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Der Max-Stirner-Film

Ein Essay von Sabine Scholz

Es war eine zehnjährige Liebeserklärung an einen Mann. Warum gerade dieser Mann und Max Stirner, weiß ich heute nicht mehr. Unheimliches ist immer auch Uneigenes. Diese Einsicht fasziniert mich bei Stirner.  Uns ist das unheimlich, was uns andere aufzwingen – in den Schulen, auf der Universität, in der Politik, bei den Beziehungen. Würden wir mehr auf unsere innere Stimme hören, würden viele Gespenster sich in nichts auflösen. Um so mehr wundert man sich, dass Max Stirner leider vergessen wurde. In den meisten Philosophiegeschichten des 19. Jahrhunderts wird sein Name nicht einmal erwähnt. Warum hat man beschlossen, diesen wichtigen Denker zu ignorieren? Eine Antwort ist vielleicht, dass er für viele unbequem ist, ein erbarmungsloser Religionskritiker, ein Nihilist, ja sogar ein Anarchist. Davor fürchtet man sich. Doch ist sein Werk deswegen wertlos? Wovon handelt es? In erster Linie stellt es eine kritische Auseinandersetzung mit der Hegelschen Philosophie dar. Hegel war zu Beginn des 19. Jahrhunderts DER intellektuelle Führer Deutschlands, eine Art Philosophiepapst. Max Stirner zeigt uns in seinem Werk »Der Einzige und sein Eigentum«, dass niemand mehr über uns und unsere Vorstellungen von einem glücklichen Leben wissen kann als wir selbst. Unser Film sollte dazu beitragen, dass Max Stirner wieder aus der Versenkung geholt wird.
Doch daraus ist bis heute nichts geworden. Das Drehbuch liegt verstaubt im Regal, der Mann ist auch weg, und Stirner immer noch vergessen.

In Turin wollte ich mit Riccardo ein neues Leben beginnen. Gleichzeitig hatte ich die Absicht, Drehbücher für unsere Filme zu schreiben, die wir gemeinsam in Paris, in Berlin oder in Rom realisieren würden. Riccardo wurde nicht müde, mir jeden Tag vorzuwerfen, wie wenig Geduld ich hätte: »Du bist erst seit ein paar Monaten hier bei mir und, wenn du ehrlich bist, musst du zugeben, dass wir schon viel geschafft haben. Das Drehbuch für den Film über Max Stirner, unsere kleinen Super-8-Filme und außerdem Ferien in Berlin und Venedig. Das ist wirklich nicht wenig. Alles braucht seine Zeit. Du wirst sehen, nächstes Jahr stellen sich die ersten Erfolge ein!« Mir war klar, dass ich zuviel verlangte für den Augenblick, aber es genügte mir eben nicht, nur an die Zukunft zu glauben. Entmutigt vom monatelangen Warten darauf, dass sich ein Produzent für unseren Stirner-Dokumentarfilm finden würde, saß ich in unserer Wohnung, blickte auf die zwei Kirchtürme draußen und schlug die Zeit tot, bis Riccardo von der Arbeit zurück kam. Ab und zu brachte ich eine Zeile zu Papier, doch ohne Elan.

Riccardo arbeitete seit acht Jahren in einer Druckerei und mit dem Filmemachen war er deswegen kaum weitergekommen. Alle seine Filme hatte er in der wenigen Freizeit gedreht, die ihm die Arbeit übrig ließ. Jetzt war endlich der Zeitpunkt gekommen, unsere Träume zu realisieren. Ich arbeitete als Lektorin für Deutsch, und er konnte sich endlich ganz dem Filmemachen widmen, dachte ich. Beim Lesen des Briefwechsels von Anais Nin und Henry Miller begann ich von einem Mann zu träumen, der mich ebenso inspirieren würde. Während ich ihm alle meine Gedanken und Sehnsüchte mitteilte, würde daraus automatisch Kunst entstehen. Ich war nämlich felsenfest davon überzeugt, dass Kreativität ansteckend ist.  Wir waren süchtig danach, mit anderen Leuten über unsere Filmprojekte zu sprechen. Es war, als ob sie sich dadurch konkretisieren würden. Auch sie wollten meistens etwas Entscheidendes an ihrem Leben ändern, z.B.  professionelle Schauspieler werden. Der jetzige Zustand war nur ein Übergang zu einem ganz anderen, neuen aufregenden Leben. Mich beschäftigte die Frage, ob Henry Miller Anais Nin nur ausnützte oder ob er sie wirklich liebte, wie er in den Briefen immer wieder beteuerte. Andererseits verhielt sich Anais Nin auch nicht gerade korrekt ihrem Ehemann gegenüber, indem sie ihn dazu benützte, Miller die nötigen finanziellen Mittel zu verschaffen. Das war wohl auch der Grund, warum Anais Nin und Miller nie zusammenzogen, denn das hätte den Verlust der finanziellen Unterstützung des Ehemanns bedeutet. Ich genoss es, mit Riccardo den ganzen Tag zusammen zu sein, auch wenn er davon die meiste Zeit verschlief. Aber das würde sich bald ändern, wenn wir unseren ersten großen Film realisierten.

