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MAX STIRNER
Die Anarchie: Ein Haus ohne Fundament
Italien, das Haus auf dem Meer
Von Mario Frisetti

„Ich hab´ Mein Sach´ auf Nichts gestellt" Goethe 1804, VANITAS

“Ich bin [nicht] Nichts im Sinne der Leerheit, sondern das schöpferische Nichts, das Nichts, aus welchem Ich selbst als Schöpfer Alles schaffe.“
Stirner, 1844, DER EINZIGE, erste italienische Übersetzung von Ettore Zoccoli 1902 (IV Ausgabe)

„Die Ein­sicht muß aber allgemeiner werden, daß nicht die Bil­dung, die Civilisation, die höchste Auf­gabe des Men­schen ausmacht, sondern die Selbstbethätigung.“
Stirner, 1842, DAS UNWAHRE PRINZIP UNSERER ERZIEHUNG ODER DER HUMANISMUS UND REALISMUS, Übersetzung Angelo Treves, 1923

DER ANARCHISCHE INDIVIDUALISMUS
Der Individualismus ist die unverzichtbare Basis des Anarchismus. Wer auch immer sich Anarchist nennen will, ohne sich als Individualist zu bekennen, steht außerhalb des Anarchismus. Mit anderen Worten, es existiert kein Anarchismus, der nicht individualistisch ist.

DIE ANDEREN
Es  existieren jedoch andere Formen des Individualismus, einige sind berühmt und invasiv, wie der bürgerliche Individualismus, der antithetisch und unvereinbar ist mit dem anarchischen. Selbst Errico Malatesta behauptet „Alle Anarchisten sind Individualisten, aber nicht alle Individualisten sind Anarchisten.“

BÜRGERLICHER INDIVIDUALISMUS
Das Bürgertum erklärt das Individuum zum höchsten Wesen und als solches kann es jedes Mittel benützen, um seinen Vorrang gegenüber anderen zu behaupten. Nur an der Spitze einer Hierarchie realisiert sich das bürgerliche Wesen.
Die planetarischen Katastrophen, die durch die Industrialisierung dieser Geistesform, die das kapitalistische Bürgertum charakterisiert, herrühren, sind allen deutlich und sie sind dabei, selbst das Leben auf der Erde zu beeinträchtigen. Aber was hier interessiert, ist den vollständigen Unterschied und die Unvereinbarkeit zwischen bürgerlichem und anarchischem Individualismus, sowohl in den Mitteln als auch in den Zielen, deutlich zu machen. In den Zielen, denn eine Hierarchie von Menschen oder Lebewesen im Allgemeinen zu kommandieren, ist offensichtlich kein anarchisches Ziel, sondern ist genau das, was die Anarchisten bekämpfen. In den Mitteln, denn der Gebrauch „jedes notwendigen Mittels“ (neuer kommunistischer Slogan und antike Praxis, die allen Autoritären gemeinsam ist), um auch das vornehmste aller Ziele zu erreichen, ist nicht zulässig für den Anarchisten, der auf Kohärenz des Mittels mit dem Ziel besteht.

KOMMUNISTEN
Es gibt zwei unvereinbare Wege, um sich von der bürgerlich-kapitalistischen Ausbeutung zu befreien, der eine ist autoritär, der marxistische, der andere ist antiautoritär, und wurde von Bakunin entwickelt. Eines der Hauptmotive liegt in der Kohärenz zwischen Zielen und Mitteln, die von dem Russen vorgeschlagen wurde, und die der Deutsche verspottete.
Der Anarchist, der auf die Kohärenz zwischen Zielen und Mitteln verzichten würde, würde auf eine der Konzeptionen verzichten, die ihn als solchen charakterisieren. Er wäre einfach nicht mehr Anarchist, sondern ein Autoritärer, der es eilig hat, die eigene Macht zu bestätigen, indem er sich als Anarchist ausgibt. Was den Kommunismus betrifft, d.h. die marxistisch-leninistische Ideologie und ihre staatlichen  Anwendungen, stellt sich die Frage nicht einmal. Der Kommunismus hält das Individuum sowohl in der Theorie als auch in der Praxis hierarchisch dem Willen der Gemeinschaft unterworfen, genauer gesagt den pyramidischen Hierarchien, die die Gemeinschaft informieren, lenken und kontrollieren. Indem sie die Ideologie als Fundament der Unfreiheit zurückweisen, beginnen nur die Situationskünstler in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die individuelle Befreiung wieder zu schätzen als unverzichtbare Voraussetzung für den Umsturz des Existierenden, und das mit einem guten Jahrhundert an Verspätung, obwohl sie durch den Marxismus formiert sind und von ihm abhängen, weswegen sie schrecklich widersprüchlich sind. Eine lobenswerte und mutige Revision im anarchistischen Sinn, die zu spät kam aus dem Inneren einer Bewegung heraus, die auf planetarischer Ebene viele Millionen Individuen ausgelöscht hat im Namen von etwas, das ihnen überlegen ist: dem Volk, manchmal als Arbeiterklasse definiert, manchmal generell Proletariat; Bakunin bezeichnet diese als „die schlimmste Diktatur“.

