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Max Stirner und die Sphinx
Von Sabine Scholz

Slavoj Zizek weist in seinem Buch „Die gnadenlose Liebe“1 darauf hin, dass wir, wenn wir über Mythen in der Psychoanalyse sprechen, eigentlich nur einen Mythos meinen, nämlich den Ödipusmythos. Alle anderen Freudschen Mythen seien nur Variationen davon.
Es fällt auf, dass Max Stirners Familienkonstellation große Ähnlichkeit mit dem Ödipusmythos besitzt. König Ödipus muss erkennen, dass er unwissentlich den eigenen Vater getötet und seine Mutter geheiratet hat, ein Verhängnis, das ihm von den Göttern auferlegt worden ist und dem er nicht entkommen kann:
„Vatermord und Frevel an der Mutter warteten schicksalhaft auf ihn, sie lauerten ihm geradezu auf, der selbst keine Schuld trägt. Man hat die Deutung versucht, dass sich Oidipous als der Enträtsler des Lebensgeheimnisses, wobei er die vieldeutige, das Leben selbst verkörpernde Sphinx zu ihrem Sturz in den Tod trieb, bereits außerhalb der unbewusst schaffenden Natur gestellt habe als ein mörderischer Erkennender“2
Wenn es stimmt, dass Stirner sich wie Ödipus fühlt, was ist es dann für ein Lebensgeheimnis, das er enträtseln musste?
Stirner verlor den Vater im Alter von fünf Monaten. Er starb an einem Kreislaufkollaps infolge zu großer körperlicher Erschöpfung. Stirners Vater war nur 37 Jahre alt geworden. 1809 verheiratete sich die Mutter erneut und zwar mit dem Apotheker Ballerstedt. Sie verließ Bayreuth, um mit dem zweiten Ehemann in Kulm an der Weichsel in Westpreußen zu leben.
Die Mutter holte den Kleinen jedoch erst 1810, also nach einem Jahr, nach Kulm. Der Kleine war gezwungen, ein volles Jahr inmitten der napoleonischen Kriegswirren ohne Eltern zu leben. Welche Spuren diese traumatische Erfahrung bei ihm hinterlassen hat, kann man sich vorstellen. Der kleine Stirner wuchs also in großer Verwirrung im Hause seines Stiefvaters auf. 1818 führte ihn der Wunsch, ein berühmtes Gymnasium wie das von Bayreuth zu besuchen, in seine Geburtsstadt zurück. Er war jetzt 12 Jahre alt und wurde im Hause seines Paten Sticht, einem kinderlosen Handwerker, aufgenommen. Dank der Apotheke seines Stiefvaters konnte der junge Stirner eine gute Ausbildung genießen. Einer seiner Lehrer war Georg Andreas Gabler, ein begeisterter Schüler Hegels. Gabler wurde später nach Berlin berufen, um Hegel zu ersetzen. Es ist deutlich, dass an jenem berühmten Bayreuther Gymnasium bereits hegelianischer Geist geatmet wurde. Strenggenommen hatte es Stirner also mit drei „Stiefvätern“ zu tun: mit dem Apotheker Ballerstedt, mit seinem Patenonkel und mit seinem Lehrer Gabler, dem Hegelanhänger. Auch dieser Umstand sollte in Stirners Leben eine nicht geringe Bedeutung haben, da sein Werk in erster Linie eine kritische Auseinandersetzung mit der Hegelschen Philosophie darstellt.
Hat also Stirner seinen Vater gerächt? Überlebt Stirner die Ersetzung der Vaterfigur durch den Apotheker Ballerstedt, den Paten Sticht und den Lehrer Gabler nur, indem er verrückt spielte? Ist Stirners EINZIGER das Ergebnis eines untergründig wirkenden Ödipuskomplexes?
Stirner unterzieht in seinem Werk "Der Einzige und sein Eigentum" die hegelsche Omnipotenz des Geistes einer erbarmungslosen Kritik. Er verurteilt darin den absoluten Geist Hegels als Gespenst, das keinerlei Grundlage in der Realität besitzt. Außerdem liefert Stirner eine raffinierte Religionskritik und macht deutlich, inwiefern die Folgen des Protestantismus als fatal anzusehen sind. Die Reformation Luthers zielt darauf ab, das Weltliche, vor allem den Staat und die Ehe, wieder in Ehren zu bringen, Institutionen, die Stirner kategorisch ablehnt, was stellenweise wie eine Zwangsneurose wirkt:
