Die "Stimme der Han-Chinesen"
oder der tapfere Einfaltspinsel
HAN SU-YIN (1916-2012)

(Mathilda-Rosalie Elisabeth Claire Kuang-hu
geb. Tschou, verw. Tang, gesch. Comber,
verw. Ratnaswāmī alias Ruthnaswamy)
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Un vœu: "Boule de feu, boule de fer,
si je trahis que j'aille en enfer!"
(Han Su-yin, L'arbre blessé)

[Han Su-yin]

Fortsetzung von Teil I

Mehr als ein Vierteljahrhundert war seit dem Erscheinen von "Reiseziel Chungking" vergangen, und siehe da: Plötzlich sollte alles ganz anders gewesen sein, als sie es in "Destination Chungking" beschrieben hatte - was Dikigoros in seiner Auffassung bestärkt, daß es sich dabei weniger um Han Su-yins Werk als das ihres ersten Ehemannes handelte, hervor gegangen aus den tagebuchähnlichen Aufzeichnungen, die er beim Militär pflichtgemäß zu führen hatte. Doch sie hat dafür eine andere Erklärung: Das Buch sei eine "Co-Produktion" geschrieben zusammen mit ihrer Freundin Marian Manly, die das Manuskript "geschönt und entschärft" hatte, damit es beim angelsächsischen Leser ein gutes Licht auf China warf - denn wenn sie damals das geschrieben hätte, was sie jetzt schrieb, hätten die den Geldhahn sicher gleich zugedreht... Nun lernen wir Pao als egoïstischen Militaristen kennen, der seinen Patriotismus nur vorschob, um sie zu täuschen, und außerdem als typisch feudalistischer Macho (wie man heute sagen würde, damals sagte man noch "Chauvinist" - aber das Wort konnte Han Su-yin nicht gebrauchen, weil sie ihm den Patriotismus ja gerade absprach, und vor dem Einsetzen der Frauenbewegung bedeutete "Chauvinismus" noch so etwas wie einen überzogenen Patriotismus), der seine Ehefrau und ihre reiche Familie nur ausnutzte, sie täglich demütigte, anschrie und verprügelte, der ihr vorwarf, nicht jungfräulich in die Ehe gegangen zu sein (s.o.), eine ausländische Mutter zu haben, kommunistische Ansichten zu pflegen, sich mit anderen Männern zu unterhalten und ihm, ihrem Ehemann, ständig Widerworte zu geben - das war am schlimmsten, denn durch diesen typisch europäischen Ungehorsam verlor er vor seinen chinesischen Kameraden das Gesicht. So so... das ist also Han Su-yins ganz spezielle Dankbarkeit gegenüber dem Andenken eines Mannes, der den Militärdienst aus Liebe zu ihr verlassen wollte und durch halb China geirrt war, um sie zu suchen, als er irrtümlich glaubte, sie sei bei einem Bombenangriff auf Tschungking umgekommen, den sie allein nach China zurück gehen ließ - in den Tod -, während sie, "tapfer", wie sie war, in England geblieben war, und der zu allem Überfluß auch noch Recht hatte: Sie hatte eine ausländische Mutter; sie hatte nicht-jungfräulich geheiratet, sie hatte kommunistische Ansichten, sie unterhielt sich mit anderen Männern, und sie widersprach ihm ständig - das bestreitet sie auch alles gar nicht; aber sie glaubte halt, ein Recht dazu zu haben - darin war sie ganz und gar Europäerin. Und dennoch wollte sie ganz und gar Chinesin sein - ein merkwürdiger Widerspruch, findet Ihr nicht? Ihre Mutter und ihre Geschwister hatten irgendwann eingesehen, daß, das nicht ging und sich gegen China entschieden; sie wanderten allesamt in die USA aus. Han Su-yin wählte den schwierigeren Weg und ließ mehr oder weniger bereitwillig die Gehirnwäsche über sich ergehen, die Pao ihr verpaßte - und natürlich auch ihre ach-so-liebevolle Familie in Tschungking, Tschöngtu und Pihsien. Sie brach mit der Familie ihrer Mutter - einschließlich ihrer Geschwister - und versuchte das zu [über-]kompensieren. Natürlich gelang ihr das nie; denn sie war nicht nur genetisch keine Chinesin, sondern nach so vielen Jahren eines europäisch geprägten Elternhauses und einer europäisch geprägten Erziehung gelang es ihr auch nicht, kulturell eine zu werden: Mit 23 Jahre fing sie nochmal an, Chinesisch lesen und schreiben zu lernen; aber es ist eine Sache, jemanden per Gehirnwäsche all das auszutreiben was er bisher im Kopf hatte, und eine andere, ihm dafür das einzutrichtern, was man gerne drin hätte - letzteres geht meist schief.

Aber wenn wir mal ganz nüchtern überlegen müssen wir uns wohl sagen, daß nicht alles, was in "Reiseziel Chungking" oder in "Ein Sommer ohne Vögel" stand, erlogen gewesen sein wird - die Wahrheit muß irgendwo dazwischen gelegen haben, vielleicht nicht in der sprichwörtlichen Mitte (obwohl sich das im "Reich der Mitte" natürlich besonder gut machen würde :-), aber... versuchen wir mal zu sortieren, indem wir uns vom gesunden Menschenverstand leiten lassen: Sicher versuchte Rosalie Tschou anfangs ihr als "höherwertig" angesehenes europäisches Erbe zu pflegen - sonst wäre sie wohl nicht 1935 nach Belgien gegangen. Als sie dort sowohl beruflich mit ihrem Studium als auch privat mit ihrer Verlobung gescheitert war - was sie zumindest subjektiv auf ihre Diskriminierung als halbe Ausländerin zurück geführt haben dürfte -, war sie umso mehr bereit, sich dem von ihren Eltern ausgesuchten Jugendfreund in die Arme zu werfen und Chinesin zu werden - wahrscheinlich hätte es da gar keiner großartigen Gehirnwäsche bedurft. Wie dem auch sei, diese war offenbar erfolgreich und machte sie innerlich zur 150%igen Chinesin, allerdings zur National-Chinesin, und im Bürgerkrieg sollten ja die Kommunisten siegen. Nun war das noch nicht so schlimm, wie es in westlichen Ohren klingt: Auch die Maoïsten waren Nationalisten - halt kommmunistische Nationalisten -, und sie gaben jedem braven Patrioten die Chance, sich zu ihnen zu bekehren. Der Weg dazu nannte sich "Selbstkritik" - Han Su-yin schildert, wie ihr in Rot-China zurück gebliebener Vater mehrmals "selbstkritische" Lebensläufe verfassen mußte, denen sie den größten Teil seiner Lebensgeschichte entnommen hat. (Wundert es Euch da noch, liebe Leser, daß er sich als "Hakka und Han-Chinesen" bezeichnete? Jegliche noch so entfernte Reminiszenz, daß er von Lolos abstammte und sich womöglich noch als ein solcher fühlte, hätte für ihn und seine ganze Verwandschaft - es herrschte Sippenhaft - in einem der berüchtigten Umerziehungs- und Todeslager enden können.) Man muß "Sommer ohne Vögel" eben auch als Zeitdokument lesen: Han Su-yin hatte die Hoffnung, eines Tages ganz nach Rot-China zurück zu kehren, offenbar Mitte der 60er Jahre noch immer nicht aufgegeben; aber dann kam die "Kultur-Revolution", während der auch sie heftig angegriffen wurde. Da halft nur eines: die reuige Sünderin heraus zu kehren und freiwillig "Selbstkritik" zu üben - und jenes umfangreiche Stück Selbstkritik betitelte sie halt "Sommer ohne Vögel" und verkaufte es im Westen als "korrigierte" Erinnerungen an jene Tage... Geradezu peinlich die umfangreiche Belobhudelung Mao Tse-tungs, dem sie mehrere Kapitel widmete - vielleicht arbeitete sie damals auch schon an seiner Biografie - aber dazu später mehr.

Und die Beurteilung Tschiang Kai-sheks, die in "Reiseziel Chungking" noch so positiv ausgefallen war und sich nun derart ins Negative verkehrte? War er wirklich ein "Verräter", weil er sich - aus Mißtrauen sowohl gegen die US-Amerikaner als auch gegen die Sowjet-Russen und ihre kommunistischen Marionetten - die Option eines Arrangements mit Japan offen zu halten versuchte? Er hatte in den USA, in der UdSSR und in Nippon gelebt und kannte sie alle - und zwar nicht irgendwelche Studenten von der Straße, wie andere, sondern die politischen "Macher", konnte sich also in etwa ausrechnen, was von ihnen zu erwarten war. Und wen oder was verriet er denn, wenn er gemeinsame Sache mit den Japanern gemacht hätte? Er war ausweislich seines Namens (der soviel wie "Petrus" bedeutet - und in einem ganz ähnlichen Verhältnis wie der zu Jesus stand ja auch Tschiang Kai-shek zu Sun Yat-sen, dem Führer der Revolution von 1911) Kantonese, als Südchinese. Mit dem verdammten Imperialimus der Han-Chinesen hatte er nichts am Hut. Mit der Mandschurei, der Mongolei, Ost-Turkestan und Tibet sollten sich doch die Japaner, die Angelsachen und die Sowjets oder wer sonst immer ein Interesse daran hatte, herum ärgern. Im restlichen China wollte er die Ordnung mit allen Mitteln - notgedrungen auch denen der Gewalt - wieder herstellen. War das verwerflich? Wollten die Kommunisten unter Mao das nicht auch, nur unter anderen Vorzeichen? Was wäre denn geschehen, wenn 1940, nach dem Frankreich-Feldzug, in Europa und Asien der Friede ausgebrochen wäre? Deutschland hätte ein Stück von Polen behalten, die Sowjet-Union den Rest (und noch ein paar andere Gebiet, die früher zum Tsarenreich gehört hatten), England sein Empire, die USA ihre Wirtschaftskrise (aber sie hätten ja statt Roosevelt jemand anderen wählen können, der sie ohne Krieg überwunden hätte), Japan die Mandschurei, Korea, Taiwan und ein paar chinesische Häfen, und China - den Rest. Objektiv wäre es niemandem schlechter gegangen; aber Politik wird halt oft von denen gemacht - so auch damals -, die nicht mit ansehen können, wenn es anderen besser geht: Churchill und Roosevelt waren solche Typen, aber sie standen längst nicht allein. Auch Maos Filosofie ging ja nicht dahin, daß es allen besser gehen sollte, sondern daß denen, die mehr hatten, dieses Mehr weg genommen und unverteilt werden müsse, um alle "gleich", d.h. gleich arm zu machen. Und da diese Filosofie viel leichter zu verwirklichen ist als der Versuch, alle mehr erwirtschaften zu lassen (was schließlich mit Anstrengung verbunden ist), kommt sie bei den breiten Massen in der Regel viel besser an - jedenfalls fürs erste, und das nicht nur bei den ungebildeten Arbeitern - die es nicht besser wissen können -, sondern auch bei den pseudo-gebildeten Eierköpfen, die sich an den Universitäten irgendwelche krause Ideen angelesen oder andiskutiert haben, wie Han Su-yin, die sich jetzt als "Intellektuelle" fühlte.

[Inzwischen - nach ihrer ersten Japan-Reise 1962 - hatte Han Su-yin "den Japanern", die sie bis dahin mit ihrem "unauslöschlichen" Haß verfolgt hatte, ausdrücklich Abbitte geleistet; aber sie hat es sich dabei sehr einfach gemacht: Nachdem sie einräumen mußte, daß sich die japanischen Besatzungstruppen in China - aller alliierten Kriegspropaganda zum Trotz - weit weniger schlimm aufgeführt hatten als die chinesischen Bürgerkriegs-Armeen, schiebt sie die Greueltaten der letzteren nun allein Tschiang Kai-shek in die Schuhe; und "den" Japanern billigt sie zu, nur von bösen Militaristen zum Krieg gegen China verführt worden zu sein, gänzlich gegen ihren Willen. Ja ja, auch die Deutschen wurden bekanntlich gänzlich "gegen ihren Willen" von dem Österreicher Hitler verführt, und Österreich wiederum war das erste Opfer der faschistischen Aggression des Deutschen Hitler - immerhin hatten 1938 rund 1% gegen den "Anschluß" gestimmt. (Aber darüber schreibt Dikigoros an anderer Stelle mehr.) Und mutmaßlich ebenso viele derjenigen Chinesen, die zuvor den Bürgerkrieg am eigenen Leibe mit erlebt - und ihn durch glückliche Umstände überlebt - hatten, hätten wohl im Falle einer Volksbefragung gegen den Einmarsch der Japaner gestimmt, der immerhin Frieden, Rechtssicherheit und einen gewissen wirtschaftlichen Wohlstand brachte.]

[A Mortal Flower] [A Mortal Flower] [Une fleur mortelle] [Blume Erinnerung]

Ein Jahr später erschien die Fortsetzung von "Sommer ohne Vögel" (die Han Su-yin angeblich schon 1965/66 geschrieben hatte - aber vielleicht behauptete sie das nur, um nicht auf die "Kulturrevolution" eingehen zu müssen), genauer gesagt die Vorgeschichte der Jahre 1928-38: "Eine sterbliche Blume" (oder eine tödliche - Ihr seht, manche europäische Sprachen sind bisweilen nicht weniger mehrdeutig als manche asiatische - die deutsche Übersetzerin wußte wohl auch nicht, was nun genau damit gemeint war, und wich deshalb auf "Blume Erinnerung" aus :-). Es ist der schwächste Teil ihrer Memoiren, weil nur allzu deutlich wird, daß es sich nicht um spontane, "echte" Erinnerungen handelt, sondern vielmehr um einen wohl überlegten, sorgfältig redigierten Rechenschaftsbericht im Sinne einer Rechtfertigung. Und doch - wie dünn ist diese Rechtfertigung bei allem offensichtlichen Bemühen ausgefallen! Nein, Dikigoros schreibt das nicht aus Überheblichkeit. Er weiß aus eigener Erfahrung, wie nachhaltig der erste, flüchtige Eindruck, gewonnen vielleicht auf einer kurzen Durchreise mit nur wenigen, zufälligen Begegnungen, das Bild eines jungen, lebens-unerfahrenen Menschen von anderen Ländern, Völkern und Kulturen prägen kann, allem zum Trotz, was man zuvor - d.h. nicht auf Reisen, sondern in der "Seßhaftigkeit" - erlebt haben mag, und daß sich dieser subjektive Eindruck, den man "unterwegs" gewonnen hat, auch später, in der objektiven Rückschau, kaum noch ganz korrigieren läßt (jedenfalls nicht in der "Seßhaftigkeit" - allenfalls auf einer neuerlichen Reise). Was auch die Basken, die Bretonen oder die Mexikaner jemals anstellen mögen, er wird ihnen immer irgendwie zugetan bleiben, und das gleiche gilt für Völker, von denen er auf seinen späteren Reisen einen guten ersten Eindruck gewonnen hat, wie den Argentiniern, den Indern oder den Finnen, auch wenn ihm heute klar ist, daß diese Völker die Deutschen nur deshalb lieben und gastfreundlich empfangen, weil sie sie - wie alle anderen Völker übrigens auch - für Nazis halten, nur mit dem Unterschied, daß sie in ihnen tapfere Mitstreiter gegen gemeinsame Feinde - die Engländer, die Amerikaner, die Franzosen und die Russen - sehen, während die meisten anderen Völker der Erde sie aus demselben Grunde hassen - die einen mehr, die anderen weniger; aber ganz kalt läßt diese Vergangenheit fast niemanden. (Dikigoros nimmt die Araber und die Schwarzafrikaner aus, deren Länder er zu wenig bereist hat, um sich auch nur ein Vor-Urteil zu bilden, ebenso die Chinesen und die Japaner, denn das sind zwei Kapitel für sich, und zwar besonders schwierige Kapitel, die nicht allein durch das Verhältnis zu Deutschland, sondern auch durch das der beiden Völker untereinander, beeinflußt werden, was hier auszuführen zu weit vom Thema abführen würde. Er darf indes versichern, daß er persönlich nichts gegen "die" Chinesen hat, wenngleich einige Leser dieser Seite ihm das unterstellen mögen - im Gegensatz zu den letzteren weiß er nämlich durchaus zwischen "solchen" und "solchen" Chinesen zu differenzieren.)

