DIE PILGER VON DER MAIBLUME
. . . und von vielen anderen Schiffen

"Now, reader, I have told my dream to thee;
See if thou canst interpret it to me . . . !"

JOHN BUNYAN :  THE PILGRIM'S PROGRESS
FROM THIS WORLD TO THAT WHICH IS TO COME
OR: THE WAY TO GLORY [DER WEG ZUM RUHM]

[Mayflower]

EIN KAPITEL AUS DIKIGOROS' WEBSEITE
REISEN, DIE GESCHICHTE[N] MACHTEN

"Nun, Leser, zeigt' ich Dir mein Traumgesicht; sieh, ob Du es erklären kannst für mich..." Dikigoros will es versuchen, und gleich mit einer Frage beginnen: Was meint Bunyan mit "Fortschritt"? Fortschritt ist heute ein Fetisch, denn jeder will gerne "fortschrittlich" - oder, wie es heute auf Neudeutsch/Germenglish heißt, "progressiv" - sein. Der Begriff ist also durch und durch positiv besetzt. Das war nicht immer so, denn in der "guten alten Zeit" galt, wie der Name schon sagte, das Gute, Alte, Bewährte viel höher als aller moderne Schnickschnack. (Und manchmal fragt sich Dikigoros, ob die Alten damit nicht manchmal - oder sogar ziemlich oft - Recht hatten :-) Noch im 16. Jahrhundert war das Anliegen all der Reformer, Reformatoren und Revolutionäre, wie schon die Bezeichnungen verraten, nicht etwa der "Fortschritt", sondern sie wollten vielmehr das Rad der Geschichte zurück drehen (das ist die wörtliche übersetzung von "Re-volution"!), zum guten alten Recht, wie die Bauern vom "Bundschuh" und vom "Armen Konrad" und wie die Raubritter um Hutten, Sickingen, Geyer und Berlichingen, oder zum guten alten Glauben, wie die Luther, Münzer, Calvin und Zwingli auf dem Kontinent und - die Puritaner auf den britischen Inseln. Noch die englische Revolution des 17. Jahrhunderts, die wir heute ob ihres despektierlichen Umgangs mit einem erst gekrönten, und dann geköpften Haupt als "fortschrittlich" ansehen, war in Wahrheit vielmehr das, was wir heute zutiefst "konservativ", ja "reaktionär" nennen würden. Seit wann hat sich diese Bewertung von Alt und Neu, von konservativ und revolutionär, von reaktionär und fortschrittlich, so grundlegend gewandelt? Die Antwort läßt sich einigermaßen genau geben: seit im Jahre 1678 jener John Bunyan ein Büchlein veröffentlichte mit dem Titel: "Der Fortschritt des Pilgers von dieser Welt in die kommende". Bunyan? Wenn Ihr keine Angelsachsen seid, liebe Leser, wird Euch dieser Name auch bei überdurchschnittlicher Allgemeinbildung nicht viel sagen. Englische Schriftsteller des 17. Jahrhunderts? Na klar, Shakespeare und Defoe (der Autor des "Robinson Crusoe) - aber sonst? Tröstet Euch, selbst studierte Anglisten, die in der Vorlesung "Englische Literaturgeschichte" halbwegs aufgepaßt haben, kennen meist nur den Titel des Pelikan-Bandes "From Donne to Marvell" (die lagen zeitlich zwischen Shakespeare und Defoe); und wer sich als guter Demokrat noch besonders für politische Schriften interessiert, "kennt" vielleicht - wenigstens dem Namen nach - auch Hobbes (den Autor des "Leviathan" - der meist als "seekranker Walfisch" dargestellt wird; aber das ist eine andere Geschichte) und Locke (was hat der gleich geschrieben? Ach, nicht so wichtig). Aber ein Engländer des 17. Jahrhunderts hätte Euch zwei ganz andere Namen genannt: Milton (den Autor von "Paradise Lost [Das verlorene Paradies]") und - Bunyan. Seit seinem "Pilgrim's Progress" galten jedenfalls solche erz-konservativen, re-aktionären, fundamentalistischen Frömmler wie die "Pilgerväter", die ein gutes halbes Jahrhundert zuvor zurück zum guten alten Glauben - oder was sie dafür hielten - gewollt hatten, also "Re-volutionäre" im ursprünglichen Sinne des Wortes waren, nachträglich nicht mehr als als rückwärts gewandt, sondern vielmehr als "pro-gressiv", also "fortschrittlich".

