SONNENBLUMEN UND SCHWARZER GINSTER
( . . . UND EINE VIEL ZU BLAUE MELONE )
REISEN IN DIE UKRAÏNE
"Freunde dürfen Sie hier nicht suchen!"

['wolja - slahoda - dobro', 'Freiheit - Einigkeit - gutes Recht'. Aber lasst Euch durch diesen frommen Spruch - der so frappierend an 'Einigkeit und Recht und Freiheit' erinnert - nicht täuschen, liebe Leser: 'wolja' ist auch die Willkür, 'slahoda' die Einheit des Zentralstaats und 'dobro' alles, was die Regierung so nennt - wie bei uns]

EIN KAPITEL AUS DIKIGOROS' WEBSEITE
REISEN DURCH DIE VERGANGENHEIT
GESCHICHTEN AUS DER GESCHICHTE


(FORTSETZUNG VON TEIL I
)

[Kater blau]

Am nächsten Morgen wacht Melone mit einem riesigen Kater auf (dabei hat er eigentlich eine Katzen-Allergie), dafür ohne Bargeld und Reise-Schecks. Dikigoros informiert den Hotel-Inhaber, der gibt sich untröstlich, aber hilfsbereit, ruft sofort die Polizei an und bestellt auch noch eine Dolmetscherin dazu. (Dikigoros ist das lieber; für ein amtliches Protokoll reichen seine Sprachkenntnisse vielleicht nicht aus.) Die kommt überpünktlich und sehr korrekt gekleidet, stellt sich als "Tatjana" vor und übersetzt höflich, was die beiden Polizisten wissen wollen. Was sie nicht übersetzt, sind die bissigen Bemerkungen, die diese mit dem Hotelier austauschen, über "diesen ausländischen Volltrottel, der sich gleich am ersten Abend von wildfremden Leuten unter den Tisch saufen und ausrauben läßt." Aber das ist ja auch nicht ihr Job. "Die Reise-Schecks melden Sie am besten gleich verlustig, im Hotel an der Ecke Krıstschatik ist eine Filiale von American Express." Ja, wenn das so einfach wäre: Melone hat keine Amex-Schecks, sondern solche von Thomas Cook, und die haben hier keine Filiale, die muß er in ihrer englischen Zentrale anrufen, in Peterborough. "Das wird teuer," stöhnt Melone, was nehmen Sie denn hier pro Minute Ferngespräch?" Der Hotelier schaut ihn an, als käme er vom Mond: "Wir haben keine Direktwahl ins westliche Ausland. Sie können sich auf dem Hauptpostamt ein Gespräch von Hand vermitteln lassen, 3 Minuten ungefähr 1,50 US-$. Aber dafür nehmen Sie besser die Dolmetscherin mit, alleine schaffen Sie das vielleicht nicht." Tatjanas Gesicht hellt sich auf - eine halbe Tagesgage winkt! Melones Gesicht dagegen verfinstert sich: "Kosten?" Aber er braucht keine Angst zu haben: Eine Woche Dolmetscherin kostet weniger als eine Nacht Betthäschen, und Dikigoros legt es erstmal aus.

Gemeinsam gehen sie zur Hauptpost, und da fällt ihnen die Kinnlade herunter: An den wenigen Schaltern, die Auslandsgespräche vermitteln, stehen lange Schlangen, und wenn man sich durchgestanden hat, muß man das Gespräch erstmal anmelden und dann ca. 30 Minuten warten, bis man an der Reihe ist. Natürlich schafft es der noch immer ziemlich verkaterte Melone nicht, der Lady in Peterborough sein Anliegen in 3 Minuten zu verklickern, und so muß er nochmal anstehen und warten, und dann nochmal, weil man ihn versehentlich nach Sankt Peterburg in Rußland verbunden hatte (so heißt die Stadt jetzt wieder, in der Uljanów einst sein Unwesen trieb; nur die Deutschen nennen sie hartnäckig "Sankt Petersburg", mit s). Unterdessen läßt sich Dikigoros von Tatjana ein wenig aus ihrem Leben erzählen: Sie habe Deutsch und Englisch studiert und für den sowjetischen Staat gearbeitet, als "Betreuerin" für Geschäftsreisende aus dem westlichen Ausland. Also eine ehemalige Edelnutte des KGB. Aber ihr Deutsch ist ebenso erstklassig wie ihre Umgangsformen - natürlich, die haben nur die Besten genommen und sie hervorragend geschult. Sie ist blond und blauäugig, würde in Deutschland nicht als Ausländerin auffallen. (Selbst ihr Name, Tanja, zählt dort ja inzwischen zu den beliebtesten.) Auf Befragen: Ihr Vater sei Ukraïner, ihre Mutter Russin; sie selber habe für einen ukraïnischen Paß optiert. Sie ist vielleicht Ende 20, wie alt genau, will sie nicht verraten; an ihrer kühlen Höflichkeit prallen sowohl Dikigoros' spröder als auch Jockels wienerischer Charme wirkungslos ab.

[Kiew] [Kiew]

Endlich hat Melone seine Telefonate beendet, Dikigoros zahlt (soviel Kredit hat Melone noch bei ihm - aus den Schäferstündchen mit den jungen Schönen wird dagegen nichts, das hat er ihm schon klipp und klar gesagt), und sie machen sich auf den Rückweg durch die Stadt. Die Sonne scheint, aber es ist nicht alles eitel Sonnenschein, was sie da so sehen: Vor den staatlichen Bäckereien stehen lange Schlangen, denn das Brot ist subventioniert, also billig - es deckt nicht einmal die Herstellungskosten -, und wer das Glück hat, vorne zu stehen und einen Laib zu ergattern, schneidet ihn gleich an Ort und Stelle in Scheiben und verkauft die einzeln an Leute weiter, die weiter hinten stehen. Die anderen staatlichen Läden weisen weitgehend leere Regale auf - nur alkoholische Getränke gibt es immer genug. Und wem Krım-Sekt und Wodka zu teuer sind, der kauft Piwo, Bier. Das wird in großen Benzin-Tanks angeliefert; die Kundinnen bringen von zuhause Einmachgläser mit und lassen sie mit der Schöpfkelle füllen. Aber es bestehen schon Ansätze zur Privat-Wirtschaft: In der Nähe des Bahnhofs sitzen alte Mütterchen aus den ländlichen Gebieten der Ukraïne, die Obst und Gemüse feil bieten - die Anreise lohnt sich offenbar auch für kleinere Mengen, denn auch die Bahnfahrten sind subventioniert (volkswirtschaftlich ein Irrsinn!), und die Preise für nicht-subventionierte Luxusgüter sind natürlich hoch. Es sei denn, man ist Valuta-Ausländer, dann sind sie geradezu lächerlich niedrig. Jockel kauft einer Bäuerin für ein paar Groschen ihren ganzen Vorrat Äpfel ab, die macht sich zufrieden auf die Heimreise, und alle Umstehenden starren wütend auf den Wessi, der die Preise verdirbt und sie leer ausgehen läßt. Aber Jockel ist ja nett, verschenkt einen Teil seines Kaufs, den die vier ohnehin nicht alleine aufessen könnten, und schon hat die Gruppe einen wahren Kometenschweif von Bettlern und Schmarotzern auf den Fersen, die lautstark Gleichbehandlung fordern. Bis sie wieder im Andreas-Gäßchen sind, sind die Äpfel alle.

Dort hat sich inzwischen ein fröhliches Völkchen von Musikanten und Künstlern breit gemacht, spielt auf der Bandura und bietet seine Erzeugnisse an: Die hübschen kleinen Bilder aus Birkenrinde gefallen Dikigoros am besten; das ist noch unverfälschte Volkskunst ohne viel Aufwand, nicht das Zeug, das sie auf den Russen-Märkten in Deutschland anbieten, gefälschte Ikonen und so. Auch hier sind die Motive meist religiös; aber die Andreas-Kirche ist geschlossen, "wegen Renovierungsarbeiten". In der Hotel-Lobby treffen sie Geert - den hatten sie fast vergessen. Er habe die Nacht bei einer "Germanistik-Professorin" verbracht; sie unterrichte am Institut für Fremdsprachen und wolle ihn mit ein paar ihrer "netten Studentinnen" bekannt machen. Sie habe ihm empfohlen, mit der Metro auf die andere Seite des Dnepr zu fahren, da seien die Hotels besser und billiger - und sicherer. Die vier lassen sich Tatjanas Telefon-Nr. geben, checken aus und machen sich auf den Weg.

[Metro]

Die Metro, die den Dnepr unterquert, ist modern, schnell und sauber (und spottbillig; die Fahrt kostet umgerechnet nicht mal 1 Pf). An praktisch jeder Haltestelle am Ostufer steht ein großer Klotz von staatlichem Hotel, und die Preise liegen gerade mal bei 1% der 150 bis 300 US-$ pro Nacht, die von den Hotels am Westufer gefordert werden. Jedenfalls solange Dikigoros bloß nachfragt, ob Zimmer frei seien und was sie kosten. Die Sache hat nur einen Haken: Wenn sie ihre Reisepässe zücken, kommt auch hier die Auskunft: "Ach, Sie sind Ausländer? Dann können Sie bei uns leider nicht absteigen." An der 7. oder 8. Haltestelle finden sie dann doch ein staatliches Hotel, das sie aufnimmt. Es trägt den Namen der Hauptstadt eines gerade unabhängig gewordenen Ex-Satelliten-Staates der untergegangenen UdSSR. Dort kostet es zwar (für Ausländer) rund 10% vom Westufer-Preis, aber das geht ja noch. Alles geht noch recht sowjetisch zu: Es gibt getrennte Hotel-Trakts mit getrennten Aufzügen für Sowjet-, pardon, GUS-Bürger und Ausländer. Sie sind völlig identisch gebaut und genau spiegelbildlich gelegen, so daß man sich leicht verirren kann. Und damit das nicht passiert, gibt es noch die "Dejournajas", Etagenfrauen, die aufpassen, daß kein(e) Unbefugte(r) die Flure und Zimmer betritt. Dikigoros nennt sie "Denotschnajas", denn tatsächlich sollen sie ja nicht so sehr tagsüber, als während der Nacht aufpassen, daß sich kein "Intergirl" (der gleichnamige Film ist gerade der große Renner in der GUS) einschleicht, um sein Valuta-Konto aufzubessern.

