INDIEN IST NICHT AMERIKA
UND KALKUTTA LIEGT NICHT AM GANGES

[Kalkutta, Howra-Brücke über den Hugli][San Francisco, Golden Gate Bridge]

Fortsetzung von Teil III

Jahre sind ins Land gegangen. In Indien hat die Pest gewütet; beim letzten Kumbh Melā sind 'zigtausende zu Tode getrampelt worden - "die Rache des Wassermanns", wie Dikigoros das nennt, der zugunsten dieser Massen-Veranstaltungen nur sagen kann, daß sie wenigstens nicht so häufig statt finden wie die in Mekka. Europa steckt mitten in der BSE-Krise, und in Indien haben empörte Demonstranten die Filialen von McDonald's gestürmt und abgefackelt - obwohl dort wohlweislich bloß Chicken McNuggets und vegetarische Hamburger aus Sojaschrot angeboten wurden. Die Ausländerfeindlichkeit in Indien hat zugenommen. Nein, "Ausländer"-Feindlichkeit ist nicht ganz das richtige Wort, es ist genau genommen die Feindlichkeit gegenüber Andersgläubigen und Andersdenkenden. In einigen Städten ist es zu schweren, Bürgerkriegs-ähnlichen Krawallen zwischen Hindūs und Muslimen gekommen. Die Muslime haben angefangen - natürlich, wie immer und überall auf der Welt, denn Muhamad ist ihr Profet, und der Qur'ān gibt ihnen nicht nur das Recht dazu, sondern erlegt ihnen sogar eine heilige Pflicht auf, die "Ungläubigen" mit Gewalt zu bekämpfen. Aber nun haben erstmals militante Hindūs massiv zurück geschlagen, und zwar nicht nur in Mahārāshtr - wo Dikigoros das angesichts der Tradition Shiwajīs am ehesten erwartet hätte -, sondern auch und vor allem in Gujrāt, der Heimat Gāndhīs, der doch als Apostel der Gewaltlosigkeit gilt. Aber halt auch der Staat, in dem Somnāth liegt; und seit Beginn der 1990er Jahre hat der Streit um die Babrī-Moschee in Rāmas Geburtsort Ayodhyā bei Faizābād den Blick vor allem der Wishnuiten geschärft für das, was die Muslime dort, am Alterssitz Krishnas - und anderswo - den Hindūs Jahrhunderte lang angetan haben. Nicht von ungefähr begannen die besagten Krawalle mit einem Überfall der Muslime auf einen Pilgerzug der Hindūs von Somnāth nach Ayodhyā. Das Schlimme ist, daß immer mehr Hindūs die Christen mit den Muslimen in einen Topf werfen; selbst deren "Hilfe" wird nicht mehr als uneigennützig empfunden, sondern als indirekter Versuch einer Missionierung. "Mutter Teresa" - deren Seligsprechung doch erst ein paar Jahre her ist - wird von vielen nicht mehr als Heilige, sondern als Hexe betrachtet. [Was immer man sonst von ihr halten mag - beides ist sicher überzogen.] Bhārat Mātā, Mutter Indien, einst das mehr oder weniger freundliche Symbol Indiens, ist zum Symbol für seine Überschwemmung mit ausländischen Importen vor allem der Konsumgüter-Industrie geworden - und nichts gibt es, was der althergebrachten indischen Mentalität fremder, befremdlicher und verachtenswerter ist als die "Wegwerf-Gesellschaft", die damit notwendigerweise Einzug hält. Aber die Inder fühlen sich nicht nur wirtschaftlich angegriffen und vergewaltigt, sondern auch ideologisch - also politisch und religiös -, von Christen, Muslimen, Kommunisten und Separatisten zugleich. Bajrang Dal - schon 1984 gegründet, aber Jahre lang bloß ein fast lächerlich kleines Splitter-Grüppchen, das Dikigoros erstmals gar nicht in Indien, sondern durch seinen New Yorker Ableger aufgefallen war - ist zu einer Millionen-Bewegung erstarkt, die manche durchaus als bedrohlich einstufen.

[Mutter Indien] [Muttter Import] [Angriffe]

Dikigoros versucht, das alles zu verdrängen. Nein, verdrängen ist nicht ganz das richtige Wort; er versucht, sich nicht angesprochen zu fühlen - schließlich kann er den indischen Standpunkt nicht nur verstehen, sondern er hat auch weitgehend Verständnis dafür. Er ist wieder einmal in Dillī und speist in seinem Lieblings-Restaurant, wo er schon seit Jahrzehnten Stammgast ist. Die Geschäfte laufen schlecht, der einheimischen Kundschaft ist es zu teuer, den ausländischen Rucksack-Touristen sowieso, und die Valuta-Touristen essen lieber im Hotel-Restaurant, wie einst Peter Schmid, der "Wunder"-Mann. Ja, die Welt hat sich seitdem gewandelt, und selbst das einst so fest in seinen Traditionen verwurzelte Indien bildet da keine Ausnahme. Viele meinen, es habe sich zu seinem Nachteil verändert - aber nennt Dikigoros ein Land der Welt, von dem man das nicht mit ebenso viel - oder mehr - Recht behaupten könnte, auch was die Fremdenfeindlichkeit anbelangt. Er persönlich verspürt sie in Indien ohnehin kaum. Das mag daran liegen, wie er auftritt, und daß die Inder den Unterschied bemerken; daß sie - anders als einst die Koreanerin in Warānsī - nicht nur seine Uniform sehen, sondern auch, daß er keine Ledersachen trägt, weder am Gürtel noch am Handgelenk noch an den Füßen, dafür immer noch den Swastik; daß er einen anderen Blick hat und seinen Kopf anders bewegt als andere Ausländer; und wenn er den Mund aufmacht, hören sie natürlich, daß er ihre Sprache spricht. Aber das ist es nicht allein; Dikigoros ist überzeugt, daß nach wie vor kein Ausländer und keine Ausländerin, die sich nicht völlig daneben benehmen, von einem Hindū etwas zu befürchten haben - für die indischen Muslime legt er die Hand nicht ins Feuer, aber die gehören für ihn nicht richtig dazu, und wer diesen Unterschied nicht sehen und nicht hören will, muß fühlen, und wenn er (oder sie :-) Pech hat... selber schuld.

[Roastbeef] [Hamburger]

Aber da Dikigoros die Sache mit dem McDonald's-Restaurant erwähnt hat, muß er auf ein anderes Fänomen eingehen, das diesem - und wohl latent auch der "Fremdenfeindlichkeit" allgemein - zugrunde liegt: die Sache mit den "heiligen Kühen". Schon die "große Meuterei" der indischen Truppen im Jahre 1857 (früher auch "Sepoy-Aufstand" genannt) - die von einigen heutigen Historikern als Ausdruck einer tiefgreifenden Unzufriedenheit nicht etwa mit den alten Zuständen, sondern vielmehr mit den modernen Neuerungen, welche die Briten einführen wollten, interpretiert wird - hatte einen ganz simplen Aufhänger, nämlich das Gerücht, daß die Engländer ihre Patronen mit Rindertalg eingefettet hätten (so wurde es jedenfalls den Hindūs erzählt) oder mit Schweinefett (so bekamen es die Muslime zu hören), obwohl das ebenso wenig der Wahrheit entsprach wie das Gerücht, daß McDonald's seine Hamburger auch in Indien aus Rindfleisch herstellte. Und der liebe Gāndhī hatte den Haß auf die britischen Kolonialherren vor allem mit dem - allerdings zutreffenden - Argument geschürt, daß das "Rindfleischfresser" waren. So werden Klischees geschaffen. Umgekehrt ist es aber auch nicht anders - und darauf will Dikigoros an dieser Stelle hinaus. Nichts hat das westliche Negativ-Klischee von Indien, vom Hinduismus so stark geprägt wie der Glaube an die "Heiligkeit", d.h. die Nicht-Eßbarkeit der Kühe. (Über die Nicht-Eßbarkeit der Pferde bei den edlen Germanen - die schließlich gute Christen geworden sind - sowie der Schweine bei den edlen Muslimen - die schließlich auch gute Monotheïsten sind, wie letztere - hat sich dagegen noch niemand ernsthaft aufgeregt, im Gegenteil: das wird respektiert und sogar ausdrücklich befürwortet; und die noch viel umfangreicheren "koscheren" Essenstabus der edlen Juden sind bei uns ja ohnehin von jeglicher Kritik ausgenommen.) Und wenn vor einem halben Jahrhundert ein empörter westlicher Reisender schrieb, daß in Indien die Menschen [ver]hungerten, weil sie wegen ihrer Religion kein Rindfleisch essen durften, und daß es auch den Kühen trotz ihrer "Heiligkeit" furchtbar schlecht ging, daß sie hungrig in den Straßen vor sich hin vegetierten, sich von Abfällen oder sogar Zeitungen ernähren mußten, dann war das vielleicht noch zu verstehen; denn die triste Wirklichkeit hatte schon längst keine Ähnlichkeit mehr mit dem idyllischen Wunschbild aus der Legende von Krishn, dem jungen Kuhhirten, der im saftigen grünen Gras mit glücklichen Kühen und Gopīs (Cowgirls) herum schäkert - ebenso wenig wie die triste Wirklichkeit im Westen Ähnlichkeit hat mit dem idyllischen Bild der Kuh, die ihren Halter[inne]n noch persönlich bekannt ist und von Hand gemolken wird.