Aber wollte Dikigoros sich bei den "Reisen, die Geschichte machten" nicht auf Sagen beschränken, also märchenhafte Berichte aus grauer Vorzeit, und handelt es sich bei der Fahrt der "Maiblume" nach Amerika nicht um ein quellenmäßig gut belegtes und über jeden Zweifel erhabenes historisches Ereignis? Gehörte Bunyans Buch also nicht vielmehr in das Kapitel "Bücher die Geschichte machten"? Nein, liebe Leser, wenn Ihr die Einleitung so verstanden habt, dann habt Ihr sie mißverstanden - oder ungenau gelesen, denn von grauer Vorzeit steht da nichts. Wenn Bunyan sein Büchlein anno 1619 geschrieben hätte und sich die Pilgerväter nach seiner Lektüre auf die Reise begeben hätten, dann wäre es so, denn das entscheidende Abgrenzungs-Kriterium ist, ob ein Buch eine Reise - oder sonst ein bedeutsames historisches Ereignis - veranlaßt hat, oder ob es die Reise - oder das besagte Ereignis - im Rückblick beschreibt und interpretiert. Dagegen kommt es Dikigoros nicht darauf an, wie lange im letzteren Fall das Ereignis zurück liegt und wie viel oder wie wenig historischen Kern es hat - den haben wie gesagt auch ganz alte Sagen bzw. solche über ganz lange zurück liegende Ereignisse - vielleicht mehr als manches moderne "Dokument" zur "Geschichte". Im übrigen irrt Ihr, wenn Ihr meint, daß die Fahrt der "Maiblume" etwa quellenmäßig gut belegt sei. Nichts weniger als das! An greifbaren Informationen haben wir eigentlich nichts außer einer Passagierliste durchaus zweifelhafter Herkunft und den so genannten "Mayflower Compact", ein geduldiges Stück Papier, auf dem 26 (!) mehr oder minder Bekloppte allen Ernstes (?) glaubten, sich eine Art Verfassung geben zu können. "Mayflower" war im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts so ziemlich der beliebteste Name für Schiffe, niemand weiß, welcher Pott derjenige welcher war. (Das heute in Plymouth ausgestellte schmucke Schiff, das Ihr oben abgebildet seht, wird zwar offiziell als "Nachbau" bezeichnet, ist aber nur ein Fantasie-Produkt tüchtiger Tourismus-Manager.)

Warum ist also ausgerechnet jene eine Fahrt einer "Mayflower" im Jahre 1620 zu solch einer sagenhaften Heldentat aufgebauscht worden? Warum nicht die in den folgenden Jahren unternommenen Fahrten der "Fortune" oder der "Anne"? Und vor allem: Warum nicht die zuvor unternommenen Fahrten? Der Gründer der Kolonie Virginia ist heute nicht einmal mehr dem Namen nach bekannt (man nennt ihn "John Smith", was dem europäischen "N.N." entspricht), dabei war er nur 13 Jahre zuvor in die Neue Welt gekommen. Und es gab noch viele andere Namenlose, deren Anwesenheit vor den berühmten "Pilgervätern" (von denen allenfalls ein Drittel so hätte heißen dürfen, das zweite Drittel waren Junggesellen, das dritte Drittel Frauen und Kinder :-) man lange Zeit nicht zur Kenntnis nehmen wollte, da es doch als etwas peinlich empfunden worden wäre: Die ersten Negersklaven aus Afrika hatte man nämlich schon 1619 nach Virginia geschippert. Und wenn Dikigoros politisch korrekt wäre, dann hätte er in der überschrift dem Traum des John Bunyan den fast drei Jahrhunderte jüngeren Traum eines radikalen Negerpredigers aus Atlanta/Georgia gegenüber stellen müssen, der sich nach einem anderen radikalen Prediger, der 100 Jahre vor den Pilgervätern in Deutschland gelebt hatte, nennen und verkünden sollte: "I have a dream". Es war der Traum von der Herrschaft der Schwarzen über den amerikanischen Kontinent; und wenn die Weißen dort so weiter machen wie in den letzten fünfzig Jahren, dann wird Dikigoros vielleicht noch mit erleben, wie er in Erfüllung geht - aber das soll hier nicht unser Thema sein.

