Neues
MAX
STIRNER
Die
Anarchie: Ein Haus ohne Fundament
Italien, das Haus auf dem Meer
Von Mario
Frisetti
„Ich
hab´ Mein Sach´ auf Nichts gestellt" Goethe 1804, VANITAS
“Ich
bin [nicht] Nichts im Sinne der Leerheit, sondern das schöpferische
Nichts, das Nichts, aus welchem Ich selbst als Schöpfer Alles
schaffe.“
Stirner, 1844, DER EINZIGE, erste italienische Übersetzung von
Ettore Zoccoli 1902 (IV Ausgabe)
„Die
Einsicht muß aber allgemeiner werden, daß nicht die Bildung,
die Civilisation, die höchste Aufgabe des Menschen ausmacht,
sondern die Selbstbethätigung.“
Stirner, 1842, DAS UNWAHRE PRINZIP UNSERER ERZIEHUNG ODER DER
HUMANISMUS UND REALISMUS, Übersetzung Angelo Treves, 1923
DER
ANARCHISCHE INDIVIDUALISMUS
Der
Individualismus ist die unverzichtbare Basis des Anarchismus.
Wer auch immer sich
Anarchist nennen will, ohne sich als Individualist zu bekennen,
steht außerhalb des Anarchismus. Mit anderen Worten, es existiert
kein Anarchismus, der nicht individualistisch ist.
DIE
ANDEREN
Es existieren jedoch
andere Formen des Individualismus, einige sind berühmt und invasiv,
wie der bürgerliche Individualismus, der antithetisch und
unvereinbar ist mit dem anarchischen. Selbst Errico Malatesta
behauptet „Alle Anarchisten sind Individualisten, aber nicht alle
Individualisten sind Anarchisten.“
BÜRGERLICHER
INDIVIDUALISMUS
Das Bürgertum erklärt das Individuum zum höchsten Wesen und als
solches kann es jedes Mittel benützen, um seinen Vorrang gegenüber
anderen zu behaupten. Nur an der Spitze einer Hierarchie realisiert
sich das bürgerliche Wesen. Die
planetarischen Katastrophen, die durch die Industrialisierung dieser
Geistesform, die das kapitalistische Bürgertum charakterisiert,
herrühren, sind allen deutlich und sie sind dabei, selbst das Leben
auf der Erde zu beeinträchtigen. Aber
was hier interessiert, ist den vollständigen Unterschied und die
Unvereinbarkeit zwischen bürgerlichem und anarchischem
Individualismus, sowohl in den Mitteln als auch in den Zielen,
deutlich zu machen. In
den Zielen, denn eine Hierarchie von Menschen oder Lebewesen im
Allgemeinen zu kommandieren, ist offensichtlich kein anarchisches
Ziel, sondern ist genau das, was die Anarchisten bekämpfen.
In den Mitteln, denn
der Gebrauch „jedes notwendigen Mittels“ (neuer kommunistischer
Slogan und antike Praxis, die allen Autoritären gemeinsam ist), um
auch das vornehmste aller Ziele zu erreichen, ist nicht zulässig für
den Anarchisten, der auf Kohärenz des Mittels mit dem Ziel besteht.
KOMMUNISTEN
Es gibt zwei unvereinbare Wege, um sich von der bürgerlich-kapitalistischen
Ausbeutung zu befreien, der eine ist autoritär, der marxistische,
der andere ist antiautoritär, und wurde von Bakunin entwickelt.
Eines der Hauptmotive liegt in der Kohärenz zwischen Zielen und
Mitteln, die von dem Russen vorgeschlagen wurde, und die der
Deutsche verspottete. Der
Anarchist, der auf die Kohärenz zwischen Zielen und Mitteln
verzichten würde, würde auf eine der Konzeptionen verzichten, die
ihn als solchen charakterisieren. Er wäre einfach nicht mehr
Anarchist, sondern ein Autoritärer, der es eilig hat, die eigene
Macht zu bestätigen, indem er sich als Anarchist ausgibt. Was
den Kommunismus betrifft, d.h. die marxistisch-leninistische
Ideologie und ihre staatlichen
Anwendungen, stellt sich die Frage nicht einmal. Der
Kommunismus hält das Individuum sowohl in der Theorie als auch in
der Praxis hierarchisch dem Willen der Gemeinschaft unterworfen,
genauer gesagt den pyramidischen Hierarchien, die die Gemeinschaft
informieren, lenken und kontrollieren. Indem
sie die Ideologie als Fundament der Unfreiheit zurückweisen,
beginnen nur die Situationskünstler in der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts die individuelle Befreiung wieder zu schätzen als
unverzichtbare Voraussetzung für den Umsturz des Existierenden, und
das mit einem guten Jahrhundert an Verspätung, obwohl sie durch den
Marxismus formiert sind und von ihm abhängen, weswegen sie
schrecklich widersprüchlich sind. Eine
lobenswerte und mutige Revision im anarchistischen Sinn, die zu spät
kam aus dem Inneren einer Bewegung heraus, die auf planetarischer
Ebene viele Millionen Individuen ausgelöscht hat im Namen von
etwas, das ihnen überlegen ist: dem Volk, manchmal als
Arbeiterklasse definiert, manchmal generell Proletariat; Bakunin
bezeichnet diese als „die schlimmste Diktatur“.