[Hotel]

Dikigoros unterhält sich mit "seiner" Denotschnaja, einer Frau mittleren Alters, die auch Tatjana heißt. "Schöner Name," bemerkt Dikigoros, mehr aus Höflichkeit denn aus Überzeugung. "Ja, finden Sie nicht auch? Ich bin stolz auf meinen Namen." Sie wundert sich, daß er ihn richtig ausspricht, mit einem weichen "ch" zwischen den Silben, nicht so plump wie die meisten seiner Landsleute, die daraus eine tatternde Jana machen. "Ist der nicht eher russisch als ukraïnisch?" - "Ja, das ist der schönste und echteste aller russischen Mädchen-Namen. Die meisten anderen sind ja griechischen Ursprungs. Ein Russe, der sein Vaterland liebt, nennt seine Tochter Tatjana." - "Auch zu Sowjet-Zeiten?" fragt Dikigoros, dessen Vornamen patriotische Russen ebenfalls sehr lieben (es ist der ihres letzten Tsaren), obwohl er ebenfalls aus Griechenland stammt - was seinen Eltern aber sicher nicht bewußt war, als sie ihn so taufen ließen. "Ja, natürlich. Was hat das damit zu tun, ob man Sowjet-Mensch ist?" Eine ganze Menge, denkt Dikigoros, der den Ausdruck "sowjetskij tschelowjek" von ganzem Herzen haßt; ein anständiger Russe, der sein Vaterland wirklich liebte, hätte seine Tochter Nadjezhda ("Hoffnung") genannt, das ist auch ein "echter" russischer Name - der einzige, der nicht von seinem griechischen Pendant, Elpída, verdrängt wurde - und er hätte für die Hoffnung gestanden, das verfluchte Sowjet-System, das so viel Unheil über die Menschen gebracht hat, endlich los zu werden. Aber er vertieft das nicht und fragt nur: "Fühlen Sie sich denn als Russin?" - "Ja, natürlich, das ist doch alles eins, Groß-Rußland, Weiß-Rußland und Klein-Rußland. [So nennen die Russen die Ukraïne, mit der gleichen Arroganz, mit der die Polen Galizien "Klein-Polen" nennen, die Litauer das Memelland "Klein-Litauen" und die Engländer die Bretagne "Brittany", Klein-Britannien, als Gegensatz zu ihrer verregneten Insel, die sie für "groß" halten, Anm. Dikigoros] Ich empfinde es als großes Unglück, daß unser Vaterland jetzt geteilt ist. Wir müssen bald wieder zueinander finden." - "Warum?" - "Na, schauen Sie sich doch um. Hier in Kiew leben fast zu zwei Dritteln Russen. Im Donbas [das ist das "Ruhrgebiet" der Ost-Ukraïne, wo einst die Don-Kosaken lebten, Anm. Dikigoros] auch. Unser gesamtes Wirtschaftsleben ist auf dieses Miteinander ausgerichtet. Wenn das zerbricht, was soll an seine Stelle treten?" - "Sie glauben nicht, daß wirtschaftliche Beziehungen mit dem Westen für die Ukraïne vorteilhafter sein könnten?" - "Ach, woher denn?"

Nachtrag. Inzwischen hat jemand, der sich mit der Etymologie slawischer Namen offenbar besser auskennt als jene Denotschnaja, Dikigoros aufklärt: Auch "Tatjana" ist in Wahrheit kein russischer oder ukraïnischer Name, ebensowenig "Tamara", entgegen allem, was so viele seiner Trägerinnen glauben. Vielmehr ist der erstere etruskisch und der letztere hebräisch - beide sind genauso auf dem Umweg über Griechenland nach Rußland gekommen wie all die anderen. Und auf Dikigoros' Frage, was denn nun tatsächlich "echte" russische Mädchennamen seien, nannte ihm der Kenner einige, die er noch nie gehört hatte und die offenbar schon lange außer Gebrauch sind; von den "aktuellen" blieben am Ende nur Nadja/Nadjezhda und Sweta/Swetlana (wenigstens bei den beiden lag Dikigoros richtig :-), Wera [Glaube], Luba [Liebe], Mila/Ludmila [Liebe im Sinne von "lieb und wert", dazu schreibt Dikigoros an anderer Stelle mehr] sowie die aus dem russischen Volkslied bekannte Kalina/Kalinka [Eberesche]. Nachtrag Ende.

Dikigoros tut das als Geschwätz einer alten, unverbesserlichen KGB-Spitzelin ab, die ihre Felle davon schwimmen sieht, und ruft die junge, vielleicht noch besserungsfähige KGB-Spitzelin a.D., Tatjana I, an. Er will sie für abends ins Hotel-Restaurant einladen, da ist Tanz angesagt, mit einer Live-Kapelle. Sie druckst herum: "Haben Sie schon reserviert?" - "Wieso? Das Restaurant ist riesig, und beim Frühstück war es kaum belegt, da wird schon ein Tisch frei sein." - "Ich weiß nicht. Können Sie mich abholen?" Dikigoros fragt nicht, was das soll - er will sowieso nochmal in die Stadt. "Kein Problem." Er fährt 'rüber, und zu seiner Verwunderung greift Tatjana als erstes zum Telefon und ruft sein Hotel an. "Was möchten Sie denn essen?" Dikigoros, der immer noch nicht begriffen hat, daß man hier nicht einfach unangemeldet in ein Restaurant gehen und essen kann, wonach einem gerade der Sinn steht, meint arglos: "Ich bin nicht wählerisch, was würdest du denn empfehlen?" Tatjana beginnt am Telefon zu verhandeln und eine Speisefolge vorzuschlagen. Dikigoros sagt zu allem ja, was sie vorschlägt - einer in der Gruppe wird es schon essen. Tatjana scheint es peinlich zu sein, wie teuer die bestellten Sachen nach ihren Maßstäben sind - sie müssen offenbar erst auf dem Schwarzmarkt besorgt werden. "Ist das auch nicht zuviel?" fragt sie ihn bei jedem einzelnen Gang. Bei allem Geiz, den man Dikigoros sonst nachsagt: Nein, umgerechnet 5.- DM pro Person sind ihm nicht zuviel, zumal er weiß (oder zumindest ahnt), was es kosten würde, wenn er selber als Ausländer das bestellen würde. Sie gehen noch etwas spazieren. In der Stadt herrscht Aufbruchstimmung; vor allem die ganz Jungen und die ganz Alten setzen große Hoffnungen auf die neue Unabhängigkeit. Patriotische, ja nationalistische Flugblätter und Bücher, die bisher verboten waren, werden plötzlich angeboten und erfreuen sich regen Interesses. Dikigoros kauft einige, die ihm besonders kurios erscheinen. "Können Sie das denn lesen?" fragt ihn Tatjana. Warum eigentlich nicht auf Ukraïnisch, um zu testen, ob er die Frage auch wahrheitsgemäß beantwortet? fragt sich Dikigoros. Die Antwort bekommt er in der Metro: "Wo sind wir jetzt?" fragt Tatjana. "Station Soundso, hast du das denn nicht gehört?" - "Ich war noch nie hier." - "Aber sie haben es doch gerade durchgesagt." So kommt heraus, daß Tatjana kein Ukraïnisch kann (obwohl das weniger weit vom Russischen entfernt ist als etwa das Bayrische vom Norddeutschen Platt) - ist das nicht unglaublich? Sollte er sie deshalb abholen? Aber auch auf die Frage bekommt er eine Antwort, als sie vor dem Außen-Eingang zum Hotel-Restaurant stehen. "Sie müssen mich mit durch den Innen-Eingang in der Hotelhalle nehmen; hier komme ich nicht 'rein." - "Das wollen wir doch mal sehen." - "Nein, bitte nicht." Sie erklärt ihm, weshalb dort die Gorillas stehen: "In solche Restaurants kommen bei uns sonst nur Mafiosi und ihre Mädchen. Ausnahmen gelten nur für Hotelgäste und ihre offizielle Begleitung. Ich bin Ihre Dolmetscherin, das ist aktenkundig, sogar bei der Ausländer-Polizei." So ist das also.

Was soll's, denkt Dikigoros, trommelt die anderen zusammen und genießt das Abendessen in dem kleinen Séparée, das man extra für sie abgetrennt hat. Es ist wirklich sehr gut gelungen, wenn man mal von Tatjanas krampfhaften Versuchen absieht, bei jedem Schluck Alkohol einen formellen Trinkspruch in guter, alter Sowjet-Manier auszubringen: auf die Völker-Freundschaft, die gute internationale Zusammenarbeit, den Erfolg ihrer Reise, bla, bla, bla... Dikigoros hat den Eindruck, daß sie versucht, sie auszuhorchen. "Aber Ihre Reise muß doch einen offiziellen Grund haben." - "Nein, wir sind ganz privat hier." - "Aber Sie sind doch Journalist," sagt sie zu Jockel, "dann arbeiten Sie doch sicher für eine staatliche Zeitung und schreiben einen Bericht über unser Land." Ach, daher weht der Wind. Aber nein, gerade Jockel hat diese Reise ganz ohne nicht-private Hintergedanken unternommen, ob sie es glaubt oder nicht. Die Kapelle spielt zum Tanz auf - auch die ist o.k. Zu Tatjanas Pech sind ihre Begleiter allesamt miserable Tänzer: Melone tanzt gar nicht, Jockel schiebt sie nur einmal lustlos übers Parkett, und Dikigoros, mit dem sie sich den Rest des Abends trösten muß, ist ein Leichtathlet der schwereren Sorte, gelernter Kugelstoßer, der schon in der Tanzstunde immer Mühe hatte, nicht über die eigenen Quadratlatschen zu stolpern. Er hält sich an seiner Tanzpartnerin fest und packt das zierliche Püppchen ziemlich grob an. Aber eine Russin, zumal eine KGB-Hostess a.D., muß das abkönnen; sie erträgt es stumm, läßt sich zu keiner Klage provozieren. Unterdessen hat sich Geert mit seiner "Germanistik-Professorin" aufs Zimmer verzogen, mit Hilfe einer Tafel West-Schokolade für die Dejournaja aus Dikigoros' Vorrat, die dieser just zu solchen Zwecken mit sich führt. Auf Dikigoros wirkt diese halb verhungerte Bohnenstange, die eher wie Mitte 40 denn wie Mitte 30 aussieht, wie eine Rauschgift-Süchtige auf Entzug; er weiß noch nicht, daß es in der Ukraïne (und anderswo in der ehemaligen UdSSR) tatsächlich Akademikerinnen gibt, die förmlich vor dem Hungertod stehen, und für die der Liebeslohn einer einzigen Nacht ihr monatliches Gehalt, auch das einer Professorin, weit übersteigt. "Was findest du bloß an dieser traurigen Existenz?" fragt er Geert. "Du, die ist wirklich Professorin, und morgen gehen wir zusammen in ihr Institut, zieht euch was Ordentliches an." - "Na, auf den Puff bin ich ja mal gespannt," unkt Dikigoros.