„Die mündigen Griechen jagten ihre Tyrannen fort, und der mündige Sohn macht sich vom Vater unabhängig. Hätten jene gewartet, bis ihre Tyrannen ihnen die Mündigkeit gnädigst bewilligten: sie konnten lange warten. Den Sohn, der nicht mündig werden will, wirft ein verständiger Vater aus dem Hause und behält das Haus allein; dem Laffen ge­schieht Recht.“3 In manchen Passagen erinnert Stirner auch an den aussichtslosen Kampf Kafkas gegen seinen übermächtigen Vater: „Ich bin Mir zuwider oder widerwärtig; Mir graut und ekelt vor Mir, Ich bin Mir ein Gräuel, oder Ich bin Mir nie genug und tue Mir nie genug. Aus solchen Gefühlen entspringt die Selbstauflösung oder Selbstkritik. Mit der Selbst­verleugnung beginnt, mit der vollendeten Kritik schließt die Religiosität. Ich bin besessen und will den “bösen Geist” loswerden. Wie fange Ich’s an? Ich begehe getrost die Sünde, welche dem Christen die ärgste scheint, die Sünde und Lästerung wider den heiligen Geist. “Wer den heiligen Geist lästert, der hat keine Vergebung ewiglich, sondern ist schuldig des ewigen Gerichts!” Ich will keine Vergebung und fürchte Mich nicht vor dem Gerichte. Der Mensch ist der letzte böse Geist oder Spuk, der täuschendste oder vertrauteste, der schlaueste Lügner mit ehrli­cher Miene, der Vater der Lügen.“ 4
Stirner als ein „mörderischer Erkennender“, der als Kind Opfer der „Schwarzen Pädagogik“ geworden ist, wie sie Alice Miller in ihren Werken versteht: also eine Erziehung, die dazu dient, den Willen des Kindes zu brechen und aus ihm einen gehorsamen Untertanen zu machen.5 Man könnte Stirner gut in Alice Millers Reihe der Schriftsteller und Künstler einordnen, deren Leben „ein Drama des begabten Kindes“ gewesen ist, das durch Negierung des zugefügten Schmerzes gekennzeichnet ist, der ihm von Seiten der idealisierten Eltern zugefügt wurde und der in der Kunst sublimiert wird: Kafka, Flaubert, Beckett, Picasso, Van Gogh und Nietzsche.
Besonders aufschlussreich wegen ihrer Radikalität sind Stirners Gedanken zum Thema Familiengericht: „Er, der seine Familie geschändet hat, der un­geratene Sohn, wird gegen die Strafe der Familie geschützt, weil der Staat, dieser Schutzherr, der Familienstrafe ihre “Heiligkeit” benimmt und sie profaniert, indem er dekretiert, sie sei nur – “Rache”: er verhindert die Strafe, dies hei­lige Familienrecht, weil vor seiner, des Staates, “Heiligkeit” die untergeordnete Heiligkeit der Familie jedesmal erbleicht und entheiligt wird, sobald sie mit dieser höhern Heiligkeit in Konflikt gerät. Ohne den Konflikt lässt der Staat die kleinere Heiligkeit der Familie gelten; im entgegengesetzten Falle aber gebietet er sogar das Verbrechen gegen die Familie, indem er z. B. dem Sohne aufgibt, seinen Eltern den Gehorsam zu verweigern, sobald sie ihn zu einem Staatsverbrechen verleiten wollen. Nun, der Egoist hat die Bande der Familie zerbrochen und am Staate einen Schirmherrn gefunden gegen den schwer beleidigten Familiengeist. Wohin aber ist er nun geraten? Geradesweges in eine neue Gesellschaft, worin seines Ego­ismus dieselben Schlingen und Netze warten, denen er soeben entronnen. Denn der Staat ist gleichfalls eine Gesell­schaft, nicht ein Verein, er ist die erweiterte Familie.“6
Im Folgenden wird Stirners Identifikation von Vater und Staat auf einen Nenner gebracht: „Immer der Staat! der Herr Papa! Wie die Kirche für die “Mutter” der Gläubigen ausgegeben und angesehen wurde, so hat der Staat ganz das Gesicht des vorsorglichen Vaters.“7
