, DIE DIE WELT [BE]DEUTEN

Dikigoros hat lange gezögert, diesen Autor in dieses Kapitel seiner "Reisen durch die Vergangenheit" aufzunehmen. So vieles sprach dagegen: Schon wieder ein Deutschsprachiger, dazu noch einer, der im Ausland fast gar nicht (und auch im Inland nur noch wenig) bekannt ist, und dessen Einfluß auf das Geschichtsbild der breiten Masse schon deshalb nur begrenzt sein konnte, dazu die relativ kurze Lebensdauer, der relativ begrenzte Horizont... Aber wenn er ganz ehrlich ist, dann waren diese Gründe alle nur vorgeschoben, und im Unterbewußtsein waren es ganz andere: seine Aversion aus Schulzeiten (in der Mittelstufe hatte er einen Deutschlehrer, der seine armen Schüler Kleist rauf und runter lesen ließ - und sie mochten ihn allesamt nicht), seine Antipathie gegen Selbstmörder und eine seiner Nachfahren, die sich als äußerst undankbare Mandantin erwies. Doch das sind schlechte Gründe; und wenn er die anderen nochmal Revue passieren läßt, dann greifen sie eigentlich gar nicht richtig: Kleist mag deutschsprachig gewesen sein - aber was besagt das schon? Wenn man ihn gefragt hätte, als was er sich fühlte, dann hätte er selbstverständlich geantwortet: "Als Preuße!" (Obwohl er eigentlich nur ein Beute-Preuße war; seine Familie stammte, wie die Bismarcks, aus Pommern.) Und die anderen Deutschsprachigen, die Dikigoros hier vorstellt, waren - wenngleich weniger dezidiert - Schwaben, Bayern, Sachsen und Alemannen (da gibt es Unterschiede, die weit über das Sprachliche hinaus gehen)! Dem steht nicht entgegen, daß Kleist in seinen letzten Lebensjahren - besonders seit sich Napoleon Bonaparte 1805 zum "Kaiser der Franzosen" gemacht hatte - den "Deutschen" hervor kehrte (besonders wenn er an den "Kaiser von Österreich" appellierte, den Preußen zu helfen :-) und daß die anderen es peinlichst vermieden, irgendeine Herkunft erkennen zu lassen - nicht mal die aus einer bestimmten Stadt. (Die meisten Leute - nicht nur im Ausland - halten doch z.B. Brecht für einen Proletarier aus Berlin, nicht für einen Millionärssohn aus Augsburg.) Für seine begrenzte Lebensdauer hat Kleist ziemlich viel geschrieben - was er mit Fassbinder gemeinsam hat -, und sein persönlicher Horizont mag begrenzt gewesen sein, aber der Fundus, aus dem er die Stoffe seiner Theaterstücke schöpfte, war es nicht, auch wenn die preußischen im Vordergrund standen. Und die Wirkung aufs breite Publikum hat Dikigoros vielleicht unterschätzt: Man darf sie nicht allein an der Gegenwart messen; mehr als hundert Jahre nach seinem Tode war Kleist einer der einflußreichsten deutschen Dramatiker - allerdings mit Stücken, deren Aufführung heute, da es kein Preußen mehr gibt, verpönt oder sogar verboten ist. Und gerade das ist ein Grund, sie hier vorzustellen, zumal es zugleich diejenigen sind, in denen er die Geschichte am massivsten verfälscht hat. (Dikigoros beschränkt sich hier auf Kleists Theaterstücke. Wer sich für die Geschichte des Michael Kohlhas[e] interessiert, dem empfiehlt er das gleichnamige Buch von Elisabeth Plessen, das den Vorteil hat, ganz ohne Historiker-Dünkel geschrieben zu sein.)

Es fällt Dikigoros nicht ganz leicht, eine Reihenfolge zu finden; denn bei den vier Theaterstücken Kleists, die er Euch hier vorstellen will, handelt es sich just um die vier Werke, die damals auf der Schule nicht durchgenommen wurden, die er also erst Jahrzehnte später gelesen hat - und da gleich alle auf einmal. (Soll er ehrlich sein? Er hat nicht mal das Kleist-Gedenkjahr zu seinem 200. Geburtstag 1977 zum Anlaß genommen, auch nicht die Penthesilea-Renaissance Mitte der 1980er Jahre, sondern gewartet, bis der Artemis-Verlag 1994 die Winkler-Ausgabe der Gesammelten Werke von 1967 neu heraus brachte, bis der Ullstein-Verlag sie 1997 als Taschenbuch nachdruckte, und dann noch, bis auch jene Ladenhüter 1999 als Remittenden zum halben Preis verramscht wurden.) Aus bestimmten Gründen möchte er sich auch nicht an der Werkgeschichte orientieren, wie es die Literatur-Historiker zu tun pflegen, die das ganze an der Biografie des Verfassers aufziehen, sondern an der Geschichte selber, d.h. er sortiert nach den historischen Ereignissen, nicht danach, wann Kleist sie verhackstückt hat. Damit kommen wir auf große zeitliche Abstände: Kleists Dramen werden uns erst ins 12. Jahrhundert v.C. führen, dann ins 1. Jahrhundert n.C., dann ins 11. und schließlich ins 17. Jahrhundert. Das ist viel Holz - oder, wie man ein paar Jahrzehnte nach Kleist gesagt hätte: viel Blut und Eisen. Deshalb will Dikigoros vorab ein paar Worte über das Zitat in der dritten und vierten Zeile der Überschrift los werden, da Ihr das heute nicht mehr so ohne weiteres wieder finden werdet - es ist halt politisch-unkorrekt, vor allem, wenn man den Zusammenhang kennt: Es stammt aus dem Gedicht, pardon der Ode, "Germania an ihre Kinder", das Kleist wohl als Antwort auf die "Marseillaise" gedacht hatte, die blutrünstige National-Hymne der Franzosen, die er aus ganzem Herzen haßte.

[Medaille]

Letzteres klingt einigermaßen verständlich während der Napoleonischen Besatzung - oder, wie man damals sagen und schreiben mußte, "Befreiung", wenn man nicht so enden wollte wie der Buchhändler Johann Philipp Palm, den Napoleon anno 1806 in Braunau am Inn an die Wand stellen ließ, weil er eine Schrift mit dem Titel "Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung" vertrieben hatte. [Der Verfasser steht bis heute nicht fest. Frau Dikigoros glaubt, daß es Heinrich v. Kleist war, aber als Preußin ist sie voreingenommen; ihr Mann hat dazu keine Meinung; er fragt sich nur, was jener Verfasser wohl erst über das ungleich brutalere Besatzungs-Regime geschrieben hätte, das nach 1945 über Deutschland herein brach. Was mit jemandem geschehen wäre, der das so Geschriebene wie Palm zu vertreiben gewagt hätte, bedarf dagegen keiner Frage.] Doch Kleists Gründe dürften anderer Natur gewesen sein, nicht nationaler, sondern persönlicher, genauer gesagt: gekränkte Eitelkeit. Der preußische Seconde-Lieutenant hatte sich nämlich, nachdem er in seinem Heimatland demissioniert war, den Franzosen für den Militärdienst angeboten (im Grunde genommen war er also ein Verräter, wie Schiller, und obendrein ein versuchter Überläufer) und abgewiesen worden. Letzteres verzieh er den Franzosen nie - nur so ist sein plötzlicher, abgrundtiefer Haß zu erklären. (Die russischen "Verbündeten" Preußens, die es 1813 von den französischen "Befreiern", pardon, jetzt waren es ja wieder "Besatzer" - kompliziert, aber das seid Ihr ja gewohnt, nicht wahr, liebe Kinder des 20. Jahrhunderts? - befreiten, hausten dort z.T. schlimmer als die letzteren, wie aus alten Augenzeugen-Berichten hervor geht, vielleicht nicht ganz so schlimm wie sie es 1914 und 1945 wieder tun sollten - da waren sie indes keine "Verbündeten", und es gab noch keine von oben verordnete "DSF" -, aber nicht viel weniger schlimm als sie es in Berlin während des Siebenjährigen Krieges getan hatten.) Gewiß, zwischen Deutschen und Franzosen herrschte seit Jahrhunderten Feindschaft - wie sie eben oft zwischen Nachbarn herrscht -, und die militärische Aggression ging meist von den Franzosen aus; aber der glühende Haß, der im 19. Jahrhundert zwischen den beiden Völkern entstand, ging mindestens ebenso sehr von den Deutschen aus. Und damit sind wiederum einige Namen in besonderem Maße verbunden, wie Ernst Moritz Arndt, Johann Gottlieb Fichte und - Heinrich v. Kleist.

[BRD-Medaille auf Arndt] [BRD-Gedenkmünze auf Fichte] [BRD-Gedenkmünze auf Kleist]
[DDR-Gedenkmünze auf Arndt] [DDR-Gedenkmünze auf Fichte] [DDR-Gedenkmünze auf Kleist]

Exkurs. Ihr meint, liebe Leser, Dikigoros bewerte das Motiv der gekränkten Eitelkeit eines jungen Mannes doch wohl über, wenn er damit ein ehemals so wichtiges Stück deutscher Theatergeschichte erklären will? Aber das ist noch gar nichts - die Bühnenstücke eines Dichters haben doch nur in den seltensten Fällen wirklich Einfluß auf die "echte" Geschichte. Aber Kleist war kein Einzelfall. [Nein, Dikigoros wird hier nicht die Parallele von dem jungen Postkartenmaler bemühen, der zweimal von der Kunstakademie abgewiesen wurde, denn dessen Haß richtete sich darob ja nicht gegen eine bestimmt Nation.] Einer seiner Zeitgenossen - George hieß er - wollte auch gerne Offizier werden, allerdings nicht bei den Franzosen, sondern bei den Engländern. Als die ihn abwiesen, schwor er ihnen Rache - in scheinbar ohnmächtiger Wut -, heiratete eine reiche Witwe, kaufte von ihrem Geld ein paar Dutzend Sklaven und wurde ErdnußfarmerTabakfarmer. Doch George war ein bibelfester Mensch, und wie steht es geschrieben? "Einst wird kommen der Tag..." und "Mein ist die Rache..." Der Tag der Rache kam, als eine kleine Räuberbande beschloß, einen Aufstand gegen die Briten anzuzetteln und George anbot, ihr Räuberhauptmann zu werden, mit dem Titel "Oberst". George zögerte: Erstens fühlte er sich als Aristokrat, der mit solch pöbelhaften Revoluzzern gleich gar nichts am HutDreispitz hatte; zweitens schätze er die Erfolgsaussichten jenes Unternehmens als recht gering ein, und drittens hatte er ja keinerlei militärische Erfahrung. Aber wer konnte wissen, ob sich ihm jemals wieder die Chance böte, Rache an den verhaßten Briten zu nehmen? Er handelte noch aus, daß sein Titel nicht "Oberst", sondern "General" sein würde, dann nahm er an. Weder Größenwahn noch Tollkühnheit können erklären, warum er das tat, denn zu Beginn schien seine Bande den Briten hoffnungslos unterlegen. Aber seine Männer waren tough - tougher als die in Deutschland zwangsgepreßten und von ihren Landesherrn um ein paar Thaler an den King von England verhökerten armen Schweine, die gar nicht recht wußten, wo und wofür sie eigentlich kämpfen sollten. George dagegen wußte es genau: für seine ganz persönliche Rache! So gewannen am Ende - allen Widrigkeiten und anfänglichen Niederlagen zum Trotz - die Räuber; sie riefen die Unabhängigkeit aus, beförderten George zum "Präsidenten" und benannten ihre Hauptstadt nach ihm. Bis heute ziert sein Kopf ihre Vierteldollar-Stücke. Nun, glaubt Ihr immer noch, daß die gekränkte Eitelkeit eines jungen Mannes keine Geschichte machen kann? Exkurs Ende.