[Kuh und Krishna] [Kuh auf der Straße] [Wunschbild einer Melkerin]

Exkurs. Unterschätzt bitte nicht, liebe christliche Leser, das nach den finanziellen Verlockungen zweitstärkste Motiv der wenigen Inder, die zu Eurem Glauben konvertieren: Sie setzen Euer liebes Jesulein insgeheim mit Krishn gleich, da sie wissen, daß auch an der Krippe des ersteren Ochs' und Esel standen (wobei ihnen freilich der Esel meist ziemlich schnuppe ist :-). Und umgekehrt sollte Euch auch die merkwürdige Affinität der westlichen Krishn-Jünger[innen], die früher Christ[inn]en waren, ausgerechnet zu jenem vorletzten Avtar Wishnus zu denken geben. Dagegen ist die Namensähnlichkeit zwischen dem indischen "Krisna" (wie ihn ja einige im Westen schreiben) und dem englischen "Christian" nur eine scheinbare, wie jeder, der Dewnagrī lesen kann, schon auf den ersten Blick sieht, denn da stimmt keine einzige Silbe überein: Der Christ schreibt sich im Indischen "kri-staa-n[a]", der Avtar Wishnus dagegen "kŗ-shņ[a]" - mit dem "ri" wie man es eigentlich auch in "ŗshi" und "Ŗshikesh" schreibt (aber Dikigoros wollte die Transskription der indischen Wörter ja nicht noch mehr komplizieren als er das ohnehin schon getan hat). Exkurs Ende.

[Krippe mit Ochs und Esel] [Krishnajünger]

Aber wer heute noch vom hohen Roß der vermeintlichen moralischen Überlegenheit über die Inder und ihre "heiligen Kühe" herzieht, der muß sich vorwerfen lassen, ein armer, von seiner Regierung und ihren Massenmedien systematisch dumm und unwissend gehaltener Narr zu sein. Vor zweieinhalb Jahrhunderten schrieb der französische Cyniker Voltaire über das harte Leben der Sklaven in der Karibik: "Wenn die Menschen in Europa wüßten, um welchen Preis sie billigen Zucker essen..." Ach, liebe westliche Leser, wenn Ihr wüßtet, um welchen Preis Ihr billiges Schweine- und Rindfleisch eßt... Die meisten von Euch haben wahrscheinlich noch nie ein Rinder-KZ aus der Nähe gesehen. (Wie das so ist mit Konzentrations-Lagern. Wenn Ihr eines Tages einen Krieg gegen die [R]inder verlieren und vor dem "Kriegsverbrecher-Tribunal" zu dieser Frage hochnotpeinlichst - vielleicht nach entsprechender Folter, wie so viele Angeklagte 1947 in Nürnberg - vernommen werden solltet, könntet Ihr guten Gewissens sagen: "Rinder-KZ? Damit hatte ich nichts zu tun. Davon wußte ich gar nichts, ich kannte nicht mal den Ausdruck." Und wenn man Euch dann vorhalten sollte, daß Ihr doch deren Leichen gefressen habt, würdet Ihr sagen: "Aber die Steaks kamen doch aus der Tiefkühltruhe!" - Eben, und der Strom für den Herd aus der Steckdose.) Ihr meint, die Rinder dort wären doch immerhin - schon aus menschlichem Eigennutz - wohl genährt und gesund, hätten also bis zur Hinrichtung, pardon Schlachtung, ein schönes Leben, und selbst der Tod auf dem elektrischen Stuhl, pardon unter dem elektrischen Bolzen sei doch äußerst human, pardon bovin, fast angenehm im Vergleich zum Los der Tiere in Indien? Glaubt Ihr das wirklich? Glaubt Ihr, daß es natürlich ist, von Fischgrätenmehl und zerquetschter Hirnmasse anderer Säugetiere zwangsernährt zu werden (denn freiwillig würde sie das niemals fressen)? Und gegen mögliche Krankheiten regelmäßig "profylaktisch" mit Antibiotika und anderem Zeug voll gepumpt zu werden? Und zur schnelleren Gewichtszunahme mit Clenbuterol und Anabolika gemästet und - um nur ja keine wertvolle Kalorie zu vergeuden - ein "Leben" lang zum bewegungslosen Stehen auf knapp zwei Quadratmetern verurteilt zu sein?

[Rinder] [Rinder]

Wie würde Euch das gefallen, liebe Rindfleisch-Fresserinnen (die Ihr ja in den meisten Haushalten noch immer über die Küche herrscht - die Männer bekommen, was Ihr ihnen vorsetzt, so war das bekanntlich schon im Garten Eden -, also die Täterinnen seid), wenn Ihr, wie eine europäische Kuh, in Reih und Glied, mit dem Hals unter einem Joch oder zwischen zwei Gitterstäben vornüber gebeugt, auf der einen Seite mit nackten Eutern und Hintern auf die Melkmaschine - und gegebenenfalls auch auf die Befruchtungsspritze (aber nie auf einen Stier!) - warten und auf der anderen Seite mit gesenktem Kopf das Maul in etwas schmutziges Stroh auf dem Boden stecken dürftet, um dann im besten Alter - ohne jemals eine grüne Wiese oder frisches Gras gesehen, geschweige denn gerochen oder geschmeckt zu haben - geschlachtet, gekocht, gebraten oder sogar [halb]roh aufgefressen zu werden? (Die Pläne dafür liegen vielleicht schon in den Schubladen gewisser Gen-Ingenieure - jedenfalls haben sich das einige bereits recht plastisch ausgemalt, pardon gezeichnet.)

