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Die Katze der Platonistin
Von Sabine Scholz

„Das ist bestimmt seine Mutter!“ dachte ich, als plötzlich die Tür des Fotoladens mit dem Schild „vorübergehend geschlossen“ geöffnet wurde und eine alte Frau mit mürrischem Gesicht vor uns stand. Sie traf uns beide spärlich bekleidet auf dem Chaiselonge an, das Ron als Requisite für elegante Porträtaufnahmen diente. Wir kannten uns erst seit kurzer Zeit und die Leidenschaft war groß. Ron fertigte auch T-Shirts an mit einem Foto als Aufdruck. Ich hatte von ihm einige Max-Stirner-T-Shirts ausführen lassen und mich zuerst in seine tiefe Stimme, dann in seine lächelnden Augen mit den vielen Fältchen ringsherum und schließlich ganz in ihn verliebt. Mir hatte sein Geschäft auf Anhieb gefallen, weil darin die Zeit zum Stillstand gekommen war. Es kam mir so vor, als würde Ron aus einer weit entfernten Epoche stammen, wo es die Hektik unserer modernen Zeit nicht gab. Die Art wie er „Max Stirner“ aussprach erinnerte mich an einen trüben Tag am Meer mit fast niemandem.
Bei meinem dritten Besuch in Rons Fotogeschäft sah er mich über den Rand seiner Brille an und sagte mir, dass ihm Max Stirner ein Begriff sei.
„Ach wirklich?“ war es mir entschlüpft. Dann hatte mir Ron erzählt, dass er vor vielen Jahren sein Philosophiestudium abgebrochen habe.
Während Ron und ich uns anzogen, rauchte die Mutter eine Zigarette nach der anderen, ohne sich mit uns zu unterhalten. Allerdings gab es keine üble Szene. Beruhigt stellte ich fest, dass in Rons staubigem Geschäft die Hand einer Frau fehlte, die regelmäßig putzte. Schlimmstenfalls würde er geschieden sein.
Am nächsten Tag war meine zwei Monate alte schwarze Katze Fiska verschwunden. Sie hatte giftgrüne Augen, eine untersetzte Figur, war sehr gutmütig, also überhaupt keine typische Katze.
Am Morgen war sie noch zu mir ins Badewasser gesprungen. Die Kleine hatte wirklich vor gar nichts Angst. Das hätte mir zu denken geben müssen, doch ich war mit meinen Gedanken bei Ron gewesen. Offensichtlich war Fiska durch das Eingangstor entwischt, während der Hausbesitzer mit seinem Wagen weggefahren war. Wenn ich Ron nicht gehabt hätte, wäre ich sicher verzweifelt. Ron half mir ein Fahndungsfoto von Fiska anzufertigen, das ich bei der Tierhandlung um die Ecke an der Ladentür anbrachte. Dann machten wir uns gemeinsam auf, die Katze zu suchen. Wir gingen in jeden Hof, schauten hinter jeden Busch, riefen in jedes Kellerfenster hinein. Am Abend kletterten wir vom Hof aus mit Hilfe einer Leiter auf die Garagendächer. Der ganze Wohnblock hing an den Fenstern und beobachtete unsere Akrobatik - ohne Netz -, wie wir wie Katzen über die Teerdächer schlichen, die alle miteinander verbunden waren. Wir waren ganz schmutzig wie Dachdecker. Am Sonntag früh waren wir schon um 5.30 Uhr dort, um zu lauschen, ob Fiska irgendwo miaute. Denn es gab immer wieder Leute, die behaupteten, sie gehört zu haben. Mal sagten sie, dass das Miauen von rechts kam, dann wieder von links, dann von hinten, dann von vorne. Ron und ich gingen allen Stimmen nach - ohne Erfolg. Bei unserer Suche lernten wir die "Katzenfrau" kennen, die seit Jahren die herumstreunenden Katzen mit ihrer knappen Pension durchfütterte. Schon jetzt hatte sie ihr ganzes Geld verbraucht. Sie hatte Fiska auch nicht gesehen, bestand aber darauf, dass wir sie benachrichtigten, falls Fiska wieder auftauchte, weil sie sich jetzt auch Sorgen um sie machte. Diese Frau war wirklich unglaublich. Manche hassten sie, erzählte sie, und würden sie am liebsten tot sehen. Bei unserer Suche trafen wir die verschiedensten Leute. Die netteste Frau, die auch Tag und Nacht nach Fiska Ausschau hielt, wohnte in einem wunderschönen Jugendstilhaus. Auch ihr Bruder lebte dort, er war der Direktor des Kernforschungsinstitutes von Turin. Auch dieser vielbeschäftigte Mann erkundigte sich regelmäßig nach Fiskas Verbleib. Plötzlich war ich gar nicht mehr einsam und kannte so viele Leute. Nach 14 Tagen rief uns ein Mann vom Balkon aus zu: „Sie geben wohl nie auf?“
Es war der Sommer 2003, und Max Stirner hatte mir zu einem liebenswürdigen, aufopferungsvollen Liebhaber verholfen.