RELIGION
Dieselbe Argumentation, wie für die Ideologie, gilt auch für die monotheistischen Religionen und besonders für jene, die Stirners Welt betraf und betrifft, die christliche. Nach Meinung der Christen gehört das Leben des Menschen nicht dem Menschen, sondern Gott, der es ihm geschenkt hat und es ihm wieder nimmt, wann er will. Das Individuum kann bei den Christen nicht einmal das Datum seines eigenen Todes bestimmen.
Das Individuum gehört nicht sich selbst, wie man naiverweise glauben könnte, sondern ist sich selbst enteignet durch die göttliche Entität, die es mit einem Akt der höchsten Liebe geschaffen hat, und was noch schlimmer ist, durch seine Abgesandten in diesem Tal der Tränen (Papst, kirchliche Rangfolgen und alle Hierarchien jeglicher Macht, die damit einverstanden und deswegen geheiligt sind). Ich schließe dieses Kapitel mit einem Zitat von Stirner von 1842: „Kunst und Religion“, wo der Autor die Unvereinbarkeit von Religion und Individualismus behauptet, und zwar in einer Form, die ausgedehnt werden kann auf die weltliche und parawissenschaftliche Version der Religion, die Ideologie. „Nur der Religionsstifter ist genial, er ist aber auch der Schöpfer des Ideals, mit dessen Schöpfung jede weitere Genialität unmöglich wird.“

RELIGION -  IDEOLOGIE - AUTORITÄRES DUETT
Für Ideologie und Religion muss das Individuum eine Nummer sein. Wenn es unterdrückt ist, ist es zu addieren und zu multiplizieren, wenn nicht, zu teilen und dann abzuziehen.
Es fällt auf, dass das bürgerlich-kapitalistische, marxistische oder christliche Denken zur eigenen Verbreitung und Praxis, als unverzichtbare Voraussetzung die Annullierung des Individuums besitzen, und zwar indem es den jeweiligen Hierarchien untergeordnet wird . Hinterlistiger ist das pragmatische bürgerliche Denken, das schwört, das Individuum zu exaltieren. Ähnliches können sich die Marxisten und Christen nicht erlauben ohne lächerlich zu wirken. Aber auch das nicht in Ideologie formalisierte bürgerliche Denken zeigt den eigenen Schrecken. Angesichts einer Weltordnung, die drei Viertel der Individuen auf diesem Planeten in Armut zwingt, zu Gunsten einer kleinen Minderheit von Privilegierten und ihren zahlreichen Dienern und Komplizen, nimmt die größere „Humanität“ der demokratisch-bürgerlichen Regime die Form einer blutigen Provokation an.