A propos gegenüber stellen: Bei "the way to glory" denkt der heutige Leser wohl weniger an die 10. Zeile von "The Pilgrim's Progress" als an zwei Filme des 20. Jahrhunderts, die zeitlich gar nicht so weit auseinander liegen und deshalb exemplarisch zeigen, wie schnell sich nicht nur das Verständnis von "alt und neu" oder "konservativ und progressiv" wandeln kann, sondern auch das von "gut und böse" oder von "berühmt und [un]heilig" - denn die englische "glory" schließt ja viel mehr ein als der deutsche "Ruhm", es beinhaltet auch gleich den Heiligenschein, die Glorie, mit der die Guten, Berühmten umgeben sein (jedenfalls wenn sie Angelsachsen sind :-). Im Zweiten Weltkrieg war "glory" noch die zentrale Vokabel, um die sich der ganze Film "They died with their boots on [Sein letztes Kommando]" und insbesondere seine Hauptgestalt, George A. Custer alias Errol Flynn, drehte; nur wenige Jahre nach dem Krieg wurde derselbe und das Ziel, in ihm um jeden Preis "glory" zu erlangen, in "Paths of Glory [Wege zum Ruhm]" gründlich demontiert und diskreditiert. (Na ja, Kubrick's Film war kein großer Erfolg - außer in der BRD, wo man ihn schon deshalb hoch jubeln mußte, weil der brave Jude und Deutschen-Hasser Isur Danielowitsch Demsky alias "Kirk Douglas" die Hauptrolle spielte -, und die Original-Fassung ist in den USA bis heute verboten :-)

Zurück ins 17. Jahrhundert. Dikigoros hat nie nachzuvollziehen vermocht, was die Engländer an Bunyan gefunden haben - fast alle großen britischen Reise-Roman-Schreiber, von Defoe (dem Autor von "Robinson Crusoe") und Swift (dem Autor von "Gullivers Reisen") bis hin zu Stevenson (dem Autor von "Die Schatzinsel"), bekannten sich zu ihm, und ganz speziell zu Pilgrim's Progress. Er war ein puritanischer Haß-Prediger, der seit der Stuart-Restauration von 1660 im Gefängnis saß bzw. hätte sitzen sollen - de facto war er Freigänger. 1672 kam er im Rahmen einer Amnestie frei, wurde aber 1675 noch einmal für ein paar Monate in eine Art Hausarrest genommen, weil er weiter gegen Staat und Kirche hetzte. In jener Zeit soll er die erste Fassung von Pilgrim's Progress geschrieben haben - sehr schwer können die Haftbedingungen also nicht gewesen sein, vielleicht ähnlich wie zweieinhalb Jahrhunderte später auf der Festung Landsberg, wo ja auch jemand über seinen Kampf gegen Staat und Kirche schreiben sollte. Anders als dieser jemand war Bunyan jedoch ein krummer Hund, der den anderen Wasser predigte und selber Wein trank: Bereits in jungen Jahren ein fetter, vollgefressener Pfaff, wahrscheinlich aus dem Militär-Prediger-Stand der Bürgerkriegszeit hervor gegangen (so genau weiß man es nicht und will es wohl auch gar nicht wissen), ungebildet, unflätig und all den Dingen, die einem anständigen Puritaner eigentlich verboten waren, ausgesprochen zugetan: Völlerei und Trunk, Musik, Tanz, Theater (er wurde 12 Jahre nach Shakespeares Tod geboren), Games (mit "Sport" nicht direkt falsch, aber auch nicht vollständig übersetzt) - und das alles auch am Tag des Herrn... Dann wandelte er sich vom Saulus zum Paulus, und zwar gleich zu einem Fundamentalisten der ganz militanten Sorte. (Zwischen den beiden Bearbeitungen von Pilgrim's Progress schrieb er noch ein Werk mit dem aufschlußreichen Titel "The Holy War [Der heilige Krieg]".) Nun ist es ja oft so, daß die Proselyten die schlimmsten sind, weil sie glauben, vor Gott und der Welt beweisen zu müssen, daß, sie 150%ige sind, und daß, wenn sie sich schon bekehrt haben, alle Welt ein gleiches tun müsse.