„Eigentlich ist Max Stirner gar nicht mein Lieblingsphilosoph.“ sagte ich zu Ron, der gerade die Scheibe seines Schaufensters reinigte. „Platon ist mir viel lieber, aber mich stört, dass man Stirners Existenz einfach aus der Philosophiegeschichte getilgt hat. Schließlich war er ein Franke wie ich. Das bisschen Solidarität bin ich ihm schuldig.“ Mein Blick fiel auf eine Reihe von Porträtfotos hinter der verstaubten Kasse, die Personen mit blicklosen Augen darstellten. Doch eines fiel mir auf, da es ein kleines Mädchen zeigte, das Rons verträumte tiefbraune Augen besaß. Ron merkte es und schien etwas verlegen zu sein:
„Mit Stirner endet die gesamte neuzeitliche Philosophie. Er hat seine Vorgänger philosophisch vernichtet.“
„Ich glaube, dass allen Dingen Ideen zugrunde liegen und dass unsere Welt davon nur ein blasser Abglanz ist.“ sagte ich.
„Dann bist du also eine Platonistin?“ meinte Ron nachdenklich.
Ich sah ihm gerne bei der Arbeit zu. Seine Bewegungen waren ruhig und bestimmt. Mir zu Ehren trug er das rote Stirner-T-Shirt mit der schwarzen Aufschrift „Lust auf Max Stirner“. Eigentlich stand es ihm überhaupt nicht, doch ich wollte ihn nicht kränken. Ron ließ sich in der Welt treiben, so als hätte er gar keine Absichten, und wartete einfach darauf, was kam. Was nicht sein sollte, sollte eben nicht sein. Die Metaphysik der Ruhe.
„Meinst du, dass wir Fiska wieder finden?“ fragte ich ihn.
„Ich bin sicher, dass sie wieder auftaucht und sich auf ihren Fressnapf stürzt, als wäre sie nie weg gewesen. Sie wollte einfach nur die Chance zur Erkundung der Welt dort draußen nützen.“ antwortete Ron und sah mich mit seinen warmen braunen Augen an.
Eine Nachbarin machte mir Vorwürfe, ich hätte ein so kleines Kätzchen nicht allein im Hof spielen lassen dürfen. Dabei handelte es sich um 5 Minuten, wo ich nicht aufgepasst hatte. Alle möglichen Leute versprachen, die Augen aufzuhalten und es mir sofort mitzuteilen, falls sie etwas von Fiska hörten. Sogar die Tierärztin schrieb sich meine Adresse auf und würde sich melden, falls jemand ein ähnliches Kätzchen gefunden hätte. Überall hingen Fahndungsfotos von Fiska, die Ron täglich neu druckte. Die Realität war für mich zum Alptraum geworden.