RELIGION
Dieselbe Argumentation, wie für die Ideologie, gilt auch für
die monotheistischen Religionen und besonders für jene, die
Stirners Welt betraf und betrifft, die christliche. Nach Meinung der
Christen gehört das Leben des Menschen nicht dem Menschen, sondern
Gott, der es ihm geschenkt hat und es ihm wieder nimmt, wann er
will. Das Individuum kann bei den Christen nicht einmal das Datum
seines eigenen Todes bestimmen. Das
Individuum gehört nicht sich selbst, wie man naiverweise glauben könnte,
sondern ist sich selbst enteignet durch die göttliche Entität, die
es mit einem Akt der höchsten Liebe geschaffen hat, und was noch
schlimmer ist, durch seine Abgesandten in diesem Tal der Tränen
(Papst, kirchliche Rangfolgen und alle Hierarchien jeglicher Macht,
die damit einverstanden und deswegen geheiligt sind). Ich
schließe dieses Kapitel mit einem Zitat von Stirner von 1842:
„Kunst und Religion“, wo der Autor die Unvereinbarkeit von
Religion und Individualismus behauptet, und zwar in einer Form, die
ausgedehnt werden kann auf die weltliche und parawissenschaftliche
Version der Religion, die Ideologie. „Nur
der Religionsstifter ist genial, er ist aber auch der Schöpfer des
Ideals, mit dessen Schöpfung jede weitere Genialität unmöglich
wird.“
RELIGION
- IDEOLOGIE - AUTORITÄRES
DUETT
Für Ideologie und Religion muss das Individuum eine Nummer
sein. Wenn es unterdrückt ist, ist es zu addieren und zu
multiplizieren, wenn nicht, zu teilen und dann abzuziehen.
Es fällt auf, dass
das bürgerlich-kapitalistische, marxistische oder christliche
Denken zur eigenen Verbreitung und Praxis, als unverzichtbare
Voraussetzung die Annullierung des Individuums besitzen, und zwar
indem es den jeweiligen Hierarchien untergeordnet wird .
Hinterlistiger ist das
pragmatische bürgerliche Denken, das schwört, das Individuum zu
exaltieren. Ähnliches können sich die Marxisten und Christen nicht
erlauben ohne lächerlich zu wirken. Aber auch das nicht in
Ideologie formalisierte bürgerliche Denken zeigt den eigenen
Schrecken. Angesichts einer Weltordnung, die drei Viertel der
Individuen auf diesem Planeten in Armut zwingt, zu Gunsten einer
kleinen Minderheit von Privilegierten und ihren zahlreichen Dienern
und Komplizen, nimmt die größere „Humanität“ der
demokratisch-bürgerlichen Regime die Form einer blutigen
Provokation an.
ANARCHISTEN
Der Anarchismus als historische Bewegung entsteht in Italien in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Abspaltung von den
autoritären Theorien und Praktiken (bürokratischer Zentralismus,
Verleumdung als politische Waffe, polizeiliche
Nachforschungssysteme, Ausbürgerungen), die die erste
Internationale von Marx und Engels von Anfang an charakterisieren.
Der erste italienische
Kommunist, der erste anerkannte Übersetzer einer verbreiteten
Zusammenfassung des Kapitals, war Carlo Cafiero (di Barletta). Aber
er war auch der erste, der die deutschen Theoretiker verließ zu
Gunsten des antiautoritären Entwurfs von Bakunin. Von diesem Moment
an beginnt der italienische Anarchismus, eine Bewegung zu sein, die
zum libertinären Kommunismus neigt. In Italien wurde dieser
besonders von Cafiero und Malatesta theoretisiert, die beide Schüler
von Bakunin waren. Die Basis des Bakuninschen Denkens stellt die größte
individuelle Freiheit dar, „wo jeder gemäß seinen Mitteln und
Bedürfnissen das ihm Zustehende bekommt.“ Schritt
für Schritt findet der grandiose Egoismus, den Max Stirner
vorschlug, seinen idealen Nährboden im italienischen Anarchismus,
um ihn schließlich am Anfang des 20. Jahrhunderts tief zu
durchdringen. DER EINZIGE wurde einer der Grundtexte der
antiideologischen Einstellung der italienischen Anarchisten und ist
es noch heute. Einen
letzten Einfluss von radikalem Individualismus erfährt er durch
Nietzsche, der sich bei Stirner inspiriert.* Nietzsche lebte eine
Zeit lang in Italien in Turin, wo er „Die Götzendämmerung“
schrieb. Es
ist zu ergänzen, dass der Individualismus in Italien eine tief
verwurzelte Tradition ist bei den untereinander sehr verschiedenen
Kulturen, wie den Sprachen. Von Süden nach Norden ist auf
verschiedene Weise eine Tradition der individuellen Revolte
lebendig, und die Attentate auf den italienischen König von
Passamonte und Acciarito, die mit Sicherheit das Denken Max Stirners
nicht kannten, sind ein berühmter historischer Beweis dafür.