(...)

* * * * *

Die Mayflower, d.h. das Schiff, von dem hier die Rede ist, war fast so alt wie die Kolonie Virginia. Damals hatten Schiffe noch keine allzu hohe Lebensdauer, besonders dann nicht, wenn sie so strapaziert wurden wie dieses: Zunächst, als es noch neu und gut in Schuß war, als Walfischfänger vor Grönland; später, als es immerhin noch reichte, um die Nordsee zu durchqueren, als Holztransporter von Skandinavien nach England; dann als Portweinfahrer von Portugal - immerhin durch die bisweilen stürmische Biscaya - nach England, und schließlich als Gewürzfahrer im Mittelmeer. Schließlich? Ja, denn danach war es nur noch als Seelenverkäufer gut, nicht mehr für ernsthaften Handel mit wertvoller Ware. So waren Käpt'n Jones und seine Miteigentümer im Jahre 1620 froh, als sie den alten Pott - und einen anderen, ebenso alten, die Speedwell, für eine ordentliche letzte Heuer an einen krummen Hund namens Weston verchartern konnten, der damit Auswanderer in die Neue Welt fahren wollte. Die Speedwell soff schon vorher ab; machte nichts, packte man halt alle zusammen auf die Mayflower, die überfahrts-Bedingungen waren eh mörderisch, da kam es kaum drauf an, auf welchem Kahn diese armen Irren verreckten. (Immerhin sollte ca. die Hälfte den ersten Winter überleben - auch von der Mannschaft -, das war damals ein guter Schnitt.) Im nächsten Frühjahr traute sich der Rest der Besatzung auf die Rückfahrt, denn die Mayflower konnte noch als Brennholz verwertet werden, das damals knapp und teuer war in England; die Erben von Jones (der bald darauf ebenfalls verreckte - Seemann war kein gesunder Beruf mit besonder hoher Lebenserwartung) konnten sich über immerhin 128 Pfund, 8 Schillinge und 4 Pence freuen. Weitere Schiffe mit "Pilgern" folgten, wie viele genau weiß man nicht, irgendwo hat Dikigoros etwas von "14.000 Siedlern" bis 1624 gelesen. Das hält er gelinde gesagt für einen Witz, denn eine Volkszählung in der Kolonie Virginia ergab im Jahre 1624 gerade mal 180 Einwohner; und selbst wenn man annimmt, daß viele Siedler an Hunger und Krankheiten starben - wenn es so schlimm gewesen wäre, hätte vermutlich gar niemand überlebt. Tatsache ist, daß das puritanische Siedlungsprojekt "Virginia" nach vier Jahren am Ende war. Im selben Jahr kamen Niederländer, also Nord-West-Deutsche ("Dutch" nannte man sie auf Englisch) nach Nordamerika, gründeten die Kolonie "Nova Belgica [Neu-Belgien]" mit Fort Oranje, Fort Nassau und schließlich Neu Amsterdam; und wenn Nordamerika eine holländische Kolonie geworden wäre, dann wäre statt der Maiblume vermutlich die Seemöwe in die Geschichte eingegangen, mit der 1626 Pieter Minuit im Auftrag der Niederländischen Westindien-Gesellschaft nach Neu Amsterdam kam. (Als er später zur Schwedischen Westindien-Gesellschaft wechselte, brachte er skandinavische Siedler zum Delaware, und eine Zeit lang sah es so aus, als ob sich der Kampf um das mittlere Nordamerika - Kanada hatten die Franzosen besetzt, Florida die Spanier - zwischen Niederländern und Schweden entscheiden sollte, aber das ist eine andere Geschichte.) Um 1640 hatte sich die Bevölkerungszahl von Virginia auf 3.000 erhöht, und diverse Seelenverkäufer brachten weiter fleißig Nachschub, allerdings kaum noch Puritaner, denn die hatten sich inzwischen ein neues Ziel gesucht: Massachusetts, wo sie ihren Gottesstaat, ihr "Bibel-Commonwealth", errichten konnten. In Virginia spielten sie kaum noch eine Rolle; 1644 wanderten die letzten aus (das, nicht 1620, ist das Jahr, das die Virginier nach Dikigoros' Meinung feiern sollten :-).