Nun, bei Dikigoros beruhten diese ersten, subjektiven Eindrücke wenigstens auf einigen Wochen oder Monaten - bei Han Su-yin dagegen nur auf Tagen oder bisweilen sogar auf Stunden! Als sie 1935 mit der Transsib von Peking über Moskau und Berlin nach Brüssel reiste, um dort zu studieren, wurde sie zunächst in der Mandschurei vom japanischen Geheimdienst aufgehalten. Nein, aufgehalten kann man das gar nicht nennen, es wurde halt jemand vom Geheimdienst auf sie angesetzt, der sich zwar 100%ig korrekt verhielt und eigentlich sogar recht nett zu ihr war, mit ihr essen ging, Restaurant und Hotel für sie bezahlte, aber sie nahm das "den" Japanern so übel, daß die "für alle Zeiten" (d.h. für fast drei Jahrzehnte, bis 1962 - s.o. :-) bei ihr unten durch waren. (Ihr meint, sie hätte doch auch objektiv Grund genug für ihren Haß auf die Japaner gehabt, die immerhin vier Jahre zuvor in die Mandschurei einmarschiert waren? Unsinn - das betraf sie doch gar nicht; und gerade ihre Familie hatte keinen Grund, über die Japaner zu klagen, im Gegenteil: Ihre Eltern - und ihr ältester Bruder nebst Frau - lebten seit 1933 in Kiautschau, dem ehemals deutschen Schutzgebiet, das sich Japan 1914 unter den Nagel gerissen hatte, wo sie sicherer waren vor den Wirren des chinesischen Bürgerkriegs als in Peking. So etwas wie Dankbarkeit gegenüber den Japanern scheinen sie dafür allerdings nicht empfunden zu haben.) Dann der Empfang in Moskau: Hotel "Metropol", first class, und als Valuta-Tourist mit US-$ lebte man da wie die Made im Speck, inmitten all der Armut und des Elends der stalinistischen "Säuberungen" - aber davon bekam Han Su-yin nichts mit; für sie war das der ultimative Beweis, daß im Kommunismus alles wunderbar sei. (Das erinnert Dikigoros an seine Mutter und seine Schwester, die in den späten 70er oder frühen 80er Jahren mal für eine Woche in die DDR gereist waren, wo sie allenthalben äußerst zuvorkommend behandelt wurden, sobald sie sich mit ihren D-Märkern als Westdeutsche outeten. Wenn nicht - und sie liefen nicht herum wie Gräfin Neureich oder Baronesse Rotz-von-der-Backe, sondern "ganz normal" -, behandelte man sie wie alle anderen, nämlich wie den letzten Dreck, denn in der DDR war der Kunde nicht König, sondern lästiger Bittsteller, jedenfalls wenn er mit Alu-Chips ankam, wenngleich die meisten Ossis das inzwischen vergessen oder verdrängt zu haben scheinen. Aber das störte sie nicht weiter, denn dieser Irrtum ließ sich ja leicht aufklären, und dann waren die Entschuldigungen um so schleimiger und die Bücklinge umso tiefer. Kurzum, sie kamen mit dem Eindruck nach Hause, daß es in der DDR so übel doch gar nicht sei, es gebe dort offenbar alles in Hülle und Fülle, und sogar relativ billig - sie waren nur in Ostberlin, Dresden und an noch ein paar ausgewählten Touristenorten gewesen -; niemand müsse Hunger leiden, man sehe keine Bettler auf den Straßen, und im Hotel gab es sogar Farbfernsehen.)

Dann kam unsere gute Rosalie nach Berlin. 40 Minuten Aufenthalt am Bahnhof, wo man sie mit "Heil Hitler" begrüßte und ihr für einen simplen Brezel, der ihrer Meinung nach allenfalls 20 Cents hätte kosten dürfen, einen ganzen US-$ abknöpfte. Damit - wegen 80 Cent - waren Hitler und "Nazi-Deutschland" für sie erledigt. (Da half es auch nicht viel, daß ihre besten Freundinnen in Peking, denen sie so viel verdankte - Olga, Hilda und ein Fräulein Leuter, von der sie uns nicht mal den Vornamen mitteilt, nur daß sie nach ihrer Heirat Frau Bürger hieß - Auslandsdeutsche waren, ebenso wie ihre ersten Freunde - Fredi und Otto, mit denen sie angeblich Schluß machte, weil sie Nazis waren -, und daß sie zeitlebens besser Deutsch als Chinesisch sprach.) Aber es kam noch besser: In Brüssel angekommen, wollte ihr ein Taxifahrer für eine Fahrt um zwei Ecken - vom Bahnhof zum Hotel - 15 Francs abknöpfen, während der reguläre Preis, wie sie später Dank ihrem Großvater erfuhr, nur 2 Francs betrug. 13 Francs Differenz - das waren ca. 50 US-Cents - prägten ihr Bild von Belgien und den Belgiern, denn sie glaubte sich als Chinesin diskriminiert, nicht ahnend, daß Taxifahrer - nicht nur in Brüssel - jeden Neuankömmling erstmal zu betuppern versuchen. (Jawohl, es blieb beim Versuch, denn am Ende zahlte sie doch nur 2 Francs - aber der böse Wille zählte, und der schlechte Eindruck blieb.) Da half nichts mehr: Weder der Umstand, daß sie von der Universität Brüssel ein äußerst großzügiges Stipendium von 15.000 Francs im Jahr erhielt, nicht, daß ihr Großvater sie heiß und innig liebte, nicht, daß ihre Tante sich rührend um sie und ihre ausgefallenen Essenswünsche sorgte, und erst recht nicht, daß ihr Onkel, General Henri Denis - der spätere Verteidigungsminister - sie in die höchsten Kreise einführte, bis hinauf zu Premierminister Paul-Henri Spaak, der in seinem Hause ein und aus ging. Dies dürfte - was immer sie sonst noch vorschob - der wahre Grund gewesen sein, weshalb Han Su-yin keine Belgierin mehr sein wollte. Italien? Um das zu hassen, genügte ihr, daß ihre jüngere Schwester Tiza mit einem Italiener verlobt war, jene Tiza, auf die sie schrecklich eifersüchtig war, weil die von ihrer Mutter so geliebt wurde, die doch angeblich alle ihre anderen Kinder aus ganzem Herzem haßte - besonders ihre älteste Tochter Rosalie. Zu allem Überfluß war jener Italiener auch noch ein Fascist, und bekanntlich war das Italien Mussolinis ja schon seit 1930 durch die Achse Berlin-Rom-Tokyo mit Nazi-Deutschland und Tenno-Japan verbündet. (Das schreibt sie jedenfalls - offenbar nicht wissend, daß die Nazis in Deutschland erst 1933 an die Macht kamen, und daß Italien dem "Anti-kominternpakt" erst 1937 beitrat.)

Und dann kam die Reihe an England - die große Haß-Liebe ihres Lebens -, das sie erstmals im Herbst 1936 besuchte, auf einem Kurzurlaub bei (belgischen) Freunden. Nach der Regel des ersten Eindrucks mußte sie es hassen, denn der junge Konsular-Beamte in Brüssel, typischer Vertreter jener "Rasse, die noch heute die Dummheit und die Überheblichkeit kombiniert" wie keine andere, wollte ihr kein Visum erteilen (durch Beziehungen bekam sie es dann aber doch), auf der Überfahrt mit der Fähre nach Dover wurde sie seekrank, und das Wetter war so schlecht, daß sie ständig fror. Und dann diese Enttäuschung von London, der Hauptstadt des stolzen Empire, dessen Straßen sie mit Gold gepflastert glaubte: den Tower, den Buckingham-Palast und auch Schloß Windsor hatte sie sich viel größer und schöner vorgestellt, und vor allem die englischen "Übermenschen". Und was traf sie in der Realität an? "Eine enge, graue, kalte, kleine Insel mit schmutzigen Häusern... ängstliche Menschen, all die Armen, zahllose Bettler... ärmliches und schlechtes Essen..." Eine typisch asiatische Reaktion hätte eigentlich darin bestanden, die Engländer zu verachten; aber Han Su-yin schreibt nur, daß sie nunmehr ihre Furcht vor ihnen ablegte und begann, sich in sie zu verlieben. Warum? Weil sie sich erstmals irgendwie "gleich" fühlte und - weil sie die Sprache liebte (und die Gemälde in der National-Galerie). Hm... merkwürdige Eindrücke, die sich so gar nicht mit Dikigoros' eigenen decken. Aber als er zum ersten Mal nach England reiste, waren die sozialen Gegensätze dort nicht mehr so kraß, er wurde auch nicht seekrank, und Probleme mit dem Visum hatte er gar keine. Den Tower besichtigte er nicht (jedenfalls nicht von innen - die Schlange davor war ihm zu lang, er hätte Stunden lang anstehen müssen); die National-Galerie war gerade wegen Renovierung geschlossen; das Wetter war o.k., denn es war Sommer, und das Essen auch, denn er pflegte Chinesisch essen zu gehen. Nur die Sache mit der englischen Sprache... Man kann seine Muttersprache lieben - das ist ganz natürlich -, man kann das Italienische lieben - das eine objektiv schöne Sprache ist -, man kann auch ein subjektives Faible, einen gewissen Spleen für andere Sprachen entwickeln, weil man es als interesssant oder als Herausforderung empfindet, sie zu erlernen (das mag für uns Europäer auf einige asiatische Sprachen zutreffen, und für Asiatien auf einige europäische) - aber das Englische (oder umgekehrt das Chinesische) zu lieben? Dazu bedarf es schon einer gehörigen Portion Masochismus! So empfand es Dikigoros jedenfalls damals, als er als Schüler dort hingeschickt wurde, um seine Schulnote aufzubessern; aber auch heute, da er es perfekt beherrscht - jedenfalls seine amerikanische Variante -, käme ihm nie der Gedanke, es zu lieben. (Vielleicht liegt das daran, daß er nie eine Engländerin geliebt hat, die sind einfach nicht sein Typ. Aber er hat auch nie geglaubt, daß die Engländer Übermenschen seien oder daß die Straßen von London mit Gold gepflastert wären :-)

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[Mao Tse-tung - nach uns die Sintflut]

Tja, liebe Leser, was glaubt man nicht alles, und was liebt man nicht alles. Han Su-yin hat es einmal in geradezu blasfemischer Deutlichkeit ausgesprochen, 1969, in einem Artikel für "Le nouveau planète [Der neue Planet]": "Ich glaube an Christus und an Mao". So liest sich denn auch ihr politisches Hauptwerk, eine dümmliche Lobhudelei, pardon wohlwollende Biografie des "Großen Vorsitzenden" Máo Tsé-tūng (die neue Schreibweise "Mao Ze-dong" oder "Mao Zedong" ist nicht besser, denn das "Z" spricht sich - wie im Deutschen - als "ts", das "d" als nicht-aspiriertes "t" und das "ong" als "ung"), die in zwei Bänden von zusammen fast 1.200 Seiten erschien: Band I ("Sintflut am Morgen" [deutscher Titel: "Die Morgenflut"] von 1972 behandelt die Zeit bis 1949, Band II von 1975 die Zeit danach. Zu den Titeln muß Dikigoros einfach ein paar boshafte Worte verlieren - bereits die sind so unglaublich dumm, daß sie geradezu perfekt zum Inhalt passen. Die französische Version lautet "Der erste Tag der Welt" - das paßt gut, denn da schuf Gott bekanntlich das Chaos, und das schaffte ihr Gott Mao ja auch; mit dem deutschen Titel "Der Flug des Drachen" assoziiert Dikigoros "Der Fluch des Drachen" - und auch das stimmt ja, denn für China war Mao zweifellos ein Fluch. Diese Assoziierung mag auf den ersten Blick vordergründig scheinen; aber Dikigoros würde so etwas nie allein auf eine fremde Sprache, also hier das Deutsche, stützen, wenn sie sich nicht auch in der Ausgangssprache aufdrängte: Der Drache, Lóng, ist in China - anders als im Abendland - an sich positiv besetzt, nämlich als Symbol des guten Herrschers, und das hat Han Su-yin wohl auch gemeint. Vielleicht kannte sie, die Möchtegern-Kalligrafin, auch den Ausdruck "Longfei-fengwu [Drachenflug-Fönixtanz]" für eine besonders schöne, leichthändige Schrift (wie sie z.B. Dikigoros schreibt :-). Aber ihr scheint entgangen zu sein, daß es zu "fēi [fliegen, Flug]" ein Homonym gibt, das sich zwar anders schreibt, aber in der Aussprache nicht zu unterscheiden ist, und das "schlecht, falsch, übel" bedeutet. Es ist das Zeichen, mit dem die Chinesen auch "Folter" und "Zensur" schreiben (außerdem, da sie - wie fast alle Asiaten - ausgesprochene Rassisten sind, "Afrika" und "Filipinen"), und das paßt doch wirklich ausgezeichnet im wahrsten Sinne des Wortes - wenn Dikigoros einen zweideutig-biestigen Titel für eine kritische Mao-Biografie finden sollte, würde ihm kein besserer einfallen. Das englische Original aber schlägt dem Faß den Boden aus: "Wind im Turm". Angeblich zitiert Han Su-yin da ein altes chinesisches Sprichwort: "Wind im Turm kündet den Sturm". Mag ja sein, doch das kennt der englische Leser natürlich nicht - wohl aber das alte Sprichwort: "Wind in the tower - mice in the hall [Wind im Turm, Mäuse in der Halle (Es kreist der Berg und gebiert ein Mäuschen)]." Besser hätte man es nicht treffen können, denn China, wo es einst Berge von Reichtum gab, ist arm geworden wie das sprichwörtliche Kirchenmäuslein - arm an Geld, arm an Kultur, arm sogar an Kindern, kurzum an allem, was das Leben lebenswert macht. Nein, der Berg ist nicht mehr jung, um mit Han Su-yin zu sprechen, die wahrscheinlich ziemlich entsetzt wäre, wenn sie das lesen würde und erführe, zu welch boshaften Gedankenspielen ihre noch immer mangelhaften Chinesisch-Kenntnisse Dikigoros hier Anlaß geben.

Aber seien wir ruhig einmal cynisch und freuen uns: Was wäre denn, wenn Mao nicht gesiegt hätte und ganz China den Weg Taiwans gegangen wäre, das es trotz Jahrzehnte langen weltweiten Boykotts und erzwungener Verplemperung eines Großteils seines Volkseinkommens für Zwecke der militärischen Verteidigung gegen die Bedrohung vom Festland zu erklecklichem Wohlstand gebracht hat? Wir alle gingen längst am Bettelstab, und mit "wir" meint Dikigoros nicht nur die Deutschen, sondern alle Europäer, außerdem die Amerikaner und sogar die Japaner, die nie einen derartigen Aufschwung geschafft hätten, wenn China nicht Dank Mao ein Vierteljahrhundert darnieder gelegen hätte. Gewiß, Mao war rückblickend betrachtet nur ein Furz in der Weltgeschichte - aber was für einer: nach ihm hat Rotchina für absehbare Zeit ausgeschissen (mindestens bis zu einer neuen Sintflut, die das ganz rote Gesox hinweg spült :-), und das ist gut so - für uns Nicht-Chinesen. Danken wir also dem "großen Steuermann", daß er das chinesische Staatsschiff so gründlich vor die Wand gefahren hat, und enthalten uns kleinlicher Kritik wegen einiger Kinkerlitzchen, an denen doch bloß die Chinesen zu leiden haben! À propos Kritik: Nachdem sich irgend jemand beschwert hatte, was für widerwärtige Fratzen blutrünstiger Wilder auf dem ersten Band der französischen Ausgabe als Rotchinesen abgebildet waren, hat man die bei der Neuauflage durch ein nichtssagendes, aber politisch korrektes Landschaftsbild mit Wasserwelle ersetzt (immer noch besser als Landtagswahl mit Westerwelle :-), und auf dem zweiten Band der deutschen Ausgabe hat man irgendwann die widerwärtige Visage Maos durch einen "echten" chinesischen Drachen ersetzt.