[Washington Quarter]

* * * * *

Einige Leser haben Dikigoros schon vorgehalten, ja beinahe vorgeworfen, daß er auf seiner Seite über Reisen, die Geschichte[n] machten die Ilias außen vor gelassen hat. Nun ist es müßig, manchen Kritikern erklären zu wollen, daß es sich dabei nicht um eine allgemeine Seite über große Sagen der Literaturgeschichte handelt, sondern ganz speziell nur über solche Sagen, die von Reisen handeln, welche im Nachhinein die Landnahme "ihrer" Nationen rechtfertigen sollten. Und es wird auch keinen Fan des Troianischen Krieges trösten, daß er später, in einem Exkurs über Jean Giraudoux, noch ein paar Worte über dessen "La guerre de Troie n'aura pas lieu" verlieren wird. Also wird er hier etwas mehr darüber schreiben, obwohl es das Thema eigentlich gar nicht her gibt; denn die Geschichte von Achill (so will Dikigoros ihn im folgenden der Einfachheit halber schreiben, um der lästigen Diskussion aus dem Wege zu gehen, wie er denn richtig hieß; für alle, die es ihm so glauben: auf Griechisch Achylléas, auf Lateinisch Achílleus) und Penthesíleia steht gar nicht bei Hómäros, ebenso wenig wie die Episode vom Troianischen Pferd und all die anderen Motive, die Ihr wahrscheinlich aus Gustav Schwabs Nacherzählung der "Klassischen Sagen des Altertums" kennt und die Euch am besten im Gedächtnis haften geblieben sind. Dagegen fehlen dort die Passagen, die den Leuten im 19. Jahrhundert peinlich waren (und, wie die jüngste Filmgeschichte gezeigt hat, auch noch im 21. Jahrhundert peinlich sind :-), obwohl sie einen wesentlichen Schlüssel zum Verständnis der ganzen Geschichte liefern, die zu Beginn des 12. Jahrhunderts v.C. spielte und im 8. Jahrhundert v.C. so fixiert wurde, wie sie heute nur noch einige wenige richtig kennen; und ohne diesen Schlüssel müßte sie Euch ebenso verschlossen bleiben wie sie Heinrich v. Kleist verschlossen blieb. Aber damit genug der Vorrede.

Ein echter Ilias-fan hält sich nicht lange mit der Vorgeschichte auf, ob da nun ein Urteil des Páris statt fand oder nicht, und ein Raub der Helénä, oder ob das alles den Griechen nur als symbolischer Vorwand diente, Troia zu erobern und zu zerstören. Denn die Ilias hat ja nicht das zum Thema, sondern vielmehr den "Groll" des Achill - oder soll man es den "Verrat" des Achill nennen? "Verräter" ist ein böses Wort; Dikigoros hat diesem Fänomen eine eigene Webseite gewidmet, und daß sie immer noch nicht fertig ist, zeigt, wie schwer auch er sich mit diesem Begriff tut. "Verräter haben immer ein schlechtes Gewissen", hat Joachim Fernau, der große Cyniker des 20. Jahrhunderts, einmal geschrieben (in "Diesteln für Hagen"; Fernau meinte aber nur vordergründig den Hagen des Nibelungenliedes, der Siegfried verriet; hintergründig hatte er es auf die Verräter, pardon Attentäter des 20. Juli 1944 abgesehen, deren "Helden"-Status beim Erscheinen jenes Buches Mitte der 1960er Jahre noch durchaus nicht fest stand). Doch Fernau irrte: "Verräter" haben im Zeitpunkt des Verrats überhaupt kein Gewissen; und was danach kommt, hängt vom Erfolg oder Mißerfolg ihres Tuns ab: Gelang der Verrat und wurde er belohnt, haben sie ein gutes Gewissen; andernfalls versuchen sie vielleicht, das sich einstellende schlechte Gewissen - wie überhaupt ihren Verrat - "wieder gut zu machen", indem sie erneut die Seiten wechseln. Heinrich v. Kleist - und das ist Dikigoros' These - war einer jener letzteren Sorte: Er verriet erst die Preußen, um sich den Franzosen in die Arme[e] zu werfen, wurde abgewiesen, ein paar Jahre später sogar unter dem Vorwurf, ein preußischer Spion zu sein, ins Gefängnis geworfen - erst nachdem Preußen 1807 in Tilsit kapituliert (oder, wie es offiziell hieß, mit Napoleon "Frieden" geschlossen) hatte, ließen ihn die Franzosen wieder laufen. Nun wendete sich Kleist umso schärfer gegen sie, mit den ihm eigenen Waffen: der spitzen Zunge und der noch spitzeren Feder. Natürlich auf "gehobenem Niveau", wie man so schön sagt, und das heißt in seinem Fall: in Form von Theaterstücken, die deshalb, so sie ein "historisches" Sujet haben, allesamt von einer oder anderen Form des Verrats handeln. Daß Kleist diese Stücke, die ihm bestimmt auch ein ganz persönliches Anliegen waren, zwar schreiben, aber wegen der anhaltenden französischen Besatzung nicht aufführen konnte, stürzte ihn in immer tiefere Verzweiflung. Geduld war nicht seine Stärke; und so nahm er sich denn gerade mal zwei Jahre vor der Befreiung das Leben.

Ja, die Ilias ist von Anfang bis Ende eine Geschichte des Verrats, angefangen bei Odysséos, der das gemeinsame Unternehmen der Griechen im Stich lassen wollte und sich dumm stellte (und Palamédäs, der ihn entlarvte, später verriet, indem er ihn mit Hilfe gefälschter Beweismittel als Verräter im Bunde mit den Troiern hinstellte und so den Justizmord an ihm herbei führte) über Agamémnon, der dem Achill die Briseís weg nimmt, woraufhin der wiederum die Griechen im Stich und sie ihren Krieg gegen Troia alleine weiter führen läßt, während er sich in den Schmollwinkel zurück zieht. Als er wieder in den Kampf eingreift, ist das ein ganz privater Rachefeldzug, weil der Troianer Héktor ihm seinen Schwulfreund Pátroklos erschlagen hat. Er erschlägt seinerseits Héktor und wird am Ende selber von dessen Bruder Páris - dem der Gott Apóllonos höchstpersönlich die Hand führt - durch einen Treffer in seine "Achillessehne" getötet. Halt, da hat der olle Hómäros etwas vergessen: Nachdem Achill den Héktor getötet hat, kommt den Troianern erstmal das Heer der Amazonen zu Hilfe, eben unter ihrer Königin Penthesíleia. Warum diese "Vergeßlichkeit"? Nun, vermutlich paßte ihm diese Episode - die Dikigoros für nicht mehr und nicht weniger historisch hält als alle anderen der Ilias auch - ebenso wenig in den Kram, wie sie den heutigen Bearbeitern zupaß kommt: Achill war schwul, und das war in den Augen des blinden Sängers durchaus ehrenwert. Diese seine Neigungen zu verraten, indem er sich in eine Frau - und sei es auch eine Amazone - "verliebte", das hätte ihn in seinen Augen - und denen des durchweg männlichen, schwulen Publikums - schrecklich herab gesetzt; und das wollte er seinem Helden nicht antun. Ihr meint, die Sache mit der Briseís widerlege doch diese Annahme? Nein, liebe Leser, das erscheint Euch nur so, weil Ihr, selbst wenn Ihr die Ilias im Original gelesen hättet, den Witz der Namensgebung nicht durchschaut. "Briseís" ist kein Eigenname (Sklaven und andere Kriegsbeute hatten keine Namen!), sondern eine Herkunftsbezeichnung: "Die aus Brisa". Und wo liegt Brisa? Na wo wohl: auf Lesbos. Schon mal gehört? Eben - und damit verband man schon damals das gleiche wie heute. Mit anderen Worten: Achill zürnte dem Agamémnon nicht etwa, weil er ihm eine besonders liebe Bettgespielin weg genommen hatte, sondern einfach nur aus verletztem Stolz, den er über die Wegnahme eines jeden gleichwertigen anderen Stücks Kriegsbeute auch empfunden hätte.

Darf Dikigoros an dieser Stelle ein paar Worte über den historischen Stoff verlieren, d.h. über die Sage, die Kleists Drama zugrunde liegt? Im Gegensatz zu anderen - die ihrer Erforschung sogar ganze Webseiten gewidmet haben, hält er sie für wenig glaubhaft, ja er glaubt überhaupt nicht daran, daß es einmal "Amazonen" gab, jedenfalls in der Art, wie sie uns von den alten Griechen überliefert sind, als Mannweiber, die ohne Männer lebten und statt deren selber in den Krieg zogen und sich die rechte Brust entfernten, um besser mit Pfeil und Bogen umgehen zu können. Das sind schlicht Männer-Fantasien, die sich nur jemand ausgedacht haben kann, der noch nie im Krieg war und vor allem noch nie mit Pfeil und Bogen geschossen hat, wie der Sesselpupser Strabo. (Nicht dagegen der weit gereiste Herodot, der solche Berichte ins Reich der Märchen verwies!) Jeder andere weiß, daß sich Frauen nicht zum Kriegführen eignen, nicht nur, weil sie alle vier Wochen ihre Tage haben oder alle neun Monate ein Kind bekommen (ja, selbst die Amazonen sollen sich so fortgepflanzt haben :-), sondern auch, weil sie mangels räumlichen Sehvermögens (das ihnen ja auch heutzutage das Autofahren, besonders das Einparken, so schwer macht :-) weder richtig werfen noch richtig fangen können. (Davon kann man - und frau - sich neuerdings sogar im Fernsehen überzeugen, nämlich beim Fußball: Selbst die beste Torhüterin der Welt kann dem schlechtesten Kreisklasse-Torhüter nicht das Wasser reichen.) Und was das Bogenschießen und Speerwerfen anbelangt: Der Bogen wird nicht vor der Brust gespannt, wie sich Lieschen Müller das vorstellt, sondern neben dem Körper, und der Pfeil nicht in Brust-, sondern in Kopfhöhe angesetzt (nein, nicht nur heute im Wettkampfsport, sondern ausweislich alter Abbildungen auch schon in der Antike); selbst ein üppiger Busen würde also gar nicht stören; dagegen würde eine Verstümmelung der Brustmuskulatur, wie sie die männlichen "Historiker" der Antike den Amazonen unterstellen, sowohl Bogenschießen als auch Speerwerfen praktisch unmöglich machen.