[in Schale]

Am nächsten Morgen werfen sich also alle in Schale. Na ja, der einzige, von dem man das wirklich behaupten kann, ist Geert, aber auch Dikigoros trägt immerhin einen dunkelblauen Nadelstreifen-Anzug aus billiger Kunstseide, Jockel einen sportlichen Blazer, und selbst Melone hat seinen Bauch in das einzige Jackett gezwängt, das ihm noch paßt. Das Fremdsprachen-Institut sieht tatsächlich aus wie eine Lehranstalt, und so steht es auch am Eingang. Es scheint gerade Unterricht zu sein, denn die Flure sind gähnend leer. Geert schnappt sich die erste Person, die vorbei kommt. "Ich bin Steuerberater Dr. Geert, ich vertrete die größte Wirtschaftskanzlei Belgiens. Das ist Rechtsanwalt Dr. Dikigoros, Spezialist für Internationales Recht, das ist Dr. Jockel, der Herausgeber der größten österreichischen Tageszeitung, und das ist Prof. Dr. Dr. Melone, ein renommierter Kunst-Experte und Mäzen. Wir suchen junge Ukraïnerinnen, die perfekt Russisch, Englisch und Deutsch oder Niederländisch sprechen. Wir kommen auf Empfehlung von Frau Professor S." Die Menschen wollen belogen sein. Fünf Minuten später wimmelt es von Studentinnen; Geert kann sich kaum noch verständlich machen in dem Tumult: "Wir eröffnen hier in Kürze ein Büro, und dafür suchen wir Personal. Ich mache jetzt eine kleine Vorauswahl, und die Endauswahl findet heute abend im Restaurant des Hotels "Sport" statt. Sagt's und beginnt, die Legionen zu sichten, tatkräftig unterstützt von Melone. Der handelt zwar eigentlich mit Werkzeug-Maschinen, kauft und verkauft aber privat auch schon mal das eine oder andere "Kunstwerk" auf Auktionen. Als "Mäzen" kann man ihn zwar nicht gerade bezeichnen, und als Professor schon gar nicht; aber das kann ja vielleicht noch werden.

Jockel und Dikigoros schleichen sich davon, zum Fußball-Stadion. Dort herrscht ein riesiger Andrang. "Und du dachtest, für das Spiel heute würde sich kaum jemand interessieren," sagt Jockel. Im Europapokal trifft am Abend Dynamo Kiew (oder, wie man es jetzt eigentlich richtig schreiben müßte, "Dinamo Kijiw", aber die Ukrainer haben im internationalen Sportverkehr der Einfachheit halber die alte Rechtschreibung beibehalten) auf Rapid Widen - nach diesem einstigen Arbeiterbezirk der österreichischen Hauptstadt nennen die Russen den ganzen Ort, und natürlich auch den "Arbeiter-Verein" (so hieß er im ersten Jahr nach der Gründung), und sie haben damit in zweierlei Hinsicht Recht: Erstens waren "die Weiden" tatsächlich mal der erste Bolzplatz-Ersatz, auf dem in Wien Fußball gespielt wurde, und zweitens ist die russische Schreibweise die ursprüngliche und richtige. Die Wiener schreiben ihren 4. Gemeindebezirk heute zwar "Wieden", aber dieses "ie" ist so überflüssig wie das - inzwischen abgeschaffte - "ie" in "gib" (das heißt auf Russisch "dawaj", und da dies das einzige russische Wort ist, das viele deutsche Reisende kennen - oder jedenfalls das, welches sie am besten kennen - erwähnt Dikigoros das hier) oder das - ebenfalls abgeschaffte - "ie" im Namen des weltweit bekanntesten Österreichers dieses Jahrhunderts aus Braunau am Inn. Denn das helle "i" ist im Österreichischen auch in geschlossener Silbe lang, ebenso wie das "i" und das "u" im Russischen und Ukraïnischen - das ist eine der vielen Gemeinsamkeiten dieser Sprachen. (Umso merkwürdiger, daß viele Deutschsprachige das nie richtig lernen, sondern penetrant "Russland" sagen und "russkij", mit kurzem "u", obwohl es doch richtig "rūßkij" hieße und "Rūßland" - das Land der Rūs -, mit langem "ū".) Das Europapokal-Spiel (oder, wie die Österreicher auf Englisch sagen: "Match") ist der eigentliche Grund für Jockels Reise. Das Pauschal-Arrangement mit Flug, Hotel und Eintrittskarte, das man ihm zuhause angeboten hatte, sollte weit über zehntausend Schillinge kosten; Dikigoros hatte ihm zugesagt, es für einen Bruchteil zu arrangieren; und wenn es nun keine Karten mehr gäbe, könnte er sich auf ein gehöriges Donnerwetter gefaßt machen. Außerdem haben sie gewettet, um das Eintrittsgeld; Jockel hat auf Dynamo gesetzt, Dikigoros auf Rapid. Jockel reiht sich brav hinten in der Schlange ein; aber Dikigoros hat auf seinen vielen Reisen gelernt, sich vorne anzustellen - schließlich ist er bereit, die teuersten Plätze auf der Haupttribüne zu nehmen. Tatsächlich, da ist noch ein zweiter Schalter, der fast leer ist, und dort bekommt er prompt zwei Karten. "Was machen denn die anderen alle?" fragt er. "Oh, die kommen nicht zum Fußballspiel, sondern zum Flohmarkt."

[Orden]

Den sehen sich die beiden dann auch noch an. Es ist grauenhaft: Das ganze Stadion ist voll von Leuten, die mit versteinertem Blick herum stehen, um ihr vorletztes Hemd, ihr vorletztes Paar Socken oder sonst irgend etwas zu verkaufen, möglichst gegen Valuta, denn den Wanzen traut hier kaum noch jemand. Dem Vernehmen nach sind die Scheine der künftigen neuen Währung, "Griwna [Groschen]" genannt, schon fertig gedruckt, liegen aber noch in Deutschland fest, weil die Ukraïne sie nicht bezahlen kann. Kaufinteressenten sind dünn gesät. Um einen Umsatz von wenigen Pfennigen zu machen, stehen die Leute Stunden, ja Tage lang herum - welch ungeheure Verschwendung volkswirtschaftlicher Ressourcen, denkt Dikigoros. Sie halten vergeblich nach Tatjana Ausschau; die steht ihnen heute nicht zur Verfügung, angeblich weil sie mit ihren Eltern auf den Flohmarkt wollte. Wahrscheinlich muß sie zum Rapport beim KGB-Nachfolger, denkt Dikigoros, und betrachtet nachdenklich die alten Orden aus dem und auf den "Großen Vaterländischen Krieg" (das war die Reiseveranstaltung, an der auch sein Vater einst teilgenommen hatte, allerdings bei der Konkurrenz), die angeboten werden wie Sauerbier. Ob die echt sind? Na klar, wer würde sich schon die Mühe machen, die zu fälschen? Es besteht ja praktisch keine Nachfrage. Wieviel Blut, Schweiß und Tränen haben sie ihre Träger damals gekostet? (Und wieviele Tote ihre Gegner?) Und was sind die heute noch wert? Ein paar Pfennige, wenn überhaupt. Und von dem großen, in seiner Protzigkeit schon fast lächerlichen Denkmal, das die Sowjets der Heldenstadt Kijiw zur Erinnerung daran hin geklotzt haben, kann niemand abbeißen.

[Denkmal] [Heldenstadt Kijiw]

Noch etwas fällt Dikigoros auf: Wenn er auf Russisch nach dem Preis fragt, ist er ganz niedrig; wenn er auf Ukraïnisch fragt (er versucht, die Verkäufer irgendwie einzuschätzen), ist er zwar immer noch nicht hoch, aber deutlich weniger niedrig - für ein- und dasselbe Produkt. Nein, das kann kein Zufall sein. Eine ältere Frau klärt ihn auf: "Wenn Sie Ukraïnisch sprechen, und dazu noch so holperig, hält man Sie hier für einen Auslands-Ukraïner. Und die haben Geld und sind auch bereit, es auszugeben." - "Spricht man denn hier kein Ukraïnisch?" - "Nein, nicht als Muttersprache. Nur in der West-Ukraïne. Die Hauptstadt und der Osten sprechen Russisch, da fängt man gerade erst an, Ukraïnisch wieder im Schul-Unterricht einzuführen, wohlgemerkt als Fremd-, nicht als Unterrichts-Sprache." - "Und die Straßen-Schilder, und die Ansagen in der Metro?" (In ganz Kijiw hängen jetzt blitzblanke neue Straßen-Schilder - auf Ukraïnisch statt auf Russisch.) "Ach, das haben sie im ersten Überschwang eingeführt, das werden sie sicher bald wieder rückgängig machen."