Wir können behaupten,
dass das subversive Wesen des italienischen Anarchismus eine seiner
nie ausgetrockneten Quellen in Stirners Schriften findet.
Und dank der
unerbittlichen Kritik Stirners ist es dem Anarchisten nicht mehr möglich,
sich auf religiöse und ideologische Thesen zurückzubewegen, ohne
sich zu entstellen. In
einem Wort gesagt, dank Stirners Gedanken müsste für den
Anarchisten die autoritäre Beschränkung unmöglich sein, sei sie
ideologisch (weltlich), oder sei sie fideistisch (religiös), da
beide begleitet sind vom unaufhörlichen Kampf um die Annullierung
des Individuums. Dass
der Individualismus eine fundamentale historische Komponente für
die italienischen Anarchisten ist , kann man aus der Geschichte
ersehen. Aber
seit dem 29. Juli 1900, dem Tag des Pistolen-Attentats von Gaetano
Bresci, der mit zwei von drei Kugeln das Herz von Umberto I von
Savoia, dem Guten König - auch Maschinengewehrkönig genannt -
getroffen hatte, ist allerdings evident, dass die individuelle
Revolte zur täglichen Praxis der anarchistischen Bewegung gehört,
und zwar als Form des Kampfes gegen die Unterdrückung, weswegen sie
auch bereit ist, unterdrückende Vergeltungsschläge in Kauf zu
nehmen. Nach dem Königsmord war
die Repression in Italien grausam, aber die Anarchisten sagten sich
– mit wenigen Ausnahmen - weder von Bresci los noch verleugneten
sie ihn, was die Sozialisten dagegen sofort taten. (Filippo Turati,
oberster Leader der Sozialisten und Anwalt, verweigerte die
Verteidigung Brescis, erklärte aber in seinen privaten Briefen
sogar, dass jener richtig gehandelt habe.) Das
Attentat von Bresci war im Kreis von anarchistischen Webern aus der
Toscana (Prato) und aus Piemont (Biella) entstanden, die in die USA
emigriert waren. In diesem Umfeld war die antiorganisatorische (Galleani)
und individualistische Tedenz (Ciancabilla) stark präsent.
Auch bei den
Attentaten gegen Mussolini sind Anarchisten die Protagonisten:
Lucetti, Sbardellotto, Zamboni und Schirru, immerhin wesentlich früher
als der organisierte „Widerstand“. Eine
Unzahl kleiner Gesten der individuellen Revolte werden von den
Anarchisten begangen. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg vom Soldaten
Masetti, der auf den Oberst schießt, der die Truppen vor dem
Aufbruch der kolonialen Spedition nach Libyen aufwiegelt, bis zum
jungen Partisanen Brusasco, der während des zweiten Weltkriegs
Handgranaten gegen die Truppen der Nazibesetzung schleudert. Und
unendlich viele andere Taten werden regelmäßig von der Geschichte
ausgelöscht, weil sie von der Macht und ihren Dienern geschrieben
wird. Um
den Einfluss von Stirner auf die jungen italienischen Anarchisten zu
werten, ist es unverzichtbar, zwei junge Anarchisten in Erinnerung
zu rufen, deren Leben tragisch endete. Beide kannten, teilten und
praktizierten Stirners Gedanken: Bruno Filippi und Renzo Novatore.
Bruno Filippi
stirbt im Alter von 19 Jahren, als er am 7. September 1919 im Club
dei Nobili in der Gallerie von Mailand einen Sprengkörper zündet.
Aber Bruno Filippi ist nicht nur ein junger Anarchist der Aktion:
„Hunde, so leckt ihr
die Hand, die euch schlägt! Und es ist für euch, gerade für euch,
dass ich mich erheben sollte? (...) In Ergebenheit verfaultes Aas
(...) Für euch nicht einmal eine Zigarette...... Ich
will mich nicht gesellen zum Hof der Kurtisanen des Proletariats,
die jene entschuldigen, beweihräuchern und mit Lorbeer schmücken......