Virginia hin, Massachusetts her, in den folgenden Jahrzehnten entwickelte sich keine der englischen Kolonien in Amerika so recht, wie man sich das vorgestellt hatte; und in Europa hatte das Interesse an ihnen spürbar nachgelassen. Im "zweiten Seekrieg" gegen die Holländer eroberten die Engländer 1664 eher nebenbei Neu-Amsterdam und all die anderen Orte, die einst von Niederländern und Schweden (die einander zuvor durch anhaltende Kämpfe entscheidend geschwächt hatten) gegründet worden waren; im "dritten Seekrieg" eroberten die Niederländer Neu Amsterdam 1673 zurück, waren aber froh, daß sie es ein Jahr später im Frieden von Westminster gegen das von den Engländern besetzte Surinam zurück tauschen konnten, denn dort gab es wertvolle Gewürze, in Nordamerika dagegen nur aufmüpfige Siedler und Indianer - weg mit Schaden. Nein, liebe leser, das haben sich die Niederländer nicht einfach nur so ausgedacht, weil ihnen die Trauben zu hoch hingen, sondern die Entwicklung gab ihnen zunächst durchaus Recht: In Massachusetts gab es Jahre lange Kämpfe gegen die Wampanoags, Abenaki, Massachusetts (nach denen die Kolonie benannt wurde), Mohegans (nicht zu verwechseln mit den Mohicans - wie Cooper das tun sollte) und Narragansetts; in Virginia kam es zum Aufstand der kleinen Pflanzer und Grenzer unter einem gewissen Nathaniel Bacon. Scheiß-Kolonien...