[Torfrau] [Wie Lieschen Müller sich das Bogenschießen vorstellt] [Die Tatarin Tschulpan Chamatowa - eine Nachfahrin der vermeintlichen 'Amazonen' - beim Bogenschießen] [Tschulpan Chamatowa - offenbar nicht 
brustamputiert]
FliegenfängerinTorfrau in Aktion --- Lieschen Müller beim Bogenschießen --- zweimal die Tatarin Tschulpan Chamatowa (offenbar nicht brustamputiert :-)

Und überhaupt: Ein Volk von Frauenkriegern? Welch ein Blödsinn! Es mag Völker gegeben haben, bei denen Frauen eine Menge zu sagen hatten, vor allem solche, bei denen die Männer bis ins hohe Alter ständig unterwegs waren, um Kriege zu führen - warum sollten da nicht die Mütter und/oder Ehefrauen zuhause das Regiment führen? Aber auf Dauer alles alleine machen, einschließlich des Kriegführens? Nein, so dumm konnten selbst die dümmsten Frauen nicht sein!

Exkurs. Ihr findet das zu flapsig, liebe Leserinnen, und meint, Dikigoros nähme diese Frage nicht ernst genug? Dann will er Euch mal ganz humorlos die Rechnung der Natur aufmachen, aus der sich ergibt, warum es in der Regel keinen biologischen Sinn hat, wenn Frauen in den Krieg ziehen bzw. wann und warum es einige wenige traurige Ausnahmen gibt, die diese Regel bestätigen. Nehmen wir mal an, daß´Frauen ebenso gute Soldaten sind wie Männer (was Dikigoros persönlich keinen Augenblick glaubt, nicht mal im Zeitalter der elektronischen Kampfführung, geschweige denn davor; aber er will die Rechnung nicht unnötig verkomplizieren :-), d.h., daß im Durchschnitt eine Soldatin im Kampf einen Soldaten tötet, bevor sie selber getötet wird; der statistische Kampfwert beider ist also 1:1. Was aber, wenn die Frau, statt selber in den Krieg zu ziehen, statt dessen Kinder bekommt - von denen, wiederum im statistischen Durchschnitt, die Hälfte Jungen sind, die später Soldaten werden können? Dann ist die Rechnung ganz einfach: Bekommt sie mehr als zwei Kinder, dann ist ihr "Kampfwert" höher als 1, d.h. eine Mutter von mehr als zwei Kindern ist militärisch mehr wert als eine Soldatin. Auch wenn sie nur zwei Kinder bekommt oder "nur" Töchter, gilt das, jedenfalls langfristig; denn die Töchter können ja wiederum Soldaten für's Vaterland gebären. Erst wenn eine Frau weniger als zwei Kinder bekommt - oder garkeine - ist ihr militärischer Kampfwert statistisch höher als der einer Mutter. Und nun schauen wir uns mal um und stellen fest: Überall dort, wo die Geburtenrate unter 2,0 Kinder pro Frau gesunken ist, werden Frauen Soldatinnen: In Rot-China - wo ihr mütterlicher "Kampfwert" durch die erzwungene Ein-Kind-Politik statistisch nur bei 0,5 liegt -, in Israel - wo die jüdischen Frauen im Schnitt nur noch 1,6 Kinder bekommen (die muslimischen Frauen in Israel bekommen im Schnitt 4,8 Kinder, also dreimal soviel) -; und in dem Augenblick, in dem in den USA, der BRD u.a. westlichen Staaten die Bevölkerungspyramide gekippt, d.h. die Geburtenrate der autochthonen Frauen unter 2,0 gesunken ist, durften sie auch dort zum Militär.

Ihr meint, aber in Kriegszeiten, wenn Not am Mann ist und im Falle einer Niederlage gar keine Zeit mehr ist, um Kinder gesund aufzuziehen, bis der nächste Krieg ausbricht, dann müsse doch eine Ausnahme gelten? Dann irrt Ihr. Es ist ein Naturgesetz aller Kriege - oder war es jedenfalls bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, und allemal zu Kleists Zeiten -, daß zwar feindliche Männer getötet, aber feindliche Frauen "nur" vergewaltigt wurden; und die daraus entstehenden Kiner ließ der Feind natürlich am Leben. (Das ist schon im Tierreich so: Ein Löwe, der ein Revier erobert, tötet seinen Gegner und dessen Kinder; aber seinen Harem läßt er am Leben und übernimmt ihn, um sich selber fortzupflanzen.) Wer das nicht sehen will, der ist blind; deshalb ist es müßig, über die Dummheit der heutigen Frauen zu diskutieren, die lieber einem Beruf - und sei es auch einem weniger unweiblichen als Soldatin - nachgehen, statt sich auf ihre eigentlich, natürliche Berufung, Ehefrau und Mutter zu werden, zu konzentrieren. Die Frauen der muslimischen Invasoren, pardon, Immigranten, wissen es besser; sie lassen sich von Sozialleistungen alimentieren, die kinderlose eingeborene Frauen durch ihre Berufstätigkeit finanzieren, und bekommen so viele Kinder wie möglich, damit sie den Laden eines Tages ganz "demokratisch", mit dem "Recht" ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit, übernehmen können. Was dann daraus wird, ist freilich eine andere Frage. Die Antwort liegt aus der Hand, wenn man sieht, was die Muslime aus den einstigen Hochkulturen im Zweistromland, in Ägypten, in Persien und Indien gemacht haben - aber davon wußte ein Heinrich v. Kleist wahrscheinlich nichts. Exkurs Ende.

Lassen wir das also dahin stehen und nehmen einfach mal ein, daß eines Tages auf dem Schlachtfeld vor Troia einige Kriegerinnen auftauchten - da sind sich die griechischen Mythenschöpfer ja einig. Aber sonst über nichts. Schon über die Motivation gehen die Meinungen auseinander: Die einen - denen Gustav Schwab folgt - schreiben, die Amazonen seinen nach Hektors Tod den Troianer zu Hilfe gekommen. Andere - denen auch Kleist folgt - meinen, daß sie weder den Troianern noch den Griechen helfen wollten, sondern vielmehr gegen beide kämpften mit dem Ziel, möglichst viele Männer zwecks Fortpflanzung gefangen zu nehmen; nach einer Version soll Penthesíleia sogar von Hektor - nicht von Achill - getötet worden sein! Dikigoros erspart Euch die unterschiedlichen Auffassungen darüber, was anschließend mit ihrer Leiche geschah, auch die müßige Frage, wie die Vokabel zu übersetzen ist, die das Tun des Achills bezeichnet in der Version, in der er sie getötet hat: sich verlieben oder sich an der Leiche zu vergehen. Er kann das getrost tun, denn bei Kleist stellt sich das Problem gar nicht, weil er die Geschichte auf den Kopf stellt, indem er nicht den Achill die Penthesíleia töten läßt, sondern die Penthesíleia den Achill!

Das Trauerspiel "Penthesilea" ist von Kleists schwachen Stücken wohl das schwächste - da ist sich Dikigoros mit Kleists Zeitgenossen einig (nicht aber mit seinen eigenen :-). Erst 65 Jahre nach seinem Tod - Heinrich Schliemann hatte gerade Troia und Mykenä ausgebuddelt und damit das Interesse auf solche antiken Stoffe gelenkt - wurde es in Berlin uraufgeführt, fristete jedoch neben seinen anderen Stücken eher ein Schattendasein. Es sollte mehr als ein Jahrhundert dauern, bis man den Stoff "wieder entdeckte", d.h. bis die Hirne der Theaterbesucher so aufgeweicht waren, daß man ihnen das als "großes Schauspiel" vorsetzen konnte. Kleist bringt uns die Geschichte einer sexuellen Verirrung auf die Bühne, die darin besteht, daß sich ein Schwuler und eine Lesbe in einander verlieben; deren Mitschwule und Mitlesben empfinden das natürlich als "Verrat" (da sind wir wieder beim Thema :-). Und dieser "Verrat" wird auch bestraft, denn das Stück endet tragisch: In einem etwas merkwürigen Zweikampf hat Achill die Penthesíleia ohnmächtig geschlagen, tötet sie jedoch nicht, sondern wartet, bis sie wieder aufgewacht ist, gibt sich dann zum Schein geschlagen und will sich gerade dem Liebesspiel mit ihr hingeben, als die anderen Amazonen auftauchen und ihm die Tour vermasseln. Später stellt er sich erneut zum Zweikampf, aber diesmal bringt Penthesíleia ihre Hunde mit, und die zerfleischen ihn. Vor Kummer stirbt auch Penthesíleia. Ende. Aber so etwas konnte man dem Theater-Publikum zu Kleists Lebzeiten, als die meisten Leute noch sexuell normal veranlagt waren (oder jedenfalls so taten :-) nicht zumuten. Nein, "zumuten" ist vielleicht nicht ganz das richtig Wort. Das ganze sollte ja keine Groteske, sondern eine Tragödie sein; und das konnte es für das damalige Publikum gar nicht sein. Erst eine Zeit, in der unnatürliche sexuelle Neigungen und Perversionen zunehmend als "normal" galten, konnte so etwas überhaupt als dramatisch, tragisch oder sonstwie interessant empfinden. Es spricht nicht für unseren Zeitgeist und nicht für die psychische Gesundheit unserer Zeitgenossen, daß die "Penthesilea" heute zum am häufigsten gespielten Theaterstück Kleists avanciert ist.

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Die Geschichte des Gaius Iulius Arminius - den man erst seit Heinrich v. Kleist allgemein "Hermann den Cherusker" nennt - und der Thusnelda ist das Lehrstück von Treue und/oder Verrat in der deutschen Geschichte schlechthin - die Frage ist nur, wer da die Verräter und wer die Verratenen waren. Eine Frage, um die sich Heinrich v. Kleist in "Die Hermannsschlacht" freilich keinen Kopf machte. Für ihn war der Fall klar: Hermann, der Sieger in der Schlacht gegen die römischen Legionen des Varus, die man fast zweitausend Jahre lang im Teutoburger Wald lokalisierte (heute tippt man eher auf den Kalkrieser Berg, aber ganz sicher ist man sich noch immer nicht - Dikigoros auch nicht) war der Held, und sein Schwiegervater Segestes der Verräter. In Wahrheit lagen die Dinge wohl ein klein wenig komplizierter: "Die" Germanen gab es gar nicht; es gab nur eine Reihe von Stämmen jenseits der Alpen, die von den Römern abwechselnd "Gallier" oder "Germanen" genannt wurden - bei vielen war durchaus nicht klar, wozu sie zählten, z.B. bei den Belgiern, den Helvetiern, den Kimbern und Teutonen (die Römer hielten sie allesamt für Gallier - also Kelten), während sie den "Markomannen" Marbod für einen Germanen hielten, obwohl er auch ein Slawe gewesen sein könnte, denn die Abgrenzung der Ostgermanen von den Slawen war ebenso unsicher wie die der Westgermanen von den Galliern; wo man Gepiden, Heruler oder Awaren einordnen sollte, wußte damals erst recht niemand - und auch heute ist es noch nicht unumstritten. Nun war zwischen all diesen nicht-romanischen Stämmen durchaus nicht immer Friede, Freunde, Eierkuchen, sondern vielmehr manch "interner" Streit; und wie das so ist bei Streitigkeiten, suchte man sich da auch Verbündete. Die Cherusker - zu denen Arminius gehörte - waren Verbündete der Römer; eine Politik, die freilich nicht unumstritten war. Eine einseitige Geschichts-Schreibung - bis 1945 einseitig pro-deutsch, nach 1945 einseitig anti-deutsch - hat das Problem auf die pauschale Frage verengt, ob es gut oder schlecht war, daß die Römer das rechtsrheinische Germanien wegen Arminius nicht eroberten - und darauf ebenso pauschale Antworten (wie soll schon Jesus Christus laut Bibel gesagt haben: "Eure Rede sei 'Ja, ja' oder 'nein, nein' :-) erhalten. Lange Zeit gipfelten die Antworten in dem einst populärsten deutschen Fahrtenliedchen von Victor (jawohl, er trug einen römischen Vornamen!) v. Scheffel: "Als die Römer frech geworden, zogen sie nach Deutschlands Norden..." und erlitten dann in der Schlacht im Teutoburger Wald (damals hatte man noch keine Zweifel an der Lokalisierung) eine so empfindliche Niederlage, daß sie die Eroberung des ostrheinischen Germaniens endgültig aufgaben. [Erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts sollte man in Kalefeld-Wiershausen - das liegt bei Northeim, also im Südharz - Überreste einer Schlacht zwischen Römern und Germanen ausgraben, aus denen sich ergab, daß die ersteren noch bis ins 3. Jahrhundert hinein versucht hatten, Germanien zu erobern - wie es einige zeitgenössische Historiker, z.B. Herodianos, auch überliefern; aber die hatte man bis dahin nicht ernst genommen; dabei haben ihre Berichte auch nicht mehr von "Boulevard-Presse" an sich als etwa die des so überschätztenhochgeschätzten Sueton.] Und zumindest bis 1945 blieb der Tenor: "Ein Glück, sonst wären die dortigen Germanen ebenso verweichlicht und romanisiert (oder ausgerottet) worden wie die Franken in Gallien, die Westgoten und Sueben auf der Iberischen Halbinsel, die Wandalen in Nordafrika, die Ostgoten und Langobarden in Italien... (Man kann sogar ziemlich genau sagen, ab wann diese Meinung nicht mehr öffentlich vertreten werden durfte: als besagtes Liedchen aus der "Mundorgel" gestrichen werden mußte, also Mitte der 1960er Jahre.