Aber auch vom Ideologischen abgesehen sind das wieder zwei schwache Bücher: Sie resultieren aus mehreren Reisen, die Han Su-yin während eines Jahrzehnts, in dem Rot-China allen anderen "ausländischen" Besuchern verschlossen war, unternehmen durfte; sie folgte der Route des "Langen Marsches" von Juitschin in Kiangsi über Hunan, Kweitschou, Yünnan, Szetschuan und Kansu bis nach Yenan in Schansi. Wie sie selber betont, schrieb ihr niemand die Route vor, und man gab ihr keine "Dolmetscher" genannten Aufpasser mit wie anderen ausländischen Reisenden. (Wozu auch? Sie sprach ja Chinesisch!) Sie wäre also prädestiniert dafür gewesen, einen Knüller an Authentizität zu verfassen. Nichts dergleichen: heraus kam eine selbst für viele Linke nicht mehr nachvollziehbare Lobhudelei auf den "Großen Steuermann" Mao, für die sie ihren Hintern nicht aus Singapur hätte fort zu bewegen brauchen - was sie da wiederkäut, hätte sie sich auch dort von den roten Bonzen erzählen lassen können. Dikigoros wundert sich immer wieder, daß so langweilige, schlecht geschriebene Bücher Bestseller werden konnten. Er selber hat zwar nicht zu ihrer Auflagen-Steigerung beigetragen, sondern sie durchweg gebraucht für ein paar Mark auf Floh- und Trödel-Märkten erstanden oder für ein paar Francs bei einem alten jüdischen Antiquar und Deutschen-Hasser im Chinesenviertel von Paris. (Der gute Mann hält ihn für einen des Französischen nicht mächtigen Amerikaner und spricht deshalb in seiner Gegenwart ganz laut und ungeniert mit seinen Landsleuten über "les boches nazis", die man allesamt vergasen sollte - wer sonst sollte solche Bücher im Angebot haben? :-) Dennoch ist Han Su-yin die meist verkaufte chinesische Belletristik-Autorin außerhalb Rotchinas und die meist verkaufte Belletristik-Autorin über China weltweit - inzwischen hat sie selbst ihre einst erfolgreicheren Intim-Feinde aus dem Feld geschlagen: den französischen Diplomatensohn Lucien Bodard, die amerikanische Missionarstochter Pearl S. [Sydenstricker] Buck, den britischen Journalisten Anthony Grey und den australischen Drehbuchautor James Clavell (bei denen man ganz andere - ganz und gar nicht glänzende - Dinge über China lesen kann); und speziell in Deutschland ist kein Buch aus der Feder (oder dem Pinsel :-) eines Chinesen oder einer Chinesin oder eines oder einer anderen über China öfter neu aufgelegt worden als "Alle Herrlichkeit auf Erden". (Was Ihr oben abgebildet seht ist nur eine kleine Auswahl.)

Dabei ist und bleibt Han Su-yin nicht nur eine verbohrte Maoïstin und schamlose Lügnerin, sondern auch eine miserable Schriftstellerin. Von ihren eigenen Wahrnehmungen während der Reise auf den Spuren Maos erfährt der Leser so gut wie nichts, und wenn, dann nur aus verzerrter Perspektive. Ob Han Su-yin ihr eigenes Machwerk nach dessen Fertigstellung nicht wenigstens noch einmal gelesen hat, oder ob sie nur einen "blinden Fleck" in der Optik hat für eigene Widersprüche und Ungereimtheiten? Sie sah in China ein "nicht nur materiell, sondern auch geistig ruiniertes Land", eine "Woge der Zerstörung", "Hungersnöte, Verwüstungen und Aufstände" - und sie redete sich ein (oder ließ sich einreden) und versuchte ihren Lesern einzureden, das seien nicht etwa Folgen der maoistischen Diktatur, sondern des "Kolonialismus" der ausländischen Mächte. Dabei rutscht ihr an anderer Stelle aus der Feder, daß Schaoschan Tschung in Hunan, wo Mao geboren wurde, damals (also während der schlimmen "Kolonialzeit"!) noch ein "wohlhabender Landwirtschaftsbezirk" war. Ferner erfahren wir, daß zwischen Mao und seinem Vater ein für China ganz untypischer Vater-Sohn-Konflikt bestand (seinem Vater war wohl aufgefallen, daß Mao einen guten Kopf größer war als alle anderen Familien-Mitglieder, und daß er ihm auch sonst überhaupt nicht ähnlich sah), ebenso ein schwerer Konflikt zwischen Mao und seinem Schullehrer. (Kein Wunder, daß er während der "Kultur-Revolution" Chinas Jugend anstiftete, erst ihre Lehrer und Professoren, und schließlich die gesamte geistige Elite des Landes auszurotten!) Das erklärt natürlich fast alles - aber entschuldigt es auch alles? An Maos Händen klebte Blut, mehr als an den Händen seiner Vorgänger Hitler, Stalin, Churchill und Roosevelt zusammen. (Deren "Heldentaten" schätzt Dikigoros in aller Bescheidenheit auf ca. 60 Millionen Tote.) Aber es gibt ja auch mehr Chinesen als Deutsche, Russen, Engländer und Amerikaner zusammen - da kommt es auf 100 Millionen durch Mord, Hunger oder Zwangs-Abtreibungen Umgekommene kaum an, nicht wahr, Frau "Doktor"?! Während Dikigoros über die Bücher der meisten anderen hier vorgestellten Schreiberinnen nur lachen kann (oder zumindest lächeln - welcher Chauvi kann schon einer Frau wirklich böse sein?), treibt ihm die Lektüre mancher von "Han Su-yin" verbrochenen Passagen die Zornesröte ins Gesicht. Er kennt die - glaubhaften - Berichte der wenigen Menschen, die Maos Todeslager überlebt haben und aus Rotchina entkommen sind, auch die Berichte von Augenzeugen und "Insidern" der "Kultur-Revolution", Berichte, gegen die Solzhenitsyns "Archipel Gulag" die Beschreibung einer Vergnügungsreise ist (und das nicht nur, weil Solzhenitsyn ein herausragender Schriftsteller ist, unter dessen Feder selbst die schlimmsten Schilderungen dieser Art zum literarischen Genuß werden). Die Propaganda-Lügen der Han Su-yin zur Verharmlosung des rotchinesischen Terror-Regimes dürften im Bücherangebot der freien Welt einmalig sein.

Exkurs. Die beiden Staatsführer, die nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur in Asien Furore gemacht haben, sondern auch unter Kommunisten im Westen zu unerklärlicher Popularität gelangt sind - Máo in China und in Vietnam - mögen zwar in negativer Hinsicht viel gemeinsam gehabt haben, dennoch ist schwer einzusehen, wie sie im selben Atemzug genannt werden können. Es liegt Dikigoros fern, das nur nach der Zahl der Opfer zu beurteilen. [Es gab und gibt nun mal mehr Chinesen als Vietnamesen, außerdem müßte man da in Asien noch ganz andere Namen nennen: Unter Nehru und Jinnah sind 1947 binnen weniger Monate in Indien mehr Menschen umgekommen als im Indochina- und Vietnam-Krieg in Jahrzehnten zusammen, und bei Soekarnos und Soehartos Machtergreifungen 1948 und 1965 mehr Chinesen als 1927 beim Massaker von Schanghai (über das sich Han Su-yins Gesinnungs-Genosse, der Franzose André Malraux, in "La condition humaine" so echauffierte). Aber von denen wurde auch niemand im Westen populär, obwohl Nehru und Soekarno Kommunisten waren - jedenfalls nicht weniger als Máo und Hô.] Nein, es geht Dikigoros nicht um Quantität (es geht ihm nie um Zahlen, wofür er vor allem von Shoa-businessmen schon wiederholt kritisiert worden ist), sondern um die Qualität: Mao zerstörte binnen weniger Jahrzehnte die älteste noch bestehende Hochkultur der Erde, die einzige, die - anders als die ägyptische, die persische und die indische - noch nicht vom Islam auf- bzw. angefressen war, und dieser Verlust war unersetzlich. Vietnam wog nicht annähernd so schwer... Außerdem konnte man bei Hô wenigstens die Illusion haben, daß er gegen fremde Besatzer - erst die Franzosen, dann die Amerikaner - kämpfte, um sein Land und sein Volk zu "befreien". Aber gegen wen kämpfte Máo? Immer nur gegen das eigene Volk, gegen die eigene Kultur, denn vor den Japanern lief, pardon marschierte er weg und überließ das Kämpfen gegen die den Amerikanern und den "National-Chinesen". Und die Fehler und Verbrechen Hô's geschahen im Krieg, die Máos (der während des Krieges - auch während des Bürgerkrieges - gegenüber der chinesischen Bevölkerung den Wolf im Schafspelz spielte) aber mitten im "Frieden". Die Schäden, die Hô anrichtete, sind denn auch relativ schnell wieder behoben worden, d.h. Vietnam ist heute auf einem Stand, über den es wohl auch ohne die französische Kolonialherrschaft, ohne den Vietnamkrieg und ohne Hô nicht hinaus gekommen wäre. China aber hat unter Máo mehr gelitten als je unter irgend einer Fremd- oder Eigen-Herrschaft seiner Geschichte und hat sich davon - allen Propagandalügen zum Trotz - bis heute nicht richtig erholt. Exkurs Ende.

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[Han Suyin, Lhasa the Open City] [Han Suyin, Lhassa, étoile fleur] [Han Suyin, Chinas Sonne über Lhasa] [Sigrid Hunke, Allahs Sonne über Europa (1960)]

Ihr Meisterwerk an Perfidie aber lieferte Han Su-yin 1976 ab. Schon der Titel - "Lhasa, die offene Stadt. Eine Reise nach Tibet" - ist eine freche Lüge, denn als sie diese Reise unternahm (1975) war sie die einzige Ausländerin, der diese Stadt "offen" stand. (Die roten Machthaber wußten schon, was sie an ihr hatten - selbst der notorische Maoïst Alberto Moravia, der 1967 als erster westlicher Ausländer nach der "Kulturrevolution" wieder nach Rot-China reisen durfte, bekam kein Tibet-Permit.) Der französische Titel, "Sternenblume", ist ebenfalls eine Frechheit. Mit "Sternenblume" ist die so genannte "China-Aster" gemeint, die eigentlich gar keine Aster ist, sondern eine Chrysanthemen-Art. [Manche nennen sie auch "indische Chrysantheme", obwohl sie vor allem in Japan populär ist - inzwischen gibt es sie entgegen ihrem griechischen Namen nicht mehr nur mit gold-gelben Blüten, sondern man hat sie in so ziemlich allen möglichen und unmöglichen Farben gezüchtet, von schwarz-violett bis schnee-weiß.] Kennt Ihr Euch ein wenig in fernöstlicher Blumen-Symbolik aus, liebe Leser? Falls nicht: Die Pfingstrose (neuerdings auch "chinesische Peonie" genannt) steht für "Frühling" (das hatten wir ja schon :-), der Lotus für "Sommer", die China-Aster für "Herbst" und die Wildpflaume für "Winter". Darüber hinaus stehen sie auch für etwas Konkretes, die Herbstblume z.B. für Glück und Wohlstand, halt für die Zeit nach einer gerade eingebrachten guten Ernte. Ja, für China mag das eine "gute Ernte" gewesen sein, als es Tibet einkassiert hat, mit all seinen Bodenschätzen - ob es das freilich auch für die Tibeter war? Aber die Frage stellte sich Han Su-yin wohl nicht. (Was solls: Vielleicht paßt so ein verlogener Titel am besten zu einem so verlogenen Inhalt :-) Doch ihr deutscher Herausgeber setzte noch eins drauf und titelte - offenbar in Anlehnung an "Allahs Sonne über Europa", das 16 Jahre zuvor erschienene Hauptwerk von Sigrid Hunke, der älteren Schwester im Geiste von Annemarie Schimmel: "Chinas Sonne über Lhasa. Das neue Tibet unter Pekings Herrschaft". (Als ob die Tibeter nicht ihre eigene Sonne hätten - eine goldene sogar; dagegen führen die Rotchinesen bekanntlich nur ein paar Sterne im Wappen; und die Flagge von Taiwan hat zwar auch eine Sonne, aber die ist bloß silbern.)

Dieses kleine Buch von nicht einmal 140 Seiten (dessen deutsche Ausgabe im Scherz-Verlag erschienen ist - aber es war ein schlechter Scherz) hat wie kaum ein anderes dazu beigetragen, im Westen die Erkenntnis zu verzögern, daß die Rot-Chinesen in Tibet einen systematischen Völkermord betreiben. (Das unterscheidet es z.B. von "Revolte im Paradies". Ketut Tantri mag zwar auch eine Hexe gewesen sein; aber sie beschrieb und beschönigte den von ihr und ihren Mittätern verübten Völkermord nur im Nachhinein; ihr Machwerk trug nicht mehr dazu bei, daß er fortgesetzt wurde. Und Annemarie Schimmel mag den Mordaufruf gegen Rushdie unterstützt haben, aber er stammt nicht von ihr; und täte er das, so hätte ihn niemand befolgt, sondern sie nur ausgelacht - die Stimme einer Frau hat nämlich nach islamischem Rechtsverständnis in solchen Dingen überhaupt kein Gewicht, auch wenn Schimmel selber das nie begriffen zu haben scheint.) Denn es hat Bücher vom Markt verdrängt, die Tibet mit weit mehr Kenntnis und Wahrheitsliebe beschrieben haben, wie z.B. die Werke der großen Tibet-Forscherin Alexandra David-Neel, die das Land von 1898 bis 1925 regelmäßig bereiste und 1969 als Hundertjährige einsam und vergessen starb.

Nein, liebe Leser, Dikigoros ist nicht voreingenommen. Er teilt durchaus die Grundauffassung, daß man ein Land nicht in der Rückständigkeit verharren lassen sollte, bloß weil es der dünnen Oberschicht gut genug geht, während das einfache Volk in Hunger, Armut und Unwissenheit vor sich hin vegetiert. Wenn man Han Su-yin glauben darf, war es in Tibet vor dem Einmarsch der Rotchinesen so: Die Angehörigen des Priester-Adels lebten in goldenen Palästen und glänzten durch Nichtstun, die einfachen Mönche drehten Däumchen und Gebetsmühlen und belästigten das einfache Volk, das schuften und darben mußte, mit ihrer Bettelei. Industrien gab es nicht, die reichen Bodenschätze blieben ungenutzt, weil die tibetische Religion (oder, mit Han Su-yin zu sprechen, der tibetische Aberglaube) die Verletzung der Erd- und Luft-Götter durch Bergbau und Fabrikschlote verbot. Die Yak-Butter wurde zu Ehren der Götter verbrannt, das Volk litt an Hunger und Krankheiten, lief zerlumpt und dreckig einher, mußte zu Fuß gehen statt Auto zu fahren und Gebetsbücher auf Tibetisch statt die "Volkszeitung" auf Chinesisch lesen. Dann kamen den 6 Millionen Tibetern (diese Zahl ist eine Schätzung der tibetischen Exilregierung; nach chinesischer Zählung von 1982 waren es nur noch knapp 4 Millionen) 8 Millionen Chinesen zur brüderlichen Hilfe - darunter 300.000 bewaffnete Soldaten der "Volksbefreiungs-Armee" -, und schon wurde alles besser: "Plötzlich gewann das Wort Befreiung an Bedeutung und Gewicht." Straßen wurden gebaut (für Panzer und Lastwagen), Schulen (zur Indoktrination) und Krankenhäuser (vornehmlich für die chinesischen "Freunde", aber immerhin). Die Klöster wurden zerstört, die Mönche und Priester zur Feldarbeit aufs Land geschickt oder - wenn sie dabei nicht "von selber" starben - tot geschlagen. Aber dem einfachen Volk ging es nun sooo viel besser.