Abends gehen wir ins Kino. Es läuft »Cronique d’un eté« von Jean Rouch. Wir sehen sehr viele Filme, um uns für unsere Arbeit zu inspirieren. Im Dunkeln ergreift Riccardo meine Hand und drückt sie, was bedeutet, dass ihm eine Szene besonders gut gefällt. Rouch versucht in diesem Film, anhand von Interviews ein realistisches Bild vom Paris der 60er Jahre zu geben. Zwei junge Französinnen fragen die Leute auf der Straße: »Sind sie glücklich?« Viele der Befragten springen erschrocken zur Seite, als würde die Frage sie ernsthaft bedrohen. Man sieht die Leute einsam zur Arbeit gehen, still ihr Pausenbrot verzehren und abends todmüde nach Hause kommen.  Nach dem Kino besuchen wir Alfredo, der in der Nähe wohnt. Alfredo ist mein bester Freund, vielleicht der einzige, den ich habe. Er erzählt uns, dass er in die Immobilienbranche einsteigen möchte, um möglichst schnell zu Geld zu kommen. Fast jeden Monat hat er ein neues Projekt, das er dann schnell wieder fallen lässt. So wollte er schon Rassehunde aus Tschechien importieren, alte Modelle von Alfa Romeo nach Deutschland vermitteln und in Prag einen Waschsalon aufmachen. Er ist nämlich überzeugt, dass man nur noch im Osten mit wenig Eigenkapital das schnelle Geld machen kann. Alfredo lebt mit Lucia zusammen, die schon eine fünfjährige Tochter hat. Das Kind ist sehr aufgeweckt und es scheint ihr Spaß zu machen, uns den Espresso an den Tisch zu bringen.  Ich brauche etwas, das mich verschlingt, das alle meine Kräfte in Beschlag nimmt, einen Mann oder eine Stadt, eine Arbeit. Riccardo tut sein Bestes. Ich liebe ihn und doch spüre ich, dass mir etwas fehlt. Die Begeisterung für mein neues Leben in Italien will sich einfach nicht einstellen.  Das wahre Leben ist da draußen, irgendwo in der riesigen Stadt, die mir bis jetzt fremd geblieben ist.  Ich sitze am Schreibtisch, schreibe und denke nach, aus einer immensen Distanz heraus zu all dem, was mich umgibt.  Nachts wenn ich nicht schlafen kann, nimmt Riccardo meine Hand, drückt sie ganz fest und sagt: »Du hast doch schon das Richtige getan. Du bist weggegangen aus Deutschland. Die Vergangenheit zählt nicht mehr. Sie ist ausgelöscht. Wir beide beginnen hier ein neues Leben. Wir werden herrliche Filme zusammen machen. Du musst nur ein wenig Geduld haben.« Riccardo fällt es leicht, mit Wenigem auszukommen, mit einer geringen Hoffnung auf ein anderes Leben.  Weihnachten wollen wir mit meiner Schwester und meinen Eltern verbringen. Seit dem Fall der Mauer ist Deutschland wieder etwas Besonderes. Es ist nicht nur meine Heimat, sondern wie das antike Griechenland ein phantastischer Ort, der doch wirklich ist. Doch zurückkehren, das kann ich nicht. Nach langer Pause fange ich wieder an, deutsche Bücher zu lesen. Hier in Italien finde ich meine Muttersprache zum ersten Mal schön. Die meisten Bücher habe ich bei meiner Schwester gelassen. Deswegen bin ich hier in Turin auf das Goethe-Institut angewiesen, um mich mit Lesestoff zu versorgen. Auch alle Fotos habe ich zurückgelassen. Ich möchte keine Erinnerungen an meine Studienjahre haben. Das ist ein abgeschlossenes Kapitel. Abgeworfener Ballast, der mir meine Zukunft nicht erschweren soll. Es kommt mir so vor, als würden die Menschen um mich herum außerhalb der Geschichte stehen. Vielleicht weil mir alles zu banal erscheint, um den Lauf der Welt entscheidend zu beeinflussen. Mein kleines Leben ist Teil der Natur, dem ewigen Werden und Vergehen unterworfen. Nichts bleibt, was es war. Man muss nur höllisch aufpassen, dass die Menschlichkeit nicht verloren geht, rede ich mir ein. Doch wofür sollte ich in diesem Moment Partei ergreifen? Für die Anhänger Saddams z.B. oder für die Amerikaner, die alles dafür tun, um einen Golfkrieg heraufzubeschwören, weil es um ihre Interessen geht? Es ist alles so relativ. Hier ein wüster Diktator, dort ein umsichtiger Präsident. Nichts ist einmalig, aber vieles irreversibel.  Soeben haben wir einen neuen Super-8-Film geschnitten. Jetzt sitzt jeder für sich in seiner Ecke und ist mit seinen Gedanken beschäftigt. Riccardo hat sich für diese Arbeit krankschreiben lassen, und wir können die Wohnung nicht verlassen, da wir abwarten müssen, ob die Firma nicht einen Arzt zur Kontrolle vorbeischickt. Außerdem sind wir todmüde, da wir die ganze Nacht kein Auge zugetan haben aufgrund des Fassbinder-Interviews, das mir Riccardo vorgelesen hat. Im Haus gegenüber ist ein Student eingezogen. Er sitzt stundenlang am Schreibtisch vor dem Fenster. Ich möchte, dass der Riss zwischen meinem vergangenen Leben und meinem neuen Leben immer größer wird.