Als Dikigoros zur Schule ging, lernte er dort schon das genaue Gegenteil: Sein Lateinlehrer wurde nicht müde zu betonen, welch ein ungeheurer "Kulturverlust" es doch für die Barbaren östlich des Rheins gewesen sei, daß ihnen die lateinische Zivilisation vorenthalten blieb. Nun, wenigstens westlich des Rheins sei das ja anders gewesen; und diese Gebiete bildeten denn auch nicht von ungefähr den Kern der hochzivilisierten Bundesrepublik Deutschland, während die so genannte "DDR" im Osten halt immer noch so primitiv und rückständig sei wie einst... Dikigoros' Lateinlehrer war ein Angehöriger jener lächerlichen Species von Lokalpatrioten bundesrepublikanischen Bekenntnisses, wie sie in den ersten vier Jahrzehnten der BRD erschreckend häufig anzutreffen waren - im Rückblick erscheint er Dikigoros wie einer jener dummen Neger in Afrika, deren "Patriotismus" sich exakt mit den durch die Besatzungsmächte per Lineal auf der Landkarte gezogenen Staatsgrenzen der Kolonien deckt, und die jene, die sich statt dessen auf Stammes- und Volksgrenzen besinnen, als staatsgefährdende "Kriegstreiber" und "Terroristen" verunglimpfen. ('Staatsgefährdend' hat Dikigoros bewußt nicht in Anführungsstriche gesetzt, denn das sind sie ja wirklich - aber das spricht nicht gegen sie, sondern gegen jene Art von Staaten.)

Ja ja, liebe christlich-germanische Leser (denn trotz Arminius seid Ihr ja keine Heiden geblieben, weil der Franke Karl, den einige "den Großen" nennen, das alles nachgeholt hat, was Tiberius & Co. versäumten :-), aber, wie mal ein Historiker gesagt hat: "An den meisten falschen Antworten der Geschichtsschreibung sind die falschen Fragestellungen schuld." Und das ist so eine. Was ist "gut" - und für wen? Für "das Volk"? Wer ist das? Und wer von denen weiß, entscheidet und bestimmt, was für ihn - und andere - gut ist? Die "Elite" durch einsame Beschlüsse? Die breite Maase in "freien Wahlen und Abstimmungen"? Einzelne können irren - Massen auch. Was für die einen gut ist, mag für die anderen schlecht sein und umgekehrt. Natürlich gibt es auch solche Entscheidungen dummer Einzelner, die von dummen, da systematisch verdummten Massen gewählt worden sind, die für alle schlecht sind. (Wir leben gerade wieder mal in so einer Fase unserer Geschichte, aber das nur am Rande.) Aber kann es nicht auch Entscheidungen geben, die für alle gut sind? Bestimmt - aber wer findet die, und wie setzt er sie durch? Indem er die Tochter seines Widersachers entführt, wie Arminius die Thusnelda? Das war weder germanischer Brauch, noch entsprach es den römischen Vorstellungen von "Zivilisation". Indem er fremde Truppen ins Land holt - ohne zu wissen, ob er die Geister, die er zu Hilfe rief, wieder los wird und wann? Indem er reguläre Truppen mit einem Kleinkrieg (oder, wie man heute auf Spanisch sagt, einer "Guerilla") bekämpft, auf die Gefahr hin, daß der Gegner solche Verstöße gegen das Kriegsrecht mit Repressalien gegen die Zivilbevölkerung beantwortet? - Aber der Erfolg gab Arminius doch Recht, oder? Von wegen, liebe Leser.

Was Kleist und andere nicht sahen, nicht sehen wollten, war, wie es nach der Schlacht im Teutoburger Wald anno 9 n.C. weiter ging: Tiberius und Germanicus schlugen Arminius in mehreren Schlachten vernichtend, sein Bruder Flavus, sein Schwager Segimund, seine Frau Thusnelda (nebst ihrem gemeinsamen Sohn Thumelicus) liefen zu den Römern über (sein Schwiegervater Segestes stand ja sowieso schon auf deren Seite), Thusnelda heiratete sogar den Germanicus und hatte mit ihm einen weiteren Sohn. (Alles Verräter? Alles Verräter - hätte Kleist gesagt.) Und dennoch gaben sie die Eroberung Ostgermaniens auf - nicht wegen ihrer Niederlagen, sondern trotz ihrer Siege. Warum? Waren sie vielleicht zu der Erkenntnis gelangt, daß das - ungeachtet der Frage, was für die Germanen gut oder schlecht war - für ihr eigenes Volk, die Römer, nichts gebracht hätte, das den dauerhaften Einsatz wert gewesen wäre? Fragten sie sich vielleicht: Wie kommen wir eigentlich dazu, uns noch mehr Kolonien ans Bein zu binden, dazu noch in einer Gegend, wo es weder Bodenschätze gab (wie in Britannien oder auf der Iberischen Halbinsel) noch Getreide (wie in Nordafrika) noch Handelswaren aus dem Orient (wie in Kleinasien)? Die Römer waren - damals noch - kluge Kolonisatoren und Kaufleute; wo sich ein Geschäft nicht rentierte warfen sie dem schlechten Geld kein gutes mehr hinterher. Ihre Ziele konnten sie auch so erreichen: Im Jahre 47 n.C., also 38 Jahre nach der Schlacht im Teutoburger Wald - Arminius, der noch zwölf Jahre lang Bürgerkrieg gegen Marbod geführt hatte, in dem sich ihre Stämme verbluteten, war anno 21 n.C. von seinen eigenen Verwandten getötet worden - machten sie Italicus, den Sohn des Flavus (und Neffen des Arminius), zum König der Cherusker; er schloß mit ihnen ein Bündnis, das die Cherusker zu "Föderaten" der Römer machte, und sie lebten in Frieden nicht mit-, sondern nebeneinander, ohne sich oder ihre Kulturen zu vermischen, wie zwei vernünftige Nachbarvölker das tun sollten.

Ist das schon Dikigoros' abschließende persönliche Meinung? Jein - noch nicht ganz. Aber den Rest möchte er, wenn Ihr erlaubt, noch etwas zurückstellen und Euch auf ein späteres Kapitel dieser "Reise durch die Vergangenheit" verweisen; denn die Frage stellt sich noch einmal und viel pointierter - weil da auch die Kehrseite der Medaille zum Vorschein kommt - in der Komödie "Romulus der Große" von Friedrich Dürrenmatt. An dieser Stelle mag uns genügen, daß im 19. Jahrhundert der König von Preußen und deutsche Kaiser ein klotziges, überlebensgroßes Denkmal "Hermanns des Cheruskers" auf der "Grotenburg" im Teutoburger Wald errichten ließ (allein das stählerne Schwert - von Krupp - soll 11 Zentner wiegen), das ihn fast so viel kosten sollte wie die Wiederaufstellung der von Varus verlorenen drei Legionen gekostet hätte: 90.000 Thaler (ca. 2,7 Millionen Teuros heutiger Kaufschwäche, pardon Kaufkraft) - damit sind Italiener und Deutsche, pardon Römer und Germanen also quitt.

* * * * *


"Wenn die Geister des Aeschylos, Sophokles und Shakespeare sich vereinigten,
eine Tragödie zu schaffen, sie würde das sein, was Kleists Tod Guiskard's des
Normannen
[. . . ist], die große Lücke in unserer dramatischen Literatur aus-
zufüllen, die selbst von Schiller und Goethe noch nicht ausgefüllt worden ist."
                                                                              (Christoph Martin Wieland)

Heinrich v. Kleist war ein großer Freund des Marionetten-Theaters (wie sein Zeitgenosse Goethe, der sich dort seinen Faust abschaute); er hat einen berühmten (wenngleich vom Standpunkt der psychologischen Fachwissenschaft aus überholten) Essay darüber geschrieben. Und obwohl er im Gegensatz zu Goethe und anderen Adeligen seiner Zeit keine Reise, pardon "Cavalierstour", nach Italien gemacht hatte, muß er irgendwie (die Germanisten haben sich nie die Mühe gemacht heraus zu finden, wie - und Dikigoros weiß es auch nicht) mit dem sizilianischen "teatrino dei pupi armati [Theater der bewaffneten Puppen]" in Berührung gekommen sein; denn dort, genauer gesagt in der Via del Pappagallo von Palermo, wurde bis vor kurzem noch die Tradition gepflegt, die Kämpfe zwischen Normannen, Italienern und Sarazenen im 11. Jahrhundert auf die Bühne zu bringen. Die Hauptakteure auf normannischer Seite waren dabei die Brüder Robert "Guiskard [der Gewitzte]" und Roger de Hauteville (oder, wie die Italiener heute sagen: Roberto il Guiscardo und Ruggero d'Altavilla) sowie ihr Neffe Serlon. Kleist schrieb gewissermaßen die Fortsetzung, nämlich den Versuch Roberts, nach Süditalien und Sizilien auch Wisádion ("Byzanz") zu erobern. Er bekam dieses schwierige Thema nicht in den Griff - leider, denn es ist eines der interessantesten der hochmittelalterlichen Geschichte, von dem Ihr, liebe deutsche Leser, wahrscheinlich noch nie gehört habt, weil in Euren Schulbüchern aus jener Zeit ständig nur der Investiturstreit und Canossa, Heinrich IV und Gregor VII auf dem Stundenplan stehen. (Die Sache mit Byzanz wird dann auf die Kreuzzüge verschoben, vorzugsweise auf den vierten.) Was umso verwunderlicher ist, als beide Ereignisse eng zusammen hingen, ja einander sogar entscheidend beeinflußten, wie wir gleich sehen werden. Kleist wußte das offenbar nicht, soviel können wir auch aus dem unvollendeten Manuskript seines "Robert Guiskard" mit Sicherheit feststellen; denn er läßt Roberts Zug nach Byzanz daran scheitern, daß die Pest ausbricht und er darob unverrichteter Dinge nach Italien zurück kehren muß.