Was konnte man gegen solche Fehlentwicklungen tun? Ganz einfach (Ihr, liebe Politiker, die Ihr das nicht wahr haben wollt, hört jetzt einfach mal weg): man mußte ordentliche Leute ins Land holen, die dem Pack, das schon dort war, zeigten wo es lang geht. Diese Idee kam zuerst einem gewissen William Penn, der zwar gebürtiger Engländer war, aber dennoch (oder gerade deshalb :-) wußte, daß mit denen kein Staat zu machen war (die Puritaner waren ja Engländer), und daß Amerika wenn, dann jedenfalls nicht am angelsächsischen Wesen genesen würde. Was tat er also? Er ließ sich anno 1681 eine königliche Charta ausstellen, die ihm das große Waldgebiet zwischen dem 43. und 40. Breitengrad (das heutige Penn-Sylvania) zur Besiedlung zuwies, und dazu kaufte er noch Delaware - einmal vom Herzog von York (nach dem inzwischen auch New Amsterdam in "New York" umbenannt worden war), und einmal von den Delaware-Indianern, denn Penn war Quäker und somit ein friedfertiger Mensch, der lieber zweimal zahlte als auch nur einmal Streit zu provozieren. Den Puritanern gefiel das gar nicht, denn die Quäker waren ihre Todfeinde, und das ist wörtlich zu nehmen: In Massachusetts, wo die ersten schon 1656 gelandet waren, wurden sie entweder ins Gefängnis gesteckt oder vertrieben, und seit 1660 als Ketzer aufgeknüpft. Und nun kam dieser Penn und wollte Siedler in großen Mengen nach Nordamerika bringen, die nicht nur Ketzer (neben Quäkern vor allem Mennoniten) waren, sondern auch Deutsche - was fast noch schlimmer war -, genauer gesagt Landsleute von Helmut Kohl (also Rheinländer und Pfälzer), nur ungleich tüchtiger; den ersten Schub brachte 1683 ein gewisser Franz Daniel Pastorius ins Land; sie gründeten Germantown (aber auch das ist eine andere Geschichte.)

Nun wurde es aber höchste Zeit, dagegen zu halten. Ein britischer Professor hat The Pilgrim's Progress einmal als "exzellente puritanische Propaganda und feinen Abenteuerroman zugleich" bezeichnet, aber darauf war das Buch ursprünglich nicht angelegt. Die erste Fassung, angeblich 1675 geschrieben, aber erst 1678 erschienen, ist ein ganz harmloses, ja fast nichts sagendes Büchlein, das wohl schwerlich zum Bestseller Nr. 2 in der protestantischen Welt geworden wäre. Ja in der ganzen protestantischen Welt, denn die Endfassung sollte in alle wichtigen Sprachen übersetzt und in aller Welt gekauft und gelesen werden. (Nein, liebe Leser, Dikigoros hat sich hier nicht die biestige Anmerkung "im Gegensatz zur Bibel" entgehen lassen; damals wurde - im Gegensatz zu heute - auch der Bestseller Nr. 1 noch gelesen, und zwar intensiv.) Unter dem Eindruck der den Puritanern keineswegs günstigen Entwicklung in Nordamerika schrieb Bunyan die zweite und letzte Fassung seines Werkes so, daß er bei der Veröffentlichung 1684 als Apologie der Puritaner verstanden werden konnte - und sollte. Fortan setzte sich in den Hinterköpfen nicht nur der Briten fest, daß die nordamerikanischen Kolonien Kinder Englands seien. Bereits 1686 wurden New York, New Jersey und Pennsylvania zum "Dominion New England" zusammen geschlossen (später sollten noch Connecticut, Rhode Island, Massachusetts, Maryland und Maine hinzu kommen). Ein dagegen gerichteter Aufstand der Siedler unter dem Deutschen Jacob Leisler (kein Quäker und kein Mennonit) brach nach drei Jahren zusammen - Leisler und seine engsten Mitarbeiter wurden 1691 als "Kriegsverbrecher" gehenkt; William Penn wurde ein Jahr später enteignet und ins Exil verbannt. Die Würfel waren gefallen, die Puritaner hatten gesiegt und feierten fröhliche Urstände: In Salem wurden Nicht-Puritanerinnen als "Hexen" verbrannt; im - bis dahin überwiegend katholischen - Maryland die katholische Messe verboten. Boston war inzwischen eine Großstadt von fast 7.000 Einwohnern, New York und Philadelphia zählten immerhin gut halb soviel, und es soll noch ein halbes Dutzend weiterer Städte mit über tausend Einwohnern gegeben haben! Ja, aber was für welche - Ihr dürft Euch das Leben in ihnen allen ebenso freudlos vorstellen wie den Gottesdienst, den das Bild unten zeigt: Selbst Orgelspiel und Singen waren in der Kirche verboten, und Lachen und Tanzen außerhalb sowieso.