[Denkmal auf die Gründer Kiews] [Denkmal auf die Verbrechen der Nazi-Deutschen in Kiew]

Gerechterweise muß man dazu sagen, daß die Sowjets auch ein Denkmal auf die legendären Gründer Kijiws aufgestellt haben, in einem Park oberhalb des Dnepr, das freilich im Vergleich zu dem Weltkriegsklotz ziemlich klein und unscheinbar ausfällt. Es zeigt Libid - das Gegenstück zur tschechischen Libussa - mit ihren drei Brüdern Kij, Schtschek und Choriw auf einem der Boote, mit denen die schwedischen Rūs einst den Fluß hinauf ruderten, um Niederlassungen zu gründen - so eben auch diese. Und wenngleich das nur ein Märchen sein mag - irgendwie müssen die Gründer ja geheißen haben, und warum nicht so? A propos Märchen: Leider entgeht man in Kijiw auch nicht den Märchen der unschönen Art, und das ist eigentlich einer der Punkte, die Dikigoros hier ursprünglich nicht breit treten wollte. Aber die Geschichte geht weiter, und dem will auch er sich nicht verschließen - wiewohl er die Auffassung einiger Rechter, dies sei nun ein "happy end", nicht zu teilen vermag. Um was eiert er hier so herum? Nun, um die angeblichen Verbrechen der Deutschen im Rußlandfeldzug, insbesondere der so genannten "Einsatzgruppen". Haben die nicht gerade im Raum Kijiw 'zig-, ja hunderttausende armer, unschuldiger Opfer (bestimmt auch vieler Juden - wir müssen doch auf eine bestimmte Zahl kommen) brutal ermordet? Viele Jahre nach dieser Reise, anno 2003, wird ein anti-deutscher Hetzfilm mit dem Titel "Babij Jar - das vergessene Verbrechen" gedreht werden, der zeigt, wie schlimm die bösen Nazideutschen da gehaust haben. Vergessen? Nein, liebe Leser, vergessen war jenes Verbrechen durchaus nicht - die Kiewer hatten sogar ein Mahnmal aufgestellt, wider das Vergessen. Nur leider hatte "man" ganz vergessen, wer die Täter waren. Ganz? Nein, nicht ganz, obwohl dieselben sich alle Mühe gegeben hatten, die wenigen Zeugen mundtot (oder auch ohne "mund-") zu machen. Doch im Jahre 2005 kam eine ukrainische Regierungs-Kommission auf die Idee, doch noch einmal Untersuchungen anzustellen. Im August 2006 wurden sie abgeschlossen. Ergebnis: Nicht die Deutschen, sondern die Sowjets waren die Täter, und nicht deportierte Juden, sondern deportierte Polen waren die Opfer - eine Parallele zu den Morden von "Katyn", die ja auch Jahrzehnte lang den Deutschen angelastet wurden, obwohl jeder wußte, wer die wahren Täter waren. Und nun? Tja, in Polen und in der Ukraine schlug diese Entdeckung wie eine Bombe ein und entsprechend hohe Wellen - in Deutschland wurde sie von den offiziellen Medien schlicht tot geschwiegen, denn es konnte doch nicht sein, was nicht sein durfte - schon wieder ein "Verbrechen der Deutschen" weniger... (Aber kein Verbrechen weniger. Seht Ihr, liebe Leser, all jene schrecklichen Taten - auch der "Holocaust" - mögen durchaus begangen worden sein; aber die Täter und die Opfer waren halt oftmals andere, als es in Euren Schulbüchern steht. Das macht sie indes um keinen Deut besser, und deshalb ist weder Freude noch Schadenfreude angebracht - man sollte sich auch die Verbrechen anderer zur Mahnung dienen lassen, und sei es nur, um vor ihnen auf der Hut zu sein.) Dabei wurde auch kräftig die Zensurkeule geschwungen. Nur ein kleines Beispiel: Als Dikigoros jenen Abschlußbericht der ukraïnischen Kommission auf der Diskussionsseite von Wikipedia erwähnte (wohlgemerkt nicht im Artikel - wie käme er dazu, für so einen Verein Artikel zu schreiben :-), dauerte es exakt vier (4!) Minuten, bis ein politisch-korrekter Gutmensch diesen Hinweis wieder gelöscht hatte mit der Bemerkung, das seien alles faschistische Lügen. (Was antwortete Otto Piffl in Billy Wilders Meisterwerk Eins, zwei, drei auf MacNamaras Hinweis, daß in Sibirien bisweilen Temperaturen von 30° unter Null herrschten? Genau das gleiche: "faschistische Lügen!" :-) Was dürfen wir daraus schließen? 1. Die Zensoren arbeiten rund um die Uhr (Dikigoros hatte den Hinweis mitten in der Nacht nach MEZ eingetragen) 2. Besagte Zensoren machen sich nicht einmal die Mühe, auch nur im geringsten nachzuprüfen, ob an solchen Hinweisen etwas dran ist oder nicht, denn in vier Minuten ist das schwerlich möglich (obwohl man bei Google unter den Stichwörten "mass grave" und "Kiev" durchaus etwas dazu findet - aber halt nicht auf Deutsch). Der viel beklagte Effekt von Massienmedien im allgemeinen und Internet im besonderen, nämlich die Verblödung der Massen und vor allem der Jugend, liegt halt nicht in der Sache an sich begründet, sondern darin, daß ihre deutschen Konsumenten systematisch dumm gehalten werden - und zum Glück für die Bundesregierung und ihre Handlanger haben ja nicht alle ihrer Untertanen die Möglichkeit, sich aus fremdsprachlichen Beiträgen besser zu informieren.

* * * * *

[Fußballer]

Abends beginnt es leicht zu regnen. Für das Fußballspiel interessiert sich tatsächlich kaum jemand. Jockel und Dikigoros sitzen auf der gähnend leeren Haupttribüne - der Flohmarkt ist eine Stunde vor Spielbeginn geräumt worden. Die Mannschaften laufen ein und nehmen Aufstellung für die Fotografen. Junge ukraïnische Mädchen in folkloristischen Trachten überreichen jedem Spieler der Gäste-Mannschaft medienwirksam einen Blumenstrauß. Wie viele (oder genauer gesagt: wie wenige) von ihnen mögen keinen Zettel mit ihrer Telefon-Nr. hinein gesteckt haben? Jockel und Dikigoros ist nicht entgangen, daß vor allem an den Metro-Stationen bildhübsche junge Mädchen von 10-12 Jahren herum stehen, viel zu elegant gekleidet und viel zu stark geschminkt für ihr Alter, die Männern, die sie für zahlungskräftig halten, eindeutig zweideutige Blicke zuwerfen. Kaum ist die Partie angepfiffen, kommen die Zuschauer von den billigen Plätzen auf die Haupttribüne gelaufen - niemand sagt etwas, sie nehmen ja niemandem etwas weg; es sind insgesamt nur ein paar tausend Zuschauer im Stadion. Das Spiel ist grottenschlecht und knüppelhart - der Ausverkauf der ukraïnischen Spitzenspieler ins westliche Ausland hat eingesetzt, zurück geblieben sind die eher rustikalen Ball- und Knochentreter; und die Österreicher (deren beste Spieler auch längst ins nördliche Nachbarland abgewandert sind) halten kräftig dagegen. Der Schiedsrichter benachteiligt die Heim-Mannschaft massiv, versagt ihr mehrere berechtigte Elfmeter, schenkt den Gästen Freistoß um Freistoß. "Figaro, Figaro," schallt es durch's Stadion. Dennoch gelingt es den Wienern nicht, das glitschige Leder im Tor unterzubringen. "Unsere Kreisklassen-Auswahl würde hier längst 10:0 führen," schimpft Dikigoros, der seit Jahrzehnten nicht mehr live bei einem Profi-Fußballspiel war und arg enttäuscht ist. Kurz vor Schluß gelingt Dynamo durch einen Glückstreffer das 1:0, und Dikigoros hat die Wette verloren. "Was hat dich das denn nun gekostet?" fragt Jockel. Das dürfte ich dir gar nicht sagen," antwortet Dikigoros, "5 Pf pro Karte, das macht zusammen nicht mal 1 Schilling."

[Wanzen]