Aber wir, liebe Leser, dürfen uns heute damit beschäftigen, wie es wirklich war, und ein wenig darüber nachdenken, wie es wohl gewesen wäre, wenn der vermeintlich so gewitzte Robert nicht nach so vielen Jahren erfolgreicher Politik einen Fehler begangen hätte, der für das Mittelalter etwa so schwer wiegende Folgen hatte wie für die Neuzeit Hitlers Zaudern vor Dünkirchen oder die Umkehr der Japaner vor der vollständigen Zerstörung Pearl Harbors achteinhalb Jahrhunderte später. Robert hatte den Balkan in einem Blitzkrieg überrannt - seine Normannen waren den byzantinischen Söldnertruppen haushoch überlegen. [Wenn Ihr mal von der berühmten "Waräger-Garde" gehört habt, liebe Leser, dann vergeßt sie: Das war die Palastwache von der Größe eines Wachregiments; damit konnte man eine Palastrevolte nieder schlagen (oder mit ihrer Hilfe eine durchführen :-), aber keine Kriege gewinnen. Und die übrigen Streitkräfte? Die griechischen waren 1071 in der Schlacht von Mantzikert vernichtet worden (von der man übrigens auch nicht so recht weiß, wo und wann genau sie statt fand - das ist also keine Besonderheit der deutschen Geschichte), die armenischen und selçukischen Söldner desertiert - man hatte tunlichst darauf verzichtet, wieder welche von denen anzuwerben -; die normannischen Söldner hatten gerade versucht, unter ihrem Anführer Roussel de Bailleul in Anatolien einen eigenen Staat zu gründen; ansonsten gab er nur noch ein paar angegraute angelsächsische Offiziere, die nach der Eroberung der britischen Inseln durch die Normannen 1066 nach Byzanz geflohen waren, und einen Haufen rasch ausgehobener slawischer - meist bulgarischer - Muschiks, die kaum wußten, wie man ein Schwert hält - wenn sie denn überhaupt eines hatten.]

Robert hatte auch einen guten "moralischen" Grund für seinen Krieg gegen Byzanz, pardon für Byzanz, denn er wollte ja nur den rechtmäßigen Herrscher wieder auf den Thron setzen: Michael, formell der VII genannt, aber im Volksmund - wegen der schleichenden Geldentwertung - "Parapinakes [minus ein Viertel]". (Wenn auch Ihr, liebe Leser, Freunde des Puppenspiels seid, dann erinnert Ihr Euch vielleicht an das Stück "Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer", das Michael Ende für die "Augsburger Puppenkiste" schrieb, und an König Alfons den Viertelvorzwölften von Lummerland - Dikigoros vermutet, daß Michael Ende sich von diesem Beinamen seines Namensvetters inspirieren ließ.) Das war rein zufällig der Schwiegervater von Roberts Schwester (oder Tochter - da sind sich die Quellen nicht ganz einig, beide hießen Helena, und eine wirds wohl gewesen sein), den ein böser Usurpator, Nikéforos Botaniádis, abgesetzt und ins Kloster geschickt hatte, mitsamt ihrem Mann Konstantin. Nein, das war nicht nett und rechtfertigte allemal Roberts Feldzug zur Eroberung, pardon Befreiung des alten Konstantinopel. Sogar den Segen der UNO, pardon des Papstes hatte er zuvor eingeholt. (Der wollte nämlich gerne das noch keine dreißig Jahre alte, also wohl noch nicht irreparable Schisma zwischen der katholischen und der orthodoxen Kirche kitten - natürlich mit sich selber als neuem Gesamtoberhaupt :-) Die Sache hatte nur einen kleinen Haken: Als die Warägergarde erfuhr, daß Robert Guiskard im Anmarsch war, putschte sie und - setzte Konstantin und Helena auf den byzantinischen Thron; jetzt ging es also nicht mehr für, sondern gegen den rechtmäßigen Herrscher. Aber wie war das? Legal, illegal, scheißegal, nur der Sieg zählt, denn der Sieger ist immer im Recht, und der Verlierer ist ein Kriegsverbrecher. Im Frühjahr 1082 stand Robert Guiskard, nachdem er Korfu und Durazzo erobert hatte, vor Thessaloníki, der letzten nennenswerten Festung vor Byzanz, und nennenswerte Streitkräfte der Byzantiner gab es nicht mehr. Es konnt auch keine Rede davon sein, daß etwa die Pest ausgebrochen wäre; vielmehr geschah etwas ganz anderes, das Kleist - unwissend oder wohlweislich? - uns in seinem Drama verschweigen wollte: Es kam ein Bote aus Italien zu Robert, und meldete zweierlei: 1. Der deutsche Kaiser Heinrich IV marschierte auf Rom. 2. Der Papst bat dringend um die Waffenhilfe der Normannen.

Halt, liebe Leser, an dieser Stelle wollen wir eine kurze Pause machen und nachdenken: Was hättet Ihr an Roberts Stelle getan? Natürlich hättet Ihr nicht in die Zukunft blicken können. Wie hättet Ihr auch wissen sollen, was aus Byzanz wurde, wenn die Normannen es nicht eroberten: Unter den unfähigen griechischen Herrschern zettelte es die "Kreuzzüge" an, für die Westeuropa bluten mußte (auch im übertragenen Sinne, nämlich finanziell), verfiel danach immer mehr und schließlich den Türken in die Hände. Wenn jemand das dauerhaft hätte verhindern können, dann wären es die Normannen gewesen - die des 11. Jahrhunderts, nicht das verweichlichte Völkchen, das sich zu Beginn des 13. Jahrhunderts dazu aufraffte (das waren schon Italiener, wenn Ihr wißt, was Dikigoros damit sagen will :-). Ein Normanne hätte als Kaiser in Byzanz geherrscht, so wie ein Waräger im benachbarten Reich der Rūs in Kiew herrschte. Jerusalem und Palästina wären nie an die Muselmänner verloren gegangen, die Kreuzzüge in den Orient hätte es nie gegeben; statt dessen hätte man schon Ende des 11. Jahrhunderts die Iberische Halbinsel von der Herrschaft des Islam befreien können, vielleicht sogar Nordafrika - das damals noch keine wertlose Wüste war -; ja vielleicht hätte man dem ganzen muslimischen Spuk ein für alle Male den Garaus bereiten können. Die Türken hätten nie vor Wien gestanden (und nie Berlin-Kreuzberg erobert :-), und die Wahhabiten nie das World Trade Center zerstört. Aber wie gesagt, Robert konnte nicht hellsehen; er entschied sich für die Rückkehr nach Italien. Der Papst dankte es ihm schlecht; aber als Robert das merkte, war es schon zu spät, die einmalige historische Chance war verspielt und kam nicht wieder - wie das so ist mit historischen Chancen. Roberts Neffe, Roger II, wollte klüger sein: Obwohl sich der Staufer Konrad III und der Byzantiner Manuel I gegen ihn verbündet hatten und er sich daraufhin zunächst mit den Welfen und den Franzosen einließ, entschloß er sich nach Konrads Tod zu einem Bündnis mit den Staufern und verheiratete seine Tochter Constanze mit EnricoHeinrich, dem Sohn von Kaiser Friedrich I, den die Normannen "Barbarossa [Rotbart]" nannten; sie sollte die Mutter eines Sohnes werden, den sie "Constans" nannte, die Normannen "Roger" und die Deutschen "Friedrich II". (Beachtet bitte, liebe Leser, daß Dikigoros hier nur von der Mutter schreibt, nicht von den Eltern, denn der Vater dieses Sohnes war schwerlich ihr Mann Heinrich - aber das ist eine andere Geschichte.) Und - wohin führte dieses verspätete Klügersein? 18 Jahre nach dem Tode Constans-Roger-Friedrichs waren die normannischen Staufer in Sizilien ausgerottet.

Ihr seht, liebe Leser, die wahre Geschichte von Robert Guiskards Versuch, Konstantinopel einzunehmen, enthält genug Dramatisches, um daraus eine packende Tragödie zu machen. (Leider ist diese Geschichte auch außerhalb Deutschlands nur allzu wenig bekannt. In der "populär-wissenschaftlichen", dreibändigen "History of Byzantium" des britischen Professors J. J. Norwich z.B. liest man über jene drei Jahre nicht mal eine Seite: "Im März 1078 brachen überall in Konstantinopel Unruhen aus. Der erbärmliche Michael dankte ab und zog sich ins Kloster zurück. Am 24. März zog Nikephoros Botaneiates im Triumph in Konstantinopel ein. Eine Revolte folgte der nächsten, und der Staat glitt immer tiefer in die Anarchie. Drei Jahre später dankte der bemitleidenswerte alte Botaneiates ab und machte Alexios Kommenos Platz, der nach seiner Thronbesteigung zu Ostern 1081 siebenunddreißig Jahre herrschte." Über Robert Guiskard schreibt er ein paar Seiten zuvor lediglich, daß er anno 1071 Bari erobert hatte, sonst nichts.) Was aber hat Kleist daraus gemacht? Die Geschichte eines "Verrats". Eines Verrats? Wenn Dikigoros nicht irrt, sollten da sogar mehrere vorkommen: Zunächst einmal ist da der angedeutete Verrat Roberts an seinem Bruder bzw. an dessen Sohn, seinem Neffen Abälard (den Namen hat Kleist frei erfunden; und Dikigoros kann sich auch nicht vorstellen, daß ihm da der historische Serlon als Vorbild gedient hat), dem er die Herrschaft über das Normannenreich schon entrissen hat und die über Byzanz noch entreißen - bzw. vorenthalten - will; deshalb ist Abälard nun seinerseits gewillt, Robert Guiskard zu "verraten", und sei es nur, daß er den Normannen (die idiotischerweise mit Frauen - keinen Amazonen -, Kindern und 100-jährigen Greisen zur Belagerung von Byzanz angereist sind, wie der preußische Leutnant a.D. sich das so vorstellt :-) verrät, daß er die Pest hat. Die Herrschaft über Byzanz? Na klar: Bei Kleist ist Abälard doch mit Helena, der "Witwe des Kaisers" verlobt! (Kleist hat sie kurzerhand zur Witwe gemacht, sonst ginge das ja nicht :-) Aber was solls - der historische Guiskard war ja auch nie bis Byzanz gekommen, sondern wie gesagt nur bis Thessaloniki, und die Pest hatte er auch nicht. Er war auch nicht der Sohn Wilhelms von der Normandie, wie Kleist meinte, sondern von Tankred von Hauteville, der wiederum keinen Thron in Unteritalien oder Sizilien zu vererben hatte - weder an Robert noch an dessen Brüder oder Neffen -, sondern das mußten sich Robert und sein Bruder Roger erstmal erobern, wie wir schon gesehen haben. Robert Guiskard sollte erst mit 70 Jahren auf Kefalonía (oder, wie die Italiener sagen, Cefallonia) das Zeitliche segnen.

