ERSCHIESSUNG
VON GEFANGENEN AN DER CÔTE DE TALOU?
Ein
Ereignis aus den ersten Tagen der Verdun-Schlacht ist übermittelt,
über das es sich zu spekulieren lohnt. Angehörige des
Westpreußischen
Infanterie-Regiments Nr. 155 - hier: das III. Bataillon - sollen
nach ihrer Gefangennahme an der Côte de Talou (nördlich
Vacherauville) von Franzosen erschossen worden sein. Zugetragen
hatte sich dieser, als Kriegsverbrechen einzustufender Vorfall,
am 24. Februar 1916.
Den
Beginn der Offensive erlebte das Infanterie-Regiment 155 in den
Stellungen am Ormont-, Moirey- und Flabas-Wald, westlich der
Ortschaft Flabas. Das III. Bataillon verblieb dort ebenfalls bis
zum 24. Februar 1916 vormittags. Dann erging folgender Befehl
von der 77. Infanterie-Brigade:
III./155
tritt mit Eintreffen dieses Befehls wieder unter 77. Inf.Brig.
und wird dem Rgt. Stotzingen unterstellt. Der Führer meldet
sich heute 12 Uhr mittags bei Maj. v. Stotzingen im Wald von
Consenvoye. Alle Vorbereitungen für Verpflegung und Mun.Ergänzung
zu einem Angriff sind zu treffen. 77. Inf.Brig.
Das
sogenannte Regiment Stotzingen setzte sich aus Teilen des
Reserve-Jäger-Bataillons Nr. 5 und dem III./I.R.155 zusammen.
Einige Stunden später erging weiterer Befehl:
Das
Btl. rückt sofort in die Schlucht etwa 1 km südl. Haumont-Dorf
und stellt sich dort zum Angriff bereit. Befehl hierzu erfolgt
durch Rgt. Stotzingen. Mündlicher Zusatz: Sturmgepäck.
Das
Bataillon rückte gegen Mittag in den befohlenen Bereitstellungsraum. Nachmittags gingen die Kompanien, zur
befohlenen Zeit, zum Angriff auf die Höhe 344 über.
Aufgrund
des Zurückbleibens des rechts anschließenden, auf die
Ortschaft Samogneux angesetzten, Füsilier-Regiments Nr. 37,
verschob sich der Marschrichtungspunkt der 155er nach Westen, so
daß nun die westliche Hänge der Höhe 344 in den
Angriffsabschnitt fielen. Durch linksflankierendes französisches
Infanteriefeuer erlitten die Kompanien schwere Verluste. Die
Verbindung untereinander ging verloren, eine zusammenhängende
Gefechtslinie war nicht mehr vorhanden - es entstanden Lücken.
Das
allgemeine Durcheinander zwang die Regimentsführung, die vor
ihm liegende Straße Vacherauville - Samogneux, als neue zu
erreichende Linie zu bestimmen. Diese sollte auf keinen Fall überschritten
werden. Allerdings waren beim Eintreffen des Befehls schon
einige Gruppen über die Straße hinausgestürmt. Eilends hatten die
Franzosen Reserven an die Côte de Talou
herangeführt - in diesem Fall algerische Schützen - um
ihrerseits zum Gegenangriff überzugehen. Die Angriffe konnten
zwar deutscherseits abgewiesen werden, doch gerieten
verschiedene Gruppen - beim Versuch auf die eigene Linie zurückzugehen
- in Gefangenschaft.
In diesem Bereich sollen Angehörige der 11. Kompanie des
Infanterie- Regiments 155 nach ihrer Gefangennahme - entgegen des
Kriegsrechts - erschossen worden sein. Zwei Tage später fand
eine Offiziers-Patrouille, des nach Ablösung des III./I.R.155,
am 26. Februar 1916 eingesetzten Reserve-Infanterie-Regiments
13, am Osthang der, zwischenzeitlich wieder von den Franzosen
besetzten Talou-Höhe, den verwundeten Musketier Peschel von der
11./I.R.155. Nach seinen Angaben sollten 17 Kameraden seiner
Kompanie erschossen worden sein, er selbst, nach dem Erhalt
eines Schußes, habe sich totgestellt. Tatsächlich fand man später
die Leichen, die in Reih' und Glied am Hang der Höhe lagen.