Ihr klagt über den
Krieg, während ihr selbst seine Autoren seid und ihn weiter führt,
da ihr ihn ertragt.“
(posthum
1920) > (Freie Kunst eines Freigeistes)
(posthum 1920) > (In Verteidigung von Mata Hari)
„Ich bedaure nicht die Soldaten, die deinetwegen starben.
Die hässliche Masse,
die sich zur Schlachtbank führen lässt, ohne zu rebellieren, die
sich abschlachten lässt, ohne einen Grund, die alles, was ihr lieb
ist, verlässt, auf Befehl eines Blattes, das an einer Straßenecke
angeschlagen ist, sie ist zu erbärmlich: Sie
verdient den Tod, sie verdient das Messer des Scharfrichters. Und du
arme Mata warst schön!“ Renzo Novatore (Abele Ricieri Ferrari) stammt
aus Arcola in Ligurien in der Nähe von Carrara. Hier
führt er die ersten Kämpfe, bei denen er durch seine Radikalität
und seinen Mut hervorsticht. Auch
Novatore ist wie Filippi Schriftsteller.** Nach einer Periode, die
von D´Annunzios Dekadenz beeinflusst war, wird er vom
futuristischen Blitz getroffen. An dieser Bewegung, die in ihrer
ersten Phase noch zwischen Revolution und Reaktion hin und
herschwankt, nimmt er mit verschiedenen Schriften teil. Der
Futurismus beeinflusst auch seine Prosa. Die
kritische moderne Sensibilität von Novatore - weil sie
stirnerianisch ist – tritt im Januar 1921 heftig in Erscheinung,
als er, in Antwort an einen anderen Individualisten, der ihn wegen
seiner Mitarbeit an der fiumanischen futuristischen Zeitung “La
testa di ferro” („Der Kopf aus Eisen“) attackiert, die
unverwechselbar dadaistische Geste von Guido Keller verherrlicht.
Am 14. November 1920
wirft der Flieger, Geschwadermitglied des Asses Francesco Baracca,
aus Fiume kommend, wo er aktiv an der Besetzung teilnimmt, aus
seinem Flugzeug einen Nachttopf auf Montecitorio, „um sie lächerlich
zu machen“. Erinnern
wir daran, dass unter den Unterzeichnern des Glückwunschtelegramms
an D`Annunzio für die Besetzung Fiumes, das im September 1919 vom
Dada-Club in Berlin abgeschickt wurde, die Unterschrift von Johannes
Baader, dem Erfinder und Protagonisten der „dadaistischen
Geste“, hervorsticht.
Baader war im Februar
1919 bei der konstituierenden Versammlung in Weimar arrestiert
worden, weil er dort Flugblätter von den Rängen geworfen hatte,
die die Machtergreifung des Oberdada (er selbst) verkündeten. Es
handelte sich in Wirklichkeit um die einzige Ausgabe der Zeitung
“Cadavere verde” („Der grüne Kadaver“) mit dem Titel „Die
Dadaisten gegen Weimar“ unterzeichnet vom „Dada-Rat der
Weltrevolution“. Die
Geste von Keller begeistert vor allem Novatore und die Mitarbeiter
der futuristischen Zeitung “La testa di ferro” aus Fiume (die
von Mussolinis Faschisten und von den Carabinieri aufgegeben worden
war, und vom Königreich Italien militärisch bedroht worden war),
die mit dem Faschismus gebrochen haben und regelmäßig
anarchistischen Artikeln Raum bieten, besonders
anarcho-individualistischen, die teilweise von F.T. Marinetti
autorisiert oder kommentiert worden sind. In
einer Antwort an Mâro il Maligno behauptet Novatore in der Mailänder
Zeitschrift “Nichilismo”, dass Kellers Überraschungsangriff auf
Montecitorio revolutionärer sei als bestimmte Kampfformen, die von
den Arbeitskammern angewendet werden. Aber
wie Filippi, so ist auch Novatore ein Mann der Tat und wird 1922 während
einer Schießerei mit den Carabinieri in einem Gasthaus in der
Gegend von Genua (Teglia) getötet. Er war 32 Jahre alt und gehörte
zur Bande von Sante Pollastro, dem anarchistischen Expropriator aus
Piemont, und für viele Jahre der öffentliche Feind Nummer eins in
Italien und in Frankreich. Novatore
und Filippi arbeiten bei der Zeitschrift „Iconoclasta“ von
Pistoia zusammen, der 1920 unter dem Titel „I grandi iconoclasti“
postum die Schriften von Filippi publiziert. Ich
habe ein Beispiel von großer ethischer Bildung und
unvergleichlicher Gnade zitiert, die extreme Tat des Tyrannenmörders
Gaetano Bresci, die in ihrer Modernität eine zweifellos
stirnerianische Sensibilität ausdrückt, obwohl sie sich zurückverfolgen
lässt bis auf das verwurzeltere, unhistorische, mediterrane Magma,
das von Armodio und Aristogitone (griechische Tyrannenmörder, die
von der hellenistischen Bildhauerkunst unsterblich gemacht wurden)
bis zu Felice Orsini, dem republikanischen Attentäter, reicht.