Glaubte Han Su-yin das wirklich? Konnte oder wollte sie nicht sehen, daß die Tibeter trotz der angeblichen medizinischen und hygienischen Fortschritte (alle Tibeter wurden zwangsweise geimpft) immer weniger wurden, und die Chinesen in Tibet immer mehr? Daß Bergbau und Industrialisierung nur die Umwelt zerstörten, aber zur Förderung des Wohlstands der Tibeter nicht das mindeste beitrugen? Daß die Butter nun zwar nicht mehr verbrannt wurde (statt dessen "opfert" man jetzt Spiritus, wie man ihn bei uns auf dem Grill verwendet - brennt auch, kostet weniger, ist immer in ausreichender Menge vorhanden und riecht auch nicht viel schlechter als ranzige Butter, sagen die Chinesen), aber dennoch verschwunden war (sie wurde nach China gebracht, auf den neuen Straßen, mit den neuen Lastwagen), und zwar so restlos, daß selbst für das tibetische National-Getränk, den "Butter-Tee", keine mehr übrig blieb? (Sie schreibt selber einmal, am Rande und gedankenlos, daß die Tibeter nun statt Butter Zucker in ihren Tee täten.) Daß der natürliche Schmutz im Hochland von Tibet vor dem eisigen Wind schützte, während die Billig-Seife aus Schanghai den Schutzfilm der Haut zerstörte? Daß die Volksgesundheit durch das Durchschleppen kränklicher Kinder nachhaltig geschwächt wurde (früher kamen nur die stärksten und gesündesten durch)? [Irgendwelche Gutmenschen haben Dikigoros ob dieses letzten Kritikpunktes "faschistoïde Menschenverachtung" u. ä. Unsinn vorgeworfen - meist verbunden mit dem salbungsvollen Hinweis, daß ja auch die Nazis im allgemeinen und Himmlers SS im besonderen nicht umsonst große Tibet-fans waren; aber das sind die Naïvlinge, die nicht begreifen wollen, daß man sich den kostspieligen Luxus, jeden Erbkranken ein Leben lang auf Kosten der Allgemeinheit mit durchzuziehen, wenn überhaupt, dann nur in den reichen Gesellschaften des Westens mit all ihrer medizinischen Versorgung und Rund-um-die-Uhr-Betreuung leisten kann, und einer weitgehend automatisierten Zivilisation, in der körperliche Fitness nicht mehr unabdingbar ist, nicht aber in einem armen Land, mit einer Umwelt wie auf dem "Dach der Welt", die so hart und unerbittlich ist wie sonst kaum irgendwo auf der Erde.] Und die wertvollen Investitionen, die Rotchina in Tibet getätigt haben will? (Sie wirft mit Zahlen und Statistiken nur so um sich, brav das nachplappernd, was ihr die roten Kader erzählt haben.) Seit der "Kultur-Revolution" Mitte der 60er Jahre, die Rot-China ruinierte, gab es keine Subventionen mehr. Wozu auch? Die Straßen für die Rote Armee sind gebaut, ebenso alles andere, was die Chinesen brauchen; nun sollen die Tibeter alles übrige gefälligst selber finanzieren. Und natürlich die Tibeterinnen, denn ein Hauptanliegen der "Befreiung" Tibets durch die Rot-Chinesen war ja die Befreiung der Frau, die Emanzipation. Da hatte es doch im alten Tibet eine Reihe völlig unsinniger religiöser Tabus gegeben: So durften Frauen keine Mauern errichten (sie würden sonst einstürzen), keine Gräben ausheben und kein Eisen und keine eisernen Geräte berühren. Statt dessen mußten sie gar schreckliche "Schwerarbeit" verrichte. So nennt Han Su-yin Melken, Butter schlagen, Tsampa (Gerstenbrei) kochen und Kinder bekommen - jawohl, auch den Geschlechtsverkehr an sich dürfe man schon "zur Schwerarbeit rechnen". Außerdem mußten sie ihr Privat-Vermögen selber verwalten. Das war freilich ein hartes Los.

Ein Glück, daß unter den Rot-Chinesen alles besser wurde: Zunächst einmal durften (und mußten) die Frauen nun auch Maurer, Kanalarbeiter und Kesselschmiede werden (die Resultate waren tatsächlich so, wie es die alten Tabu-Regeln vorausgesagt hatten - aber was soll's). Dafür brauchten sie nicht mehr zu melken und keine Butter mehr zu schlagen (eigene Yaks hatten sie ja nicht mehr, und Privat-Vermögen, das sie selber hätten verwalten müssen, ebenso wenig), und auch der Gerstenbrei wurde künftig in Volksküchen gekocht (er war dann zwar etwas dünner als früher, aber was soll's), und das Kinder bekommen wurde auch eingeschränkt durch die segensreiche Einführung der Verhütung (im Zweifel durch Sterilisation); und wenn doch welche kamen, dann wurde ihnen die mühsame Erziehungsarbeit von den staatlichen Kindergärten und Schulen abgenommen. (Han Su-yin selber hatte drei gescheiterte Ehen hinter sich und keine Kinder - ihre Tochter Mei-ling hatte sie "gekauft", also adoptiert, wobei es keinen Unterschied macht, ob es sich, wie Ding Jiandong meint, um die uneheliche Tochter ihres ersten Mannes mit einer anderen Frau handelte oder nicht -, warum sollte sie anderen Frauen gönnen, Kinder zu haben und in der Familie aufzuziehen?) Dort wurde auch alles besser: Die umständliche alte tibetische Schrift wurde abgeschafft, dafür wurde die "einfache" chinesische eingeführt. [Dikigoros kennt beide Schrift-Systeme; das rotchinesische besteht aus mindestens 1.800 Zeichen (und damit ist man noch gut bedient; ein gebildeter Taiwanese beherrscht 5-6.000 Zeichen, und zwar nicht in den vereinfachten Formen, welche die Kommunisten in den 50er Jahren auf dem Festland eingeführt haben, sondern den guten alten, die bis zu 50% mehr Striche enthalten :-) das tibetische aus 46 - die von der indischen Dewnagrī abstammen -, deren Erlernung im Vergleich zu den chinesischen Piktogrammen ein Kinderspiel ist.] Und überhaupt brauchte man - jedenfalls auf den Mittel- und Oberschulen - gar kein Tibetisch mehr zu lernen, denn alleinige Unterrichtssprache wurde Chinesisch - wie praktisch! Denn für den "wissenschaftlichen" Unterricht in höherer Mathematik, Biologie und Medizin war so eine primitive Sprache ja gar nicht geeignet - ganz im Gegensatz zum Chinesischen! (Der Wahrheit die Ehre: Die Kommunisten haben nicht nur die Tibeter von ihrer alten Kultur abgeschnitten, sondern auch sich selber; denn durch die erwähnte "Vereinfachung" ihrer Schrift haben sie erreicht, daß heute in Rot-China niemand mehr die alten Bücher aus der Zeit vor 1949 lesen könnte - selbst wenn ein paar Exemplare die "Kultur"-Revolution überlebt hätten oder von Taiwan ins Land geschmuggelt würden - Setzmaschinen, die über die alten Zeichen verfügen, mit denen man sie nachdrucken könnte, gibt es in Rotchina ohnehin nicht.)

Exkurs. Wie Dikigoros feststellen mußte, ist diese seine Seite zum Gegenstand z.T. erbitterter Diskussionen auf pro- und anti-chinesischen bzw. -tibetischen Seiten geworden, die ihm doch oft recht einseitig und allzu stark vereinfachend erscheinen. Da er daran nicht [mit]schuldig sein möchte, legt er an dieser Stelle Wert auf die Feststellung, daß er bewußt nicht von "den Chinesen" spricht, und daß er, wenn er von "dem Chinesischen" bzw. "der chinesischen Sprache" schreibt, durchaus im Hinterkopf hat, daß es die letztere ebenso wenig gibt wie die ersteren. Im Völkergefängnis, pardon in der "Volksrepublik China" leben nicht nur Fremdvölker wie die Mandschus, die Mongolen, die Tibeter, die Uiguren und andere, kleinere "Minzu", sondern auch die so genannten "Han-Chinesen" sind alles andere als ein Volk. "Han" ist ursprünglich der Name einer im Jahre 206 v.C. gegründeten Dynastie, die mehrere Völker unter ihrer Herrschaft "wieder"-vereinigt hat: neben den bereits erwähnten Hakka (auch "Keija" genannt) vor allem die Gan, die Kantonesen, die Min (die heute die Bevölkerungsmehrheit auf Taiwan stellen), die Wu (das tüchtige Volk in der "Sonderwirtschaftszone Shanghai") und die Hsiang, um nur die wichtigsten zu nennen. [So steht es jedenfalls heute in den chinesischen Geschichtsbüchern, die für die Zeit davor einige "weiße Flecke" aufweisen. Wahrscheinlicher ist, daß China schon unter der vorauf gegangenen Chin-Dynastie "vereinigt" wurde, und zwar durch massiven Zwang, d.h. nach außen durch Eroberung von sechs bis dahin selbständigen chinesischen "Teil"-Reichen, und nach innen durch Bürokratisierung, Zentralisierung und blanken Terror. Hinter vorgehaltener Hand wird behauptet, Maos historisches Vorbild sei Shih Huang-ti gewesen, der jene Chin-Dynastie gründete, der die alten Bücher (und die alten Gelehrten) verbrannte, der die alte Schrift "vereinfachte" und der die erste chinesische Mauer errichtete - von der sich die Archäologen so lange fragten, wie dieser einfache Lehmwall wohl einem ernsthaften Angriff etwa der Hunnen hätte stand halten sollen; heute wissen wir, daß sie - wie die Berliner Mauer - nicht dazu da war, um Angriffe des kapitalistischen Klassenfeindes abzuwehren, als vielmehr dazu, die eigenen Untertanen an der Republikflucht zu hindern. Aber diese Dynastie wird heute lieber tot geschwiegen - schließlich war es keine "han-chinesische".] Alle diese Völker sprechen noch heute völlig verschiedene Sprachen; und manche hassen einander - besonders wenn sie benachbart sind - wie die Pest. Das sind nicht etwa Unterschiede wie in Europa zwischen Deutschen und Holländern, Kastiliern und Katalanen, Serben und Kroaten, Tschechen und Slowaken oder Russen und Ukraïnern, sondern - sprachlich, kulturell und was die "nachbarlichen Beziehungen" anbelangt - wie zwischen Engländern und Iren, Franzosen und Deutschen, Deutschen und Polen, Ungarn und Rumänen oder Griechen und Türken. Und selbst die Putonghua ("Mandarin") sprechenden Völker, die Dikigoros sonst unter der Bezeichnung "Nord-Chinesen" zusammen faßt (weil sie nördlich des Yangtse-Flusses leben), sprechen mindestens vier verschiedene "Dialekte", die sich weit stärker voneinander unterscheiden als Französisch von Okzitanisch, Preußisch von Bayrisch, Fiorentinisch von Sizilianisch oder Portugiesisch von Spanisch. Exkurs Ende.

Das chinesische Schriftsystem eignet sich auch ganz hervorragend zur Wiedergabe der Werke von Mao Tse-tung, Charly M-urks, Friedrich En-gels und Wladímir Le-nin. Bis 1959 waren deren weltbewegenden Werke - horribile dictu - in Tibet nicht erhältlich, wie Han Su-yin tadelnd bemerkt; in den nächsten zehn Jahren wurden sie in sage und schreibe vier Millionen Exemplaren gedruckt. Dafür wurden die Lehrpläne an den Volksschulen gründlich entrümpelt. Während bis zur "Kultur-Revolution" so reaktionäre Dinge wie Lesen, Schreiben und Rechnen auf dem Stundenplan gestanden hatten, hieß es nun für die Kinder: "Hinaus in die Natur und kräftig auf den Feldern gearbeitet!" 1975 waren die 1966 von fortschrittlichen "Roten Garden" der "Kultur-Revolution" eingeworfenen Fensterscheiben der Schulgebäude noch nicht erneuert - die Rot-Chinesen waren nicht in der Lage, Fensterglas selber herzustellen, und für den Import fehlte es an Devisen; aber das machte gar nichts, wie Han Su-yin versichert: Lehrer und Schüler arbeiteten ohnehin viel lieber an der frischen Luft! (Besonders im Hochland von Tibet, wo Temperaturen unter dem Gefrierpunkt nicht selten sind!) Gegen Ende ihres Machwerks legt Han Su-yin einem "umgedrehten" Tibeter die retorische Frage in den Mund: "Wo wäre ich heute, wie stände es um uns, das tibetische Volk, wenn der Vorsitzende Mao und die Revolution nicht zu uns gekommen wären?" Die Frage ist müßig; aber eine andere Antwort kann man getrost geben: Dem einfachen Volk in Tibet geht es heute um keinen Deut besser als zur Zeit der Lamatokratie - nur mit dem Unterschied, daß es nun von den roten Bonzen der Chinesen ausgebeutet wird statt von den eigenen Faulenzern - die ihm im Gegenzug wenigstens die Illusion von Seelenheil verschafft hatten.

[Tibet und 'Qinghai' - rechts oben der Kuku-nor (Blauer See), nach 
dem die Chinesen die abgetrennte tibetische Provinz Amdo benannt haben]

Und Han Su-yin's "historische" Argumente? Auch die sind ziemlich hinfällig: Gewiß, Tibet war immer ein Land zwischen den großen Nachbar-Kulturen; aber es war stets mehr nach Indien orientiert als nach China, wenn man es frei wählen ließ. (Selbst der Name "Tibet" stammt aus dem Indischen [auf Hindī lautet er "Tibbat"] - die Tibeter selber sagen "Bodjul". Die Chinesen sagen mit entlarvender Offenheit "Hsi-tsang (Xīzàng) [westliches Rohstofflager]" - Hsī ist der Sonnenuntergang, der für Westen steht, und Tsàng der Vorratsraum, der auch im Wort Bodenschatz vorkommt. Das abgetrennte Ost-Tibet nennen sie übrigens "Tsching-hai (Qīnghăi)" - das ist eine wörtliche Übersetzung des mongolischen "Kuku-nor [Blauer See]" -, und Lhasa haben sie zu "Lāsà" verballhornt, was einen Ort bezeichnet, zu dem alles mit dem Wagen hin gekarrt werden muß.) Nicht umsonst führte die "Abstimmung mit den Füßen" so viele Tibeter nach Indien, als die Rote Armee einmarschiert war, obwohl deren Wirken doch sooo fortschrittlich und segensreich war - jedenfalls in den Augen der Han Su-yin. (Einige Tibeter führte ihre Flucht auch in die USA oder in die BRD; Dikigoros ist mit einem Exil-Tibeter zur Schule gegangen, einem stillen, in sich gekehrten - man könnte auch sagen: verschlossenen - jungen Mann, der zu niemandem groß Kontakt suchte, geschweige denn versucht hätte, jemanden zu beeinflussen; Dikigoros fühlt sich daher trotzdem unvoreingenommen.) Schaut ihn Euch an, den "Fortschritt", liebe Leser: So wie oben links sah Lhasa einmal aus, dann kamen die Chinesen und haben "umgebaut", und heute sieht es so aus wie unten - noch Fragen?

[Lhasa früher: altmodisch-häßlich, grau in grau] [Lhasa im Umbruch: das fleißige Werk der hilfreichen Chinesen]
[Lhasa heute: modern, klinisch sauber und in Farbe] [... und mit moderner Werbung]

Am Ende des 20. Jahrhunderts lag die tibetische Kultur in Tibet im Sterben - und die Halb-Tibeterin Han Su-yin, die wie keine andere im Westen zur Duldung ihrer Ermordung beigetragen hatte (selbst im Brockhaus - der ebenfalls im Sterben lag, ermordet von Wikipedia - wurde "Chinas Sonne über Lhasa" - neben "7 Jahre in Tibet", den Memoiren des Aufschnaiters, pardon, so hieß ja nur sein Mitreisender, des Aufschneiders Heini Harrer - als Referenz-Literatur zum Artikel "Tibet" genannt), lebte immer noch. Dabei hatte sie einmal gesagt, sie wollte jung sterben und würde spätestens mit 30 Selbstmord begehen - aber das war halt gelogen, wie so vieles andere in ihren Büchern. Was hatte sie einst gelobt? Dikigoros hat es Euch in den Zeilen sieben und acht der Überschrift zitiert - für alle, die des Französischen nicht mächtig sind: "Kugel aus Feuer, Kugel aus Eisen, werd' ich zur Verräterin, möge ich zur Hölle reisen!" Nur wann sie diese längst überfällige Reise endlich antreten wollte, sagte sie nicht. Sie betrachtete sich wohl auch nicht als Verräterin - sie schrieb mal, was sie als "Verrat" ansähe: wenn ein Chinese zum Neujahrsfest keine "Tang-yuan" (Kugeln aus, nein, nicht Feuer und Eisen, sondern süßem Reismehl und Sesam :-) äße! Denn "Verrat" kann per definitionem nur Verrat an den Han-Chinesen - und sei es nur an ihren Eß-Gewohnheiten - sein: Das Piktogramm "Hàn jiān" setzt sich zusammen aus den Zeichen für "Han-Chinesen", "Frau" und "übel". Verrat an anderen Völkern, z.B. den Tibetern, konnte es also gar nicht geben, folglich konnte Han Su-yin guten Gewissens weiter leben... Freilich tat sie das jetzt nicht mehr in Fernost - nicht mal mehr die Erben Maos wollten sich mit dieser inzwischen als peinlich empfundenen Maoistin einlassen. Nein, Han Su-yin verschlug es nach der Trennung von Vincent (der nach Bangalur zurück kehrte) nach Lausanne, in die französisch-sprachige Schweiz. (Dort sollte sie anno 2012 auch endlich zur Hölle fahren.) Die nimmt alle auf (so sie genügend Geld mitbringen), das spricht für sie - wenn auch nicht unbedingt für alle, die sie aufnimmt. Ihr französischer Verleger hat sich einmal verwundert gefragt, wie eine "Eurasierin" dermaßen ihr europäisches Erbe verleugnen und sich so ganz auf ihre vermeintlichen "chinesischen Wurzeln" beschränken konnte. (Aber er meinte damit vielleicht nur: "Warum schreibt diese halbe Belgierin nicht gefälligst in ihrer Muttersprache Französisch und erspart mir so die lästige Übersetzerin?) Dikigoros fragt sich in Kenntnis der wahren Umstände vielmehr, wie diese Nicht-Chinesin ihre halb-tibetischen Wurzeln derart verleugnen und verraten konnte. Vielleicht ist es das Fänomen der "150%igen", die beweisen wollen, daß sie, obwohl nur "Zugereiste", mindestens ebenso gute, wenn nicht noch bessere Deutsche, Engländer, Franzosen, Russen - oder eben Chinesen - sind als die "echten" Eingeborenen und gegen ihre eigenen Verwandten mit ebenso großer, wenn nicht noch größerer Brutalität vorzugehen bereit sind. (Aber das ist eine andere Geschichte.)