Nachtrag, zu dem sich Dikigoros erst nach einigem Zögern durchgerungen hat, weil das, was er hier zum Besten geben will, eigentlich nichts mit dieser Reise zu tun hat. (Eilige Leser können diesen Absatz also getrost überspringen.) Aber erstens lesen hier ja, nachdem die Europameisterschaft 2012 aus unerfindlichen Gründen an die Ukraïne vergeben wurde, vielleicht auch einige Fußballfans mit, und zweitens fühlt er sich doch irgendwie als Chronist jener Zeit, die er persönlich mit erlebt hat; und während das Spiel, das er eben gesehen hat, mittlerweile in allen möglichen Statistiken abgerufen werden kann, würde das Spiel, über das er hier berichten will, ohne diesen Nachtrag wohl der Vergessenheit anheim fallen; denn zum einen war es kein wichtiges Spiel, nicht mal ein Profi-Spiel - obwohl diejenigen, die mit spielten, vielfach schon einen Profivertrag in der Tasche hatten -, und zum anderen will sich offenbar kein erfolgreicher Fußballer gerne daran erinnern, daß er mal beim Militär war, geschweige denn, daß er dort Fußball gespielt hat. Ihr könnt das ganze Internet durchforsten, liebe Leser, was nun kommt, werdet Ihr nirgendwo finden außer bei Dikigoros, obwohl es über die Akteure z.T. sehr umfangreiche Webseiten gibt. Dikigoros - damals noch "Tarzan" genannt - war gerade Soldat geworden und absolvierte seine Grundausbildung beim Luftwaffenausbildungsregiment 1. Das lag damals noch nicht in Goslar (bzw. das in Goslar hieß damals noch LAR 4), sondern in Pinneberg, in der Eggerstedt-Kaserne. Der Kommandeur, Oberst D., galt als harter Hund; aber wenn es um seine persönlichen Hobbys ging, dann war er großzügig: Wer z.B. ein Instrument spielte, kam in die Regiments-Kapelle; und wer Fußballspielen konnte, der kam in die... nein, offiziell gab es keine Sport-Kompanie, aber halt eine Kompanie, deren Angehörige, so sie entsprechende Leistung brachten, dafür frei gestellt wurden. Und wenn es ein wichtiges Spiel gab, dann bekam das ganze Regiment zwei Stunden frei, um ihm beizuwohnen - man brauchte doch Publikum, das die eigene Truppe anfeuerte! Nun begab es sich, daß in der ersten Hälfte der 1970er Jahre im benachbarten Hamburg, beim HSV, ein Generationsumbruch statt fand: Die alten Recken, Seeler, Schulz, Dörfel & Co., fraßen zwar noch ihr Gnadenbrot; aber hinter ihnen wuchs schon eine neue junge Garde heran, die freilich noch kaum jemand kannte - und Dikigoros, der nie ein ausgesprochener Fußballfan war, kannte sie nicht mal dem Namen nach; deshalb fiel ihm auch nicht auf, daß die meisten von ihnen als Soldaten beim LAR 1 in Pinneberg "dienten", d.h. Fußball spielten. Aber auch er nahm dankbar die Gelegenheit wahr, statt zwei Stunden Dienst zwei Stunden den Fußballfan zu machen, denn es stand ein Spiel an, das der Herr Oberst für wichtig hielt: ein Match gegen die Auswahl des Luftwaffenausbildungsregiments 2 im niederländischen Budel. (Jawohl, so etwas hatte die Bundeswehr mal - auch das in der Öffentlichkeit kaum bekannt.) Es war ein schöner Sommertag; und das Spiel plätscherte zunächst ereignislos vor sich hin; die ersten Rekruten sanken bereits ermüdet auf den Rasen und begannen, Schlaf nachzuholen; da riß sie ein Schreckensruf aus dem Schlummer: Budel hatte es gewagt, 0:1 in Führung zu gehen! Mannomann, da würde der Herr Oberst aber eine Stinklaune haben, wenn dieses Spiel verloren ging, und vielleicht wieder einen jener beliebten "Orientierungs"-Märsche bei Nacht - 20 km mit vollem Gepäck - ansetzen lassen, von denen man so schöne Blasen bekam in den Knobelbechern... Einer der Pinneberger Spieler - der rechte Verteidiger (an der Nr. 2 auf dem Trikot zu erkennen, damals gab es noch keine Fantasie-Rückennummern bis weit über 30 und keine Namenszüge :-) - schien das auch so zu sehen; aber er tobte nicht herum oder spielte verrückt, wie einst ein Uwe Seeler, wenn es nicht so lief wie es sollte, sondern er schnappte sich, ohne ein Wort zu sagen, im eigenen Strafraum den Ball, lief mit ihm an der rechten Außenbahn entlang über das ganze Feld und knallte ihn unhaltbar ins gegnerische Tor. Danach waren alle hellwach, die Spieler wie die Zuschauer, und es entwickelte sich ein mitreißendes Spiel; keine der 22 Flaschen, die Dikigoros gerade in Kijiw gesehen hat, hätte den jungen Soldaten von damals das Wasser reichen können. Am Ende schickte Pinneberg die Auswahl von Budel zur Freude des Herrn Oberst mit 10:1 nach Hause, und an jedem einzelnen der zehn Tore war die Nr. 2 beteiligt - sei es, daß er sie selber erzielte (eines davon per Elfmeter), sei es, daß er sie vorbereitete mit seinen zwar irgendwie merkwürdig krummen, aber immer präzisen Flanken. (Man sollte sie noch "Bananen-Flanken" nennen, als die Bananen selber infolge irgend einer EU-Norm schon längst nicht mehr krumm sein durften :-) "Wer ist denn das?" fragte Dikigoros am Ende des Spiels verblüfft seinen Nachbarn, der offenbar besser informiert war. "Den kennst du nicht?" fragte der abschätzig zurück, "das ist doch der Manni Kaltz!" Im Trikot des Hamburger SV gewannen die Pinneberger 1973 den Ligapokal, scheiterten 1974 erst im Endspiel des DFB-Pokals an Eintracht Frankfurt (damals eine Spitzenmannschaft, mit Weltmeistern gespickt), gewannen 1976 den DFB-Pokal, 1977 den Europapokal der Pokalsieger und 1979 die deutsche Meisterschaft. Da waren allerdings nur noch ein paar Pinneberger dabei, die übrigen hatte man durch - zumeist ausländische - Millionenkäufe ersetzt. (Der erste war der Engländer Kevin Keegan gewesen, der seinerzeit - wohl zurecht - als der beste Fußballer Europas galt und daher die damalige Rekordsumme von 1 Mio DM [500.000 Euro] kostete; aber ansonsten war es eher umgekehrt: Deutsche Fußballer galten weltweit als die besten; wenn ein italienischer oder spanischer Fußball-Verein international mithalten wollte, dann verpflichtete er deutsche Spieler. Und in der DFB-Auswahl - die, als Dikigoros das o.g. Spiel in Kijiw besuchte, amtierender Weltmeister war, übrigens zum letzten Mal - spielten noch ausschließlich Deutsche, keine eingebürgerten BRD-Passanten mit "Migrations-Hintergrund" oder so genannte "Fußball-Deutsche"; es war noch eine echte National-Mannschaft, keine Legionärstruppe.) Auch das spiegelt ein Stück Geschichte wieder, Sportgeschichte, Wirtschaftsgeschichte und Sozialgeschichte, und deshalb hat es vielleicht doch einen Platz in Dikigoros' "Reisen durch die Vergangenheit" verdient; der vorletzte, den man hinaus warf, war Torwart Rudi Kargus - der nach dem 0:1 keinen Gegentreffer mehr zugelassen hatte -, und als letzter Luftwaffensoldat a.D. blieb nur noch jener Manfred Kaltz übrig, dessen Stern damals in Pinneberg aufging. Er sollte Rekord-Elfmeterschütze der Bundesliga werden (beinahe auch Rekord-Spieler; am Ende fehlten ihm nur ein paar Einsätze wegen eines Beinbruchs nach einem gegnerischen Foul in einem Pokalspiel - er hatte sich in Pinneberg leichtsinnigerweise angewöhnt, ohne Schienbeinschützer zu spielen, was damals noch nicht verboten war), Europapokalsieger der Landesmeister (für jüngere Leser: das war der Vorläufer der "Champions Leage"), Europameister und Vize-Weltmeister; und 1987 sollte er mit einem Freistoßtor in letzter Minute den bisher letzten Titel - wieder den DFB-Pokal - nach Hamburg holen. Ein Jahr später wurde das LAR 1 aufgelöst und durch eine Unteroffiziersschule ersetzt, die ihrerseits 2003 nach Appen verlegt wurde; seitdem verfällt das einstige Kasernengelände in Pinneberg, weil sich die Politiker nicht einigen können, was mit ihm geschehen soll, zu Brachland. 2005 wurde auch das LAR 2 in Budel aufgelöst, und damit dürften die letzten Erinnerungen an den "militaristischen" Ursprung der letzten großen Zeit der deutschen Fußballer ausgelöscht sein. (Was durchaus gewollt ist; warum sonst würden in den staatlich kontrollierten Medien die Militär-Weltmeisterschaften im Fußball - wie die Militärweltspiele überhaupt - konsequent tot geschwiegen? Überflüssig zu erwähnen, daß die Bundeswehr 1975 mit den Pinnebergern den "World Military Cup" gewann - zum ersten und bisher einzigen Mal -, denn es interessiert ja doch niemanden.) Nachtrag Ende.


für das LAR I hat er nie gespielt und an Militärweltmeisterschaften nie teilgenommen - quod erat demonstrandum

Zurück nach Kijiw. Sie gehen zu Fuß zum Hotel "Sport". Obwohl sie hier keine Gäste sind, sagt niemand etwas, als sie sich zum Fahrstuhl ins Restaurant begeben. Aber neben ihnen wartet ein junges Pärchen, offenbar ebenfalls westliche Ausländer, das auch mit fahren will. "Halt, wo wollen Sie hin?" raunzt sie der Fahrstuhl-Gorilla an. "Wir wohnen hier." - "Gäste-Karte?" - "Haben wir auf dem Zimmer vergessen." - "Da kann ja jeder kommen, ich kenne Sie nicht." Er kennt auch Jockel und Dikigoros nicht; aber da gibt es einen feinen Unterschied: Die sprechen Englisch mit ihm. Er hat sie so angesprochen, spricht alle Ausländer so an; die beiden anderen haben ihm auf Ukraïnisch geantwortet. Sie sprechen ein wunderbares Ukraïnisch, weich und fließend. Dikigoros würde das nie so hin bekommen, aber er kann es einigermaßen beurteilen. Sein Lektor wäre begeistert; aber dem Gorilla scheint es gar nicht zu gefallen. "Nun, wird's bald? Wir haben unsere Zeit nicht gestohlen," raunzt Dikigoros ihn an - auf Russisch. Das wirkt. Sie fahren ab, und die beiden anderen kommen mit. Dikigoros sieht das Abzeichen mit den gekreuzten Flaggen Kanadas und der Ukraïne an ihrem Jacken-Aufschlag - Kanada hat die größte ukraïnische Diaspora im Westen, dorthin sind auch die Kinder Banderas entkommen und haben überlebt. "Warum habt ihr dem nicht auf Englisch die Meinung gesagt?" fragt er. Sie antworten nicht gleich. Dann sagt sie ruhig und leise: "Dies ist unser Land, da lassen wir uns doch nicht von so einem daher gelaufenen Russen den Gebrauch unserer Sprache verbieten." - "Wollt ihr nicht mit kommen zum Abendessen?" - "Nein danke, wir haben schon gegessen."