[gekocht] [gebraten] [roh]

Würdet Ihr da nicht doch lieber wie eine Inderin leben, arm und - angeblich - von Mann und Schwiegermutter unterdrückt, aber frei? Dikigoros kann nicht für Euch sprechen; aber er ist sicher, daß weder die indischen Frauen noch die indischen Kühe mit ihren westlichen Geschlechtsgenossinnen tauschen möchten. Gewiß, die meisten fristen ihr Leben in Hunger und Armut, und viele auf der Straße; das mag ein hartes Leben sein; aber es ist wenigstens eines, das man nicht in Anführungsstriche setzen muß. Dikigoros hat mit diesem Absatz nicht umsonst bis zum Stichwort "BSE" gewartet. Es liegt ihm fern, da irgendeine "Rache der Natur" oder gar "Strafe der Götter" hinein zu geheimnissen; es ist ganz einfach die Folge bösen Karmas [Tuns] - die Verbrechen der Menschen an ihren Mitkreaturen rächen sich, ausnahmsweise schon in diesem Leben, und das ist gut so. Hand aufs Herz, liebe Leser, oder noch besser auf den Magen: Wenn Ihr Euch so ein Stück Rindfleisch mal anschaut, wie es die Briten - und auch andere Westler - bevorzugt verzehren, ist das nicht auch ohne BSE Ekel erregend und im wahrsten Sinne des Wortes zum kotzen? [Dikigoros legt Wert auf die Feststellung, daß er hier keines der - oft noch viel ekelhafteren - Bilder von Britta Pawlak oder anderen Tierschützern verwendet hat, sondern wohlgemerkt solche aus der Werbung (!) von Fleischern, Restaurants und "vorbildlichen" (!) Mastbetrieben. (Nein, die Zeichnungen von "Ricky" natürlich nicht - aber die hält er von allen noch für am wenigsten geschmacklos und obszön, denn sie stellen ja lediglich Karikaturen dar, nicht die traurige Wirklichkeit.)] Ach, liebe Gutmenschen, Ihr meint, weil auch Hitler kein Kuhfleisch aß, seien die Vegetarier doch alle böse Nazis, und es sei ein Zeichen demokratischer Gesinnung, es doch zu tun? Na dann - Heil Beil!

[Beef] [Beef]

Im Ausland - auch in Deutschland - liest man jetzt oft vom "Fortschritt", vom wirtschaftlichen Aufschwung in Indien (manche sprechen gar von einem "heimlichen Wirtschaftswunder"), vom wachsenden Wohlstand zumindest der Oberschichten, so wie man ja ähnliches auch über Rot-China lesen kann, dem sich gewisse[nlose] indische Politiker, die den Reinfall, den Nehrū gerade mal vier Jahrzehnte zuvor damit erlebte, schon vergessen zu haben scheinen, wieder an den Hals werfen wollen, nach dessen altem Motto: "Wir sind doch alle Asiaten, und das wird unser Jahrhundert!"

[Indien und Rot-China - das asiatische Jahrhundert?]

Die Begeisterung für indische Software-Spezialisten, die man per "Green-card" in die BRD locken wollte, hat sich zwar als Eintagsfliege erwiesen (die wirklich kompetenten Inder gehen, so sie auswanderungswillig sind, lieber in die USA, wo Englisch gesprochen wird und es schon einige indische Gemeinden gibt, die inkompetenten werden bald arbeitslos - und nicht nur die), aber für die Meinungsbildung der breiten Massen sind andere Dinge viel wichtiger: Da kommen indische Filme ins Fernsehen, in "Bollywood" gedreht (übrigens meist von zugereisten Panjābīs - aber das fällt den deutschen Zuschauern in der Regel nicht auf), die in der Tat ein Bild von Glamour und Wohlstand vermitteln (und, wenn sie nicht synchronisiert sind, von Englisch-Kenntnissen), wie es in den 1980er Jahren US-amerikanische Fernsehserien wie "Denver" und "Dallas" (die in Colorado und Texas niemand unter diesem Namen kennt - aber unter dem Titel liefen sie in Deutschland) überall auf der Welt taten, wo man gerne vom Schlaraffenland träumte. Daß diese Märchenbilder falsch sind - wer wüßte das besser als Dikigoros? Ja, in Bãbaī leben einige der reichsten Inder - aber insgesamt hat es Kålkattā längst den Rang als Stadt mit der größten Armut abgelaufen; und zahlenmäßig dürfte es damit auch alle nicht-indischen "Weltmetropolen" übertreffen, von Rio über Kairo bis Manila. (Die Rotchinesen lösen solche Slums mit Gewalt auf, wenn sie sich am Rande ihrer Großstädte zu bilden drohen, und in einigen Städten Schwarzafrikas mag es noch größere Armut geben, aber das sind keine Metropolen mehr, sondern nur noch Ansammlungen von lebendem und totem Schrott.) Und die "High-tech-Schmiede" Bangalūr? Ach, liebe Leser, das war mal in den 1970er Jahren - als Dikigoros sie zum ersten Mal besuchte - eine schöne, weiträumige Großstadt, mit viel Grün, wo man die leckeren Süßigkeiten von der Straße essen konnte (denn damals war er noch super-schlank) - und mußte (denn anders wurden sie nicht angeboten :-).

[Süßigkeiten]

Aber heute ist es eine versmogte Drecksstadt wie Tōkyō in den 1960er Jahren - bloß mit dem Unterschied, daß da so bald keine Aussicht auf Besserung besteht. Und die "Software-Ingenieure"? Sie sind oft weiblich und zieren die Heirats-Annoncen als solche (warum wohl, wenn es denn so tolle Jobs sind?) - und wenn man dann dahinter schaut, dann "programmieren" sie CDs, d.h. sie tippen Telefonbücher und Firmenverzeichnisse für westliche Auftraggeber ab, für einen Hungerlohn - und selbst darüber müssen sie noch froh sein, denn in Rotchina wird das noch billiger angeboten, und viele indische "EDV-Spezialisten" - auch echte - stehen auf der Straße, im wahrsten Sinne des Wortes. Nein, Bangalūr wird wohl nicht mehr Dikigoros' Lieblingsstadt in Südindien werden. Über Madrās alias "Chennaī" hatte er schon geschrieben - er empfiehlt es nach wie vor wegen der guten Küche -, von den Orten Keralas hält er nicht halb soviel wie die Reiseveranstalter, die sie so penetrant anpreisen, Maisūr kann man sich mal anschauen; aber es gibt nur ein Muß: Madurai und Umgebung.

[Madurai, Minakshi-Tempel, Gesamtansicht]

Wie weit wollen wir die "Umgebung" abstecken? Seien wir großzügig und nehmen einen Radius von rund 100 km. Das schließt Tiruchirappalli im Norden und Kanyākumārī im Süden ein, historisch gesprochen: das alte Reich von Wijaynagar, das als einziges in Indien der muslimischen Invasion widerstanden hat - und das eigentlich auch von den Aryern nie richtig erobert worden war. Hier ist Drawiddesh, das Land der dunkelhäutigen Drawiden, und nichts macht diesen Unterschied augenfälliger als ihre Tempel, die sich so völlig von denen Nordindiens unterscheiden. Keine Angst, liebe Leser, es kommt jetzt nichts, was Ihr in jedem Reiseführer besser nachlesen könnt, sondern ein paar Kleinigkeiten, auf die nach Dikigoros' Wissen noch niemand sonst gekommen ist, nämlich einige Parallelen zu Europa und Amerika. Seht Ihr, auch Griechenland ist eigentlich nie richtig von den Römern erobert worden, obwohl seine Städte und Tempel von den Römern mit der gleichen Gründlichkeit zerstört wurden wie die nordindischen von den Muslimen und die deutschen von den Amerikanern, und obwohl es dem Imperium Romanum formell Jahrhunderte lang angehörte, ja dieses sogar noch dem Namen nach fortführte, als Rom politisch längst untergegangen bzw. von den Germanen überrollt worden war; es hat seine kulturelle, d.h. religiöse und sprachliche Eigenart sogar während der muslimischen Invasion bewahrt, obwohl es Jahrhunderte zum Osmanischen Reich gehörte, und seine Tempel waren... knallbunt, wie die Südindiens!