Ich habe mich in die Bibliothek des Goethe-Instituts zurückgezogen, das an einer herrlichen Piazza liegt, und lese die neuesten deutschen Zeitungen. Zwei Deutschschülerinnen haben einige Tische weiter platzgenommen und flüstern miteinander. Der Berliner Senat hat den Potsdamer Platz an Daimler-Benz verkauft. Grass konstatiert: »Hässlich sieht diese Einheit aus.«

Warum bin ich immer am falschen Ort, wenn etwas wirklich Wichtiges geschieht? Das irakische Außenministerium lässt es sich trotz der Kriegswirren nicht nehmen und »gratuliert dem deutschen Brudervolk zur wiedergewonnenen Einheit. Die geteilte arabische Nation kann am besten verstehen, was das deutsche Volk gelitten hat.« Syberberg zieht sich die Empörung der gesamten Nation zu mit seiner These, dass die Nachkriegskultur auf eine Verschwörung von Juden und Linken zurückzuführen sei: »Die Teilung des Landes als Strafe für Auschwitz ist beendet.« Die Demokratie sei keinen Pfifferling wert: »In dieser Staatsform wird alles so allgemein, so lau, wo jeder alles darf, alles versumpft. Es ist ein ungeheurer Niedergang in den letzten vierzig Jahren.« Für Heiner Müller ist das neu entstehende Deutschland mit keiner Vorstellung mehr verbunden.  Plötzlich finde ich es gar nicht mehr so langweilig, Deutsche zu sein. Ich spüre endlich, dass mich vieles wieder etwas angeht.

Am Nachmittag heißt es dann wieder Klinkenputzen bei möglichen Förderern unseres Filmprojektes. Riccardo nimmt die Fotomappe unter den Arm, ich ergreife das Manuskript, und wir ziehen los. Um 15 Uhr sitzen wir einem Repräsentanten einer Sportorganisation gegenüber, bei der Riccardo vor Jahren gearbeitet hatte. Natürlich will dieser versuchen, etwas für uns zu tun, aber die momentane Lage des Vereins erlaube keine größeren Ausgaben. Kulturelle Unterstützung, ja da ließe sich eher etwas machen. Außerdem hätten sie bisher mit Filmprojekten noch keinerlei Erfahrungen gesammelt. Es fehle ihnen dafür einfach an kompetenten Leuten.  Enttäuscht gehen wir wieder nach Hause. Mir fällt auf, dass unter der hektischen Menge, die an uns vorbeiströmt, einige Gesichter sind, die berühmten Schauspielern sehr ähnlich sehen. Um vielleicht jemanden zu treffen, den wir kennen, durchqueren wir den Bahnhof auf dem Heimweg. In der Tat läuft uns sofort die Freundin eines Kleinverlegers über den Weg. Wir erzählen ihr von unserem Projekt. Sie meint, dass wir uns mit dem Material auf jeden Fall an ihren Freund wenden sollen. Vielleicht wäre eine Veröffentlichung als Buch möglich. Ihr erfreuter Ausruf »ach wie schön!« tut mir gut. 