[Swita]

Im Restaurant geht es bereits hoch her, als sie ankommen, d.h. die anderen haben schon für sie mit gegessen, wie die Küche bedauernd mitteilt, ist nichts mehr vorrätig - außer natürlich Alkoholika in jeder beliebigen Menge. Sie verzichten dankend und studieren das Publikum: Geert sitzt inmitten einer Schar junger Studentinnen, die allesamt heraus geputzt sind wie die Pfingstochsen und - vom Champagner beschwipst - strahlen wie die Honigkuchenpferde. Geert scheint sich für eine der älteren - Mitte 20 - entschieden zu haben, Switlana heißt sie. Dikigoros findet, daß dies der schönste und echteste ukraïnische Mädchen-Name ist. (Die Russen kennen ihn auch, als "Swjetlana"; er entspricht dem germanischen "Ostara" - Swjetloje Woskrjesenje ist der Oster-Sonntag). Auch das vis-à-vis von Melone heißt so. Sie ist eine der jüngsten, himmelt ihn an wie ein Backfisch, daß es einem direkt warm ums Herz werden könnte, wenn einem nicht nach zwei Stunden im kalten Regen der Magen so knurren würde wie Dikigoros. Was will er bloß mit dem dummen Gänschen? denkt er; aber noch schlimmer findet er das Pärchen, das sich neben Melone plaziert hat und von beiden Seiten auf ihn einredet: Er ist Ukraïner, und sie - seine Frau - gebürtige Engländerin (sie heißt Helen, nennt sich aber, russifiziert, "Jeljena"). Beide sind Künstler und könnten ihre Bilder hier gut verkaufen, allerdings nur gegen Wanzen, und wer will das schon. Ob der große Kunstexperte, Mäzen und Auktionator ihnen nicht beim Absatz ihrer Kunstwerke im Westen behilflich sein könnte? "Na klar, der Herr Professor wird in allen deutschen Großstädten Galerien anmieten und eine Wander-Ausstellung quer durch die Republik veranstalten," mischt Dikigoros sich ungefragt ein. Er und die Britin sind einander auf Anhieb unsympathisch. Er mag grundsätzlich keine "Limeys" und setzt gleich seinen tiefsten Südstaaten-Akzent auf, und sie verachtet "Rednecks" und befleißigt sich ihres gestelztesten Queens-English.

Nachdem sie sich eine Weile angegiftet haben nimmt Dikigoros alleine die Metro zum Ostufer, um im Hotel-Restaurant sein Abendbrot nachzuholen. Da er nicht vorbestellt hat, gibt es nur Reste - und natürlich Wodka. Er setzt sich an den Tisch zu einem dicken "Bisinismän" (dieses englische Wort für "Geschäftsmann" hat in alle Ostblock-Sprachen Eingang gefunden) unbestimmter Herkunft. Er ist der Typ "kosmopolitischer" Geldmacher, der überall ein Geschäft wittert und absahnt, wo er kann. Aus der Ukraïne - aber auch aus Rußland - importiert er Holz jeglicher Art und Güte, von rohen Baumstämmen bis zum fertigen Klavier. "Fantastische Preise," meint er, "man muß nur in Valuta bezahlen. Ist natürlich nicht ganz ungefährlich. Da gibt es welche, die wollen sich das Geschäft nicht von einem Ausländer aus der Hand nehmen lassen." - "Mafia?" - "Na ja, wie immer Sie es nennen wollen. Aber mit mir nicht." Er hat seine beiden Gorillas "unauffällig" am Nebentisch plaziert, und die lassen auch Dikigoros nicht aus den Augen. Ebensowenig die einheimische Begleiterin des Dicken, eine Russin namens Ludmila, ein verschüchtertes graues Gänschen mittleren Alters. (Vielleicht sieht sie auch nur älter aus als sie ist, wie so viele hier.) Ihr Benehmen ist hündisch; sie würde ihrem Herrn und Meister auch die Schuhe lecken, wenn er es befähle, das sieht man ihr an. Hier ist alles käuflich. Am anderen Nebentisch sitzt eine Gruppe Ossis - unverkennbar an ihrem sächsischen Dialekt. Dikigoros sagt kurz guten Tag, und ihr Anführer meint: "Als Wessi werden Sie hier überhaupt kein Bein auf die Erde kriegen; wir dagegen haben noch unsere alten Verbindungen, ihr braucht uns." Tja, die alten Seilschaften... sie sprechen übrigens ausgezeichnet Russisch, als der Kellner kommt, und für sie gibt es auch besseres Essen: Pilze in Rahmsauce, ein Lieblingsgericht der Einheimischen. Na ja, denkt Dikigoros, wahrscheinlich haben die rechtzeitig vorbestellt; er kann das auch zuhause essen.

"Diese verdammte russische Lahmarschigkeit," schimpft sein Tischnachbar, "aus dem Volk wird nie etwas." Er warte schon seit einer knappen Stunde auf sein Abendessen. Kein Wunder, denkt Dikigoros, wenn die Kellnerin hier "sofort" sagt, sagt sie auf Russisch "sejtschás", und das bedeutet wörtlich "noch in dieser Stunde". Sie sprechen über die russische Mentalität (die Russen sagen "russische Seele", duschá, und sind stolz auf sie). Das langsame russische Handeln wird schon durch das langsame Denken vorgegeben, wenn man davon ausgeht, daß der Russe in der Regel auf Russisch denkt. Das ist eine Sprache, in der man einfach nicht schnell reden oder denken kann: Alle weichen Vokale (und das ist gut die Häfte) werden durch ein vorgeschaltetes "j" verlängert; vor verdoppelten Konsonanten werden sie nicht etwa kurz gesprochen, wie im Deutschen, sondern im Gegenteil: der Doppel-Konsonant wird doppelt so lang; auch nach weichen Zischlauten wird noch ein "j" eingeschoben; und zwischen zwei oder mehr Konsonanten, wie sie z.B. im Deutschen so häufig sind, schieben die Russen vorzugsweise noch einen Extra-Vokal ein. Das "r" wird schön lange gerollt, und um das harte "l" (einen Laut, den die meisten Ausländer nie ganz richtig auszusprechen lernen, Dikigoros auch nicht) zu bilden, muß die Zunge weit hinten im Rachen ausholen. "Und so arbeiten die Russen halt auch," meint der Geschäftsmann. "Dafür sparen sie sich die Artikel und das Hilfsverb 'sein'," gibt Dikigoros zu bedenken. "Ja, aber nicht zwecks Beschleunigung, sondern aus Faulheit," sagt der Dicke, "statt dessen machen sie eine Pause. In der Zeit, in der die sagen: wo - Speisekarte? habe ich schon dreimal gesagt: wo ist die Speisekarte?" Dikigoros bezweifelt das, denn im Russischen heißt Speisekarte einfach "Menu", und das spricht sich ja denn doch etwas schneller; aber im Prinzip hat sein Gegenüber wohl Recht. Darüber könnte man stundenlang diskutieren - ändern wird man es nicht.

Exkurs. Aber etwas zu dem Thema muß Dikigoros noch nachtragen, weil es auch die Frage zwischen den Unterschieden zwischen Russen und Ukraïnern betrifft. In den Erdkundebüchern seiner Schulzeit gab es Testkarten, die von den Schülern "Stadt, Land, Fluß" genannt wurden, obwohl es eigentlich um Städte, Gebirge und Flüsse ging, die man benennen sollte. Er erinnert sich - es muß in Quinta oder Quarta gewesen sein -, als die Sowjetunion dran kam; es ging reihum. Seine Klassenkameraden feixten, als sie sahen, was auf ihn zukam - jedenfalls diejenigen, die wußten, um welchen Ort es ging, genauer gesagt, wie er sich schrieb, nämlich "Dnepropetrowsk", nicht dagegen, wie man diesen Zungenbrecher aussprechen sollte. Auch die Lehrerin meinte mit süßsaurem Lächeln: "Na, Niko, da haste aber Pech gehabt. Nur Mut!" Klein Niko aber - dessen Vater in der Nähe, in Saporozhje, im Lazarett gelegen hatte, dort von den russischen HiWis die richtige Aussprache gelernt und sie auch seinen Kindern beigebracht hatte - sprach das Wort gelassen und völlig richtig aus, nämlich "Dnjäprapjätruoffsk". Und zur richtigen Aussprache gehörte eben auch, es nicht so schnell herunter zu rasseln wie Deutsche das gerne tun, sondern es zwar flüssig, d.h. ohne zu stocken, aber trotzdem langsam, mit gedehnten Vokalen und lange gerollten "r" zu sprechen, wie das die Russen tun. Alle waren baff, und Niko war damals sehr stolz auf sich.

[Dnipro, Stadtwappen]

Aber inzwischen weiß er, daß das nur die russische Aussprache ist; und eigentlich ist das ja eine ukraïnische Stadt, die richtig "Dnipropetrowsk" geschrieben und auch so ausgesprochen wird, also ganz simpel; und die Eingeborenen, denen das noch nicht simpel genug ist, lassen die 2. Hälfte weg und sagen bloß "Dnipro", so wie die Eingeborenen von Sankt Peterburg ihre Stadt nur "Pītar" nennen. (Und, um auch das noch nachzutragen: Anno 2016, also rund ein Vierteljahrhundert nach dieser Reise, wurde die Stadt auch ganz offiziell in "Dnipro" umbenannt. Dagegen heißt Saporozhje noch immer "Saporizhja", aber vielleicht wird ja irgendwann mal "Sapo" draus :-) Was können/wollen/sollen wir nun daraus schließen in Sachen "Langsamkeit", "Faulheit" pp. der Ukraïner? Dikigoros überläßt die Beantwortung dieser Frage seinen Lesern. Exkurs Ende.