[Minakshi-Tempel, Haupttor] [Minakshi-Tempel, Detailansicht]

Viele westliche Touristen, vor allem "Bildungs-Reisende" und Keksperten für Architektur, Kunst-Geschichte und was derlei Orchideen-Fächer mehr sind, finden das "kitschig" oder gar "primitiv" und ziehen die "schönen", vermeintlich "klassischen" Tempel Nordindiens vor (so wie sie in Europa die nüchternen, farblosen Tempel im römischen Stil vorziehen), meist ohne zu wissen, daß es sich bei den letzteren durch die Bank um Neubauten handelt - denn die Originale wurden wie gesagt von den muslimischen Invasoren zerstört. Darf Dikigoros dagegen halten? Er zählt die Tempelanlagen von Madurai (die der "fisch-äugigen" Göttin Mīnākshī geweiht sind) und die von Tiruchirappalli (die Wishnu als Shrī Rangānath geweiht sind) zu den eindrucksvollsten Indiens. (Was ihn daran so fasziniert? Die einzigartige Verbindung von Größe und Genauigkeit bis ins Kleinste - wo sieht man so etwas sonst noch auf der Welt? Schaut Euch doch mal um: Entweder findet man große, "sachlich"-häßliche Klötze aus Stahlbeton und Panzerglas, oder aber Steinmetzarbeiten en miniature - bestenfalls von der Größe eines Grabsteins.) Die Südinder haben sich - und deshalb kommt Dikigoros jetzt darauf - auch heute wieder, angesichts der "westlichen Invasion", mehr von ihrer alten Kultur bewahrt als die Nordinder, von denen sie immer weniger wissen wollen. Die Bewohner der vier südlichen Bundesstaaten - Karnataka, Andhr Pradesh, Keral und Tamil Nādu - antworten, wenn ihnen ein Nordinder sagt: "Wir sind ein Volk" mit einem Satz, den inzwischen auch die Deutschen kennen: "Wir auch."

Dikigoros hat an anderer Stelle die Frage diskutiert, ob "die" Inder ein Volk, eine Nation sind oder nicht. Nehrū hat sich steht dagegen gewehrt, die Grenzen der Bundesstaaten Bhāratas nach den Sprachgrenzen neu zu ziehen, weil er den Partikularismus der indischen Völker fürchtete. Das war müßig - denn inzwischen sind die Grenzen neu gezogen, und eben nach der Sprachzugehörigkeit - und ging am eigentlichen Problem meilenweit vorbei, denn die Südinder fühlen sich trotz ihrer verschiedenen Sprachen - Kannādī, Telugu, Malayālam und Tamil - als ein Volk; sie verständigen sich untereinander auf Englisch und lehnen "Hindustanī", die Sprache des Nordens, überwiegend ab; Nehrū kämpfte also an ganz falschen Fronten. (Das kommt davon, wenn Leute in die Politik gehen, die nicht Geschichte, sondern Jura studiert haben. Nein, liebe deutsche Leser, Helmut Kohl ist kein Gegenbeispiel; wer nach 1945 in Deutschland "Geschichts-Wissenschaften" studiert hat, hat von Geschichte meist ebenso wenig Ahnung wie ein Jurist :-) Aber die Haltung der Südinder erinnert Dikigoros noch an die eines anderen Volkes, das er recht gut kennt, nämlich die der Mexikaner: Dort will auch niemand mehr von den Spaniern, den "Gachupines", abstammen, sondern nur noch von den edlen Azteken und Maya (und auch deren Tempel waren knallbunt!) - obwohl man mit Fug und Recht bezweifeln darf, daß an denen allzuviel "Edles" war. (Die waren vielmehr auch nur Eroberer und Zerstörer, aber darüber schreibt Dikigoros an anderer Stelle). In Südindien ist es geradezu eine Manie geworden, nicht von den Aryern abstammen zu wollen; ja die bisweilen hysterische Diskussion des "Aryer-Problems" hat mittlerweile auf ganz Bhārat übergegriffen, was mitunter so weit geht, die arysche Invasion Mitte des 2. Jahrtausend v.C. in Bausch und Bogen zu bestreiten. Die Kultur, die man gemeinhin den Aryern zuschreibt, war nach dieser Auffassung schon immer da, alles andere sind Hirngespinste der Ewig-gestrigen, basta.

[Exkurs. Ihr haltet diese Theorie für völlig abwegig und womöglich von Dikigoros frei erfunden? Aber nicht doch, sie wird inzwischen von allerhöchsten Instanzen vertreten! In den 1990er Jahren schrieb ein ordentlicher Professor für Linguistik an der "Banaras Hindu University" in Warānsī ein Buch mit dem Titel "The Aryan Problem", in dem er "bewies", daß die Aryer nicht etwa im 2. Jahrtausend v.C. nach Indien eingewandert seien, sondern vielmehr schon im 6. Jahrtausend v.C. in Indien, ihrer Urheimat, gesessen und sich von dort in den folgenden Jahrtausenden über die ganze westliche Welt ausgebreitet hätten. Welche "Beweise" er für diese seine Annahme hat? Ganz einfach: Bekanntlich stammen sowohl der Pfau als auch das Pferd (das Rind sowieso :-) als auch die Zigeuner aus Indien. Und da die sich allesamt über die ganze westliche Welt verbreitet haben, muß ihrer aller Heimat, und folglich die Wiege der Zivilisation, Indien sein, genauer gesagt das Industal. Und wie kommt er ausgerechnet auf das 6. Jahrtausend v.C.? Nun ja, in den Weden steht doch, wie lange das Kālī Yug schon andauert - das muß man einfach mal wörtlich nehmen, dann braucht man nur noch das mutmaßliche Alter der Weden drauf zu addieren, und voilà! Eine faszinierende Theorie, vor allem für die großen Vereinfacher und Schmalspurdenker, denn so lösen sich in der Tat fast alle Datierungs- und sonstigen Probleme der indischen Geschichte in Wohlgefallen auf: Also muß schon die Indus-Kultur von Harappa und Mohenjo Daro eine Schöpfung der Aryer gewesen sein. (Und selbst den wedischen Fluß Saraswatī will man "wieder entdeckt" haben: Nein, nicht den imaginären im Himālay, sondern den echten: Es soll sich um das inzwischen ausgetrocknete Flußbett Ghaggar in der Wüste Thar handeln, wo zugleich das historische "Bharatwarsh" gelegen haben soll. Und dessen mutmaßliche Hauptstadt hat man auch schon gefunden: unter Wasser, im Golf von Khambhāt, liegen die Ruinen der angeblich ältesten und größten (Hafen-)Stadt der Welt, und da einzelne Fundstücke tatsächlich in die Mitte des 6. Jtsd. v.C. datiert werden, ist das natürlich Wasser auf den Mühlen des Professors. Wenn diese These zuträfe, könnte sie sich mit der von Heinz Ritter-Schaumburg messen, der den Zug der Nibelungen von der Donau an die Dhünn verlegt hat und ihren Untergang von Ungarn nach Westfalen - aber das ist eine andere Geschichte.) Erobert, unterworfen oder gar ausgerottet haben die Aryer dann auch niemanden - im Gegenteil, die hätten selbst 1946 sofort einen Persilschein bekommen! Und die Drawiden? Nun, die saßen wohl schon immer nur an der Südspitze des indischen Halbkontinents - was ging das die Aryer an? Exkurs Ende.]

[Pfau] [Pferd] [Rindvieh] [Zigeunerin]