Ohne diesen extremen
Taten gegen die Ungerechtigkeit etwas zu nehmen,
eine Fähigkeit, die hoffentlich die einzelnen Individuen
beizubehalten wissen, scheint uns der Beitrag der scharfen
stirnerianischen Kritik von größerer Reichweite. Die Tat von
Bresci und von Lucetti ist der extreme Aspekt eines größeren
stirnerianischen Bewusstseins, das, wenn es einmal erworben worden
ist, es ermöglicht mit „dem Messer der Kritik“ (DER EINZIGE)
gegen alle Formen der autoritären Herrschaft zu kämpfen, und
insbesondere die hinterlistigsten zu entlarven, die sich als
revolutionär präsentieren und leicht zu erkennen sind am
vorherrschenden Gebrauch von autoritären Methoden. „Jesuitische
Maxime: Das Ziel heiligt die Mittel“ (DER EINZIGE), aber noch mehr
wegen der hierarchischen Negation des Individuums: Die Wunde, in die
Stirner sein Messer stößt und Kanäle einschneidet, von wo aus
sich die Lüge verbreitet.
KONSTRUKTIV
Indem er „gegen den Begriff des Staates sündigt“ und
„gegen den Begriff des Gesetzes rebelliert“ (DER EINZIGE), nimmt
Stirner im „Einzigen“ Themen wieder auf, die in „Das unwahre
Prinzip unserer Erziehung“ enthalten sind, diesmal jedoch mit
entschieden propositiven Suggestionen, die eine klare Richtung
aufzeigen und nicht andere, die merkwürdigerweise von den
zahlreichen Kritikern vernachlässigt worden sind, aber auch -
und das macht nachdenklich -
von seinen Verteidigern im anarchistischen Umfeld.
Zu Beginn des EINZIGEN
handelt es sich im Grunde um den Schlüsselsatz „Ich hab´ Mein
Sach´ auf Nichts gestellt“. In der Tat besagt seine Prämisse in
Richtung auf die Konklusion “Ich bin [nicht] Nichts im Sinne der
Leerheit, sondern das schöpferische Nichts, das Nichts, aus welchem
Ich selbst als Schöpfer Alles schaffe.“ Er
schließt, nachdem er der Moralität einen Fußtritt versetzt hat
„Ich bin weder gut noch böse“,“ Mir geht nichts über
Mich!“ Alle
haben eine Überbewertung des Individuums festgestellt, die für
einige das Beste, für andere das Schlechteste des westlichen
Denkens verherrlicht. Fast
alle gehen aus niedrigen egoistischen Motiven über den klaren und
starken Entwurf eines kreativen Lebens hinweg, der eindeutig aus der
Prämisse hervorgeht. Wer
über diesen Grundaspekt Stirners, der zensiert wurde, begeistert
Missverständnisse verbreitet, für den kann als ideale Lektüre
„Das unwahre Prinzip unserer Erziehung“ empfohlen werden, wo der
Autor auf herbe, sicher provokante Weise die zentrale Frage der
Kreativität entwickelt und sie auf eine Weise darstellt, die sich
nicht mehr für Irrtümer eignet. „Die
Einsicht muß aber allgemeiner werden, daß nicht die Bildung, die
Civilisation, die höchste Aufgabe des Menschen ausmacht, sondern
die Selbstbethätigung.“
UNMENSCHLICHER
ANTIHUMANISTISCHER STIRNER
Es ist der Stirner, den wir am meisten lieben, der exzessive
Autor, der im Grunde die visionäre und poetische Philosophie
Nietzsches einleitet und uns eine unmoralische Sichtweise vorschlägt,
die er selbst als „unmenschlich“ definiert, um den Anarchismus
zu interpretieren, eine Interpretation, die den am meisten
propagierten humanitär-humanistischen Versionen Gerechtigkeit
erweist, nämlich denen von Kropotkin und von Malatesta, aber vor
allem den zahllosen Versuchen, die Anarchie als eine Ideologie zu präsentieren
(oder ein System von Ideen, das ganze Leben des Menschen betreffend)
und als Nachäffung des Marxismus.