Als Dikigoros um 2:30 Uhr auf Zehenspitzen den Flur vor seinem Zimmer betritt, in dem Glauben, er sei der letzte, stellt er fest, daß er der erste ist und sich den Schlüssel bei Tatjana II abholen muß - die anderen kommen erst im Morgengrauen, nachdem sie den Alkohol-Vorrat des "Sport"-Hotels restlos vernichtet haben.

[Lavra Eingang] [Lavra Innenanlage]

An nächsten Tag kann das Quartett wieder auf Tatjana I zurückgreifen. Gemeinsam besuchen sie die touristische Hauptattraktion von Kijiw, das Kloster der Lavra, genauer gesagt die Klöster der Lavra. Offiziell sind es heute Museen; aber niemand kann doch die orthodoxen Geistlichen daran hindern, dort ihre Gebete zu verrichten, und niemand die Besucher, sich von ihnen segnen zu lassen und Kerzen zu stiften. Melone schafft es, sich mit herab kleckerndem Wachs die Finger zu verbrennen, und Jockel ist sauer, daß er nicht fotografieren kann, weil Blitzlicht verboten ist. Ein Zug schwarz gekleideter älterer Frauen beeindruckt Dikigoros besonders: Sie sind offenbar von weit her gepilgert; ein altes Kreuz am zum Dnepr abfallenden Hang hat es ihnen besonders angetan. Sie fallen davor auf die Knie; ein jüngerer Pope singt mit bemerkenswert schöner Stimme alte Kirchenlieder, und die Gemeinde fällt zum Refrain ein.

Wieder draußen stoßen sie auf einen Zug älterer Männer, die keineswegs in schwarz gekleidet sind, etwas ramponiert aussehen, aber ebenfalls an ihre Mission glauben. Sie kommen aus der Hauptstadt der West-Ukraïne, aus Lwiw (oder, wie die Russen es nach der Genitiv-Form nennen, Lwow), zu deutsch Lemberg. Sie würden Galizien am liebsten wieder unabhängig sehen und es eng an den Westen anschließen, wie einst vor 50 Jahren. Mit der noch immer kommunistischen, ihnen noch immer viel zu stark nach Rußland orientierten Zentralregierung sehen sie schwarz, genauer gesagt rot. Sie sind unterwegs von Polizei und staatlichen Milizen nieder geknüppelt worden; stolz zeigen einige ihre Verletzungen. Sie führen neben der alten, blau-gelben Flagge der Ukraïne auch die schwarz-rote Flagge der Banderisten mit sich, die sie "Garibaldi-Flagge" nennen, nach dem italienischen Revolutions-Führer, dessen Anhänger so schwarze Füße, pardon, Hemden hatten und an deren Händen so viel Blut klebte... Und sie stecken den Gästen aus dem Reich gleich das Abzeichen mit dem "Trizub" an, dem alten indo-aryschen Wappen der Ukraïne, dem stilisierten Dreizack.

[Trizub]

Da das noch ältere indo-arysche Zeichen des Heils, der Swastik, heute verboten ist, haben sie sein Gegenteil, das Zeichen der Zerstörung, gewählt. Es erinnert an urtümliche Zeiten, als die stärste Waffe der Menschen und Tiere noch Zähne waren (sei es zum Beißen, sei es als Pfeil- oder Speerspitze), deshalb ist "Dreizack" vielleicht nicht ganz richtig übersetzt, denn "zub" heißt Zahn, und auch die alten Griechen und Römer nannten die Waffe ihrer unterseeischen Zerstörer-Götter Poseidón und Neptun "Trident", Dreizahn. In Indien wurde (und wird, denn die Inder glauben als einziges altes Kultur-Volk der Welt noch an ihre alten Götter, aber das ist eine andere Geschichte) der "Trishūl" von Shiwa geführt, der ebenfalls ein Gott der Zerstörung ist.

Und folgerichtig haben auch die Amerikaner - "in God we trust" - ihre furchtbarsten Waffen (von denen einige noch immer auf Kiew gerichtet sind, deshalb erwähnt Dikigoros das hier) "Poseidon" und "Trident" genannt, nämlich die Raketen, mit denen ihre unterseeischen Zerstörer, die Atom-U-Boote, bestückt sind. Trotz alledem steckt sich Dikigoros das Ding an und trägt es (als einziger der vier) für den Rest der Reise offen am Revers.

Zurück zu unseren Reisenden aus Galizien. Einige sind zu Tränen gerührt, in Jockel einen Landsmann des Führers anzutreffen. (Sie alle können dessen Namen richtig aussprechen - das unterscheidet die echten Ukraïner von den Russen, die kein "h" kennen, sondern es durch "ch" oder "g" ersetzen; daran sieht man z.B., daß die in Kijiw geborene Terroristin Holda Meierson sich als Russin fühlte, denn sie nannte sich, als sie nach Palästina auswanderte, erst Golda Meïrson, und später nur noch Golda Meir.) Nach so vielen Jahren, und dazu noch einen Journalisten! Sie erzählen ihm gleich die Geschichte ihrer Bewegung und bitten ihn, sie in den westlichen Medien zu veröffentlichen. Tatjana ist das alles sichtlich peinlich. Mit betretenem Gesicht versucht sie, Dikigoros' Fragen auszuweichen, indem sie zurück fragt: "Warum duzen Sie mich eigentlich ständig?" - "Weil wir uns untereinander alle duzen, und du dazu gehörst. Und wenn wir als Ältere dir das Du anbieten, kannst du als Jüngere das ruhig annehmen. Oder fällt es dir soviel leichter, die 3. Person Mehrzahl zu bilden als die 2. Person Einzahl?" Natürlich tut es das, denn erstere ist ja einfach der Infinitiv; aber das kann Tatjana wiederum nicht zugeben, das ginge gegen ihre Berufsehre. Also duzt sie Dikigoros fortan zaghaft - die anderen siezt sie weiter. Sie verabreden sich zum Abendbrot in einem Restaurant, wo überwiegend Mafiosi verkehren sollen - Dikigoros will das auch einmal sehen. "Und, Tanja, könntest du dich nicht mal normal anziehen? Du läufst immer herum wie zum Staats-Empfang, das ist uns langsam peinlich." - "Was heißt das, normal anziehen?" - "Nun, das was du sonst auch tragen würdest, wenn wir nicht dabei wären." Sie schaut ihn irritiert an: "Wir ziehen uns immer gut an, wenn wir auswärts essen gehen." Auch Dikigoros ist irritiert: Er ist es gewohnt, mit der Sprach-Barriere auch alle anderen Barrieren zu durchbrechen, die Menschen verschiedener Nationalität für gewöhnlich von einander trennen; er hatte bis dato stets die Erfahrung gemacht, daß man sich leichter in andere Menschen hinein zu denken vermag, wenn man ihre Sprache versteht; deshalb nimmt er auch die Mühe auf sich, Fremdsprachen zu erlernen, bevor er ins Ausland reist. Aber bis zur Öffnung der Mauer ist er noch nie im Ostblock gewesen; und hier gelingt es ihm einfach nicht - es ist ähnlich wie die Mauer zwischen Ossis und Wessis, die aneinander vorbei reden, selbst wenn sich beide der deutschen Sprache (oder jedenfalls deutscher Dialekte) bedienen. Jeden Neger aus Spanish Harlem, jeden Gurkha aus dem Himālay, wahrscheinlich selbst den legendären "Yeti", wenn er denn auftauchte, würde Dikigoros eher verstehen als seine "Brüder und Schwestern" im Osten.

Schwester Tatjana hält die Mauer aufrecht. Das merkt man an Kleinigkeiten: Dikigoros spricht die russische Kurzform ihres Namens als einziger richtig aus, nämlich mit langem, gedehntem "a"; aber sie korrigiert die anderen nicht, wenn sie, wie in Deutschland üblich, "Tannja" sagen - sie will einfach nicht, daß diese Fremden sie mit ihrem richtigen Namen richtig anreden. Sie hat ihnen auch nicht ihren Vatersnamen verraten (geschweige denn ihren Familiennamen), obwohl es üblich ist, sich mit diesem und dem Vornamen anzureden - jedenfalls unter Russen. (Dikigoros' Ukraïnisch-Lektor meint, nur unter Sowjets, kein anständiger Russe würde sich so anreden, das sei das Erkennungszeichen linientreuer Kommunisten; aber das sieht Dikigoros anders.) Und sie lehnt es auch ab, Dikigoros mit der russischen oder ukraïnischen Form seines Vornamens anzureden - sie bleibt bei der deutschen Form, obwohl die für Russen relativ schwierig auszusprechen ist. Nur einmal verplappert sie sich: Geerts Germanistik-Professorin hat auf Befragen erklärt, ihr Lieblingsfilm sei "Bjespridanitsa". Das Wort kennt Dikigoros nicht, und es steht auch nicht im Wörterbuch. Es ist eine Wortschöpfung des Drehbuch-Autors, wie Tatjana auf Befragen erklärt, zusammengesetzt aus "ohne", "Mitgift" und einer Endung, die das ganze personifiziert, zu deutsch: "[Die] Mitgiftlose". Und sie erzählt den Inhalt des Films mit solcher Emotion, daß man ihr anmerkt, daß es auch ihr Lieblingsfilm ist. [Nachtrag: Im Rückblick ist sich Dikigoros da nicht mehr so sicher. "Bjespridanitsa" ist ein alter sowjetischer Propagandafilm, der den Standesdünkel der reichen, adeligen Offiziere im Tsarenreich geißelt. Die Sowjets führten ihn bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ihren deutschen Gefangenen vor - so wie die Westalliierten ihren deutschen Gefangenen getürkte Filme über deutsche Konzentrationslager vorführten. Dikigoros entnimmt dies den bewegenden Erinnerungen des deutschen Jagdfliegers Hajo Herrmann an seine zehnjährige Kriegsgefangenschaft ("Als die Jagd zuende war"). Offenbar gehörte dieses Thema bis zuletzt zum Standard-Repertoire der Ausländer-Hostessen des KGB und war Tanja deshalb besonders geläufig.] Für Dikigoros, einen Kapitalisten aus einem kapitalistischen Land, ist es eine banale Erkenntnis, daß ein Mangel an Mitgift die Chancen auf dem Heiratsmarkt mindert; er nimmt staunend zur Kenntnis, daß es in der ehemaligen Sowjet-Union erwachsene Frauen gibt, die noch an die große Liebe glauben und auf diese schlichte Tatsache mit Trauer, Empörung und Verbitterung reagieren, oder, wie die Russen sagen, mit "Toská" [Schwermut].