ANARCHISTEN
Der Anarchismus als historische Bewegung entsteht in Italien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Abspaltung von den autoritären Theorien und Praktiken (bürokratischer Zentralismus, Verleumdung als politische Waffe, polizeiliche Nachforschungssysteme, Ausbürgerungen), die die erste Internationale von Marx und Engels von Anfang an charakterisieren.
Der erste italienische Kommunist, der erste anerkannte Übersetzer einer verbreiteten Zusammenfassung des Kapitals, war Carlo Cafiero (di Barletta). Aber er war auch der erste, der die deutschen Theoretiker verließ zu Gunsten des antiautoritären Entwurfs von Bakunin. Von diesem Moment an beginnt der italienische Anarchismus, eine Bewegung zu sein, die zum libertinären Kommunismus neigt. In Italien wurde dieser besonders von Cafiero und Malatesta theoretisiert, die beide Schüler von Bakunin waren. Die Basis des Bakuninschen Denkens stellt die größte individuelle Freiheit dar, „wo jeder gemäß seinen Mitteln und Bedürfnissen das ihm Zustehende bekommt.“ Schritt für Schritt findet der grandiose Egoismus, den Max Stirner vorschlug, seinen idealen Nährboden im italienischen Anarchismus, um ihn schließlich am Anfang des 20. Jahrhunderts tief zu durchdringen. DER EINZIGE wurde einer der Grundtexte der antiideologischen Einstellung der italienischen Anarchisten und ist es noch heute. Einen letzten Einfluss von radikalem Individualismus erfährt er durch Nietzsche, der sich bei Stirner inspiriert.* Nietzsche lebte eine Zeit lang in Italien in Turin, wo er „Die Götzendämmerung“ schrieb. Es ist zu ergänzen, dass der Individualismus in Italien eine tief verwurzelte Tradition ist bei den untereinander sehr verschiedenen Kulturen, wie den Sprachen. Von Süden nach Norden ist auf verschiedene Weise eine Tradition der individuellen Revolte lebendig, und die Attentate auf den italienischen König von Passamonte und Acciarito, die mit Sicherheit das Denken Max Stirners nicht kannten, sind ein berühmter historischer Beweis dafür. Wir können behaupten, dass das subversive Wesen des italienischen Anarchismus eine seiner nie ausgetrockneten Quellen in Stirners Schriften findet. Und dank der unerbittlichen Kritik Stirners ist es dem Anarchisten nicht mehr möglich, sich auf religiöse und ideologische Thesen zurückzubewegen, ohne sich zu entstellen. In einem Wort gesagt, dank Stirners Gedanken müsste für den Anarchisten die autoritäre Beschränkung unmöglich sein, sei sie ideologisch (weltlich), oder sei sie fideistisch (religiös), da beide begleitet sind vom unaufhörlichen Kampf um die Annullierung des Individuums. Dass der Individualismus eine fundamentale historische Komponente für die italienischen Anarchisten ist , kann man aus der Geschichte ersehen. Aber seit dem 29. Juli 1900, dem Tag des Pistolen-Attentats von Gaetano Bresci, der mit zwei von drei Kugeln das Herz von Umberto I von Savoia, dem Guten König - auch Maschinengewehrkönig genannt - getroffen hatte, ist allerdings evident, dass die individuelle Revolte zur täglichen Praxis der anarchistischen Bewegung gehört, und zwar als Form des Kampfes gegen die Unterdrückung, weswegen sie auch bereit ist, unterdrückende Vergeltungsschläge in Kauf zu nehmen. Nach dem Königsmord  war die Repression in Italien grausam, aber die Anarchisten sagten sich – mit wenigen Ausnahmen - weder von Bresci los noch verleugneten sie ihn, was die Sozialisten dagegen sofort taten. (Filippo Turati, oberster Leader der Sozialisten und Anwalt, verweigerte die Verteidigung Brescis, erklärte aber in seinen privaten Briefen sogar, dass jener richtig gehandelt habe.) Das Attentat von Bresci war im Kreis von anarchistischen Webern aus der Toscana (Prato) und aus Piemont (Biella) entstanden, die in die USA emigriert waren. In diesem Umfeld war die antiorganisatorische (Galleani) und individualistische Tedenz (Ciancabilla) stark präsent. Auch bei den Attentaten gegen Mussolini sind Anarchisten die Protagonisten: Lucetti, Sbardellotto, Zamboni und Schirru, immerhin wesentlich früher als der organisierte „Widerstand“. Eine Unzahl kleiner Gesten der individuellen Revolte werden von den Anarchisten begangen. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg vom Soldaten Masetti, der auf den Oberst schießt, der die Truppen vor dem Aufbruch der kolonialen Spedition nach Libyen aufwiegelt, bis zum jungen Partisanen Brusasco, der während des zweiten Weltkriegs Handgranaten gegen die Truppen der Nazibesetzung schleudert. Und unendlich viele andere Taten werden regelmäßig von der Geschichte ausgelöscht, weil sie von der Macht und ihren Dienern geschrieben wird. Um den Einfluss von Stirner auf die jungen italienischen Anarchisten zu werten, ist es unverzichtbar, zwei junge Anarchisten in Erinnerung zu rufen, deren Leben tragisch endete. Beide kannten, teilten und praktizierten Stirners Gedanken: Bruno Filippi und Renzo Novatore. Bruno Filippi stirbt im Alter von 19 Jahren, als er am 7. September 1919 im Club dei Nobili in der Gallerie von Mailand einen Sprengkörper zündet. Aber Bruno Filippi ist nicht nur ein junger Anarchist der Aktion: „Hunde, so leckt ihr die Hand, die euch schlägt! Und es ist für euch, gerade für euch, dass ich mich erheben sollte? (...) In Ergebenheit verfaultes Aas (...) Für euch nicht einmal eine Zigarette...... Ich will mich nicht gesellen zum Hof der Kurtisanen des Proletariats, die jene entschuldigen, beweihräuchern und mit Lorbeer schmücken...... Ihr klagt über den Krieg, während ihr selbst seine Autoren seid und ihn weiter führt, da ihr ihn ertragt.“