Heute, im Rückblick und von außen, erkennt man vielfach klarer, wann diese falschen Fragestellungen - die zwangsläufig zu einem verzerrten Geschichtsbild führen - aufkamen und wie. Es war Mitte der 1980er Jahre, als sich z.B. auch in Mitteleuropa absurde Gedanken über eine Invasion in die Gehirne gewisser Politiker und "Historiker" einschlichen: Da kam der US-Präsident, ein Mann guten Willens, zu einem Staatsbesuch in die BRD und besichtigte dort einen Soldatenfriedhof. In dem Bemühen um einen Akt der Versöhnung hielt er eine Rede, daß doch alle Leute, die dort begraben lagen, gute Soldaten waren und daß man die Toten ruhen lassen sollte. (An etwas wie die verleumderische "Wehrmachts-Ausstellung" dachte noch niemand auch nur im Traum.) Ein Aufschrei der Empörung ging durch die linken Medien - und seitdem ist jener US-Präsident in der BRD als "Nazi-Sympathisant" verschrien. Der BRD-Präsident, ein gewisser Baron v. W. (dessen Vater zu den Top-Nazis gezählt hatte - aber auch in Deutschland ist es geradezu eine Manie geworden, nicht von den Ariern abstammen zu wollen und natürlich erst recht nicht von den Nazis :-) entblödete sich nicht, die anti-arische Invasion Mitte des 20. Jahrhunderts n.C. als "Befreiung" zu bezeichnen. Es war das erste Mal, daß jemand dieses Wort in den Mund zu nehmen wagte für jene in der Weltgeschichte wohl einmalige (Dikigoros schreibt dies in Kenntnis der Geschichte Indiens, und er hat sich diese Aussage nicht leicht gemacht), durch nichts zu relativierende, geschweige denn zu rechtfertigende Massenorgie an Zerstörung, Plünderung, Mord und Vergewaltigung, die von ihren Urhebern nie anders als "Eroberung" genannt worden ist; sogar in ihrer amtlichen Besatzungs-Direktive stand ausdrücklich, daß es keine "Befreiung" sein sollte - was der Lügenbaron da von sich gab, war also eine ungeheuerliche Geschichtsklitterung. (Es war auch die Zeit, als das Wort "Holocaust" neu erfunden wurde bzw. neu definiert - auf Englisch würde Dikigoros an dieser Stelle "was forged" schreiben, was nicht nur "geschmiedet" bedeutet -, aber weil damit nicht der Holocaust an den Deutschen und Indern nach dem Zweiten Weltkrieg gemeint war, ist das eine andere Geschichte.) Was geschah? Setzte man diesen armen Irren, der sicher nur im Fieberwahn daher gefaselt hatte, umgehend ab und schickte ihn in eine Nervenheilanstalt? Oder schlug man ihn gleich tot wie einen räudigen Hund? Ach was - man schickte ihn in eine öffentlich-rechtliche Fernsehanstalt, ließ ihn im "Aktuellen Sportstudio" auftreten, wo er sich die Siege der deutschen Tennisspieler[innen] in Wimbledon als persönliches Verdienst an die Fahne heften durfte - schließlich hatte er mitgefiebert - und machte sich im übrigen seinen Schwachsinn zu eigen. Seitdem wird die deutsche Katastrofe von 1945 (wie sie noch der Historiker Friedrich Meinecke nennen durfte, der gewiß kein Nazi war) alljährlich als "Befreiung" gefeiert! Und die Generation, die es besser weiß, stirbt langsam aber sicher aus: Melones Eltern, die den Lügenbaron von da an nur noch "Drecksäcker" nannten, sind längst tot, und selbst ihr Sohn hat inzwischen das Zeitliche gesegnet - sie würden sich an jedem 8. Mai im Grabe umdrehen wenn sie wüßten, was über der Erde abgeht. Eines Tages wird man die amerikanische Invasion ganz leugnen - die Un-, pardon US-Kultur war schon immer da in Europa, alles andere sind Hirngespinste der Ewig-gestrigen, basta. [Auf Leser-Anfrage: Wie würde denn Dikigoros persönlich den 8. Mai 1945 bezeichnen? Nun, als halbwegs bibelfester Mensch würde er ein Wort verwenden, das die Juden in jenen Tagen erfanden, als sie die ersten Bücher des Alten Testaments bei den Babyloniern abschrieben: "Tag der Gefangenschaft".]

Ihr meint, liebe Leser, das seien doch nur theoretische Überlegungen - Gedankenspielereien ohne praktische Bedeutung? In Deutschland vielleicht - in Indien nicht: Ebenfalls Mitte der 1980er Jahre kam Rājīw Gāndhī, der Enkel und Nach-nach-nachfolger Nehrūs, zu einem Besuch nach Tamil Nādu. Und als er dort anfing, von der gemeinsamen Nation "der" Inder zu sprechen, die noch viel stärker integriert werden müsse, da erschoß man ihn wie einen räudigen Hund, der er in den Augen der Südinder war. (Natürlich auch in denen der Ost- und Westinder. Die Marāthen nannten schon seinen kommunistischen Großvater Jwahar-lāl "lāl kutrā [roter Hund]" - schließlich hatte er Gāndhīs konservative Hintermänner, die Marāthen Bhawe, Patel und Tilak ausgebootet.) Dabei sah Rājīw längst nicht mehr wie ein Kashmīrī aus (und entgegen seinem Vornamen auch nicht "lotus-äugig" :-), vielmehr war er relativ dunkelhäutig; was man ihm allenfalls vorwerfen konnte, war, daß er eine Katholikin geheiratet hatte statt einer Hindū-Frau. (Aber auch seine Mutter Indirā hatte einen Nicht-Hindū geheiratet - einen Parsen -, na und? Deswegen hatten die Sikhs sie nicht umgebracht!) Kashmīr? Das ist Ende des 20. Jahrhunderts wohl endgültig verloren gegangen, wie Ostdeutschland: Fast alle Hindūs wurden von den Muslimen ermordet oder vertrieben, die letzten Überlebenden werden bald folgen, die indische Armee kämpft auf verlorenem Posten, weil sie sich - im Gegensatz zu den muslimischen Terroristen - an gewisse Spielregeln der Kriegsführung hält - wie einst die Deutschen im Zweiten Weltkrieg -, und so etwas rächt sich, wenn man es einseitig tut, meist mit einer Niederlage. In Bhārat spricht man nicht gerne darüber (in Pākistān dafür umso mehr!) - man klammert sich mit der gleichen Hartnäckigkeit an eine Fiktion wie die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg an die, daß Ostpreußen, Pommern und Schlesien noch zu Deutschland gehörten. Aber mit einem Raum ohne Volk - oder mit dem falschen Volk - ist noch nie ein Staat zu machen gewesen, das werden auch die Inder lernen müssen, und das gilt nicht nur für Kashmīr, sondern auch für Asām und die anderen Ostgebiete Bhāratas - aber über seine Erlebnisse dort schreibt Dikigoros an anderer Stelle.

Wenn Dikigoros "Kashmīr" hört, dann denkt er immer mit etwas Neid und Wehmut an diejenigen seiner Bekannten, die noch dorthin gereist sind - er selber hat es in jungen Jahren, als das noch relativ gefahrlos möglich war, versäumt, und nun traut er sich nicht mehr -, und trauert dem verpaßten Untertitel "Von Kashmīr bis Kanyākumārī" nach. Es gibt zwar einen Zug, den "Him Sāgar [vom Himālay bis zum Ozean-]Express", der diese Strecke in drei Tagen und vier Nächten (oder umgekehrt) durch fährt, aber richtig bis Kashmīr ist der eigentlich nie gekommen, sondern nur bis Jammu. Dafür fährt er im Süden bis hinunter ans Kap Komorin, was nichts anderes ist als eine Verballhornung des Namens der jungfräulichen Göttin, der Dewī Kanyākumārī (oder, wie die Tamilen sie schreiben: Kanniyakumari), die vielleicht noch besser als die "Bhārat Mātā" geeignet ist, die ideellen Gemeinsamkeiten der Inder zu repräsentieren. Den Glauben an eine Gottheit mit Gewalt auszubreiten, wie dies die Christen versuchten und die Muslime versuchen, ist eine ziemlich primitive Angelegenheit; fremde Götter in das eigene Pantheon zu integrieren - mit allen ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden, wie sie der Charakter der Götter und Menschen nun mal aufweist - ist eine Kunst. Die alten Römer beherrschten sie, und die alten Inder auch. Im allgemeinen heißt die Gemahlin Shiwas "Durgā [die Ferne, Unnahbare]" und hat eine goldgelbe Hautfarbe; im Norden heißt sie "Pārwatī [die Bergige]" (oder, wie die Tamilen sie nennen: Bagavathi) und ist fast weiß; im Osten heißt sie "Kālī [die Schwarze]" oder "Syāmā [dto (danach haben die Inder übrigens das Land im Osten benannt, das Ihr erst zu "Siam" verballhornt habt und heute "Thailand" nennt)], und im Süden halt "Kanyākumārī [jungfräuliches Fräulein (was offenbar nicht immer ein Pleonasmus war in Indien :-)]. Hier, an der Südspitze Indiens, steht also ihr wichtigstes Heiligtum - im Gegensatz etwa zu Kapstadt in Südafrika liegt es wirklich am Kap, nicht eine Bucht weiter -, und deshalb hat Dikigoros den Zug bis hierher genommen.