Der einzige Augenzeuge, der bereits erwähnte Musketier Peschel,
hatte seine Erlebnisse und Beobachtungen im Lazarett niedergeschrieben:
Zur
Person: Ich heiße Alfred Peschel, bin 18 Jahre alt,
evangelisch. im Zivilberuf Former.
Zur Sache: Am 22.2., nachm. gegen 4,00 Uhr, wurde mein Btl. zum
Sturm angesetzt. Ich ging zunächst mit der Komp. vor,
wurde aber bald von ihr getrennt. Indessen blieb ich bei meinem
Halbzugführer, Vzfw. Poladschek. Dieser ging mit einer Gruppe
von 20 bis 25 Mann in ein Granatloch. In dem Augenblick, als er
hineinsprang, erhielt einen Schuß durch die Backe. Ich war
etwas von ihm ins Loch gesprungen. Es waren unter uns mehrere
von unserer Komp., alle übrigen waren von meinem Btl. Namen
kann ich nicht nennen. Das Granatloch befand sich etwa 20 m vor
unserer Schützenlinie. Diese zog sich nun zurück, während wir
liegen blieben. Etwa 5 m vor uns befand sich die Schützenlinie
der Frz. Diese kamen zu etwa 40 bis 50 Mann an den Rand unseres
Trichters und forderten uns auf, uns zu ergeben, indem sie uns
Zeichen machten, daß wir die Waffen wegwerfen und die Hände
hochheben sollten. Weil wir nur zu so wenig waren und Widerstand
nutzlos war, ergaben wir uns; wir konnten auf die Ankommenden
nicht schießen, weil wir zu nahe an der fdl. Schützenlinie
lagen und uns geduckt in dem Trichter halten mußten. Die Frz. führten
uns nun etwa 20 bis 30 m hinter ihre Schützenlinie, wo wir uns
in einem Gliede senkrecht zu ihrer Front aufstellen mußten. Ein
Chargierter, den ich für einen Feldw. nach unserem Begriff
hielt, und andere Frz., befühlten unsere Sachen, um
festzustellen, was darin sei. Sie suchten hauptsächlich nach
Zigarren und Zigaretten, Geld oder andere Gegenstände nahmen
sie zunächst nicht. Dann traten wohl 50 bis 60 Mann etwa 15 m
von uns entfernt vor unsere Front. Einer schoß auf unsere
Linie, ich sah, daß einer von meinen Kameraden getroffen zu
Boden sank. Dann fingen die anderen Frz. auch an zu schießen
und ich sah, wie meine Kameraden getroffen hinfielen. Als ich
dies sah, lief ich mit drei Nebenmännern nach rückwärts auf
die frz. Linie zu weg. Gerade als ich mich zur Flucht wandte,
sah ich noch, wie einer zu meiner Linken erschossen zu Boden
sank. Als ich etwa 5 - 6 m gelaufen war, bekam ich einen Schuß
in den linken Ellbogen, fiel hin und blieb besinnungslos liegen.
Die Kameraden, die mit mir wegliefen, erhielten auch Schüsse
und fielen zu Boden. Ich nahm an, da sie tot waren. Ich war der
letzte, der einen Schuß bekam. Ich erwachte, als es noch hell
war; nach meiner Schätzung etwa ½ 6 - 6 Uhr. Ich sah nun, wie
sich etwa 4 m vor mir ein Kamerad aufrichtete, indem er sich auf
die Hände stützte, dann aber wieder zurückfiel. In diesem
Augenblick trat ein frz. Soldat an ihn heran, hielt ihm die Mündung
seines Gewehrs an den Kopf und schoß. Auf meinem Platze hinter
einer Pflugschar konnte ich auch die Leichen meiner anderen
erschosse- nen Kameraden sehen. In der darauffolgenden
Nacht, als heller Mondschein war, sah ich, wie sich frz.
Soldaten an den Leichen meiner Kameraden zu schaffen machten.