À propos Brutalität: Da war doch noch was, kurz vor dem "Großen Sprung" in der Reis-Schüssel, pardon, nach vorn, und der "Kultur"-Revolution? Richtig: die "100-Blumen"-Kampagne. Sagt Euch das noch etwas, liebe jüngere Leser? Falls nicht, hier eine kurze Gedächtnis-Auffrischung: An der Jahreswende 1956/57, als es mit China immer weiter bergab ging und das Volk zu murren begann, rief Mao in einem vorgeblichen Anfall von Liberalismus alle Genossen auf, freimütig ihre Kritik zu äußern, damit Abhilfe geschaffen werden könne. Die Abhilfe, die geschaffen wurde, sah dann so aus, daß die Kritiker als "Rechtsabweichler" und "Konter-Revolutionäre" entweder an die Wand gestellt wurden oder nach Jahre langen Gehirnwäschen von den staatlichen Folter-Institutionen als menschliche Wracks wieder ausgespuckt wurden - die so genannte "Kultur"-Revolution begann eigentlich schon damals, nicht erst 1966/67, als die "Roten Garden" sie durch ihre Dumme-Jungen-Streiche ad absurdum führten und damit nach zehn Jahren zum Erliegen brachten. (Wem das zu kurz war, der besorge sich das Buch "Als 100 Blumen blühen sollten" von Yue Dai-yun, die grauenvollen Erinnerungen einer Frau, die das ganze persönlich miterlebt hat - von innen, nicht von außen und durch die Brille der rotchinesischen Propaganda, wie Han Su-yin.) Was hat das ganze aber nun mit dem Buch "Die 100 Blumen" zu tun, das Han Su-yin 1978 veröffentlichte? Eigentlich gar nichts, liebe Leser, denn es handelt sich um ein Buch über Kunstgeschichte. Eigentlich ganz harmlos - aber... Nehmen wir mal an, ein Deutscher hätte 21 Jahre nach der "Reichskristallnacht" von 1938 einen Roman mit dem Titel "Kristallnacht" geschrieben, wohlgemerkt eine ganz harmlose Geschichte von einer langen Partynacht unter einem hübschen Kristall-Leuchter, oder über eine Nacht, in der jemand irgendwo ganz harmlose Kristalle entdeckt. Eigentlich ganz harmlos - aber... Dennoch würdet Ihr es wahrscheinlich als geschmacklos empfinden, oder? Seht Ihr, und Dikigoros empfindet es als geschmacklos (um nicht mehr zu sagen), wenn eine "Chinesin" 21 Jahre nach jener Kampagne - die immerhin Millionen Menschen das Leben gekostet hat, nicht bloß die Versicherungen ein paar zerdepperte Fensterscheiben in Kramläden und Gotteshäusern - ein Buch mit einem solchen Titel auf den Markt bringt - es ist übrigens bis heute nicht ins Deutsche übersetzt und auch in Frankreich nicht wieder aufgelegt worden.

Exkurs: Soweit ersichtlich, hat nur ein einziger Westler die kurze Zeit der "100 Blumen" zu einer Reise durch Rotchina genutzt (zwei Monate lang, mehr wurde ihm nicht bewilligt): Lucien Bodard, "der Sohn des Konsuls", der darüber zwei Jahre später ein bitterböses Buch veröffentlichte, dessen Titel Dikigoros mit "Chinas falsches Lächeln" übersetzen würde, und in dem Sätze stehen wie: "Die Chinesen sind undurchdringlich. Man kann mitten unter ihnen leben, überall herum laufen oder reisen, es nützt auch nichts, ihre Sprache zu kennen, mehr als zuvor bleibt man ein Fremder. Anfangs versuchte ich, offen zu reden, Kontakte von Mensch zu Mensch zu finden. Aber ich mußte einsehen, daß die Chinesen mich überhaupt nicht verstanden. Man gebrauchte dieselben Worte, aber ihr Sinn ist bei ihnen ein grundsätzlich anderer als bei uns. Kein Westler hat einen wirklichen Kontakt mit den Chinesen." (Natürlich stapelt Bodard da tief; er schaffte es - mit Hilfe seiner Sprachkenntnisse, denn die ihn begleitenden Dolmetscher hätten es ihm schwerlich korrekt übersetzt - auch die Meinung mutiger Dissidenten einzuholen - etwa in Ost-Turkestan - und die fanatischer Kommunisten, denen Mao noch nicht maoïstisch genug war, und die in der "100-Blumen"-Kampagne von Anfang an einen "Irrtum" sahen, der korrigiert werden müsse.) Oder: "Früher zögerte das Regime bei dem Wort 'Gehirnwäsche'. Heute sprechen sie es stolz aus: 'Warum waschen sich die Leute nicht das Gehirn, wie sie ihre Zähne putzen? Jeden Tag muß man sich von schlechten Gedanken befreien!' Ganz China ist eine Gehirnklinik." Oder, als er die Begegnung mit einem chinesischen "Priester" beschreibt, der in Wahrheit ein kommunistischer Funktionär und Spitzel ist (aber das kennt Ihr ja auch, liebe Leser aus der Ex-DDR: Vorgestern "Jurist", gestern "Kirchenmann" und Stasi-IM, heute Verkehrsminister, und morgen unbescholtener Demokrat im Ruhestand, Ha Lun-ke, pardon Stolpe ist überall :-) "Es ist nichts so schwierig aufzudecken wie die kommunistische Lüge; sie tritt immer als Wahrheit auf, als rote Wahrheit." Was sagt jener rote Kirchenbonze scheinheilig: "Gott der Herr hat unsere Gebete erhört, er hat unsere Mühe gesegnet, stärker als je zuvor wächst das christliche Samenkorn in der chinesischen Erde..." Nun, wie es weiter gegangen ist, hat Dikigoros ja schon angedeutet; und er würde das hier nicht so ausführlich zitieren, wenn nicht nach seiner Überzeugung auch Han Su-yin 1938 einer solchen, typisch chinesischen - also gar nicht typisch kommunistischen! - Gehirnwäsche unterzogen worden wäre und wenn sie nicht über die Verlogenheit ihrer Erziehung an einer christlichen Klosterschule in Peking und - in einem Moment der Schwäche (in "Sommer ohne Vögel") - sogar einmal kurz über jenes falsche chinesische Lächeln geklagt hätte; dabei ist das gar nicht "typisch chinesisch", sondern typisch für die mongolide Rasse - in Korea, Indochina, Thailand, ja selbst in Japan ist es auch verbreitet, wenngleich vielleicht nicht in gleichem Maße wie in Rotchina - Bodard erklärt es aus dem inderwertigkeits-Komplex der Rotchinesen, den sie hinter einer noch perfekteren Maske der Heuchelei verstecken müssen; und da mag etwas dran sein, denn in den chinesischen Gemeinden Amerikas ist es zwar auch anzutreffen, aber weniger stark ausgeprägt, und das kann nicht an Umwelteinflüssen liegen, denn die Chinesen bleiben auch dort meist unter sich. Exkurs Ende.

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Nach allem, was Dikigoros bisher über Han Su-yin geschrieben hat, werdet Ihr doch sicher ein eindeutiges Urteil über sie fällen: eine 150%ige Möchtegern-Chinesin, die jegliche Brücken zum Westen längst gründlich hinter sich abgebrochen hatte - ein klarer Fall (wie immer man ihn bewerten mag). So sprach es jedenfalls aus all ihren autobiografischen Schriften; und auch ihre Biografien von Mao Tse-tung (und später von Tschou En-lai) können diesen Eindruck ja nur bestätigen - oder? Pardon, liebe Leser, aber Dikigoros hat Euch bisher ein paar Kleinigkeiten vorenthalten, die sie selber seit Jahrzehnten zu verheimlichen sucht, die er noch auf keiner anderen Webseite über sie gefunden hat, und die in ihm den Verdacht erregen, daß wir es hier mit einer "getürkten" (oder muß man sagen "chinesierten"? :-) Lebensgeschichte zu tun haben, wie sie nicht im Buche steht. In Wahrheit ist "Han Su-yin" nämlich, allen anders lautenden Lippenbekenntnissen zum Trotz, nie ganz von ihren westlichen Wurzeln los gekommen. Was meint Dikigoros? Etwa, daß sie zweimal einen "Westler" geheiratet hat? Ach was - von dem einen hat sie sich doch scheiden lassen, und der andere war immerhin zur Hälfte ein Asiate, wenngleich "nur" ein Inder. Nein, er meint zwei Bücher, die sie rückblickend am liebsten nie geschrieben hätte, und die sie folgerichtig auch aus allen ihren Bibliografien hat verschwinden lassen, nämlich zwei Biografien aus den Jahren 1965 und 1975, die nur in französischer Sprache erschienen sind, über zwei Franzosen, über zwei Verräter (oder wollen wir es vornehmer ausdrücken - denn beide haben heute einen guten Ruf - und "Renegaten" sagen?), über zwei Priester, über zwei Schriftsteller. Als Franzosen würdet Ihr sie beide kennen, liebe Leser; als Nicht-Franzosen "kennt" Ihr sie wahrscheinlich, wenn überhaupt, dann nur als Verfasser eines bekannten Romans bzw. als Bettelpriester von Paris.

Der erstere stammte - wie Eugen Grindel alias Paul Éluard - aus Französisch-Flandern und war Zeit seines Lebens hin- und her gerissen zwischen zwei Karrieren: Geistlicher und Berufsoffizier. Nein, kein Soldat, der nach vielen blutigen Schlachten die Nase so voll hat vom Krieg, daß er ins Kloster geht, sondern jemand, der erst Geistlicher ist, dann in den Krieg zieht, dann wieder Geistlicher wird, dann wieder in den Krieg zieht usw. noch ein paar Mal - natürlich jeweils bei einer anderen Feldpostnummer, mal bei den Jesuiten, mal bei den Benediktinern... Irgendwann hatte er so viel auf dem Kerbholz, daß er aus Frankreich abhauen mußte - mal in die Niederlande, mal nach England, mal nach Deutschland - wenn jemand mit Recht von sich sagen konnte: "Manches Jahr bin ich gewandert", dann war er es. Aber da er immer wieder krumme Dinger drehte, kam er nie zur Ruhe, sondern mußte von einem Exil ins andere fliehen - man nannte ihn den "Exil-Prévost" (eigentlich hieß er Antonius). Zwischendurch versuchte er sich als [Reise-]Schriftsteller. Er schrieb und schrieb und schrieb... Einmal, auf der Durchreise von einem Exil ins andere, gelang ihm in Den Haag der große Wurf, gewissermaßen das "viel glänzende Ding": Die Geschichte des Chevalier Desgrieux und der Manon Lescaut. Es war ein autobiografischer Roman - "Ritter von Grieux" war er selber, und "Manon Lescaut" hieß richtig "Lenki Eckhardt" und war, na sagen wir mal, eine "Dame" von zweifelhaftem Lebenswandel, etwa so wie es Han Su-yin in Hongkong war. Das Buch machte Skandal, wurde natürlich verboten, aber dennoch (oder gerade deshalb :-) zum Bestseller; und da man schon damals mit Geld alles kaufen konnte, erkaufte sich Prévost eine Amnestie und kehrte nach Frankreich zurück, wo er seinen Lebensabend mit Bücherschreiben verbrachte - aber obwohl viele ebenso gut oder besser waren als "Manon Lescaut", erreichte keines je wieder den Erfolg. Wie kann eine angeblich überhaupt nicht mehr an Frankreich/Belgien/Europa interessierte "Chinesin", kurz bevor sie nach Tibet reist, um ihr übelstes Propagandawerk für Rotchina zu verfassen - das, wie wir gesehen haben, nur 140 Seiten umfaßt -, eine immerhin 635 Seiten dicke Biografie eines im Westen fast vergessenen Franzosen veröffentlichen? Ja, sein Lebensweg ähnelte dem ihren in so manchem Punkt, und vielleicht fand sie sich auch in der "Manon Lescaut" wieder - aber wie paßt das zu einer "Chinesin"?

Wie mag sie überhaupt darauf gekommen sein? Da können wir nur Mutmaßungen anstellen. Dikigoros glaubt, daß der Schlüssel - im Sinne von Zugang - zu "Manon Lescaut" für jemanden aus der Generation Han Su-yins nicht beim Prévost liegt, sondern bei Giacomo Puccini, dem zu seinen Lebzeiten erfolgreichsten Opernkomponisten der Welt. Von ihm stammt nicht nur "Manon Lescaut" (dessen Libretto mit dem Roman aus dem 18. Jahrhundert kaum noch etwas zu tun hat), sondern auch die Oper über eine unglückliche Liebe zwischen einer Asiatin und einem Westler ("Madame Butterfly") und die Oper über die Grausamkeit chinesischer Frauen ("Turandot"), und vergessen wir nicht, daß Han Su-yins Mutter am Brüsseler Konservatorium Musik studiert hatte (mit den Fächern Piano und Gesang). Wer sich für diese Opern interessierte, für den lag es nahe, sich auch mit den Romanvorlagen zu beschäftigen - und eine davon war halt der Bestseller des Abbé Prévost. Und wenn man einen Roman mit offenbar autobiografischen Zügen liest, liegt es wiederum nahe, sich etwas genauer mit dem Leben des Verfassers zu beschäftigen - und das dürfte Han Su-yin getan haben. Der "fernöstliche" Aufhänger mag ihr als Ausrede dienen - aber eigentlich geht es ja in "Madame Butterfly" um Japan, und in "Turandot" um ein Märchen, das zwar in China spielt, aber genauso gut anderswo spielen könnte. Es muß also doch Puccinis Musik gewesen sein, die Han Su-yin irgendwie faszinierte - und das läßt tief blicken, denn der von einer bestimmten Kultur geprägte Mensch ist nicht nur, was er ißt, sondern auch was er hört, also Sprache und - vielleicht noch mehr - Musik. (Das macht übrigens den großen Unterschied zwischen den vermeintlich so nahe verwandten Japanern und Chinesen aus: Japaner lieben europäische klassische Musik und deutsche Volkslieder - längst sind sie den Europäern auf diesem Gebiet weit überlegen -, Chinesen dagegen lieben chinesische Musik, und die klingt - jedenfalls in Dikigoros' Ohren - mit Verlaub scheußlich.) Halten wir also fest, daß Han Su-yin mit hoher Wahrscheinlichkeit westliche Musik bevorzugte, mit Sicherheit Prévost las und jedenfalls eine umfangreiche Biografie über ihn schrieb, von der sie später nichts mehr wissen wollte.