(posthum 1920) > (Freie Kunst eines Freigeistes)
(posthum 1920) > (In Verteidigung von Mata Hari)
„Ich bedaure nicht die Soldaten, die deinetwegen starben.
Die hässliche Masse, die sich zur Schlachtbank führen lässt, ohne zu rebellieren, die sich abschlachten lässt, ohne einen Grund, die alles, was ihr lieb ist, verlässt, auf Befehl eines Blattes, das an einer Straßenecke angeschlagen ist, sie ist zu erbärmlich: Sie verdient den Tod, sie verdient das Messer des Scharfrichters. Und du arme Mata warst schön!“ Renzo Novatore (Abele Ricieri Ferrari) stammt aus Arcola in Ligurien in der Nähe von Carrara. Hier führt er die ersten Kämpfe, bei denen er durch seine Radikalität und seinen Mut hervorsticht. Auch Novatore ist wie Filippi Schriftsteller.** Nach einer Periode, die von D´Annunzios Dekadenz beeinflusst war, wird er vom futuristischen Blitz getroffen. An dieser Bewegung, die in ihrer ersten Phase noch zwischen Revolution und Reaktion hin und herschwankt, nimmt er mit verschiedenen Schriften teil. Der Futurismus beeinflusst auch seine Prosa. Die kritische moderne Sensibilität von Novatore - weil sie stirnerianisch ist – tritt im Januar 1921 heftig in Erscheinung, als er, in Antwort an einen anderen Individualisten, der ihn wegen seiner Mitarbeit an der fiumanischen futuristischen Zeitung “La testa di ferro” („Der Kopf aus Eisen“) attackiert, die unverwechselbar dadaistische Geste von Guido Keller verherrlicht. Am 14. November 1920 wirft der Flieger, Geschwadermitglied des Asses Francesco Baracca, aus Fiume kommend, wo er aktiv an der Besetzung teilnimmt, aus seinem Flugzeug einen Nachttopf auf Montecitorio, „um sie lächerlich zu machen“. Erinnern wir daran, dass unter den Unterzeichnern des Glückwunschtelegramms an D`Annunzio für die Besetzung Fiumes, das im September 1919 vom Dada-Club in Berlin abgeschickt wurde, die Unterschrift von Johannes Baader, dem Erfinder und Protagonisten der „dadaistischen Geste“,  hervorsticht. Baader war im Februar 1919 bei der konstituierenden Versammlung in Weimar arrestiert worden, weil er dort Flugblätter von den Rängen geworfen hatte, die die Machtergreifung des Oberdada (er selbst) verkündeten. Es handelte sich in Wirklichkeit um die einzige Ausgabe der Zeitung “Cadavere verde” („Der grüne Kadaver“) mit dem Titel „Die Dadaisten gegen Weimar“ unterzeichnet vom „Dada-Rat der Weltrevolution“. Die Geste von Keller begeistert vor allem Novatore und die Mitarbeiter der futuristischen Zeitung “La testa di ferro” aus Fiume (die von Mussolinis Faschisten und von den Carabinieri aufgegeben worden war, und vom Königreich Italien militärisch bedroht worden war), die mit dem Faschismus gebrochen haben und regelmäßig anarchistischen Artikeln Raum bieten, besonders anarcho-individualistischen, die teilweise von F.T. Marinetti autorisiert oder kommentiert worden sind. In einer Antwort an Mâro il Maligno behauptet Novatore in der Mailänder Zeitschrift “Nichilismo”, dass Kellers Überraschungsangriff auf Montecitorio revolutionärer sei als bestimmte Kampfformen, die von den Arbeitskammern angewendet werden. Aber wie Filippi, so ist auch Novatore ein Mann der Tat und wird 1922 während einer Schießerei mit den Carabinieri in einem Gasthaus in der Gegend von Genua (Teglia) getötet. Er war 32 Jahre alt und gehörte zur Bande von Sante Pollastro, dem anarchistischen Expropriator aus Piemont, und für viele Jahre der öffentliche Feind Nummer eins in Italien und in Frankreich. Novatore und Filippi arbeiten bei der Zeitschrift „Iconoclasta“ von Pistoia zusammen, der 1920 unter dem Titel „I grandi iconoclasti“ postum die Schriften von Filippi publiziert. Ich habe ein Beispiel von großer ethischer Bildung und unvergleichlicher Gnade zitiert, die extreme Tat des Tyrannenmörders Gaetano Bresci, die in ihrer Modernität eine zweifellos stirnerianische Sensibilität ausdrückt, obwohl sie sich zurückverfolgen lässt bis auf das verwurzeltere, unhistorische, mediterrane Magma, das von Armodio und Aristogitone (griechische Tyrannenmörder, die von der hellenistischen Bildhauerkunst unsterblich gemacht wurden) bis zu Felice Orsini, dem republikanischen Attentäter, reicht. Ohne diesen extremen Taten gegen die Ungerechtigkeit etwas zu nehmen,  eine Fähigkeit, die hoffentlich die einzelnen Individuen beizubehalten wissen, scheint uns der Beitrag der scharfen stirnerianischen Kritik von größerer Reichweite. Die Tat von Bresci und von Lucetti ist der extreme Aspekt eines größeren stirnerianischen Bewusstseins, das, wenn es einmal erworben worden ist, es ermöglicht mit „dem Messer der Kritik“ (DER EINZIGE) gegen alle Formen der autoritären Herrschaft zu kämpfen, und insbesondere die hinterlistigsten zu entlarven, die sich als revolutionär präsentieren und leicht zu erkennen sind am vorherrschenden Gebrauch von autoritären Methoden. „Jesuitische Maxime: Das Ziel heiligt die Mittel“ (DER EINZIGE), aber noch mehr wegen der hierarchischen Negation des Individuums: Die Wunde, in die Stirner sein Messer stößt und Kanäle einschneidet, von wo aus sich die Lüge verbreitet.