Aber waren die Würfel denn wirklich schon gefallen? Kann man nicht - oder konnte man nicht früher - in klugen Büchern lesen, daß die weiße Bevölkerung Nordamerikas zu Beginn des 18. Jahrhunderts mal gerade eine Viertelmillion ausmachte? Selbst die der Indianer war noch höher! Und sollten nicht in den folgenden beiden Jahrhunderten Millionen andere einwandern, die keine weißen angelsächsisch sprechenden Puritaner waren? Vor allem Deutsche, deren Arbeit das Land aufbaute, aber auch Millionen Negersklaven aus Afrika (seit dem "asiento de negros [Vertrag über Neger]" - von 1713 hatte England ein Monopol auf den scheinbar lukrativen Handel mit jenem "schwarzen Gold" - von dem man erst viel später erkennen sollte, daß es mit einem noch viel schrecklicheren Fluch behaftet war als das sprichwörtliche "rote Gold"), Millionen Katholiken, erst aus Irland (nein, nicht erst seit der Hungersnot von 1848, sondern schon seit den Enteignungen von 1719 - die "Irish niggers", wie sie von den Puritanern genannt wurden, brachten übrigens den Kartoffelanbau nach Amerika, nicht umgekehrt, aber das ist eine andere Geschichte), später aus Italien - aber das liegt nach unserer Zeit. Egal, alles nur Quantität, keine Qualität, meinen jedenfalls die "echten" Amerikaner. Das Erbe der puritanischen Fundamentalisten bestimmte das Denken und Glauben an das "manifest destiny" von "God's own people" in "God's own country", und das ist bis heute das Fundament Amerikas geblieben. Auch die - zahlenmäßig und eigentlich auch militärisch viel stärkeren - Nachbarn, die Franzosen von Kanada und Louisiana im Norden und Westen, die Spanier (und später Mexikaner) im Süden und Südwesten, haben keine Chance, die Roten und Schwarzen (die zweimal - 1712 und 1739 - erfolglos den Aufstand wagen) sowieso nicht, denn die hat Gott der Herr schon äußerlich gezeichnet, als auszurotten bzw. zu versklaven. Warum? Ist das wirklich "manifest"? Und folgt das wirklich zwingend aus dem puritanischen Glauben? Ja, liebe Leser, deshalb hat Dikigoros sich einleitend so lange damit aufgehalten, nicht wie andere, die darüber schreiben, mit den rein religiösen Einzelheiten (was die nun von der Dreifaltigkeit, der Jungfrau Maria und der Wandlung oder Transzendenz beim Abendmahl hielten oder nicht, kann uns in diesem Zusammenhang ziemlich schnuppe sein), sondern mit "progress" (Fortschritt) und "glory" (Ruhm). Wenn Ihr im 18. oder 19. Jahrhundert einen Amerikaner gefragt hättet, warum die Indianer vertrieben (solange noch Platz war, gen Westen) oder später (als es keinen Platz mehr gab, weil die weißen Siedler den ganzen Kontinent für sich beanspruchten) ausgerottet werden mußten, dann würde er Euch geantwortet haben: "Weil sie dem Fortschritt im Wegen stehen." Nein, das hat sich Dikigoros nicht einfach nur so ausgedacht; es sind uns genügend schriftliche Zeugnisse dieses Inhalts überliefert. "Fortschritt" war ein Fetisch geworden, dessen Anbeter über Leichen gingen - und dazu noch mit dem besten Gewissen.