[Durga] [Kali] [Parwati] [Kanyakumari]

Bis ans Kap? Na ja, jedenfalls bis auf ca. 1.500 m. Wenn man den Bahnhof verläßt, sieht man freilich erstmal keinen Tempel, sondern - eine christliche Kirche; und wer glaubt, an diesem Ort - der doch als ähnlich heilig gilt wie Haridwār oder Rishikesh im Norden - müsse, wie dort auch, strengster Vegetarianismus herrschen, der stolpert ein paar Ecken weiter über einen Hähnchengrill, den die Betreiber in aller Einfachheit "Chicken's Corner" genannt haben - wenn "Kentucky Fried Chicken" drauf stünde, könnte das womöglich anti-amerikanische Ressentiments hervor rufen, mit ähnlich unangenehmen Folgen wie bei "MacDonalds" - oder? Während Dikigoros von dort die Treppen zum vermeintlichen Tempel der jungfräulichen Göttin am Meer hinab steigt (es ist der falsche, aber das weiß er noch nicht) und über diese Frage nachdenkt, fällt sein Blick unversehens auf die beiden der Küste vorgelagerten Inselchen. Moment mal - dieses Ding, das an die Freiheits-Statue in der Hafeneinfahrt von Manhattan erinnert, kann doch wohl keine Göttin darstellen, sondern allenfalls den Wassermann, denn es trägt einen Bart - aber auch wieder nicht, denn es fehlt der Dreizack. An der Pier fährt eine Fähre ab, welche die Touristenmassen übersetzt - auch wie in New York City. Wie Dikigoros an anderer Stelle schreibt, war die Statue of Liberty ein Geschenk von Ausländern - von Franzosen -, und so verwundert es nicht, daß auch dieser Klotz ein Geschenk ist - aber von wem und wozu?

[die beiden Inseln vor der Küste des Kap Komorin: links der 'Wiwekanand-Felsen' mit dem Memorial auf den bengalischen Swami, rechts das Denkmal auf Thiruwalluwar, den Dichter des tamilischen Nationalepos Tirukkural]

"Timeo Danaos et dona ferentes [ich fürchte die Griechen, auch wenn sie Geschenke bringen]" - diesen Satz legten die Römer einem vorsichtigen Troianer in den Mund. Es half nichts, seine Landsleute nahmen das Danaer-Geschenk an, und Troia ging verloren (aber das ist eine andere Geschichte). Die Hindūs haben Kashmīr verloren - an die Muslime -, aber sie haben auch Kanyākumārī verloren - an wen? An den kommerziellen Tourismus mit all seinem Nepp? Ach was, nach allem, was Dikigoros an anderen "heiligen" Orten, von Warānsī bis Haridwār, erlebt hat, könnte ihn das doch nicht mehr schocken. Nein, auch nicht der 1970 erbaute Tempel auf dem linken Inselchen, der gar kein Mãdir ist, sondern nur ein "Mãdapan", ein "Memorial", wie es auf Englisch heißt, also eine Andachtsstätte nicht für Götter, sondern für Menschen. Dieses ist dem Swāmī Wiwekānand gewidmet, einem Religionsfilosofen aus Bengalen, der nicht nur den indischen Subkontinent vom äußersten Norden bis zum äußersten Süden predigend durchwanderte, sondern auch in die USA reiste, genauer gesagt nach Chicago, um seinen Glauben zu verkünden. Ein reichlich merkwürdiger Glaube war das, in dessen Mittelpunkt Krishn stand, und der dem Westen ein ziemlich verzerrtes Bild von "der" indischen Religion vermittelte - aber das mag ja noch angehen, jedenfalls stand er für ganz Indien. Aber was sich die Regierung Tamil Nādus jetzt auf dem rechten Inselchen geleistet hat, mit eben jenem 40 m (!) hohen Klotz, das schlägt dem indischen Faß den gemeinsamen Boden aus, denn das ist nicht nur eine Absage, sondern geradezu eine Kampfansage an die gemeinsamen kulturellen und geistigen Grundlagen - die doch das letzte sind, was die in allen anderen Punkten so unterschiedlichen Völker Indiens noch zusammen hält. Die Statue stellt niemand anderen dar als den Dichter Thiruwalluwar. Nie gehört? Natürlich nicht. Von Wālmiki vielleicht, auch von seinem Rāmāyan, oder auch vom Mahābhārat - aber wer oder was ist Tirukkural? Womit soll Dikigoros - der doch sonst um Parallelen (fast) nie verlegen ist - das vergleichen? Nehmen wir mal an, ein indischer Tourist (oder Greencard-holder :-) kommt nach Deutschland, genauer gesagt in die Hightec-Schmiede München. Er hat sicher schon mal von Max Müller gehört (das unterscheidet ihn von Euch, liebe deutsche Leser, wenn Ihr nicht gerade Indologen seid - und womöglich selbst dann :-), wohl auch schon mal von Goethe und Schiller, und vielleicht sogar vom Nibelungenlied. Und nun will er die berühmte Frauenkirche besichtigen. Doch als er sich der Münchner City nähert, oh Schreck, sieht er plötzlich etwas ganz anderes: Auf einer Verkehrsinsel im Stadtkern, zehnmal so hoch wie die Frauenkirche, steht ein Denkmal auf - Ludwig Ganghofer, den großen bayrischen Dichterfürsten, und in der darunter gelegenen Gedenkstätte kann man nachlesen, daß "Der Herrgottschnitzer von Oberammergau" (oder "Das Schweigen im Walde" :-) das Nationalepos Bayerns sei. Gewiß - das Tirukkural ist um einiges umfangreicher (und um fast zwei Jahrtausende älter - was in Indien noch immer ein wichtiges Argument ist) als das bedeutendste Drama Ganghofers, und jeder brave Tamile wäre ob eines solchen Vergleiches zutiefst beleidigt; aber im Kern trifft es den Nagel auf den Kopf.

Ach so, der echte Tempel der Kanyākumārī war ja auch noch da. Was soll man[n] dazu sagen? Daß er nur Hindūs offen steht? Das wäre wahrscheinlich kein Problem für Dikigoros; aber auch männlichen Hindūs steht er nur offen, wenn sie mit nichts weiter bekleidet sind als einer Dhotī - und da hört für ihn der Spaß selbst bei schönem Wetter auf. Den Strand entlang 400 m (Ihr verzeiht Dikigoros doch, daß er Entfernungen so oft in Leichtathletik-Distanzen angibt? Die abzuschätzen fällt ihm nun mal am leichtesten :-) weiter westlich steht noch ein Mãdapan, auf den lieben Gāndhī. Es erinnert Dikigoros entfernt an den Birlā Mãdir in Dillī, und das ist ja auch angemessen - aber das ist eine andere Geschichte. Was meint ein Tamile, den Dikigoros darauf anspricht, zu alledem: "Die Nordinder haben uns hier Jahrtausende lang immer alles mögliche hingesetzt: einen Tempel für eine Göttin aus dem Himālay, ein Memorial für einen Swāmī aus Bengalen, ein Memorial für einen Politiker aus dem Gujrāt - und nun wollen Sie uns nicht gönnen, daß wir hier in Tamil Nādu auch ein Denkmal für einen unserer größten Dichter aufstellen? Wohlgemerkt nicht anstelle der anderen - die wir unangetastet lassen -, sondern nur daneben?"