KONSTRUKTIV
Indem er „gegen den Begriff des Staates sündigt“ und „gegen den Begriff des Gesetzes rebelliert“ (DER EINZIGE), nimmt Stirner im „Einzigen“ Themen wieder auf, die in „Das unwahre Prinzip unserer Erziehung“ enthalten sind, diesmal jedoch mit entschieden propositiven Suggestionen, die eine klare Richtung aufzeigen und nicht andere, die merkwürdigerweise von den zahlreichen Kritikern vernachlässigt worden sind, aber auch -  und das macht nachdenklich -  von seinen Verteidigern im anarchistischen Umfeld.
Zu Beginn des EINZIGEN handelt es sich im Grunde um den Schlüsselsatz „Ich hab´ Mein Sach´ auf Nichts gestellt“. In der Tat besagt seine Prämisse in Richtung auf die Konklusion “Ich bin [nicht] Nichts im Sinne der Leerheit, sondern das schöpferische Nichts, das Nichts, aus welchem Ich selbst als Schöpfer Alles schaffe.“ Er schließt, nachdem er der Moralität einen Fußtritt versetzt hat „Ich bin weder gut noch böse“,“ Mir geht nichts über Mich!“ Alle haben eine Überbewertung des Individuums festgestellt, die für einige das Beste, für andere das Schlechteste des westlichen Denkens verherrlicht. Fast alle gehen aus niedrigen egoistischen Motiven über den klaren und starken Entwurf eines kreativen Lebens hinweg, der eindeutig aus der Prämisse hervorgeht. Wer über diesen Grundaspekt Stirners, der zensiert wurde, begeistert Missverständnisse verbreitet, für den kann als ideale Lektüre „Das unwahre Prinzip unserer Erziehung“ empfohlen werden, wo der Autor auf herbe, sicher provokante Weise die zentrale Frage der Kreativität entwickelt und sie auf eine Weise darstellt, die sich nicht mehr für Irrtümer eignet. „Die Einsicht muß aber allgemeiner werden, daß nicht die Bildung, die Civilisation, die höchste Aufgabe des Menschen ausmacht, sondern die Selbstbethätigung.“