KUNST
Mit der Befreiung der Kreativität von den Ketten der Kunst
entlarvt Stirner ohne Zweifel eine weitere bürgerliche Lüge (die
Neudefinition der liberalen Künste, die höher stehen als die
mechanischen, ist Werk der neuplatonischen Philosophen am Hof von
Lorenzo il Magnifico, (Florenz Ende 1400). So
erhält die nicht sterilisierte Kreativität ihre revolutionäre
Ladung zurück und tritt unvermeidlich
in das Feld der sozialen Subversion.
DADA
1916 entsteht in Zürich eine Bewegung, bestehend aus „Künstler-Deserteuren“
und Kriegsdienstverweigerern,
die der Intuition Stirners Leben verleihen. Ihre Schamanen heißen
Tzara (von Zarathustra), und sie sind, wie Picabia, entweder
besonders begeisterte Anhänger Stirners, oder besitzen wie Man Ray
einfach eine anarchistische Entwicklungsgeschichte, oder eine
libertinäre Umgebung wie Duchamp. Die
am wenigsten stirnerianischen, die Dadaisten, sind einige Berliner
mit marxistischer Ideologie, wie Heartfield und sein Bruder
Herzfelde, und der Maler Grosz, falls man ihn noch als Dadaisten
auffassen kann. Der
dadaistische Widerwille wird eine der wirkungsvollsten
Reproduktionen der Unmenschlichkeit Stirners. Aber das ist keine
italienische, sondern internationale Geschichte.
FUTURISMUS
In Italien hat der intellektuelle Provinzialismus und die daraus
folgende, verspätete didaskalisch-realistische Tradition der Kunst
dem Ausdruck der subversiven und emanzipatorischen Bewegung einen
starken Schlag versetzt. Die einzige entschiedene Revolte in diesem
stagnierenden Sumpf stellt der Futurismus dar, dessen Energien auf
Persönlichkeiten wie Carlo Carrà, einem Besucher und Mitarbeiter
von anarchistischen Kreisen in Mailand und in London mit stark
stirnerianischen Einflüssen, basieren. Er selbst erklärt in seiner
Biographie, ein Leser von Stirner, Nietzsche und Kropotkin zu sein.
Interessant sind einige Handstreiche von Marinetti selbst, der seit
dem ersten Manifest von 1909 die aufsehenerregenden Aspekte, die von
Stirner herrühren, sehr zu schätzen scheint, nämlich „die zerstörerische
Geste der Anarchisten“. Bemerkenswert
sind die Radikalität von Mario Carli, dem Förderer der
futuristischen Zeitung aus Fiume, und später sein fehlgeschlagenes
Attentat auf das Stromkraftwerk in Mailand, das er mit einem
individualistischen Anarchisten organisiert hat. Aber
mit dem Interventionismus verlässt der Futurismus wenige Jahre nach
seiner Geburt den revolutionären Impuls, um sich in der Akademie zu
konsolidieren, mit dem Ziel bei Ankunft des Faschismus Kunst des
Regimes zu werden. Die gleiche Geschichte passiert mit dem
russischen Cubo-Futurismus auf der Seite der russischen Diktatur des
Bolschewismus. Nach dem Futurismus herrscht Schweigen.
SQUATTER
(Hausbesetzer)
Erst am Ende des 20. Jahrhunderts fügen sich die Donnerwetter
des Dadaismus mit der Bewegung der Squatter organisch in eine
subversive anarchistische Praxis ein, und zwar inspirieren sie sich
bei Stirners Intuitionen über die Zentralität der Kreativität.
Besonders die Squatter
integrieren die dadaistische „Geste“ in die sozialen Kämpfe.
Die Einführung dieses neuen Elementes beim Kampf zur Umwälzung des
Bestehenden löst starke aktive und passive Verständnislosigkeit im
Inneren der anarchistischen Bewegung selbst aus, eine Verständnislosigkeit,
die auf Ignoranz und einen nicht zu entschuldigenden
Konservativismus zurückzuführen ist, der die veralteten Formen
wieder anwenden will, die dem kulturellen Provinzialismus lieb sind,
der schon genau ein Jahrhundert vorher die italienische Kultur
fundiert hat.