Exkurs. Wohlgemerkt, die Indianer standen "dem Fortschritt" - wie immer man ihn definieren mag - tatsächlich im Wege. War das aber eine Rechtfertigung für ihre Beseitigung? Darüber kann man trefflich streiten. Gewiß gab es Völker und Stämme, die dem Klischee des grausamen Wilden nur zu gut entsprachen, z.B. die Apachen, und unter denen besonders die Mescaleros (die Charly May mit den Sioux verwechselte, als er seinen guten "Winnetou" erfand), Verwandte der Azteken, jener primitiven und brutalen Mordgesellen und Schmarotzer, die schon die alten Kulturen Mittelamerikas zerstört hatten, weil Cortez & Co. ein paar Jahrzehnte zu spät kamen und sie nicht mehr daran hindern, sondern nur noch ihren Opfern helfen konnten, sich zu rächen. Die auszurotten wäre nicht nur in den Augen der Puritaner ein gottgefälliges Werk gewesen. Aber Opfer des puritanischen Fundamentalismus waren ja erstmal ganz andere, wie die Cherokee oder die Seminolen, seßhafte, ackerbauende Kulturvölker, die sicher nicht weniger "zivilisiert" waren als der durchschnittliche Weiße an der "Frontier". Seht Ihr, liebe Leser, Fundamentalismus im ursprünglichen Wortsinn ist an sich keine schlechte Sache; jeder Glaube muß schließlich ein festes Fundament haben. Wer überzeugt ist, daß sein Glaube der einzige wahre und der allein selig machende ist, der soll ihm ruhig grundsätzlich (denn nichts anderes heißt "fundamental") folgen. Aber das gibt ihm noch lange nicht das Recht, auch andere, die vielleicht lieber nach ihrer eigenen Façon selig werden wollen und einen anderen Glauben für den einzig richtigen halten, zu zwingen, sich zu bekehren. Aber eben das war das Ziel der Puritaner: auch alle anderen davon zu überzeugen, daß nur ihre Denk- und Lebensweise, ihre Religion, ihre Verfassung und ihre Politik, kurz der Puritan way of life allein richtig und gottgefällig sei und - notfalls mit Gewalt - auf der ganzen Welt durchgesetzt werden müsse. Es ist ja ein Märchen, daß die armen Puritaner in England verfolgt wurden und nach Amerika auswanderten, um Religionsfreiheit zu schaffen. Ganz im Gegenteil: Den Puritanern war die relative Religionsfreiheit, die damals in England herrschte, zuwider; deshalb wanderten sie nach Amerika aus, um dort religiöse Unfreiheit zu schaffen, und sie kehrten nicht einmal dann ins Mutterland zurück, als der puritanische Diktator Oliver Cromwell dort die Macht an sich riß und ein Terror-Regime schuf, wie es selbst im 20. Jahrhundert unter Churchill (dessen "Engsoc" George Orwell zu "Animal Farm" und "1984" inspiriert hat) nicht wieder erreicht werden sollte, denn Cromwell war ihnen noch viel zu "tolerant". Daß diese Banditen noch zu einer Zeit, als das Cromwell-System längst mit Schimpf und Schande zusammen gebrochen war, zu Helden hoch gejubelt wurden, hält Dikigoros für einen der größten Skandale der politischen Ideen-Geschichte - an dessen Folgen wir heute noch leiden. Exkurs Ende.

* * * * *

Warum verdrängen nun die Amerikaner bis heute weitgehend diese historische Wahrheit? Nun, die Wahrheit ist wie so oft unangenehm, und sie brauchen diese Sage, denn sie haben bei ihrer Landnahme zwar noch andere "Heldentaten" vollbracht; aber weder die Eroberung des "Wilden Westens" von den Indianern noch der große Goldrausch von 1848 (über den Dikigoros an anderer Stelle schreibt) noch der Bau der Eisenbahnen eignen sich als Sagenstoffe. Eine Ausnahme bildet allenfalls der Zug zum großen Salzsee, deshalb wird Dikigoros über den im nächsten Kapitel mehr schreiben.

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