UNMENSCHLICHER ANTIHUMANISTISCHER STIRNER 
Es ist der Stirner, den wir am meisten lieben, der exzessive Autor, der im Grunde die visionäre und poetische Philosophie Nietzsches einleitet und uns eine unmoralische Sichtweise vorschlägt, die er selbst als „unmenschlich“ definiert, um den Anarchismus zu interpretieren, eine Interpretation, die den am meisten propagierten humanitär-humanistischen Versionen Gerechtigkeit erweist, nämlich denen von Kropotkin und von Malatesta, aber vor allem den zahllosen Versuchen, die Anarchie als eine Ideologie zu präsentieren (oder ein System von Ideen, das ganze Leben des Menschen betreffend) und als Nachäffung des Marxismus.

KUNST
Mit der Befreiung der Kreativität von den Ketten der Kunst entlarvt Stirner ohne Zweifel eine weitere bürgerliche Lüge (die Neudefinition der liberalen Künste, die höher stehen als die mechanischen, ist Werk der neuplatonischen Philosophen am Hof von Lorenzo il Magnifico, (Florenz Ende 1400).
So erhält die nicht sterilisierte Kreativität ihre revolutionäre Ladung zurück und tritt  unvermeidlich in das Feld der sozialen Subversion.

DADA
1916 entsteht in Zürich eine Bewegung, bestehend aus „Künstler-Deserteuren“ und  Kriegsdienstverweigerern, die der Intuition Stirners Leben verleihen. Ihre Schamanen heißen Tzara (von Zarathustra), und sie sind, wie Picabia, entweder besonders begeisterte Anhänger Stirners, oder besitzen wie Man Ray einfach eine anarchistische Entwicklungsgeschichte, oder eine libertinäre Umgebung wie Duchamp.
Die am wenigsten stirnerianischen, die Dadaisten, sind einige Berliner mit marxistischer Ideologie, wie Heartfield und sein Bruder Herzfelde, und der Maler Grosz, falls man ihn noch als Dadaisten auffassen kann. Der dadaistische Widerwille wird eine der wirkungsvollsten Reproduktionen der Unmenschlichkeit Stirners. Aber das ist keine italienische, sondern internationale Geschichte.

FUTURISMUS
In Italien hat der intellektuelle Provinzialismus und die daraus folgende, verspätete didaskalisch-realistische Tradition der Kunst dem Ausdruck der subversiven und emanzipatorischen Bewegung einen starken Schlag versetzt. Die einzige entschiedene Revolte in diesem stagnierenden Sumpf stellt der Futurismus dar, dessen Energien auf Persönlichkeiten wie Carlo Carrà, einem Besucher und Mitarbeiter von anarchistischen Kreisen in Mailand und in London mit stark stirnerianischen Einflüssen, basieren. Er selbst erklärt in seiner Biographie, ein Leser von Stirner, Nietzsche und Kropotkin zu sein. Interessant sind einige Handstreiche von Marinetti selbst, der seit dem ersten Manifest von 1909 die aufsehenerregenden Aspekte, die von Stirner herrühren, sehr zu schätzen scheint, nämlich „die zerstörerische Geste der Anarchisten“.  Bemerkenswert sind die Radikalität von Mario Carli, dem Förderer der futuristischen Zeitung aus Fiume, und später sein fehlgeschlagenes Attentat auf das Stromkraftwerk in Mailand, das er mit einem individualistischen Anarchisten organisiert hat.
Aber mit dem Interventionismus verlässt der Futurismus wenige Jahre nach seiner Geburt den revolutionären Impuls, um sich in der Akademie zu konsolidieren, mit dem Ziel bei Ankunft des Faschismus Kunst des Regimes zu werden. Die gleiche Geschichte passiert mit dem russischen Cubo-Futurismus auf der Seite der russischen Diktatur des Bolschewismus. Nach dem Futurismus herrscht Schweigen.

SQUATTER (Hausbesetzer)
Erst am Ende des 20. Jahrhunderts fügen sich die Donnerwetter des Dadaismus mit der Bewegung der Squatter organisch in eine subversive anarchistische Praxis ein, und zwar inspirieren sie sich bei Stirners Intuitionen über die Zentralität der Kreativität.
Besonders die Squatter integrieren die dadaistische „Geste“ in die sozialen Kämpfe. Die Einführung dieses neuen Elementes beim Kampf zur Umwälzung des Bestehenden löst starke aktive und passive Verständnislosigkeit im Inneren der anarchistischen Bewegung selbst aus, eine Verständnislosigkeit, die auf Ignoranz und einen nicht zu entschuldigenden Konservativismus zurückzuführen ist, der die veralteten Formen wieder anwenden will, die dem kulturellen Provinzialismus lieb sind, der schon genau ein Jahrhundert vorher die italienische Kultur fundiert hat.