[Wiwekanand Memorial] [Wiwekanand Memorial] [Gandhi Memorial]

Dikigoros denkt daran, daß "die Nordinder" auch den Marāthen in Bãbaī ein Denkmal auf den Friedens-Apostel Wiwekānand hingestellt haben, schräg gegenüber vom Denkmal auf ihren Kriegshelden Shiwajī, daß sich dort aber niemand auf den Schlips getreten gefühlt und etwa auf der Butcher-Insel oder auf Elefantā ein elefantöses Denkmal für Sãt Dyāneshwar errichtet hat. (Der Name sagt Euch nichts, liebe Leser? Muß er auch nicht; er ist der Autor des nach ihm benannten "Dyāneshwarī", eines Kommentars zur Bhagwadgītā, mit dem er das Marāthī zur Schriftsprache machte - also Thiruwalluwar durchaus vergleichbar.) Aber er behält das für sich und sagt nur: "So habe ich das noch gar nicht gesehen. Woher kommen Sie?" - "Aus Madurai. Und Sie?" - "Aus Hãburg, Jarmanī." - "Oh, da war ich auch schon. Welches ist der bedeutendste Hamburger Schriftsteller?" - "Äh... Lessing." - "Laisiη? Kam der nicht aus Brūnswik?" - "Ja, da ist er geboren, aber er hat in Hamburg gewirkt." - "Gewirkt? Was hat er denn auf Hamburgisch geschrieben?" Ist das peinlich (das kommt davon, wenn man sich nicht erst einmal ordentlich vorstellt!) - der Mann entpuppt sich als Professor für Germanistik am Dante-Institut der Universität von Madrās (jawohl, die heißt noch immer so, der Umbenennung ihres Sitzes in "Chennaī" zum Trotze)! "Nun, wenn Sie mich so fragen, müßte ich sagen: Gorch Fock." - "Ghaurģ Faukh? Das war doch der Matrose, der 1916 in der Seeschlacht im Skagerrak gegen die Engländer gefallen ist." - "Richtig - das wissen Sie?" fragt Dikigoros verblüfft. - "Natürlich." Der Tamile (Dikigoros wollte "der Inder" schreiben, aber da stockten ihm die Finger auf der Tastastur; dann "der Professor" - aber er selber würde sich wohl am liebsten so bezeichnet sehen wie ihn Dikigoros nunmehr bezeichnet hat) lächelt. "Ich war sogar dabei, als das nach ihm benannte Segelschulschiff 1997 zu Besuch in Cochin war, als Dolmetscher." - "Aber wie viele Leute außer Ihnen kennen ihn noch in Indien?" - "Das ist unerheblich. Sie müßten fragen: Wie viele Leute außer Ihnen und ein paar Offiziers-Anwärtern der Bundesmarine kennen ihn noch in Deutschland? Oder wenigstens in Hamburg?" - "Ich weiß nicht." - "Als ich zum ersten Mal nach Hamburg kam, wollte ich die Kirchen und Denkmäler sehen, die dort stehen. Wissen Sie, was ich gefunden habe?" Dikigoros verkneift sich den Satz: "Na, jedenfalls keinen 40 m hohen Gartenzwerg" und sagt nur: "Sie müssen nicht glauben, daß ich von Bismarck mehr halte als von Gāndhī (er läßt das "-jī" bewußt weg, damit sein Gesprächspartner erkennt, daß er von beiden nicht gleich viel, sondern gleich wenig hält - doch das ist eine andere Geschichte), aber das hat nichts damit zu tun, daß er kein Hamburger ist." - "Um so schlimmer. Man hat Ihnen ein Denkmal auf einen Politiker aus Preußisch-Pommern mitten in den Stadtpark gestellt, und anderswo noch ein paar auf irgendwelche anderen Fremden, von denen Sie vielleicht ebenso wenig halten." - "Welche meinen Sie? Wissen Sie, ich bin mit drei Jahren von Hamburg weg gezogen, und seitdem war ich kaum noch dort; nachdem die letzten meiner dortigen Verwandten und Bekannten gestorben sind, überhaupt nicht mehr." - "Bullenhuser Damm - sagt Ihnen das etwas?" - "Ehrlich gesagt weiß ich nicht, worauf Sie hinaus wollen." - "Auf das häßliche Denkmal auf den 20. April 1945." - "Auf Hitlers letzten Geburtstag?" - "Nein, auf einen toten Sowjetmenschen, der an dem Tag gestorben ist. Steht in Hamburg irgendein Denkmal auf die Opfer der britischen Bombardements?" - "Sie mögen die Russen und die Briten nicht, aber Sie bedienen sich ihrer Sprache?!" - "Nehrū und seine Clique waren Freunde der Briten und der Russen. Ich bin kein Kashmīrī, sondern Tamile. Die Freunde meiner Feinde sind auch meine Feinde." - "Rājīw Gāndhī war kein Feind der Tamilen, im Gegenteil: Um die Tamilen-Minderheit in Shrī Lankā zu schützen hat er wider alle politische und militärische Vernunft Truppen dorthin geschickt. Und Ihre Leute haben ihn dafür umgebracht." - "Nicht dafür." - "Sondern?" - "Das würden Sie nicht verstehen. Aber ich möchte etwas verstehen, was Sie als Deutscher mir vielleicht erklären können." - "Ich bin kein typischer Deutscher." - "Nein? Warum nicht?" - "Der typische Deutsche reist nur selten nach Indien, noch viel seltener nach Tamil Nādu und praktisch nie nach Kanyākumārī." - "Warum nicht?" - "Fragen Sie mich was leichteres."

"Ich weiß nicht, ob es leichter ist, aber in Ihrer Geburtsstadt steht noch ein Denkmal auf einen Deutschen, der nicht in Hamburg geboren ist." - "Sondern?" - "In Schlesien, in Breslau." - "Sie erwarten doch hoffentlich von mir keinen Vortrag über die Frage der deutschen Ostgebiete?" - "Waren Sie mal in Breslau?" - "Natürlich, gleich 1991, als das wieder ohne große Formalitäten möglich war; aber glauben Sie mir, das wollte ich nicht geschenkt haben." - "Warum nicht?" - "Wollten Sie die von den Habshis zerstörten indischen Viertel in Afrika zurück haben?" - "Was sind Habshis?" - "Ach so, Sie sprechen ja kein Hindī; auf Englisch sagt man 'niggers'." - "Die Engländer haben uns 'wogs' genannt und meinten das gleiche." Dikigoros lächelt: "Das zeigt nur, wie dumm die Engländer sind; sie können dunkelhäutige Afrikaner nicht von dunkelhäutigen Indern unterscheiden. Wollten Sie Bangla Desh zurück haben?" - "Ich bin kein Bengale." - "Und ich bin kein Schlesier." - "Aber ich wollte Sie etwas anderes fragen, über den Schlesier." - "Sie meinen Dietrich Bonhoeffer?" - "Ja. Was halten Sie von dem?" - "Ich bin kein Protestant." - "Ich meine politisch. War er nicht einer dieser 'Widerstandskämpfer', die Deutschland verraten haben?" - "Ich werfe die Widerstandskämpfer nicht alle in einen Topf. Von den Attentätern des 20. Juli 1944 halte ich nichts; aber Sie würden nicht verstehen, warum." - "Dann sagen Sie mir wenigstens, was Sie von Bonhoeffer halten." - "Er war im Gegensatz zu Stauffenberg & Co. kein Feigling und kein Verräter." - "Wieso nicht?" - "Er hätte nach England oder in die USA emigrieren können; er war sogar ein paarmal dort; aber er ist nach Deutschlandland zurück gekehrt, um weiter für seinen Glauben zu kämpfen. Das muß ich anerkennen, auch wenn sein Glaube nicht mein Glaube ist." - "Was ist Ihr Glaube?" - "Der sanātan dharm natürlich." Der Tamile lächelt: "Finden Sie das natürlich für einen Deutschen?" - "Ich finde es natürlich für alle Menschen. Aber ich betrachte das nicht so sehr als eine Frage des Glaubens, sondern vielmehr des Wissens, und es gibt halt viel Unwissenheit in der Welt, das werden Sie und ich nicht ändern." - "Wollen Sie es nicht wenigstens versuchen?" - "Was halten Sie von Wiwekānand?" Der Tamile lächelt - er hat die Gegenfrage verstanden: "Er hat es versucht; aber sein Glaube ist nicht mein Glaube. Wie dem auch sei, wenn Sie in Hamburg das Sagen hätten - würden Sie sich nicht dafür einsetzen, daß dort auch ein Denkmal für Ghaurģ Faukh gebaut wird? Und vielleicht sogar eines, das größer ist als das auf Bismarck und die anderen?" - "In Deutschland werden heute ganz andere Denkmäler gebaut; aber das würden Sie nicht verstehen - ich verstehe es ja selber nicht."