Die Sphinx hat einen Frauenkopf und den Körper eines geflügelten Löwen. Sie sitzt vor der Stadt Theben und gibt jedem Vorüberkommenden ein Rätsel auf. Wer es nicht lösen kann, wird von der Sphinx verschlungen. Ödipus findet die Lösung. Daraufhin stürzt sich die Sphinx in einen Abgrund, und Theben ist befreit. Was für ein Rätsel war Max Stirner aufgegeben, und hat er es lösen können? Ich glaube die Antwort gefunden zu haben
:
„Durch das “Reich der Gedanken” hat das Christentum sich vollendet, der Gedanke ist jene Innerlichkeit, in welcher alle Lichter der Welt erlöschen, alle Existenz existenzlos wird, der innerliche Mensch (das Herz, der Kopf) Alles in Allem ist. Dies Reich der Gedanken harret seiner Erlösung, harret gleich der Sphinx des ödipischen Rätselwortes, damit es endlich eingehe in seinen Tod. Ich bin der Vernichter seines Bestandes, denn im Reiche des Schöpfers bildet es kein eigenes Reich mehr, keinen Staat im Staate, sondern ein Geschöpf meiner schaffenden – Gedankenlosigkeit.“ Hier identifiziert sich Stirner explizit mit Ödipus, dem Vernichter der Sphinx. Er ist also sicher, das Lebensgeheimnis – in Stirners Terminologie den „Spuk“, enträtselt zu haben:
„Mit den Gespenstern gelangen Wir ins Geisterreich, ins Reich der Wesen. Was in dem Weltall spukt und sein mysteriöses, “unbegreifliches” Wesen treibt, das ist eben der geheimnisvolle Spuk, den Wir höchstes Wesen nennen. Und diesem Spuk auf den Grund zu kommen, ihn zu begreifen, in ihm die Wirklichkeit zu entdecken (das “Dasein Gottes” zu beweisen), – diese Aufgabe setzten sich Jahrtausende die Men­schen; mit der grässlichen Unmöglichkeit, der endlosen Danaidenarbeit, den Spuk in einen Nicht-Spuk, das Unwirkli­che in ein Wirkliches, den Geist in eine ganze und leibhaftige Person zu verwandeln, – damit quälten sie sich ab. Hin­ter der daseienden Welt suchten sie das “Ding an sich”, das Wesen, sie suchten hinter dem Ding das Unding.“9
Wie die Danaiden, die dazu verdammt sind in der Unterwelt Wasser in ein durchlöchertes Fass zu schöpfen, versuchen die Menschen vergeblich ihre fixen Ideen in die Wirklichkeit umzusetzen. Stirner hat dieses Welträtsel gelöst, er wagt es, sich dem biblischen „Du sollst nicht wissen!“ zu widersetzen. Er genießt die verbotene Frucht des Paradieses und
schließt sein Hauptwerk auf folgende poetische Weise:“ Was, bin Ich dazu in der Welt, um Ideen zu realisieren? Um etwa zur Verwirklichung der Idee “Staat” durch mein Bürgertum das Meinige zu tun, oder durch die Ehe, als Ehegatte und Vater, die Idee der Familie zu einem Dasein zu bringen? Was ficht Mich ein solcher Be­ruf an! Ich lebe so wenig nach einem Berufe, als die Blume nach einem Berufe wächst und duftet.“ 10

1 Slavoj Zizek, Die gnadenlose Liebe, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1545, 2001, p.11
2 Erwin Laaths, Geschichte der Weltliteratur, Gondrom Verlag, Bindlach, 1988, p.77 
3 Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum,  Stuttgart, Reclam Verlag, 1985,  p. 185
4 ebenda, p. 202
5 Alice Miller, Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst, Frankfurt a.M., Suhrkamp Verlag, 1979 
Alice Miller, Am Anfang war Erziehung, Frankfurt a.M., Suhrkamp Taschenbuch, 1983
Alice Miller, Evas Erwachen. Über die Auflösung emotionaler Blindheit, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M., 2001
6 Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum,  Stuttgart, Reclam Verlag, 1985,  p. 244/245
7 ebenda, p. 289
8 ebenda, p. 380  
9 ebenda, p. 42
10 ebenda, p. 411

 

Copyright © Dezember 2002 Sabine Scholz

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