Aber Kleist ist noch nicht fertig mit seinen "Verrätern": Wie wir so ganz nebenbei - aus einer Fußnote des Manuskripts - erfahren, gab es auch in Byzanz noch "Verräter", Griechen, die nicht Helena als Herrscherin zurück haben wollten, sondern - Robert Guiskard höchstpersönlich. Wenn man das liest, muß man erstmal schlucken - für wie dumm hielt Kleist die Byzantiner? Die hatten doch gerade erlebt, was Roussel de Bailleul versucht hatte und hätten sich schön bedankt, einen Normannen auf dem Thron zu sehen!

(...)

Wir müssen noch einmal auf Abälard zurück kommen. Hat Dikigoros nicht eben geschrieben, daß Kleist ihn frei erfunden habe? Nein, nicht ganz - nur den Namen und den Neffen; aber er vermutet, daß es gleichwohl eine Person gab, die Kleist als Vorbild gedient haben könnte; und die führt uns - wie könnte es anders sein - zum nächsten Verrat. Zu Beginn seiner Karriere war Robert als Habenichts nach Italien gekommen. Was kann man[n] in so einem Falle tun? Nun, eine ganze Menge; oder er kann es sich leicht machen und ins [halb] gemachte Nest einheiraten (wobei freilich die Frage ist, ob das immer ganz "leicht" ist :-). Robert entschied sich für diese zweite Alternative, indem er die Cousine (oder Tante, auch da sind sich die Quellen nicht ganz einig) von Girard de Buonalbergo, einem süditalienischen Provinzfürsten, heiratete. Damit hatte er zumindest eine gute Basis für ein weiteres Ausgreifen nach Süden. Diese erste Frau Roberts hieß Alberada, und ihr Name hat offenbar bei Kleists Namensgebung für "Abälard" Pate gestanden. (Sie hatte übrigens wirklich einen Sohn, der allerdings Bohemund hieß - er sollte einer der Anführer des 1. Kreuzzugs nach Jerusalem werden; und um ein Haar wäre ihm auch die von seinem Vater versäumte Eroberung Byzantions geglückt. Alberada hatte ferner eine Tochter; manche meinen, es sei jene Helena gewesen, die den griechischen Thronerben Konstantin heiratete; andere meinen, sie habe vielmehr Mathilde geheißen, und wer es allen recht machen will, kann sogar annehmen, daß sie zwei Töchter hatte, nämlich Helena und Mathilde - aber das braucht uns hier nicht weiter zu interessieren.) Und - verriet Robert diesen Sohn? Ja, wenn auch nicht wie Kleist sich das dachte: Nachdem die Mohrin, pardon Normannin Alberada ihre Schuldigkeit getan hatte, ließ Robert die Ehe mit ihr annullieren, wegen angeblich zu naher Verwandschaft (das war ein lächerlicher Vorwand - sie könnte allenfalls eine ganz entfernte Cousine gewesen sein), machte Bohemund so zum in Blutschande gezeugten Bastard (was Helena dann freilich auch geworden wäre, was doch eher für eine Schwester spricht - oder dafür, daß sich die Tochter zur Vertuschung dieses Makels als Schwester ausgab) und heiratete in zweiter Ehe Sichelgaita, die Schwester des Langobarden-Königs Gisulf.

(...)

* * * * *

[5 DM Gedenkmünze 1955 auf Markgraf Ludwig von Baden, den 
'Türkenlouis'] [25 Schilling Gedenkmünze 1963 auf Prinz Eugen von Savoyen, den 'edlen Ritter'] [Medaille auf König Karl XII von Schweden]

Es gibt Leute die meinen, große Theaterstücke bedürften großer Helden, und als deren Vorlagen kämen nur solche in Frage, die in großen Kriegen mit gekämpft hätten. Wohlgemerkt, diese Meinung wird nicht nur in Deutschland vertreten, sondern ganz allgemein auf der Welt; und wenn wir uns mal speziell in Europa umschauen: Was gab es denn in den gut 100 Jahren zwischen dem 30-jährigen und dem 7-jährigen Krieg noch an großen Kriegen und großen "Helden", die eines Theaterstücks würdig wären? Nun, die Türkenkriege auf dem Balkan - sie machten den Markgrafen Ludwig von Baden, den "Türkenlouis" berühmt, ebenso den Prinzen Eugen von Savoyen - obwohl der seine großen Schlachten erst im Spanischen Erbfolgekrieg schlug (zusammen mit John Churchill, dem Herzog von Marlborough). Dann den Nordischen Krieg, in dem Karl XII von Schweden zu trauriger Berühmtheit gelangte, obwohl er noch dümmer war als Napoleon und Adolf zusammen. Und sonst? Ach ja, da waren noch ein paar Scharmützel zwischen Brandenburgern und schwedischen Besatzungstruppen (das sind die, die von der UNO heute "Friedensschutztruppen" o.ä. genannt würden - schließlich hatte der brave Gustav Adolf die deutschen Protestanten ja vom Katholizismus "befreit", und auch Hitler war Katholik, also muß alles, was sie taten, gut gewesen sein!), die nach dem so genannten Frieden von Münster und Westfalen (in Wirklichkeit waren es zwei separate Kapitulationen, wie 1945, einmal gegenüber den Westmächten, und einmal gegenüber Schweden) da geblieben waren und sich in etwa so aufführten wie die alliierten Besatzer, pardon Befreier 1945 in ganz Deutschland: "Sie hausten wie die Hunnen," schrieb ein Historiker, als man so etwas noch schreiben durfte, "das Vieh wurde den Leuten weg genommen, und ihre Vorräte, soweit sie nicht fort geschafft werden konnten, wurden mutwillig vernichtet. Ein beliebtes Spiel der schwedischen Soldaten war, den männlichen Einwohnern die Fußsohlen zu versengen und den Frauen die Brüste abzuschneiden. Die Toten wurden ausgegraben, um die ihnen mitgegebenen Schmuckstücke wegnehmen zu können, dafür wurden gelegentlich die Leute aus den Dörfern aus Jux lebendig begraben. Die Kirchen wurden ausgeraubt, alles, was Gold oder Silber war, mitgenommen..." So so, "die" Schweden... Wir werden gleich sehen, wer sich so alles dahinter verbarg...

In Preußen wurde bis 1945, pardon, bis 1934, seitdem gibt es gar kein Preußen mehr, denn da hatte der Österreicher Hitler die Länder des Reiches schon "gleichgeschaltet" (die doofen Alliierten wußten das bloß nicht und erklärten Preußen deshalb 1945 noch einmal für abgeschafft :-) alljährlich an offiziellen Festtagen dreier Schlachten und ihrer Helden gedacht: Der 1914 von Ludendorff geschlagenen (aber Hindenburg zugeschriebenen) bei Tannenberg, der 1870 von Moltke geschlagenen (aber Bismarck zugeschriebenen) bei Sedan, und - der 1675 von Fritz v. Homburg geschlagenen bei Fehrbellin. [Warum auch nicht? Andere Nationen tun das ja auch - und zwar, im Gegensatz zu den Deutschen, bis heute. Die Engländer zum Beispiel feiern bis heute ihre großen Seeschlachten: den Sieg Drakes über die spanische Armada 1588, den Sieg Nelsons über die Flotte Napoleons bei Trafalgar, und den Sieg Jellicoes über die Flotte des Hunnen Wilhelm 1916 im Skågerrak - der "Juteland Day" ist bis heute ein amtlicher Feiertag im Vereinigten Königreich. Selbst die friedlichen Schweizer feiern noch immer ihre siegreichen Schlachten von Laupen 1339, Murten 1476 und Sempach 1486. Andere Völker, wie die Iren, die Serben und bis vor kurzem auch die Griechen, feiern sogar ihre verlorenen Schlachten. Und glaubt bloß nicht, daß eine Nation dadurch friedfertiger wird, daß sie statt ihrer Schlachten ihre Friedensschlüsse feiert. Die "grande nation" zum Beispiel feiert noch immer den 11. November 1918 und den 8. Mai 1945; aber selbst dafür kann man noch mehr Verständnis haben als dafür, einen Tag wie den 14. Juli 1789 zu begehen - Dikigoros gebraucht hier ganz bewußt das Zeitwort, das man auch im Zusammenhang mit Verbrechen gebraucht -, an dem ein paar verhetzte Marktweiber ein Pflegeheim für invalide Kriegsveteranen stürmten, von dem ihnen - und der tumpen Nachwelt - irgendwer eingeredet hatte, es sei ein Gefängnis, und die Insassen als vermeintliche KZ-Wärter massakrierten.] Es darf Euch nicht stören, liebe Leser, daß keine dieser Schlachten wirklich dort statt fand, wo sie die öffentliche Meinung lokalisiert[e] - das war schon bei der Schlacht des Arminius gegen die Römer so, die schwerlich im Teutoburger Wald geschlagen wurde -, und die anderen können uns im Moment egal sein. Bis auf eine: die von Fehrbellin.

Wenn Ihr Kleist gelesen habt, dann kennt Ihr wahrscheinlich alle das in seinem Theaterstück kolportierte Märchen: Der "Prinz von Homburg" greift die Schweden an, gegen den Befehl des "Großen Kurfürsten" Friedrich Wilhelm von Brandenburg, erringt einen glänzenden Sieg, wird gleichwohl wegen Ungehorsams zum Tode verurteilt, aber am Ende großzügig begnadigt. Welch ein Happy-end! In Wirklichkeit war alles ganz anders: Der Söldner-Führer Fritz v. Hessen-Homburg (die Fürsten von Hessen waren schon immer groß darin, ihre Landeskinder als Kanonenfutter in fremden Kriegen zu verheizen) führte sein Regiment von 1.500 Mann, das die Vorhut der preußischen Truppen bildete, im nebligen Morgengrauen gegen die fast 10:1 überlegenen schwedischen Truppen, die eine so gut wie uneinnehmbare Stellung bei Linum besetzt hielten. Ach so, liebe Wessis, Ihr seid mit den Lokalitäten nicht so vertraut. Müßt Ihr auch nicht, im Gegensatz zu Dikigoros, dessen Schwiegervater aus der Ecke kommt. Also, ein klein wenig Geografie: Fehrbellin liegt irgendwo zwischen Oranienburg (den Namen habt Ihr doch sicher schon mal gehört) und Neu-Ruppin. Dorther stammt auch Theodor Fontane, der das hübsche Gedicht über Herrn Ribbeck von Ribbeck im Havelland geschrieben hat, das noch vor zwei Generationen alle Schulkinder in Deutschland (oder zumindest in Preußen) auswendig lernen mußten. Das Havelland ist eine ziemlich traurige Gegend: entweder Sand oder Sumpf. Zwischen zwei Sümpfen, dem "Havelländer Luch" und dem "Rhin-Luch", liegen ein paar Sandhügel; auf einem davon, ziemlich am Westende, liegt Fehrbellin. Am Ostende laufen die beiden Sümpfe zu einem Nadelöhr zusammen, in dem das Dorf Linum liegt, und davor die so genannte "Landwehr", ein praktisch uneinnehmbares Schanzwerk mit Wassergraben. Was taten die Schweden, als Fritz v. Homburg sie dort tollkühn angriff (wohlgemerkt, nachdem er dem Kurfürsten brav Meldung gemacht und keine gegenteiligen Befehle erhalten hatte)? Sie gaben ihre Stellungen auf und zogen sich zurück auf ein Kaff namens Hakenberg, wo sich der Flaschenhals noch einmal verengte, denn nun lag im Süden ein weiterer Hügel - der einzige in der Gegend, der diese Bezeichnung wirklich verdiente -, "Dechtower Fichten" genannt (nach dem die Schlacht eigentlich heißen müßte). Fritz v. Homburg erkannte sogleich dessen strategische Bedeutung und ließ ihn besetzen; und es gelang ihm, ihn gegen wütende schwedische Angriffe zu halten, bis der Kurfürst mit dem Hauptheer nachgerückt war. Die Schweden - obwohl noch immer ca. 2:1 in der Überzahl - gaben die Schlacht verloren und flohen nach Westen - wobei sie auch die Brücke bei Fehrbellin überquerten (und sie hinterher zerstörten); das war aber auch schon alles, was diese Stadt mit der Schlacht zu tun hatte.