Ich lese die Geschichte einer Frau, die vor ihrem gewalttätigen Ehemann davonläuft. Diese Frau lebt in der DDR. Auf ihrer Flucht gerät sie zufällig in die Unruhen vom 17. Juni. Sie begreift gar nicht, was passiert. Plötzlich scheint sie stehen zu bleiben. Ihr Mann, der ihr gefolgt ist, empfindet Erleichterung. Doch die Frau ist nicht einfach zu der Entscheidung gekommen, zu ihm zurückzukehren, sondern ein durch eine Hauswand abgelenkter Warnschuss hat sie tödlich an der Schläfe getroffen. Eine gelungene Erzählung. Ich frage mich, worüber die DDR-Autoren jetzt schreiben werden, wo es den Schießbefehl und die Mauer nicht mehr gibt.

»Was für schöne Augen du hast!« sagt Riccardo, als er nachmittags von der Arbeit zurückkommt. Wir begrüßen uns wie immer mit einer Umarmung und einem Kuss an der Tür. Dann trinken wir gemeinsam einen Espresso und erzählen uns gegenseitig, wie unser Tag abgelaufen ist. »Was hast du gelesen?« fragt er mich. »Einen interessanten Artikel in einer Filmzeitschrift.« antworte ich. Seine Augen sind leicht gerötet. »Erzähl mir mehr davon.«

»Sie behaupten, dass der europäische Film nicht mehr konkurrenzfähig ist gegenüber den amerikanischen Produktionen. In Deutschland darf ein Film nicht mehr als 2 bis 3 Millionen Mark kosten, wenn er seinen Produzenten nicht umbringen soll. Amerikanische Companies stellen jedoch mindestens das Zehnfache zur Verfügung.«

»Aber über die Qualität eines Film entscheiden doch nicht die Herstellungskosten!« sagt Riccardo ärgerlich. »Ich halte so teure Filme sowieso für übertrieben.« meint er. »Da stimme ich dir voll und ganz zu.« antworte ich. »Um die Misere zu beenden, machen sie folgenden Vorschlag, den ich für absolut falsch halte: Der Zusammenhang von investiertem Geld und Erfolg sei unübersehbar, da die besten Autoren, die besten Regisseure, Kameramänner und Schauspieler selbst einen mittelmäßigen amerikanischen Film marktfähig machen. Deswegen müsse man die Fördermittel besser und wirkungsvoller verteilen, d.h. es sollten weniger Filme mit größeren Summen gefördert werden.«

»Gute Filme werden immer ihr Publikum haben. Denk doch zum Beispiel an Kaurismäki. Niemand wird behaupten, dass seine Filme nicht mit amerikanischen Filmen konkurrieren können, im Gegenteil...«  sagt Riccardo. »Ja, der Meinung bin ich auch. Ich sehe die Gefahr, dass es dann pro Jahr drei deutsche Fantasy-Filme gibt, die auch dem amerikanischen Publikum zugemutet werden können, auf deren Kosten aber viele gute Filmideen auf der Strecke bleiben.« Riccardo versucht durch tiefes Luftholen zu verbergen, dass er todmüde ist nach dem Acht-Stunden-Tag in der Fabrik, und nachts hat er kaum 2 Stunden geschlafen. Er will sich ein bisschen hinlegen. Ich soll ihn aber unbedingt nach 1 ½ Stunden wecken. »Wir werden das europäische Aschenputtel wieder rehabilitieren!« sagt er noch und lächelt mich an. Meine Selbstzweifel ertränke ich in einer Flut von Neuigkeiten aus Deutschland. Biermann ist in den Hungerstreik getreten, um die Akten der Stasi sicherzustellen. Wir müssen aufhören, mit der Lüge zu leben, auch wenn dadurch Familien zerstört werden, denn keiner glaubt im Ernst daran, dass eine Familie glücklich sein kann, wenn ein Mitglied ein Stasispitzel gewesen ist. Ich bin in dieses herrliche Land geflüchtet vor einem Leben, das mir unerträglich erschien, einem typisch deutschen Alltagsleben. Jetzt bin ich hier und weigere mich, dieser neuen Stadt eine Chance zu geben. Voller Angst erwarte ich, dass man mich aufhält und daran hindert, weiter meinen Weg zu gehen. 

Ich stelle mir vor, dass uns in Berlin in einer Hotelhalle der Portier ein Telegramm überreicht. Der Produzent unseres Films teilt uns mit, dass er uns einen Scheck schicken wird, damit wir weiter drehen können. Auf unserem Hotelzimmer trinken wir dann Sekt, lesen noch etwas, notieren ein paar Einfälle und schlafen dann todmüde ein. Dasselbe tun wir doch zu Hause auch, und doch ist es nicht dasselbe. Es fehlt das Weggehen. Ich lege das Buch zur Seite, knipse das Licht aus. Wenn mich die Dunkelheit verschlingt, komme ich mir vor wie im Kino. Sehnsüchtig warte ich auf das Erscheinen eines Bildes an der Wand. Doch es bleibt dunkel.

Copyright © August  2002 Sabine Scholz

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