Einer von den Frz. kam auch zu mir, nahm mir mein Portemonnaie
aus meiner linken Hosentasche und knöpfte mir meine Uhr vom
linken Handgelenk ab. Es war eine kleine Damenuhr. Dann knöpfte
er mir den Rock auf, vermutlich um meinen Brustbeutel zu suchen,
den ich aber nicht umhatte. Das Portemonnaie, in dem sich 15,-
Mark und die Erkennungsmarke befanden, war mit einer Kette am
Hosenträger befestigt; auch die Kette wurde mitgenommen. Ich
stellte mich während der Durchsuchung tot. Nachdem ich nun vier
Tage und fünf Nächte so gelegen hatte, ging ich morgens in
eine etwa 300 m entfernt liegende Schlucht, welche dicht an eine
Landstraße stößt. Nachm. wurde ich dort von einer deutschen
Patr. gefunden, die von einem mir nicht bekannten Lt. des
R.I.R.13 geführt wurde. Diesem habe ich gleich meine Erlebnisse
erzählt. Ich ging dann zunächst zu der Stelle zurück, wo ich
gefangen- genommen war und begab mich dann zum Verbandplatz des
R.I.R.13. Von dort kam ich noch am selben Tage, nämlich
gestern, hierher ins Lazarett. Ob es mit der von mir angegeben
Zeitberechnung ganz genau stimmt, weiß ich nicht; ich meine,
ich hatte gleich am ersten Tage mit gestürmt, als das starke Geschützfeuer begann.
Im
übrigen wurde dieser Vorfall in der Regimentsgeschichte des
Reserve-Infanterie-Regiments Nr. 13 mit keinem Wort erwähnt.
Wie glaubhaft die zitierte Aussage des
Musketiers Peschel war, kann nur gemutmaßt werden. Die wahren
Umstände der Tötung der Angehörigen des Infanterie-Regiments
155 bleiben demnach weiter in einer Art Zwielicht.
Man darf an dieser Stelle nicht über den französischen
Soldaten richten, sondern kann nur versuchen die Umstände für
Gründe einer Erschießung der Gefangenen zu beleuchten, ohne
natürlich die Zeugenaussage anzuzweifeln oder zu widerlegen.
Allerdings sollte man versuchen, den Vorfall von beiden Seiten
zu betrachten.
Gegen eine vorsätzliche Erschießung sprechen evtl. einige Umstände.
Möglich wäre eine gewisse Widersetzung der Deutschen bei ihrer
Gefangennahme, ein Fluchtversuch, oder das fahrlässige
Verhalten eines Einzelnen, der nicht nur sich, sondern auch
seine Kameraden in verhängnisvolle Gefahr brachte. Eine falsche
oder auch ungewollte, provokative Reaktion in einer stimmungs-
und emotionsgeladenen Situation kann verheerend sein und eine
Kurzschlußhandlung auslösen. Aggression, Haß, Angst und
Besonnenheit sind in gewissen Streßsituationen nicht immer auf
einen Nenner zu bringen.
Inwieweit der Musketier Peschel, kurz vor Beginn der Feuereröffnung
auf sich und seine Kameraden, seine unmittelbare Umgebung
wahrnahm, konnte aus der zitierten Aussage nicht herausgelesen
werden. Für ihn wurde urplötzlich, aus heiterem Himmel auf
seine Kameraden geschossen. Die natürliche Reaktion, nämlich
die Flucht von Peschel und einiger seiner Kameraden, ließen die
Situation u.U. eskalieren und die Franzosen feuerten nicht mehr
auf einen Einzelnen sondern auf die, offensichtlich sich der
Gefangenschaft, entziehenden Deutschen.
Andererseits sollte man aber auch die vorsätzliche Erschießung
in Betracht ziehen. Der Schuß eines evtl. Vorgesetzten könnte
den Rest der algerischen Schützen ermutigt haben, um ebenfalls
das Feuer zu eröffnen. Diese Reaktion könnte auch einige Gründe
haben. Die Franzosen waren zu Beginn der deutschen Offensive
sehr stark in die Defensive gedrängt worden; das zu diesem
Zeitpunkt noch übermächtige Artilleriefeuer unter dem die
französische Infanterie zu leiden hatte, ohne sich entscheidend
wehren zu können, könnten eine solche Reaktion
heraufprovoziert haben. Hatte man doch genau in diesem Moment
den verhaßten Gegner vor sich stehen, man konnte handeln, sich
rächen für die vergangenen Tage der Machtlosigkeit.
Kämen diese Umstände in Betracht, wäre es eindeutig ein
Kriegsverbrechen, für das die Franzosen verantwortlich wären.
Was immer auch die wahren Hintergründe dieses Vorfalls waren,
sie werden uns auch weiterhin verborgen bleiben. Allerdings
bieten solche Überlieferungen Stoff für Spekulationen und
Diskussionen, auch 86 Jahre nach den Ereignissen.
|