Und der Ärger des Kurfürsten? Und der Prozeß? Das Todesurteil? Die Begnadigung? Tja - alles frei erfunden, oder jedenfalls fast. Richtig ist, daß der Kurfürst sauer war, weil so viele Schweden entkamen - er hätte sie gerne bis zum letzten Mann tot schlagen lassen. Aber die brandenburgischen und hessischen Soldaten waren vier Tage und Nächte bei strömendem Regen durch den Sumpf gestapft, praktisch ohne etwas im Magen; als die Schlacht geschlagen war, verzehrten sie ihre eisernen Rationen (und die der gefallenen Schweden), sanken auf dem Schlachtfeld neben den Leichen in tiefen Schlaf und ließen die Feinde laufen. "Befehlsverweigerung!" tobte der Kurfürst (der natürlich immer gut gespeist und geschlafen hatte, wie Hindenburg vor, während und nach der Schlacht von Ortelsburg, pardon, man sagt ja bis heute Tannenberg :-). Aber es war nicht so, daß die Soldaten nicht wollten - sie konnten einfach nicht mehr; das mußte am Ende auch der Kurfürst einsehen. Wer allerdings ob dieses Vorwurfs stinksauer war, das war Fritz v. Homburg: Er warf dem Brandenburger den Krempel hin, verkaufte sein Regiment (ja, die Obristen waren damals noch Unternehmer auf eigene Rechnung, wie im 30-jährigen Krieg - deshalb wäre der Kurfürst von Brandenburg praktisch gar nicht in der Lage gewesen, seinem Feldherren den Prozeß zu machen, auch wenn der als Privateigentümer von Neustadt an der Dosse theoretisch sein Untertan war!) für 5.000 Thaler an das Herzoglein von Sachsen-Coburg-Gotha (der noch nie so viele Soldaten gehabt hatte, und für den das ein echtes Schnäppchen war, denn das Regiment hatte noch ca. 1.000 Mann einsatzfähig, die sonst einzeln à 30 Thaler gehandelt wurden) und fuhr nach Hause, nach Hessen-Homburg. Er hatte genug vom Krieg, der ihm nicht viel mehr eingebracht hatte als eine Menge Ärger und ein Holzbein - das einzige, was an ihm zu Lebzeiten berühmt wurde, da es mit Silber beschlagen war; der persönliche Ruhm des "Landgrafen mit dem silbernen Bein" und seine posthume Beförderung zum "Prinzen" sollte noch über ein Jahrhundert auf sich warten lassen.

[Friedrich v. Homburg, um 1655] [Friedrich v. Homburg, um 1675] [Friedrich v. Homburg, nach 1695]

Aber wie um alles in der Welt kam Heinrich v. Kleist ausgerechnet auf diesen Stoff, und wie will Dikigoros hier noch seine These aufrecht erhalten, daß er sich ständig Stoffe mit "Verrätern" ausgesucht hat? Nun, liebe Leser, die eine Frage stellen, heißt die andere beantworten. Es war nämlich wieder das alte Lied: Fritz v. Homburg hatte in jungen Jahren sein Vaterland verraten, pardon verlassen, um ausländische Kriegsdienste anzunehmen. Wo versuchte man es als Deutscher zuerst, wenn man zur Zeit Kleists lebte? Natürlich bei Deutschlands besten Freunden, den Franzosen. Wo, wenn man zur Zeit des Homburgers lebte? Natürlich bei Deutschlands besten Freunden (s.o.), den Schweden! Der einzige Unterschied zwischen dem Leutnant v. Kleist und dem Leutnant v. Homburg bestand darin, daß der erstere von den Franzosen gleich abgewiesen wurde, während der letztere von den Schweden mit Handkuß genommen wurde. Erst 1661, ein Jahr, nachdem König Karl X Gustav von Schweden gestorben und der Friede von Oliva geschlossen war, entließen sie den Mohren, der seine Schuldigkeit getan - und es immerhin bis zum Generalmajor gebracht - hatte, in Ehren, aber ohne Pension; und das (letztere!) sollte er ihnen nie verzeihen. [Nur am Rande: Wo versuchte man es als Savoyer zuerst, wenn man zur Zeit des Homburgers lebte? Natürlich bei Savoyens besten Freunden, den Franzosen. Die wiesen Eugen von Savoyen freilich ab - wie später Heinrich v. Kleist. Die beiden verhinderten Verräter reagierten mit unauslöschlichem Haß ob so viel verschmähter Liebe; Prinz Eugen wurde Feldherr bei den Habsburgern und sorgte zusammen mit dem Herzog von Marlborough dafür, daß Frankreich den Spanischen Erbfolgekrieg militärisch verlor; dafür, daß unfähige Diplomaten den Sieg aus den Händen gaben, konnte er nichts, ebenso wenig wie diejenigen, die 1813 und 1814 die Befreiungskriege gegen Napoleon gewannen, etwas dafür konnten, daß unfähige Diplomaten ihre Siege auf dem Wiener Friedenskongreß leichtfertig wieder verspielten oder wie Fritz v. Homburg etwas dafür konnte, daß die unfähigen brandenburgischen Diplomaten vier Jahre nach der Schlacht bei den "Dechtower Fichten", pardon bei Fehrbellin, den Verzichtsfrieden von St. Germain-en-Laye schlossen.] Der Verrat des Homburgers war also nicht bloß ein versuchter, sondern ein vollendeter; und wenn er nicht Deutschland an Schweden verriet - denn er kannte kein "Vaterland" -, dann verriet er Hessen an Brandenburg. Und ausgerechnet jener krumme Hund wurde - Dank Kleist und seinem Theaterstück - erst zum brandenburgisch-preußischen, dann gar zum deutschen Helden hoch stilisiert und in eine Reihe mit Feldherren wie Blücher, Moltke und Hindenburg gestellt (was vielleicht - mit Ausnahme Moltkes, der wirklich ein kompetenter Stratege war - gar nicht so verkehrt war :-)

Längerer Exkurs, den Dikigoros schon immer mal los werden wollte, aber an keiner anderen Stelle seiner "Reisen durch die Vergangenheit" so recht unterbringen kann - wohl aber hier, denn Kleist war schließlich Berufssoldat und ist es im Grunde seines Herzens immer geblieben. Und er hat maßgeblich zu einem Mythos beigetragen, der unter den Deutschen so gut wie unausrottbar zu sein scheint: den vom heldenhaften Frontoffizier, der auf eigenes Risiko einem Rückzugsbefehl "von oben" zuwider handelt, den er für falsch erkannt hat, und durch sein beherztes Angreifen den Sieg erringt. Aber wenn man mal nach konkreten Beispielen für diesen Mythos sucht, stößt man eher auf Fälle, in denen die Nichtausführung eines Angriffsbefehls "von oben" den Tag entschied - sei es zum Guten, sei es zum Schlechten: Im August 1812 verweigerte der georgische General Bagratian den Befehl, die französischen Invasoren bei Rudnja anzugreifen, und zog sich statt dessen auf Smolensk zurück, das zu Napoleons Dünkirchen wurde; denn der ließ seine Truppen daraufhin vor jener relativ unbedeutenden Festung anhalten, um sie erstmal zu erobern, statt der russischen Hauptmacht nachzusetzen, die so Richtung Moskau entkommen konnte. Letztlich scheiterte daran Napoleons Rußlandfeldzug, und Rußland gewann den Krieg; in dem Fall war es also mal die richtige Entscheidung, den Angriffsbefehl zu verweigern. Aber umgekehrt wurden einige der berühmtesten Schlachten der Weltgeschichte verloren, weil ein dämlicher Frontkommandeur glaubte, es besser zu wissen als der Oberbefehlshaber auf dem Feldherrenhügel. Einen Fall hatte Dikigoros bereits erwähnt: Admiral Nagumo hatte 1941 den Befehl, den US-Kriegshafen in Pearl Harbor mit drei Angriffswellen vollständig zu zerstören; aber er war nach zweien der Auffassung, daß es genug sei - die feindlichen Schlachtschiffe waren ja alle versenkt oder schwer beschädigt, warum sollte man da noch die Treibstofflager in Brand schießen und die Docks zerstören? Das wäre doch unritterlich gewesen! (Andere Gründe gab es nicht; die Japaner hatten bei keiner der beiden Angriffswellen nennenswerte Verluste gehabt; und ernsthafte Gegenwehr stand auch bei einer dritten nicht zu erwarten.) Hätte er seine Befehle befolgt, so wäre Pearl Harbor auf Jahre hinaus unbrauchbar gewesen; die US-Navy wäre auf ihre Häfen an der Küste Kaliforniens zurück geworfen worden, und die Japaner hätten in aller Ruhe China, Indien und Australien erobern können. Egal wie der Krieg in Europa ausgegangen wäre - Asien hätte heute ein anderes Gesicht. (Nein, Dikigoros behauptet nicht, daß es ein besseres wäre, aber halt ein ganz anderes. Indien und China wären vielleicht wieder buddhistisch; dann würde kein Tibeter nach Unabhängigkeit schreien, denn man hätte ihnen ja ihre Religion und ihre oberste Marionette, den Dalai Lama, gelassen.) Und dann gab es noch den Fall, daß ein Frontkommandeur zwar keinen befohlenen Angriff unterließ, aber eigenmächtig einen nicht befohlenen Angriff ausführte und damit scheiterte. Wie war das gleich bei Waterloo? Wenn man Napoléons Memoiren glauben darf (viele Historiker tun das nicht; aber Dikigoros tut es hier doch mal), dann versaubeutelte Marschall Ney die Schlacht durch eine befehlswidrig zu früh angesetzte Kavallerie-Attacke, die den Rest der französischen Armee mit in den Untergang riß. (Was wäre geschehen, wenn Napoleon bei Waterloo gesiegt hätte? Schwer zu sagen; vielleicht hätte er auch nicht mehr heraus geholt als seine Nachfolger beim Wiener Kongreß; aber das ist ja hier nicht unser Thema - die berühmtesten Schlachten sind nicht immer die folgenschwersten.) Oder zur Abwechslung mal eine Kombination aus einem verweigerten und einem eigenmächtigen Angriff: 1415 bei Azincourt hatte der Kommandeur der französischen Kavallerie den Befehl, die englischen Bogenschützen zu umgehen und ihnen dann in die Flanke zu fallen. Statt dessen sah er erst untätig zu, wie dieselben langsam vorrückten und sich in einem Sumpf zwischen zwei undurchdringlichen Waldstücken verbarrikadierten, und dann begann er befehlswidrig einen sinnlosen Frontalangriff gegen eben diese Barrikaden im Sumpf. Der Ausgang der Schlacht ist bekannt: Das gesamte französische Ritterheer ging drauf, denn wer nicht fiel, sondern sich gefangen gab, der wurde entgegen den damals - jedenfalls auf dem Kontinent - herrschenden Gepflogenheiten von den Engländern massakriert, jenem abgekämpften Haufen halbverhungerter und ruhrkranker Söldner, den das französische Aufgebot unter normalen Umständen - d.h. wenn die Befehle des Oberkommandos befolgt worden wären - in weniger als einer Stunde durch den Fleischwolf hätte drehen können. Und was dann? Nun, der 100-jährige Krieg wäre fast vier Jahrzehnte früher zuende gegangen, es hätte in Frankreich keine Jeanne d'Arc gegeben und in England keine Rosenkriege, d.h. sowohl Shakespeare als auch Schiller wären um eines ihrer Lieblingsthemen ärmer gewesen.