DAS VERGNÜGEN GEGEN DAS OPFER
Ein anderer Aspekt, den man nicht von Stirners Werk trennen kann, besteht in der ausdrücklichen Suche des Einzigen nach dem Vergnügen und der Freude im Kampf gegen den Begriff und die Praxis des Opfers. Er beobachtet in der Tat,  dass „die Gewöhnung an den Verzicht die Glut des Begehrens abgekühlt hat“. Geistesblitze der Dadaisten von anarchistischer Formation, wie Man Ray, geben den Impuls zum Agieren: „leben für die Freiheit und das Vergnügen“, und danach Einfälle von revolutionären Surrealisten – wenige übrigens wie Benjamin Peret: „Alle Menschen suchen das Glück“ und das Glück „ist das Motiv aller Handlungen der Menschen, auch derer, die sich erhängen“ (nach Pascal).
Wie es ihm natürlich ist, schon seit den kleineren Schriften, kämpft Stirner mit Entschlossenheit gegen jede Form der Abschwächung des Vergnügens: „Die Liebe ist zwar die letzte und schönste Unterdrückung von uns selbst, die glorreichste Weise der Selbstvernichtung und Aufopferung, der wonnereichste Sieg über die Selbstsucht“. (aus EINIGES VORLÄUFIGE VOM LIEBESSTAAT – 1843/44) Im EINZIGEN jedoch wird er konkreter: „O Lais, o Ninon, wie tatet Ihr wohl, diese bleiche Tugend zu verschmähen. Eine freie Grisette gegen tausend in der Tugend grau gewordene Jungfern!“ Stirner nimmt die Philosophie des Protagonisten des „Fremden“ von Camus vorweg, der zum Tode verurteilt, das Haar seiner Geliebten zelebriert und Gott erniedrigt. In Italien ist es vor allem Renzo Novatore, der in seiner Prosa, aber auch im Leben, den Begriff der Freiheit gebunden an das Vergnügen entwickelt, mit größerer Vollständigkeit gerade im Leben, denn die Prosa ist doch noch durchsetzt mit dekadenten und rhetorischen Rudimenten alla D´Annunzio. Dann muss man die 80er Jahre abwarten, um zu sehen, wie der Faden dieser abgebrochenen Debatte im anarchistischen Umfeld wieder aufgenommen wird. Ein Beispiel für die Wichtigkeit, die dem Vergnügen „hier und jetzt“ zukommt , ist die Praxis der Unentgeltlichkeit, die sich bei den italienischen squat verbreitet hat, als Annullierung des Geldwertes, aber vor allem der Rollen Geschäftsführer-Verbraucher, das heißt das „Schöne Leben“.

DIE ARBEIT
Es ist unvermeidbar, dass Stirner dazu kam, die Arbeit zu kritisieren. Er wuchs in einem Lutheranischen Land auf, wo die Arbeit als Weg der Erlösung von der Erbsünde aufgefasst wird. Stirner sah den Schrecken und die Zerstörung, die von einer so dreisten Lüge über das Leben der Menschen verursacht wurden, und konnte nicht anders, als die Arbeit völlig zu vernichten, indem er der Theorie der größten Befreiung des Individuums folgte.
Hier nimmt Stirner, wenn auch mit der für ihn typischen Radikalität der Analyse, Positionen ein, die jene der russischen Theoretiker der Anarchie vorwegnehmen, aber auch die der Situationistischen Kritik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Stirner beansprucht in der Tat die Unentbehrlichkeit „ein Werk zu schaffen, das ein ganzes ist“. Die maschinelle Arbeit, die zu Sklaven macht, „hat keinen Zweck in sich, ist nichts für sich Fertiges“. „Für diesen Arbeiter im Dienste eines Andern gibt es keinen Genuß eines gebildeten Geistes“. (DER EINZIGE) Stirner steht auf der Seite des Vergnügens, gegen die Entfremdung der Arbeit, und fordert die Ganzheit, die den Situationisten mehr als ein Jahrhundert später so wertvoll sein wird. Die Ganzheit des konstruktiven menschlichen Handelns wird sich nur durch die erneute Vereinigung seiner verschiedenen Aspekte realisieren. Stirner ist hier den Kritiken der großen Anarchisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an der Unterteilung in manuelle und intellektuelle Arbeit um einige Jahre voraus, besonders Bakunin und Kropotkin. Bei der Kritik an der Arbeit steht Luigi Galleani, der Anarchist aus Vercelli, an der Spitze. Galleani legt in einem Essay von 1907 eine unübertroffene Definition der Arbeit vor, die er als soziale Gewalt versteht. Überflüssig zu erwähnen, dass Luigi Galleani, der antiorganisatorische Anarchist und Verteidiger der redundanten Prosa, ein aufmerksamer Leser von Stirner und Nietzsche war. „Die Arbeit hat heute servilen Charakter: Man wählt sie nicht frei den eigenen Neigungen entsprechend; sie liefert keinerlei Befriedigung, weder materiell, noch moralisch;  sondern sie bringt nur Risiken mit sich, Erniedrigungen, Entsagungen. Unsicher,  peinlich, exzessiv,  belohnt im umgekehrten Maß zu ihrer Dauer, sucht man sie ungern, führt sie mit Widerwillen aus, erleidet man sie, schließlich wie eine Buße, wie einen Fluch“. (Luigi Galleani „Das Ende des Anarchismus“ 1907)