DAS
VERGNÜGEN GEGEN DAS OPFER
Ein anderer Aspekt, den man nicht von Stirners Werk trennen
kann, besteht in der ausdrücklichen Suche des Einzigen nach dem
Vergnügen und der Freude im Kampf gegen den Begriff und die Praxis
des Opfers. Er beobachtet in der Tat,
dass „die Gewöhnung an den Verzicht die Glut des Begehrens
abgekühlt hat“. Geistesblitze der Dadaisten von anarchistischer
Formation, wie Man Ray, geben den Impuls zum Agieren: „leben für
die Freiheit und das Vergnügen“, und danach Einfälle von
revolutionären Surrealisten – wenige übrigens wie Benjamin Peret:
„Alle Menschen suchen das Glück“ und das Glück „ist das
Motiv aller Handlungen der Menschen, auch derer, die sich erhängen“
(nach Pascal). Wie
es ihm natürlich ist, schon seit den kleineren Schriften, kämpft
Stirner mit Entschlossenheit gegen jede Form der Abschwächung des
Vergnügens: „Die Liebe ist zwar die letzte und schönste Unterdrückung
von uns selbst, die glorreichste Weise der Selbstvernichtung und
Aufopferung, der wonnereichste Sieg über die Selbstsucht“. (aus
EINIGES VORLÄUFIGE VOM LIEBESSTAAT – 1843/44) Im
EINZIGEN jedoch wird er konkreter: „O Lais, o Ninon, wie tatet Ihr
wohl, diese bleiche Tugend zu verschmähen. Eine freie Grisette
gegen tausend in der Tugend grau gewordene Jungfern!“ Stirner
nimmt die Philosophie des Protagonisten des „Fremden“ von Camus
vorweg, der zum Tode verurteilt, das Haar seiner Geliebten
zelebriert und Gott erniedrigt. In
Italien ist es vor allem Renzo Novatore, der in seiner Prosa, aber
auch im Leben, den Begriff der Freiheit gebunden an das Vergnügen
entwickelt, mit größerer Vollständigkeit gerade im Leben, denn
die Prosa ist doch noch durchsetzt mit dekadenten und rhetorischen
Rudimenten alla D´Annunzio. Dann muss man die 80er Jahre abwarten,
um zu sehen, wie der Faden dieser abgebrochenen Debatte im
anarchistischen Umfeld wieder aufgenommen wird. Ein
Beispiel für die Wichtigkeit, die dem Vergnügen „hier und
jetzt“ zukommt , ist die Praxis der Unentgeltlichkeit, die sich
bei den italienischen squat verbreitet hat, als Annullierung des
Geldwertes, aber vor allem der Rollen Geschäftsführer-Verbraucher,
das heißt das „Schöne Leben“.
DIE
ARBEIT
Es ist unvermeidbar, dass Stirner dazu kam, die Arbeit zu
kritisieren. Er wuchs in einem Lutheranischen Land auf, wo die
Arbeit als Weg der Erlösung von der Erbsünde aufgefasst wird.
Stirner sah den Schrecken und die Zerstörung, die von einer so
dreisten Lüge über das Leben der Menschen verursacht wurden, und
konnte nicht anders, als die Arbeit völlig zu vernichten, indem er
der Theorie der größten Befreiung des Individuums folgte.
Hier nimmt Stirner,
wenn auch mit der für ihn typischen Radikalität der Analyse,
Positionen ein, die jene der russischen Theoretiker der Anarchie
vorwegnehmen, aber auch die der Situationistischen Kritik in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Stirner beansprucht in der Tat
die Unentbehrlichkeit „ein Werk zu schaffen, das ein ganzes
ist“. Die maschinelle Arbeit, die zu Sklaven macht, „hat keinen
Zweck in sich, ist nichts für sich Fertiges“. „Für
diesen Arbeiter im Dienste eines Andern gibt es keinen Genuß
eines gebildeten Geistes“. (DER EINZIGE) Stirner
steht auf der Seite des Vergnügens, gegen die Entfremdung der
Arbeit, und fordert die Ganzheit, die den Situationisten mehr als
ein Jahrhundert später so wertvoll sein wird. Die Ganzheit des
konstruktiven menschlichen Handelns wird sich nur durch die erneute
Vereinigung seiner verschiedenen Aspekte realisieren. Stirner ist
hier den Kritiken der großen Anarchisten in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts an der Unterteilung in manuelle und intellektuelle
Arbeit um einige Jahre voraus, besonders Bakunin und Kropotkin. Bei
der Kritik an der Arbeit steht Luigi Galleani, der Anarchist aus
Vercelli, an der Spitze. Galleani legt in einem Essay von 1907 eine
unübertroffene Definition der Arbeit vor, die er als soziale Gewalt
versteht. Überflüssig zu erwähnen, dass Luigi Galleani, der
antiorganisatorische Anarchist und Verteidiger der redundanten
Prosa, ein aufmerksamer Leser von Stirner und Nietzsche war. „Die
Arbeit hat heute servilen Charakter: Man wählt sie nicht frei den
eigenen Neigungen entsprechend; sie liefert keinerlei Befriedigung,
weder materiell, noch moralisch;
sondern sie bringt nur Risiken mit sich, Erniedrigungen,
Entsagungen. Unsicher, peinlich,
exzessiv, belohnt im
umgekehrten Maß zu ihrer Dauer, sucht man sie ungern, führt sie
mit Widerwillen aus, erleidet man sie, schließlich wie eine Buße,
wie einen Fluch“. (Luigi Galleani „Das Ende des Anarchismus“
1907)
MAINTENANT
Selbstproduzierte
und selbstverbreitete Zeitung von Arthur Cravan, dem Boxer, Betrüger
und Dandy in Paris, Barcelona, New York, Mar dei Sargassi, der
umherziehenden Seele des Dada. Aber es ist der abschließende
Akzent, der auf die Notwendigkeit des unmittelbaren Genusses gesetzt
wird bei dem, was man tut, der die hinterlistige Tradition des
Opfers zerstört, das als Wert aufgefasst wird, der vom Christentum
bis zum Kommunismus durchsickert und hier und da mit seinem tödlichen
Atem auch den Anarchismus kontaminiert. Es ist gerade dieser Begriff
des unmittelbaren Vergnügens, der ein Licht wirft auf die
Autoreferenzialität, die den subversiven Bewegungen der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts vorgeworfen wird, von Seiten der späten Erben
der emanzipatorischen Kultur des 19. Jahrhunderts. Signifikante
Kritiken des 19. Jahrhunderts in Italien sind jene, die an Malatesta
gerichtet sind, an die kommunitarischen Erfahrungen (Kommune
Cecilia), die als egoistische Flucht vor dem großen Kampf
verurteilt werden, die eigentlich alle Revolutionäre beschäftigen
sollte.