Die zweite "westliche" Biografie, die Han-Suyin zehn Jahre früher geschrieben hatte (Dikigoros erlaubt sich, hier einmal die Chronologie zu durchbrechen), betrifft den berühmt-berüchtigten Henri Grouès alias "Abbé Pierre". Eigentlich stimmt nicht mal dieses Alias - sein richtiger Name als Mönch war "Bruder Philippe", und er ist ein so krummer Hund, daß Dikigoros ihn sogar in seine Seiten über "komische Heilige" aufgenommen hat, zusammen mit Bertrand Russell, Albert Schweitzer, Martin Niemöller, Mutter Teresa und noch ein paar anderen schrägen Vögeln. Als Frankreich und England 1939 dem Deutschen Reich den Krieg erklärten, wurde er Soldat, zunächst ganz regulär als Unteroffizier der Reserve - dagegen ist nichts zu sagen; wenn das Vaterland in Not ist, kann man die Soutane schon mal mit dem Waffenrock vertauschen. Nach der Kapitulation Frankreichs half er zwei flüchtigen Juden mit falschen Papieren aus, damit sie in die Schweiz abhauen konnten - auch das kann man nachvollziehen; wenn es um Menschenleben geht, wiegt Urkundenfälschung nicht gar so schwer. [Das ist jedenfalls Dikigoros' ganz private Meinung. Als Anwalt muß er Euch allerdings darauf hinweisen, daß nach allen Rechtsordnungen der Welt die Beihilfe zur Flucht - "Strafvereitelung" nennt sich das offiziell - strafbar ist (in der BRD z.B. gem. § 258 StGB mit Gefängnis bis zu 5 Jahren, und in Tateinheit mit Urkundenfälschung kann es auch etwas mehr werden - schon der Versuch ist strafbar). Hütet Euch also, Euch erwischen zu lassen, wenn Ihr mal einem flüchtigen Juden helfen solltet.] Aber dann ging er in die "Résistance" - und da ist Schluß mit lustig. Partisanen sind die schlimmsten Verbrecher, die es gibt, denn sie riskieren nicht nur ihr eigenes Leben (das, wenn sie erwischt werden, völlig zu Recht verwirkt ist), sondern auch das unschuldiger Zivilisten, die ihretwegen Repressalien ausgesetzt sind, bis hin zur Erschießung. Der "Sinn" des Krieges ist, daß beim Töten gewisse Spielregeln eingehalten werden, u.a. die Schonung der Zivilbevölkerung, zum einen während der Kampfhandlungen, zum anderen, nachdem die offiziell kämpfende Truppe kapituliert hat. Nun mag das auf Seiten der Alliierten niemandem so recht eingeleuchtet haben, denn Amerikaner, Franzosen und Russen pflegten die Zivilbevölkerung ihrer Kriegsgegner ja weder während der Kampfhandlungen noch danach zu schonen, sondern behandelten sie als Freiwild (erst recht nach der Kapitulation, wenn keine Repressalien mehr drohten), aber umgekehrt hielten sich die Deutschen - als einzige - immer peinlichst genau an die Kriegsregeln (übrigens entgegen dem, was in der Wehrmachts-Verleumdungs-Ausstellung des Drogen-Milliardärs Reemtsma behauptet wurde, auch in der Sowjet-Union - deutsche Soldaten, die plünderten oder auch nur versuchten, russische Frauen zu vergewaltigen, wurden standrechtlich erschossen), d.h. wenn ein Gegner geschlagen war und kapituliert hatte, dann schickten sie die Kriegsgefangenen binnen kurzer Zeit nach Hause und verhielten sich gegenüber der Zivilbevölkerung 100%ig korrekt. Wenn allerdings Terror-Anschläge verbrecherischer Partisanen verübt wurden, schritten auch sie zu Repressalien, zwar immer ganz im Einklang mit dem Kriegs- und Völkerrecht (während die US-Besatzungstruppen schon deutsche Kinder ermordeten, wenn nur das - von ihrer eigenen Verbrecher-Regierung in die Welt gesetzte - Gerücht von "Wehrwölfen" laut wurde), aber für die Betroffenen nicht weniger schmerzhaft. Und genau das provozierte die "Résistance".

Einer dieser Verbrecher, die auch nach der Kapitulation weiter kämpften, hieß Charles de Gaulle und stammte - wie der Abbé Prévost - aus Französisch-Flandern. Zu ihm floh der "Abbé Pierre", wie er sich jetzt nannte; und als die Amerikaner Paris "befreiten" (tatsächlich wurde es von den Deutschen nicht verteidigt, sondern zur "offenen Stadt" erklärt, um zu verhindern, daß die Alliierten es mitsamt seinen Kulturgütern ebenso zerstörten wie die deutschen und italienischen Städte zuvor), zog Charly der Gallier in ihrem Kielwasser hinterher, den sauberen "Abbé Pierre" im Schlepptau, und erklärte sich höchstpersönlich zum "Befreier". Dann kam der Indochinakrieg (Charly war vorübergehend abgetreten), und der "Abbé Pierre" entdeckte sein Herz für die armen, unterdrückten Vietnamesen - ganz im Sinne Han Su-yins -, und später, eines kalten Winters, auch sein Herz für die armen, frierenden Clochards unter den Brücken von Paris. Das machte ihn berühmt, denn er kannte den Spruch: "Tu Gutes und rede darüber" und trat immer entsprechend medienwirksam auf. In den Augen vieler manipulierter Naïvlinge wurde er bald so etwas wie ein Heiliger, Glorienschein inclusive, und bis heute belegt er bei Umfragen, wer "der größte Franzose aller Zeiten" o.ä. sei, immer wieder vordere Plätze. (Aber das tut auch Michel Colucci alias "Coluche", der französische Daniel Kübelböck :-) Auch Han Su-yin muß von ihm beeindruckt gewesen sein, als sie seine Biografie schrieb - aber das wäre ja aus ihrer "chinesischen" Sicht noch zu verstehen gewesen und kein Grund, ihn nachträglich zu verleugnen, oder? Gewiß, liebe Leser, gewiß. Der Ärger ist nur, daß der "Abbé Pierre", wie immer auf Publicity bedacht, nach der Verleihung des Friedens-Nobelpreises an den Dalai Lama auch sein Herz für Tibet entdeckt hat, und nun auf die braven Rotchinesen ebenso schimpft wie zuvor auf die bösen Kapitalisten und Imperialisten. Und mit so einem Nestbeschmutzer will Han Su-yin natürlich nichts [mehr] zu tun, und am liebsten auch nie zu tun gehabt haben.

[Der Abbé Pierre und der Dalai Lama]

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Als Dikigoros klein war, lernte er ein Lied mit dem dümmlichen Text: "Mein Hut, der hat drei Ecken, drei Ecken hat mein Hut..." Allerdings gab es auch einen alternativen Text: "Ein Hund kam in die Küche...", der damit endete, daß der Koch den Löffel nahm und den Hund entzwei schlug. Aber ob Ihr es glauben wollt oder nicht, liebe Leser, es geht noch dümmlicher: 1981 veröffentlichte Han Su-yin ein Buch mit dem Titel "Mein Haus, das hat zwei Türen". Thema: Wie schön es ist, zwischen zwei Kulturen zu leben. Wer ihre voraus gegangenen sechs autobiografischen Werke gelesen hat, kann da nur mit den Ohren schlackern oder - wie sie selber sagen würde - "medusiert" sein. Wenn jemand Dikigoros fragte, was er denn gegen Multi-kulti, Mischehen und Mischlingskinder einzuwenden habe, dann würde er antworten: "Lies die Bücher der Han Su-yin." Es ist wirklich grauenhaft, wie ein Mensch innerlich so zerrissen und unglücklich sein kann; und wenn es einen Punkt gibt, an dem selbst Dikigoros ein gewisses Mitleid für sie empfindet, dann ist es dieser - und wenn es so etwas wie eine Entschuldigung für ihr Verhalten gibt, dann vielleicht diese Zerrissenheit und der Versuch, sie durch eine "150%ige" Seitenwahl zu überwinden. Dikigoros hat gut reden, denn zwar hat auch sein Hut drei Ecken, aber seine Großeltern haben ihm die Seitenwahl schon abgenommen; sie hatten allerdings auch keine Rassen- oder echte Kulturschranken zu überwinden. Der Vater seiner Mutter fühlte sich immer als Deutscher, obwohl er in Ungarn geboren war. Als er spürte, daß die seit dem "Ausgleich" von 1867 immer stärker werdende Madjarisierung es ihm auf die Dauer unmöglich machen würde, in Ofen - oder, wie es inzwischen hieß, in Budapest - sein Deutschtum zu bewahren, ging er. Und seine Frau, wiewohl reinblütige Ungarin aus einer Familie glühender madjarischer Patrioten, ging mit und wurde zu einer 150%igen Deutsch-Österreicherin. Im Elternhaus von Dikigoros' Mutter wurde nie ein Wort Ungarisch gesprochen; deshalb hatte sie auch nie daran gezweifelt, daß sie als geborene Ostmärkerin Deutsche war, und den "Anschluß" von 1938 mit Jubel begrüßt (wie alle guten Deutsch-Österreicher); nie - auch nicht nach der Niederlage, pardon Befreiung von 1945 - wäre ihr der Gedanke gekommen, für den künstlichen Staat, den die alliierten Besatzer "Republik Österreich" nannten, so wie sie den anderen deutschen Teilstaat "Deutsche Demokratische Republik" nannten, zu optieren und sich dessen Staatsbürgerschaft andrehen zu lassen. [Sie staunte nicht schlecht, als anläßlich der 50-Jahrfeier zum "Staatsvertrag" von 1955 die "Historikerin" Brigitte Hamann im Fernsehen erzählte, daß "wir Österreicher" spätestens seit Stalingrad, aus der alt-hergebrachten Abwehrhaltung gegenüber den "Piefkes" und der neu-gewonnenen gegenüber den "Nazi-Deutschen" - deren erstes Opfer die Alpenrepublik bekanntlich war (das steht ebenso sicher fest wie die Tatsache, daß Hitler Preuße war, aus Braunau an der Spree, und Han Su-yin Han-Chinesin :-) -, "endgültig" ein "eigenes Nationalgefühl" entwickelt hätten. Nun, die studierte Germanistin und Journalistin mußte es ja wissen, schließlich hatte sie zwei populär-"wissenschaftliche" Biografien über Kaiserin Elisabeth ("Sisi" alias "Sissi") und deren Sohn, Kronprinz Rudolph, geschrieben. Was kann es da für eine Rolle spielen, daß Frau Hamann eine waschechte Ruhrpötterin aus Essen war - das liegt doch beinahe in "Österreich" - und zur Zeit der Schlacht von Stalingrad gerade mal zwei Lenze zählte? Sie war eben frühreif!]

Dikigoros' Tante - die ältere Schwester seiner Mutter - entschied sich anders: Nachdem ihr erster Mann - ein Deutsch-Österreicher - gefallen war, heiratete sie einen Kroaten und ging mit ihm nach "Jugoslawien"; und ihre vier Kinder versuchte sie zu 150%igen "Jugoslawen" zu erziehen. Bei der ältesten Tochter klappte das nicht - sie fühlte sich als Deutsch-Österreicherin und ging nach Wien, wo sie bis heute lebt. Die anderen drei wurden gute "Jugoslawen"; und das blieben sie auch, als die Ehe nach knapp zehn Jahren zerbrach und Dikigoros' Tante nach "Österreich" zurück kehrte. Erst Jahrzehnte später sollten sie schlagartig erfahren, daß sie gar keine "Jugoslawen" waren, sondern - ja, was eigentlich? Nun mußten sie wählen, und siehe da: Sie waren 150%ige Kroaten, und als solche stellten sie plötzlich fest, daß auch ihre Ehepartner gar keine "Jugoslawen" waren, sondern Serb[inn]en, mithin Todfeinde, und ihre gemeinsamen Kinder Bastarde. (Dikigoros will das hier nicht vertiefen; wer sich für diese bittere Geschichte interessiert, kann sie an anderer Stelle nachlesen.)

[Oma jung] [Oma mit Hühnern] [Opa jung]

Dikigoros' Großmutter väterlicherseits war die einzige, bei der sich die Frage nach irgendwelchen Zweifeln nie stellte: Solange sie zurück denken konnte, hatte ihre Familie in Nordfriesland gelebt; und sie selber kam ihr Lebtag nicht über Hamburg im Südwesten, Flensburg im Norden und Travemünde im Osten hinaus - ohne das Gefühl zu haben, dabei irgendetwas zu versäumen. Aber auch Dikigoros' Großvater väterlicherseits hatte keine ernsthaften Zweifel, wohin er gehörte: Als die preußische Provinz Posen 1919 an Polen fiel, votierte er für das geschlagene Deutschland, packte seinen Krempel und ging nach Hamburg. [Das "ging" wollt Ihr bitte wörtlich nehmen, liebe Leser - das Geld hätte nicht mal für eine Bahnfahrt 3. Klasse gereicht, er konnte sich gerade mal eine große Wanderkarte für 1,90 Mark leisten, die sich heute in Dikigoros' Besitz befindet. Also wanderte er von Bromberg nach Gnesen, nach Posen, nach Grätz, nach Bentschen an der Obra - dort hatten die Friedensdiktatoren von Versailles die neue Grenze zwischen Deutschland und Polen gezogen. (Was, von jenem Fluß habt Ihr noch nie gehört? Das solltet Ihr aber, denn an ihm bzw. seinen Nebenflüssen und -sümpfen liegen so interessante Orte wie Kaisertreu, Rothenburg und Posemuckel :-) Dann nach Schwiebus, nach Frankfurt an der Oder - dort verläuft nach einem neuerlichen Friedensdiktat die Grenze zwischen der BRD und Polen -, nach Fürstenwalde, nach Berlin, nach Kyritz, nach Perleberg, nach Ludwigslust und schließlich nach Wilhelmsburg, das später in Hamburg aufging.] Er wurde kein 150%iger Deutscher - das hatte er gar nicht nötig, denn er war sich seines Deutschtums 100%ig sicher, und diese 100% genügten ihm voll und ganz. (Er hätte seinem Sohn auch Polnisch beigebracht, wenn seine Frau da nicht ihr Veto eingelegt hätte - ebenso, als er später seinem Enkel polnische Volkslieder vorsingen wollte.) Seine Brüder dagegen blieben in Posen, wurden 150%ige Polen und Berufssoldaten. Keiner von ihnen hat den Zweiten Weltkrieg überlebt, man weiß nicht einmal, wo, wann und gegen wen sie gefallen sind. (Dikigoros' Vater erfuhr erst 1939, als irgendeine Behörde einen Arier-Nachweis von ihm verlangte, daß er Verwandte in Polen hatte und daß er sich dort auch seine Geburtsurkunden und die seiner Vorfahren väterlicherseits zusammen suchen mußte. Aber dann brach der Krieg aus, da konnte er einfach überall "durch Feindeinwirkung vernichtet" schreiben und sich das von einem ihm wohlgesonnenen Stempelschwinger beglaubigen lassen; während des Krieges gab es wichtigeres, da hatte niemand ein besonderes Interesse daran, das nachzuprüfen, und nach 1945 interessierte es eh niemanden mehr.)

Das ist Multi-kulti, liebe Leser, und glaubt bloß nicht, daß sich daran bis heute etwas geändert hätte. Welches Loyalitätsgefühl soll denn z.B. ein Türke mit "Doppelpaß" gegenüber der BRD haben? Wem schuldet er etwas, wenn nicht seiner Familie, seinem (türkischen) Volk und seiner (islamischen) Glaubensgemeinschaft? Was ist die BRD? Ein Staat? Was ist das? Ein System, das sich ein paar korrupte Partei-Politiker unter den Nagel gerissen haben, die ihm ein Stück Papier ausgestellt haben, das ihn als Bestandteil dieses Systems ausweist? Ja, und dafür schuldet er ihnen alle vier Jahre ein Kreuzchen bei rot oder grün, und das sollen sie haben - mehr aber auch nicht. Insbesondere haben die kein wie auch immer geartetes "Recht" ihm dabei reinzureden, wie er seine Frau und seine Kinder, vor allem seine Töchter erzieht, nämlich zu anständigen Menschen, d.h. guten Muslimen. Schon gar kein "moralisches" Recht - diese Hurenböcke regen sich über von den Eltern vermittelte Ehen und bis zu vier Ehefrauen auf; aber sie selber sind durch die Bank mehrmals geschieden und wieder verheiratet, und nebenbei haben sie noch Dutzende Maitressen; und sie bezeichnen die private Hinrichtung von Ehebrecherinnen und unehelichen Müttern zur Wahrung der Familienehre als "Mord"; aber sie selber treiben die meisten ihrer Kinder ab - selbst die ehelichen -, d.h. sie genügen nicht mal den laxen moralischen Maßstäben ihrer eigenen, christlichen Religion, und so etwas wie Ehre haben sie auch nicht - sie wissen gar nicht, was das ist... (Wollt Ihr diese Einstellung, diese Gedankengänge ändern, liebe Leser, etwa durch "Integrations"-Bemühungen? Hütet Euch - Ihr werdet damit nur erreichen, daß die solchermaßen Belästigten und Bedrängten eine eindeutige Wahl treffen - und die kann nur lauten: 150%ige Türken und Islamisten zu werden! Und das gilt nicht nur für türkische, sondern auch für andere ausländische "Mitbürger", insbesondere für alle anständigen Muslime.) Nein, eine Partei kann man wählen, seine Staatsangehörigkeit neuerdings auch; seine Kultur- und Volkszugehörigkeit aber - die sich aus Vaterland und Muttersprache zusammen setzt - kann man sich ebenso wenig aussuchen wie Vater und Mutter. Was aber, wenn Vaterland und Muttersprache auseinander fallen? (Diese Frage wollt Ihr bitte im Doppelsinn auffassen, liebe Leser - denkt an "Jugo-Slawien" und "Serbo-Kroatisch"!) Dann muß man halt doch wählen, und diese Wahl ist ein schmerzliches Entweder-oder, das hat Han Su-yin vor 1981 noch in jedem ihrer autobiografischen Romane ausdrücklich betont. Beides zugleich geht nicht, und Halbe-halbe auch nicht. Sie selber hatte ihre Wahl spätestens getroffen, als sie aus England nach China zurück kehrte: Sie wollte keine halbe Lolo und keine halbe Belgierin sein, sondern eine 150%ige Han-Chinesin - aber diese Wahl der dritten Ecke wäre in einer Zeit, da allenthalben "Multi-kulti" propagiert wurde, nicht mehr so gut angekommen; daher ihr verlogener Versuch, sich als glückliche Mischung zweier Rassen, Völker und Kulturen darzustellen, denen sie in Wahrheit nicht nur nicht zur Hälfte, sondern gar nicht angehörte, nämlich der chinesischen und der - englischen! Jawohl, im bürgerlichen Leben führt sie noch immer den Nachnamen ihres zweiten Ehemannes, dazu den falschen Dr.-Grad aus London und ihren dritten - ebenfalls englisch klingenden - Vornamen: "Dr. Elisabeth Comber". Wahrscheinlich lebte Han Su-yin längst in einer selbst konstruierten Traumwelt, denn zur gleichen Zeit schrieb sie an dem zweibändigen Roman "Bis der Morgen kommt", einer fiktiven Lebensgeschichte, wie sie sie so oder ähnlich vielleicht ihrer Mutter und ihrem Vater - oder sich selber und Tang Pao-huang gewünscht hätte: Reiche Ausländerin heiratet braven Rot-Chinesen und wird, allen Widerständen zum Trotz, mit ihm und ihrem gemeinsamen Sohn in der Volksrepublik glücklich. Dikigoros verzichtet darauf, diese Traumtänzerei weiter zu kommentieren; erfreut Euch an den hübschen Umschlagsbildchen und achtet vor allem auf das einzige ehrliche - das auf der spanischsprachigen Ausgabe.