MAINTENANT
Selbstproduzierte und selbstverbreitete Zeitung von Arthur Cravan, dem Boxer, Betrüger und Dandy in Paris, Barcelona, New York, Mar dei Sargassi, der umherziehenden Seele des Dada. Aber es ist der abschließende Akzent, der auf die Notwendigkeit des unmittelbaren Genusses gesetzt wird bei dem, was man tut, der die hinterlistige Tradition des Opfers zerstört, das als Wert aufgefasst wird, der vom Christentum bis zum Kommunismus durchsickert und hier und da mit seinem tödlichen Atem auch den Anarchismus kontaminiert. Es ist gerade dieser Begriff des unmittelbaren Vergnügens, der ein Licht wirft auf die Autoreferenzialität, die den subversiven Bewegungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorgeworfen wird, von Seiten der späten Erben der emanzipatorischen Kultur des 19. Jahrhunderts. Signifikante Kritiken des 19. Jahrhunderts in Italien sind jene, die an Malatesta gerichtet sind, an die kommunitarischen Erfahrungen (Kommune Cecilia), die als egoistische Flucht vor dem großen Kampf verurteilt werden, die eigentlich alle Revolutionäre beschäftigen sollte.

LOMBROSO
Fetischist und Kopfabschneider.
Paradoxerweise ist gerade er einer der schärfsten Feinde der Anarchisten, der sozialistische Professor Cesare Lombroso, die Verkörperung des offiziellen italienischen Provinzialismus am Ende des 19. Jahrhunderts. Er studierte die Anarchisten als pathologischen Fall und bestätigte, ohne es zu wollen, den Seelenadel und Praktizierbarkeit der Utopie von Max Stirner. Der sozialistische Phrenologe identifiziert unter den wichtigen Zügen der anarchistischen Pathologie, außer den berühmten und erheiternden degenerierten somatischen Zügen, zwei akute Syndrome: den Misoneismus und die Hyperästhesie.
Der Misoneismus ist die Angst vor dem Neuen. Was Lombroso unter neu versteht, erklärt er uns mit einem Satz: „jene wirklich moderne Entdeckung der Arbeitsteilung, die keine Theorie beseitigen kann;“ (Gli Anarchici 1894) Aber ich will diesen Gedankenflug über Max Stirner beenden und über das zweite Syndrom sprechen, das die Manien der „geborenen Angeklagten“ und „verrückten“ Anarchisten charakterisiert: Die Hyperästhesie. 

HYPERÄSTHESIE (Überempfindlichkeit)
Sante Caserio ist der Anarchist, der den Präsidenten der französischen Republik Sadi Carnot durchbohrte, weil er den Anarchisten Valiant zur Guillotine verurteilen ließ. Valiant hatte eine Bombe ins französische Parlament geworfen, wobei er niemanden getötet hatte.
Als er die „Angeklagten aus Leidenschaft und besonders über Sante Caserio“ (GLI  ANARCHICI) behandelt, erklärt Lombroso: „Die wichtigste Eigenschaft der Delinquenten aus Leidenschaft ist die Ehrlichkeit, eine Ehrlichkeit, die manchmal zum Exzess und zur exzessiven Hyperästhesie (Empfindlichkeit gegenüber den Schmerzen anderer) gebracht wird“. (GLI  ANARCHICI). Darum bemüht, seiner Ergebenheit an die Macht einen Anschein von Objektivität zu verleihen, gelingt es dem Erfinder der „unglücklichen Wissenschaft“ den Charakter der Seelenvornehmheit, der sich unter den Anarchisten häufig findet,  umzudeuten in Symptome von Krankheit und Degeneration, und präfiguriert auf diese Weise eine Arbeit, die von vielen Psychiatern mit akademischer Verbissenheit ausgeführt wird. Jenseits des repressiven Gebrauchs, den Lombroso von diesem Begriff machte, wird man den Einzigen gerade deswegen schätzen. Gegen den Egoismus „von kurzer Sicht“  (DER EINZIGE), der in persönlicher Beschränktheit versinkt und die einzige wirkliche Gefahr des stirnerianischen Individualismus darstellt, besaß die anarchistische Bewegung schon das Gegengift - offensichtlich nicht universell wirksam, schwierig im Gebrauch und nicht leicht  aufzufinden -  Lombroso nennt es: HYPERÄSTHESIE.

*ETTORE ZOCCOLI, der erste italienische Übersetzer des EINZIGEN und der erste, der eine Einleitung dazu verfasste.

** Novatore leitet die Zeitschrift “Vertice”, wo auch der sehr junge Bruno Filippi publiziert; ein posthumer Sammelband trägt den Stirnerianischen Titel “ Verso il nulla creatore”. (Siracusa 1924)

 

 

 

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