LOMBROSO
Fetischist
und Kopfabschneider.
Paradoxerweise ist gerade er einer der schärfsten Feinde der
Anarchisten, der sozialistische Professor Cesare Lombroso, die Verkörperung
des offiziellen italienischen Provinzialismus am Ende des 19.
Jahrhunderts. Er studierte die Anarchisten als pathologischen Fall
und bestätigte, ohne es zu wollen, den Seelenadel und
Praktizierbarkeit der Utopie von Max Stirner. Der sozialistische
Phrenologe identifiziert unter den wichtigen Zügen der
anarchistischen Pathologie, außer den berühmten und erheiternden
degenerierten somatischen Zügen, zwei akute Syndrome: den
Misoneismus und die Hyperästhesie. Der
Misoneismus ist die Angst vor dem Neuen. Was Lombroso unter neu
versteht, erklärt er uns mit einem Satz: „jene wirklich moderne
Entdeckung der Arbeitsteilung, die keine Theorie beseitigen kann;“
(Gli Anarchici 1894) Aber
ich will diesen Gedankenflug über Max Stirner beenden und über das
zweite Syndrom sprechen, das die Manien der „geborenen
Angeklagten“ und „verrückten“ Anarchisten charakterisiert:
Die Hyperästhesie.
HYPERÄSTHESIE
(Überempfindlichkeit)
Sante Caserio ist der Anarchist, der den Präsidenten der französischen
Republik Sadi Carnot durchbohrte, weil er den Anarchisten Valiant
zur Guillotine verurteilen ließ. Valiant hatte eine Bombe ins französische
Parlament geworfen, wobei er niemanden getötet hatte.
Als er die
„Angeklagten aus Leidenschaft und besonders über Sante Caserio“
(GLI ANARCHICI) behandelt, erklärt Lombroso: „Die wichtigste
Eigenschaft der Delinquenten aus Leidenschaft ist die Ehrlichkeit,
eine Ehrlichkeit, die manchmal zum Exzess und zur exzessiven Hyperästhesie
(Empfindlichkeit gegenüber den Schmerzen anderer) gebracht wird“.
(GLI ANARCHICI).
Darum bemüht, seiner
Ergebenheit an die Macht einen Anschein von Objektivität zu
verleihen, gelingt es dem Erfinder der „unglücklichen
Wissenschaft“ den Charakter der Seelenvornehmheit, der sich unter
den Anarchisten häufig findet,
umzudeuten in Symptome von Krankheit und Degeneration, und präfiguriert
auf diese Weise eine Arbeit, die von vielen Psychiatern mit
akademischer Verbissenheit ausgeführt wird. Jenseits
des repressiven Gebrauchs, den Lombroso von diesem Begriff machte,
wird man den Einzigen gerade deswegen schätzen. Gegen den Egoismus
„von kurzer Sicht“ (DER EINZIGE), der in persönlicher Beschränktheit versinkt
und die einzige wirkliche Gefahr des stirnerianischen
Individualismus darstellt, besaß die anarchistische Bewegung schon
das Gegengift - offensichtlich nicht universell wirksam, schwierig
im Gebrauch und nicht leicht aufzufinden
- Lombroso nennt es: HYPERÄSTHESIE.
**
Novatore leitet die Zeitschrift “Vertice”, wo auch der sehr
junge Bruno Filippi publiziert; ein posthumer Sammelband trägt den
Stirnerianischen Titel “ Verso il nulla creatore”. (Siracusa
1924)
Zurueck nach oben