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Nun gibt es Leute, die meinen, Han Su-yin sei irgendwann an ihrer unverbesserlichen Liebe zu Rot-China irre geworden, und Ausdruck dieses Irrewerdens sei das Buch "Die Ernte des Fönix" von 1982 gewesen, das die Jahre 1966 bis 1979 zum Thema hat. Aber das stimmt so nicht. Gewiß gibt sich Han Su-yin nun entsetzt über die Entwicklungen in der Volksrepublik - selbst sie kann nicht mehr die Augen verschließen vor dem politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und moralischen Niedergang, genauer gesagt vor dem dauerhaften Verharren auf dem knapp über Null liegenden Niveau, das so weit von alledem entfernt ist, was sie 1967 für das Jahr 2001 prognostiziert hatte. "Der große Traum" ist ausgeträumt - aber Han Su-yin ist sich dennoch treu geblieben. (Wie schrieb sie mal in "... und der Regen mein Trank": "Die Guten geben nie auf!" :-) So wie sie früher die Schuld an den katastrofalen Zuständen in der Volksrepublik als Spätfolgen des Kolonialismus abgetan hatte, die Dank Mao sicher bald überwunden würden, so liest man - freilich wieder nur zwischen den Zeilen - nun die unausgesprochene Überzeugung, daß die Misere sich nur deshalb perpetuiert habe, weil Rotchina - das doch 1949 wie der sprichwörtliche Fönix aus der Asche gestiegen war (sie glaubt es immer noch! :-) - vom rechten, pardon linken Pfad der maoïstischen Tugend abgewichen ist, die braven Nachfolger des "großen Steuermanns" als "Viererbande" verunglimpft, abgesägt und das Steuer um 180 Grad herum zu reißen versucht hat, in Richtung ausgerechnet auf den bösen Kapitalismus der westlichen Teufel. Wie Dikigoros die deutsche Übersetzung betiteln würde? Mit Beethoven: "Die Wut über den verlorenen Groschen". "Máo" bedeutet wörtlich "Groschen"; und wer ein bißchen Chinesisch kann, weiß auch, wo er ihn ausweislich seines restlichen Namens verloren haben muß: im östlichen Sumpf; und bei Han Su-yin ist eben nicht der Groschen schuld, sondern der Sumpf. Aber für seinen Namen kann er ja nichts - oder? Diese Frage ist weniger retorisch gemeint als Ihr denken möget, liebe westliche Leser, auch wenn Mao den zweiten und dritten Bestandteil seines Namen mit den Piktogrammen für "See, Teich, Sumpf" und "Osten" schrieb. Aber jemandem, der Schule, Lehrer und überhaupt jede Art von Bildung dermaßen haßte, daß er alle Intellektuellen ermorden oder "umerziehen" ließ, die gesamte klassische Literatur verbrennen ließ (bis auf ein paar Zitate von Kun Fu-tse ["Konfuzius"], die er für seine eigenen ausgab und in die "Mao-Bibel" übernahm), der auch die Schriftzeichen derart "vereinfachte", daß niemand mehr die alte Literatur - wenn er sich denn doch eine Abschrift besorgte - im Original lesen könnte, ist durchaus zuzutrauen, daß er seinen Namen schlicht und einfach gefälscht hat. Ihr glaubt das nicht, liebe Leser? Was meint Ihr denn, woher die Bezeichnung "großer Steuermann" kommt? Das ist kein Beiname, sondern eine bewußte Falschlesung von "Mao Tse-tung". Nein, nicht etwa nur das Ausschöpfen einer Vieldeutigkeit, wie sie im Chinesischen so häufig vorkommt. Das ginge auch - man könnte "Tsé-tūng" z.B. ebenso gut und völlig korrekt als "Wintermütze" lesen. (Schließlich hatte jeder Strohhut auf dem Kopf einer Vogelscheuche mehr Grips als Mao im Kopf :-) Man kann zur Not auch "Máo" als "groß" lesen (obwohl es eher "dick, fett, grob" bedeutet als "groß" im Sinne von "bedeutend" - aber fett genug war er ja :-), und es gibt auch ein Wort "Tsé", das Boot bedeutet - allerdings schreibt es sich anders als das "Tsé" in Mao Tse-tung, es klingt nur gleich. Aber um aus dem "Osten" einen "Steuerer" zu machen - und damit aus dem "Groschen im östlichen Sumpf" einen "großen [Boots-]Steuermann", muß man dem "tūng" Gewalt antun und es "tŭng" aussprechen. In westlichen Ohren scheint das kein großer Unterschied zu sein; aber in chinesischen ist das, als würde man im Deutschen "Gustaf" mit "Gasthof" verwechseln, d.h. es kann vorkommen, aber eben nur bei besonders dummen Menschen. Für wie dumm wollte also Mao seine Untertanen verkaufen? Für ziemlich dumm. Und Han Su-yin ihre westlichen Leser? Dto.

Das wars also mit den autobiografischen Romanen der Han Su-yin. Der Verlag Triad Grafton unternahm es, fünf von ihnen in den Jahren 1985 und 1986 noch einmal neu aufzulegen - durchnumeriert von 1-5, als ob es keine anderen gäbe, das Cover im tristen Einheitslook, und der Inhalt stark gekürzt um die peinlichsten Passagen - "Der verkrüppelte Baum" schrumpfte z.B. von 634 auf 447 Seiten. (Aber fleißige Leser von Dikigoros kennen das ja schon von seinen Webseiten über Kasimir Edschmid, A.E. Johann und andere Schriftsteller :-) Verdienstvoll ist immerhin, daß alle Titel auch auf Chinesisch abgedruckt werden. (Dikigoros hat sie im Text verkleinert; wer Schwierigkeiten hat, sie zu entziffern, kann sie mit der rechtem Maustaste herunter laden - die Original-Bilder sind um ca. 20% größer.) Aber warum bespricht Dikigoros diese Titel nicht schon bei den Erstauflagen, sondern erst jetzt? Weil sie nicht echt sind, liebe Leser, sondern eine nachträgliche Interpretation aus der Rückschau. Es ist ja nicht so, daß es nicht schon auf einigen früheren Auflagen chinesische Titel gegeben hätte - einige, die nicht neu aufgelegt wurden, hat Dikigoros ja auch schon besprochen. Aber schaut Euch z.B. mal das Cover der Ullstein-Taschenbuch-Ausgabe von "Zwischen zwei Sonnen" an. Die beiden ersten Piktogramme dort lauten "dào dào". Das ist ein Zitat aus dem achten Kapitel und bedeutet wörtlich "Der Weg des Kriegsbanners". Siglinde Summerer hat das einfallslos übersetzt mit: "Pao hatte den 'militärischen Weg' (...) zu einem guten Posten unter Tai Lee eingeschlagen." Das war natürlich kritisch gemeint, denn das Buch war ja eine Abrechnung mit Pao; und der Weg des Krieges war - jedenfalls wenn ihn ein Anhänger Tschiang Kai-sheks beschritt - ein schlechter. Aber dazu gleich mehr.
(...)
Der "verkrüppelte Baum" ist danach ein Bonsei-Baum, dessen Wurzeln man auf ein chinesisches Zoll - ca. 3 cm - gekürzt hat, also das Resultat (nun, nach der Rechtschreibreform, mit nur noch einem Speer geschrieben :-) einer bewußten Züchtung. Aber das trifft es eigentlich nicht; denn wie wir oben gesehen haben, handelt es sich bei der Verkrüppelung tatsächlich um eine - natürlich ungewollte - Lücke im Stammbaum der väterlichen Familie.
(...)
Nun können wir also auch die Frage beantworten, welche Art von Blume in "A Mortal Flower" gemeint war: eine ganz normale, sterbliche: das erste Piktogramm wird für gewöhnlich in der Verbindung mit dem für "Mensch" gebraucht, um einen "ganz normalen Menschen" zu bezeichnen - hier hat Han Su-yin "Mensch" halt durch "Blume" ersetzt, womit sie sich selber meint.
(...)
Damit kommen wir zum neuen Titel von "Ein Sommer ohne Vögel" alias "Zwischen zwei Sonnen". Die gekürzte Fassung ist nicht mehr so sehr eine Abrechnung mit Pao als eine Selbstbeweihräucherung der Autorin. Der Titel lautet ungefähr "Stummes Bangen" (wobei das erste Piktogramm nicht nur "still", "stumm" bedeutet, sondern auch "einsam", und das zweite auch "Kummer", "Besorgnis"); aber wenn man ein wenig Chinesisch kann (und Dikigoros kann wirklich nur ein wenig), dann erkennt man sofort, daß mehr dahinter steckt. Wenn man diese "Besorgnis" nämlich mit dem Piktogramm für "Land, Staat" (kuó bzw. guó) verknüpft, dann wird sie zum "Patriotismus" - Han Su-yin war doch schon immer eine gute chinesische Patriotin, und genau das will sie damit unterschwellig zum Ausdruck bringen!(...)
Der Fönix, Fèng (das dritte Piktogramm von oben) gilt in China ein ganz besonderer Vogel - oder galt es jedenfalls vor der kommunistischen Machtergreifung:
Kaiserinnenkrone,
Brautschmuck,
Ananas(...)

* * * * *

Nun hat sich Han Su-yin aber nicht allein auf die verzerrte Darstellung der jüngsten chinesischen Geschichte beschränkt, sondern sie hat - 1985 - auch ein bemerkenswertes Buch geschrieben, das sie zwar offiziell als "Roman" bezeichnet; im Nachwort nimmt sie jedoch in Anspruch, einige Familienchroniken und sonstige Quellen ausgewertet zu haben und dabei so nahe an der "Wahrheit" geblieben zu sein wie möglich. Dikigoros will sich mal - auch wenns ihm schwer fällt - jeglicher Spekulationen darüber enthalten, was Han Su-yin bewogen haben mag, ausgerechnet die Geschichte einer Familie, genauer gesagt, einer Schwester und eines Bruders aus Europa als Thema zu wählen, die nach China gehen, dort scheitern, danach eine Weile im - damals weitgehend indisch geprägten - Königreich Ayutthya zu verweilen und schließlich nach Lausanne zurück zu kehren, und wo die Parallelen zu ihrer eigenen Lebensgeschichte liegen mögen. Aber auf einige Geschichts-Klitterungen will er eingehen, weil es eine interessante Geschichte ist, von der die meisten Westler kaum etwas wissen. China war also im 18. Jahrhundert sooo tolerant, insbesondere in religiöser Hinsicht? Merkwürdig nur, daß die Hui in Ost-Turkistan von dieser "Toleranz" der Chinesen heute so gar nichts zu berichten wissen, und daß das Christentum in China so gut wie ausgerottet ist. Aber lassen wir das und konzentrieren uns auf Chinas Verbündeten, Ayutthya, die "Zauber"- und Hauptstadt des gleichnamigen Reiches, in der Bea, die "Zaubererin" (oder müßte man "Druidin" sagen, da sie ja keltischer Abstammung sein soll?) und ihr Bruder Colin, der Automatenbastler, so lange glücklich sind, bis die bösen Barmesen sie anno 1767 erobern, niederbrennen und die Bevölkerung entweder töten oder in die Sklaverei verschleppen. Ja ja, die bösen, kulturlosen Barbaren aus Barmā, die die hohe Kultur der edlen Thais mutwillig vernichtet haben usw. usw. Muß Dikigoros Euch eigens darauf hinweisen, liebe Leser, oder kommt Ihr selber drauf, daß die Barmesen eng mit den Tibetern verwandt sind (sie sprechen auch eine ähnliche Sprache), und die Thais (oder, wie die Inder und Barmesen sie nannten, die Syāmesen) mit den [Süd-]Chinesen? Einst zogen ihre Stämme plündernd und mordend den Mekong, den Menam und den Salwen hinunter und zerstörten dabei so großartige hinduïstische Kulturen wie die der Cham und der Khmer im heutigen Kambodyā - wobei sie auch einige Bruchstücke jener Kulturen aufnahmen, etwa so, wie die muslimischen Araber Bruchstücke der von ihnen zerstörten Kulturen Persiens, Mesopotamiens und Ägyptens aufnahmen und eine Zeit lang von ihnen schmarotzten, wodurch beim unbedarften Betrachter in Europa leicht der Eindruck entstand, daß sie deren "Träger" oder gar "Schöpfer" gewesen seien. So war es auch mit den Thai: Ayutthya war ein indische Schöpfung, die sie an sich rissen, und wo sie die Beute ihrer Raubzüge stapelten - deshalb war es die "goldene" Stadt. Die Barmesen waren das einzige Nachbarvolk, das sich diese Behandlung nicht gefallen ließ - im Gegenteil: Es schlug seine neuen Nachbarn aufs Haupt, wann und wo immer es ging, und es tat gut daran.

Aber auf all das will Dikigoros eigentlich gar nicht hinaus, sondern auf den großen Treppenwitz - den größten der Geschichte des 18. Jahrhunderts. Ihr habt sicher schon mal vom "7-jährigen Krieg" gehört oder gelesen, liebe Leser, und so Ihr Deutsche seid, mögt Ihr glauben, daß der um Schlesien geführt wurde, zwischen Preußens Friedrich II und seinen Verbündeten einerseits und Österreichs Maria Theresia und ihren Verbündeten andererseits. Das mag aus der deutschen Froschperspektive tatsächlich so ausgesehen haben; aber in Wahrheit war Friedrich "der Große" bloß ein großer Narr, der sich von England als Festlandsdegen gegen Frankreich mißbrauchen ließ, gegen das die Briten in einem ersten echten Weltkrieg standen: Der Kampf ging um Nordamerika und Indien, die beiden wertvollsten Kolonien, die überhaupt denkbar waren, und England gewann sie beide. Da kann man als Schreibtisch-Historiker schon mal übersehen, daß gleichzeitig (und noch etwas über das Ende jenes "Indian War" hinaus, der nicht 1763 endete, wie in manchen Geschichtsbüchern steht, sondern erst 1765 im Frieden von Allāhābād - mit dem England Bengalen und damit den wichtigsten Teil Indiens gewann -, also richtig "9-jähriger Krieg" heißen müßte) in Hinterindien ein erbitterter Kampf um Ayutthya im Gange war, den auch Han Su-yin in ihrem "Roman" beschreibt. Nur um Ayuttya? Nein, eben nicht - und damit kommen wir endlich zum Treppenwitz. Die Barmesen eroberten nämlich auch "Tanah sering", jenen schmalen Streifen Land an der Westseite der Halbinsel Malakka, der bis dahin den Syāmesen gehört hatte, und im Gegensatz zu Ayuttya und dem Rest Thailands haben sie den nie wieder geräumt. Dikigoros behauptet: Hätten die Barmesen dieses Zipfelchen Land damals nicht erobert, gäbe es heute kein Thailand, jedenfalls nicht in seiner jetzigen Form. Verblüfft, liebe Leser? Dann fragt Euch doch bitte mal, was aus all den Zankäpfeln des 9-jährigen Weltkriegs Mitte des 18. Jahrhunderts geworden ist: Preußen gibt es nicht mehr; Schlesien haben sich die Polen gekrallt und es für alle Zeiten ruiniert. Die USA machten sich ein Dutzend Jahre nach Kriegsende von England unabhängig; und Kanada ist zwar theoretisch noch englisch; aber der Teil, um den der Krieg damals geführt wurde, hat heute eine französische Bevölkerungsmehrheit, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich auch Québec unabhängig macht. Indien haben die Engländer 1947 aufgeben müssen; mit anderen Worten: Es war alles vergeblich... Alles? Nein, Thailand ist frei! Warum? Nun, als die europäischen Kolonialmächte im 19. Jahrhundert Hinterindien, Indochina und Südostasien unter sich aufteilten, nahmen sie natürlich nur solche Gebiete, die etwas wert waren, z.B. weil sie Bodenschätze enthielten. Die Engländer besetzten die Küste des Indischen Ozeans bis hinunter zu jenem Zipfel, wo es Zinn und Wolfram gab - sie verballhornten "Tanah sering" zu "Tenasserim" -, und als die Barmesen sich zur Wehr setzten, kassierten die Briten gleich das ganze Land ein. Hätte jener Zipfel noch zu Syām gehört, hätten die Briten ihn auch besetzt, und hätten sich die Syāmesen dagegen zur Wehr gesetzt... So aber blieb Thailand, wie schon der Name sagt, bis heute frei. Das, liebe Leser, sind die Windungen der Geschichte, die von den wenigsten gesehen werden - schon gar nicht von einer Han Su-yin!