Ja aber, sagt der Kleist-Freund, hat es nicht gerade den deutschen Soldaten im allgemeinen und den deutschen Offizier im besonderen ausgezeichnet, daß er "vorne" mitdachte und auf unterer Ebene selbständig handelte, statt nur stur Befehle von oben auszuführen? Daß er deshalb viel eher als andere im feindlichen Feuer stand hielt und lieber starb, als einfach davon zu laufen oder sich gefangen zu geben, um die eigene Haut zu retten, aber damit den Verlust der ganzen Schlacht zu riskieren? Ach, liebe Leser, selbst wenn das so wäre... (Es war nicht so; wenn sich jemand lieber umbringen ließ als weg zu laufen, dann waren das die Russen; aber nicht aus Heldenmut, sondern weil sie wußten, daß hinter ihren Linien - wie übrigens auch zur Zeit des "Prinzen von Homburg" und noch lange danach hinter den preußischen - die "Feldgendarmen" standen und erbarmungslos die eigenen Leute zusammen schossen, die es wagten, befehlswidrig zurück zu gehen; aus Bedacht kämpften allein die Japaner bis zur letzten Patrone und brachten sich, wenn diese verschossen war, lieber selber um als die Schande der Gefangenschaft auf sich zu nehmen.) Aber der "Frontsoldat" ist nur das letzte Glied einer langen Kette, und er ist bei aller Tapferkeit und was ihn sonst noch auszeichnen mag, verraten und verkauft, wenn die viel gescholtene Etappe und die Heimatfront nicht mit machen. Was ist denn, wenn der Küchenbulle die Verpflegung nicht organisiert, wenn Waffen und Munition nicht nach vorne kommen und und und, weil man die "Schreibtischhengste" aus purer Verzweiflung bewaffnet und in die Schlacht geworfen hat (wo sie meist eh nichts bringen, weshalb ihr Verheizen mehr oder weniger sinnlos ist)? Und wenn die Rüstungs-Industrie nicht ordentlich produziert, sei es weil die Manager auf die falschen Modelle setzen, sei es weil die Arbeiter streiken oder gar Sabotage betreiben? Deutschland hat die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts nicht an der Front verloren, sondern zuhause - und zwar nicht wegen der alliierten Luftangriffe. Und wenngleich Dikigoros an anderer Stelle geschrieben hat, daß es nicht darauf ankommt, wer die besseren Waffen hat: Es kommt eben doch darauf an, wer seine Waffen - egal ob die nun einen Tick besser sind oder schlechter - in ausreichender Menge zur richtigen Zeit am richtigen Ort seinen Soldaten zu Verfügung stellt. Die US-Amerikaner waren nie besonders gute Frontkämpfer - im Gegenteil; aber wenn es brenzlig wurde, konnten sie stets materiell überlegene Kräfte ins Spiel bringen und so den Sieg erringen. Und sie genierten sich gar nicht, wenn sie dabei mit Kanonen auf Spatzen schossen, ganze Panzerdivisionen gegen eine Kompanie Hitlerjungen einsetzten, eine Batterie schwerer Artillerie gegen drei nur mit Karabinern 98 bewaffnete Volkssturmmänner im Schützengraben oder ganze Bomberflotten gegen ein einsames Flak-Geschütz. Überlegt einfach mal, worauf man eher einen Grund hat, stolz zu sein: "Tapfer" an der Front zu sterben, weil man keine Munition mehr hat oder "feige" zu überleben, weil man rechtzeitig Unterstützung angefordert hat. Dikigoros wird nie die Schilderungen seines Vaters über den Endkampf in Mecklenburg im Mai 1945 vergessen, wie er und seine Kameraden gut getarnt im Straßengraben lagen und die Sowjets an sich vorbei ziehen sahen, mit Wut im Bauch, aber ohne Benzin im Tank und ohne Granaten im Rohr, so daß sie am Ende ihre letzten paar Lkw, Geschütze und Panzer (die viel besser waren als die russischen Lkw, Geschütze und Panzer) sprengen und sich dann zu Fuß oder per Fahrrad nach Westen durchschlagen mußten, wo sie kampflos in amerikanische bzw. britische Gefangenschaft gerieten. Pfui, wie feige! Hätten sie noch Nachschub gehabt, dann wären sie selbstverständlich eher den "Heldentod" gestorben als aufzugeben, denn die 17- bis 20-jährigen waren damals ja so erzogen - aber was hätte das mit "Mitdenken" zu tun gehabt? (Immerhin kam der Befehl, sich abzusetzen, "von oben"; hätte er statt dessen gelautet, mit Spaten und Bajonett weiter zu kämpfen bis zum letzten Atemzug, wer weiß, wie viele den getan hätten...) Nun, vielleicht darf man hier nicht anderthalb Jahrhunderte über Kleist hinaus denken; als der Soldat war, kämpfte man noch mit dem Säbel; und solange der nicht entzwei war, gab es keinen Grund, sich zurück zu ziehen oder gar zu kapitulieren, so lange nicht eine eintsprechender Befehl "von oben" vorlag. Exkurs Ende.

* * * * *

Das Thema "Verrat" sollte die Familie Kleist auch nach dem Tode Heinrichs nicht los lassen. Im 20. Jahrhundert war es wieder so weit: Zwei seiner Urgroßneffen - Vettern, die beide den Vornamen Ewald trugen - waren ebenfalls Offiziere geworden, hatten es allerdings etwas weiter gebracht als bloß bis zum Leutnant. Der eine, Jahrgang 1881, war maßgeblich an der miesen Intrige beteiligt, die im Sommer 1934 von der Reichswehr (nein, liebe Leser, in "Wehrmacht" wurde sie erst 1935 umbenannt) ausgesponnen wurde, um Hitler und die SA gegen einander auszuspielen, und die unter so unterschiedlichen Bezeichnungen wie "Der Röhm-Putsch" oder "Die Nacht der langen Messer" in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Zur Belohnung stieg er 1943 zum Feldmarschall auf; aber dessen konnte er sich nicht lange erfreuen: 1945 beging er den Fehler, sich den Angelsachsen zu stellen in der Hoffnung auf eine milde Kriegsgefangenschaft. Doch die, nicht faul, lieferten ihn an die Jugoslawen aus; und da Tito sich damals noch nicht mit Stalin verkracht hatte, reichte der ihn gleich weiter. Als "Kriegsverbrecher" zu lebenslangem Konzentrationslager verurteilt, verreckte er 1954 irgendwo in Sibirien, ein Jahr bevor Adenauer die letzten Kriegsgefangenen aus der Sowjet-Union loseiste. Der andere, Jahrgang 1890, beteiligte sich an der Verschwörung vom 20. Juli 1944, wurde 1945 als Hochverräter hingerichtet und wird folglich heute als "Widerstandskämpfer" gefeiert. Nein, Dikigoros will diese alte Geschichte hier nicht noch einmal ausführlich breit treten - seine treuen Leser wissen ja längst, was er von jenen Feiglingen und Versagern hält, jenen Ratten, die erst Mitte 1944, als der Krieg bereits verloren war, versuchten, das sinkende Schiff zu verlassen, statt Hitler schon 1940 zu beseitigen, als er die Engländer aus Dünkirchen entkommen ließ, die meisten Soldaten nach Hause schickte und die wichtigsten Rüstungs-Projekte stoppen ließ, weil er in seinem verblendeten Größenwahn glaubte, er könnte von Deutschlands Feinden Frieden erlangen, indem er sie schonte. Damals wurde Hitler zum Verbrecher und zum Verräter an Deutschland und den Deutschen, und wer ihn beseitigte, den hätte man mit Recht als "Helden" feiern dürfen. (Aber wahrscheinlich wäre es nicht dazu gekommen, denn die Alliierten hätten den Krieg gegen Deutschland trotzdem weiter geführt; und egal wie er ausgegangen wäre, hätten einige Unverbesserliche immer gesagt: "Wenn Ihr damals den Adolf nicht umgebracht hättet..." Nun, man hätte ihn ja nicht gleich umbringen müssen, sondern vielleicht nach Elba deportieren können :-) Doch diejenigen, die im Sommer 1938 - also noch vor der Münchner Konferenz und dem "Anschluß" des "Sudetenlandes", vor der "Zerschlagung der Rest-Tschechei", vor dem Angriff auf Polen, vor Beginn des Holocaust usw. - nach London flogen, um das deutsche Staatsoberhaupt an die Engländer zu verraten und deren Hilfe bei der Ausführung eines Attentats zu erbitten, das waren todeswürdige Hochverräter, daran kann für Dikigoros nicht der geringste Zweifel bestehen - sie wären es noch heute, nach allen Rechtsordnungen der Welt, die Kleist, Beck, Canaris usw. Es wäre fast, als wenn ein Bundeswehr-General nach Afģānistān flöge, um sich dort mit den Spitzen der Tālibän zu treffen und um Mithilfe bei der Ermordung des Bundespräsidenten und des Bundeskanzlers (Hitler war seit Hindenburgs Tod beides - "Führer und Reichskanzler" - in Personalunion) zu erbitten. Der einzige Unterschied wäre, daß die Bundesregierung unter krassem Verstoß gegen das Grundgesetz bereits einen Krieg gegen al-Qaidā mit führt, ein rot-grüner General (ja, solche Dienstgrade werden heutzutage nur noch nach Parteibuch, nicht nach militärischer Befähigung vergeben!) also durchaus zu der Auffassung gelangen könnte, daß man diese "Kriegstreiber" beseitigen müsse, während sich die Reichsregierung 1938 in tiefstem Frieden mit Großbritannien befand und nicht die mindesten Aggressions-Absichten hegte. Und so darf Dikigoros zu der unter Heraldikern umstrittenen Frage, als was denn die beiden Tierchen auf dem Familienwappen derer v. Kleist zu deuten seien, als schlaue Füchse oder als Wölfe, vielleicht noch eine andere Alternative beisteuern: krumme Hunde oder feige Coyoten?

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