Wenn wir zusammen durch die Straßen zogen, betete Ron laut zum Heiligen Antonius, der angeblich beim Wiederfinden von Verlorenen helfen soll. Es störte mich überhaupt nicht, dass mein Geliebter offensichtlich kein Atheist war.
Am Abend um 22 Uhr klingelten drei Jungen bei mir, die Fiska angeblich gesehen hätten. Wahrscheinlich waren sie scharf auf die Belohnung. Sie sei bei ihnen im Garten gewesen, über eine Mauer geklettert und in einer Baustelle verschwunden. Also zogen Ron und ich mit einer Taschenlampe los, stiegen über den Bauzaun und warteten bis Mitternacht darauf, dass sie wieder zum Vorschein kam. Leider tat sich nichts. Ich stellte einen Teller mit Katzenfutter hin und wir setzten uns auf eine halb fertige Mauer. Ron legte seinen Arm um mich und zog mich an sich. Er roch angenehm nach Mann, sein Vollbart kratzte fast überhaupt nicht. Ron begann mich auszuziehen.
„Findest du, dass der Egoismus eine dem Leben angemessene Haltung ist?“ flüsterte er.
„Stirner will eigentlich nur denen helfen, die durch die Moral ein unfreies Leben führen.“ entgegnete ich und fragte mich, wodurch Ron ein so guter Liebhaber geworden war. Dann fügte ich hinzu:
„Du bist jedenfalls nicht mein Eigentum. Eher besitzt du mich. Ich habe mich verloren, weil du mich aus meiner Welt gestohlen hast.“ flüsterte ich leichtsinnig.
Im Schein der Taschenlampe bemerkte ich viele schwarze Härchen von Fiska auf Rons weißem Hemd. Plötzlich empfand ich mein Stirnersches Ich als Bürde, die ich los werden wollte. Mein Körper war ein Grab, in dem meine Seele eingeschlossen war. Daran konnten auch Rons Zärtlichkeiten nichts ändern. Fiskas Verlust war eine fixe Idee geworden. Es ging mir sehr schlecht. Eine Philosophin sollte ihr Herz nicht an irgendwelche Tiere hängen, dachte ich. Das, was ich in diesem Moment durchlebte, war eine selbstgemachte Katastrophe. Ron reagierte ganz anders. Er schien mit der Situation gut fertig zu werden, weil  er keine Vorstellung vom wahren Leben hatte.
Am nächsten Samstag nachmittag gingen Ron und ich noch einmal in die Tierhandlung, um Futter einzukaufen. Als wir den Laden betraten, strahlte uns die Inhaberin an und deutete auf eine Frau mit einem schwarzen Kätzchen auf dem Arm.
„Ist das Ihres?“ fragte sie. Ich brachte vor Staunen kein Wort hervor. Dann nahm ich Fiska in den Arm und betrachtete sie genau. Ja, sie war es. Zwar ganz abgemagert, aber das war unverwechselbar mein kleiner Räuber. Kaum zu glauben. Die gleichen weißen Flecke, dass gleiche verschmitzte Gesichtchen. Dann nahm sie Ron zu sich, während ich mir von der Frau den genauern Hergang erzählen ließ. Fiska wollte gar nicht mehr weg von Ron und schnurrte zufrieden. Es wirkte so, als würde sie sich an Ron erinnern, was ja gar nicht sein konnte, da sich die beiden in diesem Moment zum ersten Mal trafen.
„Manchmal bequemt sich eben doch ein Heiliger vom Himmel herab auf die Erde, um Gutes zu bewirken.“ murmelte Ron.
„Ja, endlich hat mein Leben nicht nur eine Form, sondern auch einen Inhalt!“ sagte ich und spürte erstaunt, wie eine lebenslange Erstarrung langsam von mir wich. Als wir in meiner Wohnung ankamen, zog ich Ron das Stirner-T-Shirt aus. Ich fand, er sollte es in Zukunft nicht mehr tragen.

Copyright © Juni 2006 Sabine Scholz


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