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[S'il ne reste que l'amour] [Wind in My Slave] [Eldest Son - Tschou En-lai]

Es folgen einige Bücher Han Su-yins, auf deren Besprechung Dikigoros an dieser Stelle verzichtet: "A Share of Loving" alias "Nur durch die Kraft der Liebe" alias "S'il ne reste que l'amour" von 1988 - die rührselige Geschichte ihres an Tbc erkrankten Stiefsohnes Peter, geschrieben zu einem Zeitpunkt, als sie dessen Vater Vincent schon seit über zehn Jahren verlassen hatte -, "Wind in My Sleeve" von 1992 (auf dessen Cover man die Khamba-Gesichtszüge der Han Su-yin besonders schön sehen kann - wenn man denn ein Auge dafür hat) und "Ältester Sohn" - eine Tschou En-lai-Biografie von 1994, in der sie jene zwielichtige Figur (über die sie sich schon in "Ein Sommer ohne Vögel" sehr positiv, allerdings nur kurz geäußert hatte) als eine Art Aristokraten darstellt, der die schlimmsten Exzesse der "Kultur"-Revolution gedämpft habe. (Für alle, die es interessiert, gibt es hier eine ausgezeichnete Rezension.) Dikigoros beschränkt sich hier auf den Hinweis, daß es übelste Geschichts-Klitterung ist, ausgerechnet Tschou als den wagemutigenBremser Maos hinzustellen; diese Rolle kam vielmehr dem braven (im ursprünglichen, italienischen Sinne des Wortes) Töng Hsiao-ping zu, der dafür Kopf und Kragen riskierte - auch später bei der Entmachtung der "Viererbande" -; aber auch seine Leistung wäre undenkbar gewesen ohne seine Stiefmutter, eine alte Dame, die selbst auf dem Höhepunkt der "Kulturrevolution" den Mut hatte, den Lügen über Tschiang Kai-shek und die Kuomintang-Zeit, wie sie Han Su-yin verbreitet hat, zu widersprechen - und das mitten in Rotchina! Daß auch Töng nicht in ein paar Jahren den Karren aus dem Dreck ziehen konnte, in den ihn Jahrzehnte lange maoïstische Mißwirtschaft gefahren hatten, steht auf einem anderen Blatt, ebenso, daß seine Politik Unzufriedenheit hervor rief, die im Juni 1989 in "Protesten" von ca. 500.000 "Studenten" in Peking gipfelten, die er mit bewaffnetem Militär nieder schlagen mußte (unbewaffnetes Militär, das die "Demonstrationen" friedlich auflösen wollte, war zuvor mit Steinen und Schlagstöcken vertrieben worden) - er hatte wohl nicht vergessen, daß auch die "Kulturrevolution" im Juni 1966 mit derartigen "Studenten-Protesten" begonnen hatte (übrigens auf demselben Platz und mit fast den gleichen Parolen), und was daraus am Ende wurde. Dikigoros versteht sehr gut, daß Töng das Militär einsetzte am Tiān Ān-mén ("Tor des Himmlischen Friedens" - in die westlichen Zeitungsarchive und Geschichtsbücher ist der Platz davor ungenau als "Platz des Himmlischen Friedens" eingegangen; richtig wäre "Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens" - aber das war einigen Reportern wohl zu umständlich). Das einzige, wofür er weniger Verständnis hat, ist, daß nur ein paar hundert "Studenten" erschossen wurden - Dikigoros hätte tabula rasa gemacht, nicht die Panzertruppen, sondern die Luftwaffe eingesetzt und drei Nullen dran gehängt. Wer waren denn anno 1989 - wie 1966 - "die Studenten" in China? Doch nur die geistig minderwertigen Sprößlinge der alten kommunistischen Nomenklatura, die jeunesse dorée maoïste, die um ihre althergebrachten Privilegien fürchtete, und denen die "freiheitlichen" Reformen, nach denen sie schrien, nur bedeuteten, diese ihre Privilegien noch schamloser auf Kosten der Allgemeinheit ausnutzen zu können. Wenn man die mit einem Schlag ausradiert hätte, wären der maoïstischen Hydra viele Köpfe auf einmal abgeschlagen worden... Das einzige, was man Töng vorwerfen kann, ist also nicht, daß, er zu brutal, sondern daß er im Gegenteil viel zu milde mit jenem Pack umgegangen ist - aber das haben die dämlichen China-Keksperten im Westen nie begriffen, und deshalb wird Töng wohl nicht als großer Staatsmann in die Geschichtsbücher eingehen, wie er es verdient hätte, sondern als blutrünstiger Diktator. C'est la vie, Rosalie...

Exkurs. Es liegt Dikigoros fern, die alleinige Schuld an der Entwicklung Rot-Chinas Mao und Tschu zu geben, ebenso wenig wie er den Sowjet-Kommunismus allein auf Lenin und Stalin reduzieren würde, den National-Sozialismus auf Hitler und Goebbels oder den angelsächsischen Imperialiamus auf Churchill und Roosevelt - zu so etwas gehören immer mehr als zwei Leute an der Spitze. Deren Befehle mögen lauten wie sie wollen - sie können nur die Ziele vorgeben, über die Mittel, die zu ihrer Erreichung eingesetzt werden, entscheidet der Mittelbau (auch wenn er nur zufällig so heißt :-) und über die Art und Weise ihres Einsatzes der Unterbau eines Regimes. Dikigoros hat nie einen Hehl daraus gemacht, daß nach seiner Auffassung der edle Zweck auch die weniger edlen Mittel heiligt - aber nicht jede Art ihrer Anwendung. Konkrete Beispiele gefällig? Bitte sehr, bleiben wir der Einfachheit halber bei China: Sicher war es ein richtiges und wichtiges Ziel, das Land zu industrialisieren; und die Steigerung der Stahlproduktion war zweifellos ein geeignetes Mittel, um dieses Ziel zu erreichen. Aber es war nicht richtig, erst die alten Betriebe (und Produkte!) der Stahlindustrie zu zerstören und dann zu versuchen, jeden unqualifizierten Normalverbraucher mit selbst gebauten "Hochöfen" stümperhaft vor sich hinwursteln zu lassen, wie das beim "großen Sprung nach vorn" geschah. Sicher war es auch ein richtiges und wichtiges Ziel, das Bildungssystem zu reformieren; und ein geeignetes Mittel dazu war die Entrümpelung der Lehrpläne von allzu theoretischen Unterrichtsstoffen - die nur auf eine kleine Elite zugeschnitten waren - zugunsten einer Vermittlung des für eine moderne Landwirtschaft notwendigen praktischen Wissens bei der breiten Masse der Bevölkerung. (China war und ist schließlich noch immer ein Agrarland.) Aber es war nicht richtig, die ganze alte Lehrerschaft auf einen Schlag zum Teufel zu jagen und sie in als "landwirtschaftliche Betriebe" getarnte KZs zu stecken, wo viele von ihnen umkamen, um eine ganze Generation von Schülern ohne Unterricht (außer dem "Studium" der Mao-Bibel) verblöden zu lassen, wie das während der "Kulturrevolution" geschah. (Übrigens waren nicht nur Lehrer - und Professoren - betroffen, sondern Akademiker aller Fachrichtungen, ja "Intellektuelle" überhaupt.) Mao und sein "Unterbau" (nicht nur, aber besonders die "Roten Garden") zerstörten damit die Wirtschaft und das Bildungssystem Chinas auf Jahrzehnte hinaus. Aber etwas wurde zu seiner Zeit noch nicht zerstört: die chinesische (Groß-)Familie. Dabei hatte er ein weiteres wichtiges Ziel vor Augen, das ihm dazu durchaus als Vorwand hätte dienen können, nämlich die Beseitigung der Massenhungersnöte, für die es nur zwei Mittel gab: Die Steigerung der Lebensmittel-Produktion und/oder die Eindämmung des Bevölkerungs-Wachstums. Das erste Mittel schlug mit dem "großen Sprung nach vorn" fehl - in den drei Jahren nach jenem mißglückten Experiment verhungerten in China nach vorsichtigen Schätzungen 16 Millionen Menschen. Das zweite Mittel, das Mao danach einsetzte, war die "Zwei-Kind-Familie". Und die Methoden ihrer Durchsetzung? Wer mehr als zwei Kinder bekam, dem wurden staatliche Vergünstigungen gestrichen, etwa das Recht auf den kostenlosen Besuch von Kindergärten und Schulen. Das war vielleicht hart, aber vertretbar - das war jedenfalls kein Grund, Mao im Rückblick als Unmenschen anzusehen. Erst seine ach-so-menschlichen Nachfolger drehten die Schraube richtig an, indem sie die Politik der "Ein-Kind-Familie" einführten; das war schon an sich ein verfehltes Mittel, denn 1,0 Kinder pro Familie führen zwangsläufig zu einer auf den Kopf gestellten Alterspyramide, die nur in der Katastrofe enden kann (nur ein anderes Land der Welt weist eine ähnlich ungünstige Altersstruktur auf: Deutschland - und das ist bekanntlich für den Untergang nominiert); die Art und Weise seiner Anwendung aber war - und ist - geradezu kriminell: Zwangsabtreibungen, Zwangssterilisation, Verlust des Arbeitsplatzes, "Umerziehung"... Das sind die wahren Verbrechen der roten Machthaber - nicht die paar toten Krawallmacher vom Tian An-men-Platz. Damit ist es ihnen endlich gelungen, die chinesischen Familienstrukturen zu zerschlagen. (Sicher kein unerwünschter, sondern vielmehr - wie in allen kommunistischen Staaten - ein durchaus erwünschter "Neben"-Effekt.) Insofern sind Maos Nachfolger noch schlimmer als er selber war, weshalb es lächerlich ist, wenn ihnen einige Westler jetzt in den Hintern kriechen, weil sie sich ja so schön "demokratisiert" und "liberalisiert" hätten, oder was man sonst immer hört und liest - durchaus nicht nur aus der Feder der Han Su-yin. Und weil Dikigoros sich nicht von der mit Engelszungen vorgetragenen Schmuse-Propaganda der neuen Herren der Volksrepublik China einlullen läßt und das hier so offen schreibt, ist es nur folgerichtig, daß seine Webseiten in Rot-China gesperrt sind. Exkurs Ende.

[Fleur de soleil] [Fleur de soleil]

1988 versuchte Han Su-yin, ihre Lebensgeschichte noch einmal in einer "echten" Autobiografie zusammen zu fassen - die freilich nur auf Französisch erschienen ist und den merkwürdigen Titel "Sonnenblume" trägt. In der Einleitung bekennt sie, in ihren autobiografischen Romanen nicht immer ganz die Wahrheit geschrieben zu haben, und versucht das, mit Gedächtnislücken, Verdrängung u.ä. Erklärungen schön zu reden - Dikigoros hofft gezeigt zu haben, daß es daran allein nicht gelegen haben kann, sondern daß ein Gutteil Fälschungsabsicht mit im Spiel war. (Im übrigen bringt dieses Buch keine wesentlich neuen Erkenntnisse; es hat lediglich mehr Lücken - aber das ist angesichts des relativ bescheidenen Umfangs normal.)

[Han Su-yin]

Nachtrag 2003. Wenige Jahre, nachdem Hongkong an Rot-China gefallen war (nein, liebe Leser, nicht "zurück" gefallen - es hatte nie zur "Volksrepublik China" gehört, ebenso wenig wie die Vereinigung der "BRD" mit der "DDR" eine "Wieder"-Vereinigung war!), ein halbes Jahrhundert nach dem ersten Erscheinen der Romanvorlage und dem Ende des Korea-Krieges (und in Erwartung des nächsten?) wurde "Alle Herrlichkeit auf Erden" noch einmal auf den Filmmarkt geworfen - als DVD - und wieder ein großer Erfolg. Allerdings ging es nun nicht mehr an, auf dem Cover eine Frau zu zeigen, die in einem chinesischen Kleid vor einem europäisch gekleideten Mann kniet - das wäre ja rassistisch und frauenfeindlich -, sondern... na, schaut es Euch selber an. Und wenn Ihr die Frage beantworten könnt, weshalb die Franzosen "Der Hügel des Abschieds" neuerdings in die Reihe der größten Kriegsfilme aller Zeiten aufgenommen haben... Dikigoros kann es nicht - aber das ist von all den unbeantworteten Fragen im Zusammenhang mit Han Su-yin sicher noch eine der harmlosesten.

Nachtrag 2005. Endlich hat eine Frau zum Gegenschlag ausgeholt, der die blinden Fans der Han Su-yin nicht am Zeug flicken können von wegen "die hat ja keine Ahnung von der Volksrepublik China, da sie sie nicht aus eigener Anschauung kennt..." Jung Chang, wie Han Su-yin in Szetschuan geboren, Hilfs-Ärztin, Erfolgsautorin ("Wilde Schwäne" sticht alle biografischen Romane der Han Suy-in klar aus), ist ebenfalls "manches Jahr gewandert" und hat - im Gegensatz zu Han Su-yin - 14 Jahre lang unter Mao (und 2 Jahre lang unter seinen Nachfolgern, der Viererbande) in Rot-China gelebt, bevor sie in den Westen abgehauen ist. (Auch sie hat in London studiert.) Und sie ist auf dem besten Weg, Han Su-yin endlich als meist gelesene chinesische Über-China-Autorin außerhalb der VRC abzulösen. Was sie in Jahrzehnte langer Forschung über den "Großen Steuermann" und Rot-China zusammen getragen und gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Historiker John Halliday, unter dem Titel "Mao - die unbekannte Geschichte" veröffentlicht hat, stellt alles in den Schatten, was bisher aus kritischer Feder oder aus kritischem Pinsel zu diesem Thema geschrieben wurde, und wirft mehr als nur einen Schatten auf Han Su-yins Lebenswerk. Und das Beste daran ist, daß sie es geschafft hat, diese Abrechnung noch bei Lebzeiten der Han Su-yin auf den Markt zu bringen. Die könnte sich also - anders als etwa Margaret Mead gegen Derek Freeman, Ruth Benedict gegen Nanako Fukui, Anna Seghers gegen Sonja Hilzinger, Ketut Tantri gegen Tim Lindsey oder Tanja Blixen gegen den Herausgeber ihrer eigenen Privatbriefe - mit dem Pinsel zur Wehr setzen... wenn ihr denn etwas dazu einfiele. Bisher hat sie wohlweislich geschwiegen, sich nur zu der trotzigen Bemerkung verstanden, daß es ihr Sch...egal sei, was die Leute im Westen von ihr dächten, solange sie nur von einer Milliarde Chinesen geliebt werde. (Weshalb sie dann ihren Lebenabend nicht im schönen Rotchina verbringt, sondern ausgerechnet in der kapitalistischen Schweiz? Die Antwort weiß ganz allein der Wind im Ärmel - Dikigoros kann es nicht erklären.)

Letzter Nachtrag. Und nun ist die Stimme der Han-Chinesen für immer verstummt - am 2. November 2012 kratzte sie endlich ab, und wenigstens dieses Datum ist unstreitig. Mit 96 hatte sie praktisch alle ihre Fans überlebt; niemand weinte ihr eine Träne nach; und weder zu ihrem 100. Geburtstag 2016 noch zu ihrem fiktiven 100. Geburtstag 2017 hat Dikigoros irgendwo so etwas wie einen Nachruf entdeckt.


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