Neues
"Familie"
von Timo Krüger
Er schrie. Seine wild,
gestikulierenden Arme versuchten seiner Stimme Nachdruck zu
verleihen. Ihre Blicke trafen sich flüchtig, wichen einander aber
sofort wieder aus. Seine bebende Stimme schien in jeden Winkel, in
jede noch so entlegene, verwinkelte Ecke des kleinen, zweistöckigen
Hauses zu dringen, um dann reflexionsartig als gewaltiges Echo in
die Mitte des Raumes zurückzukehren. Ein kleiner Junge saß auf der
Treppe, beobachtete still. Sie schluchzte, während sie mit der
linken Hand versuchte ihr Gesicht zu bedecken. Dennoch sah man, wie
eine Träne über ihre Wange rann, ihr Kinn sanft streichelte, bis
sie schließlich am Boden zerschellte. Sie kehrte ihm den Rücken
zu. Nun packte sie der Mann am Handgelenk, wollte sie zu sich
ziehen, sie herumreißen, ihr ins Gesicht sehen. Mit einer kräftigen
Bewegung riss sie sich los, entzog sich seiner Nähe. Plötzlich
begann sie zu schreien. Sie brüllte ihn an. Sie schrie so sehr,
dass sie am ganzen Körper zu zittern schien. Erschrocken und
verdutzt, wich er zwei Schritte zurück. Dann schüttelte er den
Kopf, atmete kräftig aus und erwiderte ihr Geschrei, wobei er
versuchte sie zu übertönen. Ihre Stimmen prallten gegeneinander,
umschlangen sich, waren schließlich so ineinander gefangen, dass
sie sich nicht mehr voneinander befreien konnten. Das gewaltige Echo
ertönte erneut, brach diesmal wie eine Flutwelle über den Raum
herein und überschwemmte ihn.
Der kleine Junge saß auf der Treppe, rührte sich nicht, saß nur
still da und schwieg. Plötzlich erfüllte ein schellendes Geräusch
den Raum, löste ihre Stimmen voneinander und verhängte das Gebot
der Stille über sie. Regungslos standen sie da, ohne auch nur ein
einziges Wort zu sagen. Als der Mann sich als erster aus der Starre
löste und zur Tür ging, hatte es bereits mehrere Male geklingelt.
Ein tiefes Ein- und Ausatmen begleitete das Öffnen der Tür. Er
erblickte eine ältere Dame in einem monotonen, grauen Kleid, die,
wie ihm sofort auffiel, nur Hausschuhe trug und zudem ein relativ
großes Paket in ihren Händen hielt, das sie ihm nun freundlich lächelnd
entgegenstreckte. "Schönen guten Tag, ich hoffe, ich störe
nicht. Gestern hat ein Bote dieses Paket für Sie bei mir abgeben,
da bei Ihnen niemand geöffnet hat", sagte die ältere Dame mit
weicher Stimme. "Das ist nett. Ich danke Ihnen",
entgegnete er. "Ich hörte eben lautes Geschrei, ist alles in
Ordnung bei Ihnen?" fragte die ältere Dame neugierig.
"Unser Sohn hat gerade wild herumgetobt, wie Kinder nun mal so
sind und wir mussten ihn etwas lautstark zur Ordnung rufen. Machen
Sie sich keine Sorgen", entgegnete er mit ruhiger Stimme.
"Ich wollte nicht zu neugierig sein, es geht mich ja
eigentlich auch gar nichts an..." "Ist schon gut",
fiel er ihr ins Wort. Die ältere Dame verabschiedete sich, warf
noch einen Blick zurück, als sie sich auf den kurzen Weg zum
Nachbarshaus machte. Die Tür fiel leise ins Schloss.
Er drehte sich um, vorwurfsvolle Blicke begegneten sich. In diesem
Moment glichen sie eisernen Statuen, die weder reden noch sich
bewegen konnten, einfach nur dastanden und einander anstarrten, ohne
zu wissen, warum sie es taten. "Geschrei, das einen mit
einsamer Stille umgibt," konnte man in den Augen des kleinen
Jungen lesen. Er schluchzte laut und legte seinen Kopf auf etwas,
dass auf seinen Knien lag. Plötzlich erschrak der Mann. Wie gelähmt
starrte er zur Treppe, wo noch immer der Junge saß, riss den Mund
auf, wollte etwas sagen, konnte es aber nicht. Dann hob der Junge
seinen Kopf. Er hatte ein Foto mit einem goldfarbenen Rahmen auf
seinem Schoß liegen. Dann sah er sie an, legte sein Foto sorgsam
neben sich auf die Stufe, stand auf und ging mit langsamen Schritten
die Treppe hinauf, ohne sich dabei auch nur ein einziges Mal
umzudrehen. Oben angekommen, verschwand er um die Ecke und kurz
darauf hörte man, wie eine Tür laut ins Schloss fiel. Der Mann
ging die paar Stufen hinauf und hob das Foto auf. Er setzte sich auf
die Stufe, wo eben noch der kleine Junge gesessen hatte, und starrte
auf das Bild. Ohne dass er es bemerkt zu haben schien, hatte sie
sich neben ihn auf die Stufe gesetzt. Nun starrten sie beide auf das
Bild des kleinen Jungen, der eben noch still auf der Treppe gesessen
hatte. Eine Frau, ein Mann, die beide ihre Arme um einen kleinen
Jungen gelegt hatten. Alle drei hatten etwas gemeinsam, sie lächelten.
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© 2002 Timo Krüger
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