[Bismarck-Denkmal, Hamburgl] [Russen-Denkmal, Bullenhuser Damm] [Bonhoeffer-Denkmal, Hamburg]
bitte entschuldigt, liebe Leser, daß Dikigoros hier nur so ein mickriges Bild
vom Bismarck-Denkmal aufgeladen hat; wer bessere sucht, findet sie hier

* * * * *

Delhi, wieder mal in Dikigoros' Lieblings-Restaurant. Er sitzt mit einer deutschen Journalistin am Tisch, die er am Zeitungsstand um die Ecke kennen gelernt hat, als er sie anpflaumte, weil sie gleich ein halbes Dutzend englischer-sprachiger Zeitungen kaufte, aber sonst keine einzige. "In denen steht auch nichts anderes drin," sagt sie, "die wirtschaftliche und politische Elite spricht hier nun mal Englisch." - "Nichts gegen Eliten," sagt Dikigoros, "aber deren Aufgabe ist es nicht, sich abzuschotten in ihren Elfenbeintürmen, sondern ihrem Volk aufs Maul zu schauen und es voran zu bringen - aber wem sage ich das, in der BRD ist es ja nicht besser." - "Na, etwas besser sieht es da wohl noch aus. Schauen Sie mal aus dem Fenster, diese völlig unzureichende Infrastruktur. Sie als Tourist mögen es nicht bemerkt haben, aber ich lebe hier, und ich muß mich ständig mit verstopften Straßen, überlasteten Flughäfen, stundenlangem Stromausfall und schmutzigem Wasser herum ärgern. Und in anderen Städten soll es noch viel schlimmer sein." - "Wann waren Sie zuletzt in Deutschland?" - "Ich fliege regelmäßig nach Hause auf Heimaturlaub." - "Dann müßten Sie doch wissen, daß es in Deutschland mit der Infrastruktur immer weiter bergab geht; zwar von einem viel höheren Niveau als es Indien hat; aber hier wird wenigstens langsam, aber sicher etwas aufgebaut. Und man muß ja wirklich nicht jede kleine Reise per Flugzeug antreten, wie in Deutschland, das gehört eh verboten, weil es kaum Zeit spart, aber je nach Auslastung bis zu zehnmal so viel Treibstoff kostet wie eine Fahrt in Bus oder Bahn." - "In den hiesigen Bahnen kann man doch nicht reisen." - "Sie irren. In einem deutschen Intercity haben Sie heute weniger Beinfreiheit als in einem indischen Sleeper; und hier werden täglich neue Strecken gebaut, während sich die Weisheit der Bahn-AG-Manager darauf beschränkt, Strecken still zu legen und Leute zu entlassen. Indien hat nur 15 mal so viele Einwohner wie Deutschland, aber 100 mal so viele Bahnreisende täglich; stellen Sie sich mal vor, die würden alle aufs Auto umsteigen; dann könnte man die Luft hier bald gar nicht mehr atmen." - "Sag ich doch, und wenn dann noch die Air condition ausfällt..." - "Daß der Strom ab und zu mal ausfällt, liegt nicht zuletzt daran, daß gewisse Leute eine Klima-Anlage laufen lassen, die viel mehr Strom frißt als ein einfacher Ventilator, der es auch täte." - "Meinen Sie etwa diese vorsintflutlichen Propeller? So etwas kommt mir nicht ins Haus." - "Eben. Dabei sind die Dinger prima; ich steige oft in Hotels ab, die kein eigenes Notstrom-Aggregat haben, da lernt man Stromsparen zu schätzen. Und ich reise auch regelmäßig mit der Bahn; glauben Sie mir, die Schere beginnt sich zu schließen, irgendwann wird uns Indien überholen."

"Mag ja sein; aber ich schreibe ja keine Vergleiche zwischen Deutschland und Indien - die will niemand lesen -, sondern über Indien und seine maßlose Überschätzung, die neuerdings in Deutschland eingerissen ist." - "Ich habe Ihre Artikel gelesen. [Sie haben sich inzwischen vorgestellt; Dikigoros weiß also, wen er vor sich hat; sie kennt dagegen nur seinen bürgerlichen Namen.] Sie vergleichen zwar Indien nicht mit Deutschland, aber mit Rot-China, und ich glaube nicht, daß dieser Vergleich fair ist. Was kennen Sie von China außer den Glitzerfassaden von Hongkong und Shanghai, über die Sie immer so begeistert schreiben?" - "Die beweisen immerhin, daß es dort keinen Stromausfall gibt." - "Die beweisen gar nichts, allenfalls, daß dort die Normalverbraucher keinen Stromanschluß haben und die Stromversorgung deshalb nicht so leicht zusammen bricht." - "Na wenn schon. Auch sonst ist dort alles viel sauberer und fortschrittlicher. China ist das Land der Zukunft, nicht Indien." - "Das mögen Sie aus Ihrer europäischen Perspektive so sehen. Sie messen diese Länder daran, was sie in den Westen liefern und glauben deshalb, daß China wirtschaftlich die Nase vorn hat." - "Ist es nicht so?" - "Jein. Sehen Sie, zwischen der indischen Wirtschaft und dem, was Sie, was wir Westler allgemein von der rot-chinesischen Wirtschaft zu sehen bekommen, gibt es einen grundlegenden Unterschied: Die Inder denken autark, d.h. sie entwickeln und produzieren selber, und zwar in erster Linie für den eigenen Markt, nicht mehr so spinnert wie Gandhi sich das mal vorstellte, daß jeder seinen eigenen Dhoti spinnt, aber immerhin. Was dabei heraus kommt, mag unseren westlichen Ansprüchen nicht ganz genügen, aber es ist für jeden Mittelschicht-Inder erschwinglich. Das meiste Zeug dagegen, das die Chinesen in West-Lizenz oder hinter dem Rücken ihrer Lizenzgeber herstellen, und was sie nie aus eigener Kraft hätten entwerfen, geschweige denn fertigen können, hat der Durchschnitts-Chinese noch nie von nahem gesehen, und wenn es denn zum Verkauf stünde, dann könnte er es nicht bezahlen. Die offizielle Produktion wird nach Europa und Nordamerika exportiert, die inoffizielle in andere Valutaländer. Der Mehrheit der Chinesen geht es, selbst in Shanghai und Peking, dreckiger als dem Durchschnitts-Inder, von den Dörfern ganz zu schweigen." - "Haben Sie die Slums der indischen Großstädte gesehen?" - "Ja, ich war sogar schon mitten drin. Und Sie?" - "Ich brauche nicht mitten drin zu sein; es genügt mir, im Taxi dran vorbei zu fahren, z.B. am Stadtrand vom Mumbai." - "Das ist erstens ein Ausnahmefall und zweitens ein schlechtes Beispiel, denn dort geht es den meisten Slumbewohnern noch immer vergleichsweise gut. Aber es reicht nicht, mal dran vorbei zu fahren, um sich ein Urteil zu bilden. In Indien sind die Menschen, außer den Muslimen und denen, die sich unmittlbar gegen sie zur Wehr setzen müssen, trotz aller Armut noch immer relativ friedlich, auch gegenüber Fremden. Dieses soziale System wird halten, und zwar auf Dauer. Dagegen wird Rotchina früher oder später explodieren, und dann ist es aus mit der Glitzerfassade des künstlich vom Ausland fürs Ausland geschaffenden Wirtschaftsaufschwungs." - "Ich glaube nicht daran, daß Indien friedlich bleibt, wie Sie das nennen; ich fühle mich jetzt schon wie auf einem Pulverfaß." - "Machen Sie sich keine Sorgen; Sie werden noch heil raus kommen. Dagegen werden die Narren, die aufs rote Pferd China gesetzt haben, mit ihm untergehen, mitsamt ihrem dorthin verlagerten Kapital und Know-how. Wollen wir wetten?" Die Wette läuft, und Dikigoros ist sicher, daß er sie gewinnen wird.


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