Neues
Blau
war gut
Von
Esther A. Kestenbaum
"Der
Gedanke, dass du morgen vielleicht nicht mehr sein kannst, schnürt
mir die Kehle zu.", hatte sie vor einigen Monaten geschrieben.
Er hatte daraufhin wie immer am anderen Ende gelacht und kurz darauf
las sie: "Ich habe noch nicht vor, morgen ins Gras zu beißen."
Sie verabscheute seinen Humor, aber es war seine Art mit der Angst
vor dem Tod umzugehen. Zu lange wartete er nun schon, dass die
Krankheit über seinen Lebenswillen siegte. Und zu häufig fragte er
sich, ob er nicht endlich aufgeben solle, um die ersehnte Ruhe zu
finden. Doch da waren seine Familie, seine Freunde, da waren zu
viele, die ihm das Nachgeben schwer machten. Und da war sie:
Meilen entfernt, vergeben, für ihn unerreichbar und doch verbunden
durch die moderne Kommunikation. In ihren Gedanken waren sie
untrennbar vereint.
Er schüttelte seine Gedanken von sich und las schmunzelnd ihr
Schweigen am Monitor. "Ich verspreche dir, ich verschwinde
nicht, ohne mich bei dir zu melden.", tippte er im
Zwei-Finger-Suchsystem in das Texteingabefeld ein und schickte die
Nachricht ab. Sie kannten sich lange genug, um von den gegenseitigen
Ängsten seines plötzlichen und letztlich wohl doch unerwarteten
Ablebens zu wissen. Diese Antwort war stets sein kleiner Versuch,
ihre Angst zu mildern.
Nicht selten hatten andere, virtuelle Bekannte schon gefragt, ob sie
im sogenannten realen Leben verheiratet wären. "Nein!",
war immer die Antwort gewesen und beide saßen an ihrem Rechner und
lachten. "Aber doch Freunde!", wurde meist nachgehakt und
wieder wurde verneint - schließlich kannten sie sich überhaupt
nicht persönlich. "Bekannte?" - "Nein, um Gottes
Willen, nein!", dafür standen sie sich wahrlich zu nahe, aber
es war auch nicht wichtig.
Das einzige, was zählte, war die Farbe blau: blau stand für
online, rot für offline. Rot war schlecht. Blau war gut, blau war
sehrgut, blau - war - blau!
Sie starrte auf den handgeschriebenen Brief in ihrer Hand und riss
sich von ihren Gedanken los. Er war mit der Post an diesem Morgen
gekommen. Absender und Handschrift waren beide ihr gänzlich
unbekannt. Viel stand nicht drin, eigentlich waren es nur vier
Worte. Weit entfernt hörte sie ihre Stimme leise die Worte
"Die Liebe ist blau." vorlesen, als ihr Blick bereits auf
dem roten Namen am Bildschirm heften blieb.
Copyright
© 2002
Esther
A. Kestenbaum
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