"Glaubst du, daß Toská eine typische Eigenschaft des russischen National-Charakters ist?" - "Ja, Puschkin hat ein sehr schönes Stück darüber geschrieben; er ist mein Lieblingsdichter." - "Ich weiß." - "Woher weißt du?" - "Puschkin ist der Lieblingsdichter aller Russen, wenn man sie fragt; dabei haben ihn die meisten ebensowenig gelesen wie die meisten Deutschen seine Zeitgenossen Goethe und Schiller, geschweige denn verstanden." - "Woher wollen Sie... willst du das wissen?" - "Puschkin hat in einer anderen Welt gelebt. Er ist schon für uns Westler nur noch schwer zu verstehen; für euch Sowjet-Menschen überhaupt nicht mehr." - "Woher willst du wissen, daß die Menschen ihn früher richtig verstanden haben? Zu seinen Lebezeiten hatte die tsaristische Zensur verboten, ihn zu lesen, und ihn verbannt." - "In die Ukraïne, nach Odessa, ans Schwarze Meer, das ist doch keine Verbannung. Übrigens sind seine Werke immer zugleich auf Russisch und Deutsch erschienen, und in Deutschland waren sie nie verboten. Wir kennen Puschkin viel besser als ihr." (Dikigoros verkneift sich die Bemerkung, daß Puschkin ein ausgesprochen reaktionärer Mensch war, von dem der Satz stammt: "Gott schütze uns vor einer sinnlosen und grausamen russischen Revolution!" Der Zensor hat ihn selbstverständlich aus allen sowjetischen Ausgaben verbannt, so wie er aus den sowjetischen Dostojewskij-Ausgaben alle Sätze verbannt hat, die das Wort "Gott" enthalten - auch ihn kennen die Deutschen besser als die Russen, und sei es nur aus der hervorragenden Übersetzung von Arthur Moeller van den Bruck, dem Autor des Buches "Das Dritte Reich" - das wiederum der deutsche Zensor aus allen öffentlichen Bibliotheken und Geschäften verbannt hat.) - "Goethe und Schiller sind auch früh ins Russische übersetzt worden," sagt Tanja, "und sie waren bei uns auch nie verboten." - "Weil sie zu Lebzeiten völlig unbedeutend waren. Kotzebue hat zu Lebzeiten mehr Bücher verkauft als Goethe, Schiller und Puschkin zusammen." - "Wer ist das?" - "Das war ein Dichter, den Goethe aus Weimar weg geekelt hat, der in Rußland General geworden ist, und den ein deutscher Student erschossen hat." - "Puschkin ist auch erschossen worden, von einem tsaristischen Offizier." - "Den er zum Duell gefordert hat, weil der mal mit seiner Frau getanzt hatte." - "Sie haben ihn provoziert, weil er ein Sympathisant der Djekabristen war." Das hat sie schön auswendig gelernt, aber es stimmt vorne und hinten nicht: Abgesehen davon, daß die adeligen Djekabristen nicht für mehr Freiheit putschten, sondern gegen mehr Freiheit (die der Tsar den Finnen, Polen und anderen Kolonialvölkern gewähren wollte), war Puschkins Duellant gar kein tsaristischer Offizier, er war nicht einmal Russe, sondern ein französischer Gigolo, der mit dem Tsaren gleich gar nichts am Hut hatte. Und Goethe und Schiller hat zuerst ein Türke ins Russische übersetzt. Dikigoros liegt das und noch so vieles auf der Zunge; aber hat es Zweck, mit einer Sowjet-Menschin über Zensur und Literatur-Geschichte zu streiten? Tatjana hat ihre Ausbildung in russischer Sprache und Literatur halt nicht auf einem westdeutschen Gymnasium erhalten; ihr Wissensstand entspricht in etwa dem eines Ossis (wenn man mal davon absieht, daß die meisten Ossis den russischen Dichter falsch aussprechen, nämlich "Puschschkinn", statt "Pūschkīn", wie es richtig wäre) und ist entsprechend einseitig. Dikigoros kommt auf das Ausgangs-Thema zurück: "Warum bist du eigentlich noch nicht verheiratet?" - "Ich habe noch nicht den richtigen Mann gefunden." - "Und nach welchen Kriterien würdest du dir den aussuchen?" Welch eine Indiskretion! Tatjana wird rot und murmelt etwas von "Treue", "Abstinenz" und "ein guter Mensch muß er sein" - was immer das ist. Da kann sie jedenfalls lange suchen... Sie verabschiedet sich mit unverhohlenem Unbehagen; Dikigoros hat sie völlig durcheinander gebracht. Natürlich, denkt er, die ist es nicht gewohnt, auf Ausländer zu treffen, die sie und ihr Land durchschauen und ihr das auch noch so offen ins Gesicht sagen. Mit den Weich-Eiern von Regierungs-Delegationen und Staatsfirmen (oder Firmen, die mit staatlichen Hermes-Bürgschaften im Rücken her kamen), die sie zu Sowjet-Zeiten zu betreuen pflegte, hatte sie sicher viel leichteres Spiel.

Weniger leichtes Spiel haben die vier mit der Managerin vom Hotel: "Sie sind jetzt drei Nächte hier; länger dürfen Sie als westliche Ausländer ohne Einladung nicht bleiben." Das hat sie jedenfalls Jockel, Geert und Melone erklärt, die schon mal vorgefahren waren, während Dikigoros Tatjana verabschiedet hatte. "Und das, obwohl das halbe Hotel leer steht," schimpft Geert, "wenn sie noch gesagt hätte, daß alle Zimmer ab morgen reserviert wären..." - "Aber das hätte sie uns doch schon am ersten Tag sagen müssen," wirft Melone ein. Dikigoros bleibt kühl - er hat den dreien verschwiegen, daß sie genau das bei der Ankunft getan hatte und daß das überhaupt die Bedingung dafür war, daß sie hier absteigen durften. Aber er hat es ihr von Anfang an nicht geglaubt und darauf vertraut, daß er das schon geregelt bekäme. Schließlich ist er Jahrzehnte lang durch die Welt gereist und hat sich angewöhnt, solche Probleme mit asiatischer Ruhe und Gelassenheit zu lösen - wenn er Sprüche hört wie "kein Zimmer frei" oder "keine Fahrkarte mehr" ist er auf beiden Ohren taub. Er schickt seine drei Mitreisenden auf ihr Zimmer und knöpft sich die Managerin alleine vor. Sie heißt Olga, und das paßt zu ihr, findet Dikigoros. Es paßt zu all diesen Wendehälsen, die ihr Fähnchen immer nach dem Wind hängen, gerade wie es politisch opportun ist.

Die erste historisch belegte Fürstin von Kiew im 10. Jahrhundert war eine Waräger-Prinzessin aus Pleskau am Peipus-See mit Namen Helga. Als sie den Fürsten von Kijiw heiratete, slawisierte sie ihren Namen zu "Olga". Als ihr Mann tot war, befleißigte sie sich, die Drewljanen auszurotten, einen Volksstamm, der im Norden von Kijiw lebte, in den riesigen Ginster-Feldern, auf denen später das gleichnamige Atom-Kraftwerk entstehen sollte. (Übrigens mit der gleichen Brutalität wie tausend Jahre später Fürst Dschugaschwili; sie errichtete zu diesem Zweck die ersten Gaskammern - umgebaute Saunabäder.) Als sie auch noch Kaiserin von Konstantinopel werden wollte, ließ sie sich orthodox taufen und nahm den griechischen Namen Eleni (Jeljena) an - aber jene Stadt, die seitdem das Objekt der Begierde aller russischen Außenpolitiker ist, eroberte sie nicht mehr, ebensowenig wie ihre Nachfolger bis zum heutigen Tag. Also nur eine Episode der russisch-ukraïnischen Geschichte und nicht weiter erwähnenswert? Keineswegs, denn Olga beschränkte sich nicht darauf, das Christentum einzuführen und die Namen (nicht nur ihren eigenen) zu gräzisieren, sondern zwang ihren Untertanen eine noch viel weitreichendere Änderung auf: die ihrer gesamten Sprache. Jahrhunderte lang hatten Slawen und Germanen zwischen Wolga und Weichsel nahe beieinander gelebt und Dialekte gesprochen, die sich kaum voneinander unterschieden. Eine eigene Schrift hatten sie zwar nicht gehabt (ein gewisser Ulfilas hatte mal versucht, den arianischen Goten eine beizubringen, damit sie die Bibel lesen lernten, aber das war schon 600 Jahre her, und es war bei diesem einen Versuch geblieben), aber sie hatten sich auch so mehr oder weniger verstanden. Damit machte Olga Schluß, und zwar mit Methode: Sie beauftragte einen makedonischen Mönch namens Method, die Bibel ins Makedonische zu übersetzen; und was dabei heraus kam, zwang sie ihrem Volk auf. "Kirchen-Slawisch" nannte man das später und schrieb das Werk fälschlicherweise einem gewissen Kyrill zu. Aber tatsächlich war es Makedonisch, geschrieben in leicht abgewandelten griechischen Lettern; eine fremde Sprache, die kaum ein Russe, egal ob germanischer oder slawischer Abstammung, verstehen konnte, geschweige denn lesen oder schreiben. Aber noch hing das Volk an seinen gesprochenen Dialekten; und was das Lesen anbelangte, so waren 99% der Bevölkerung damals ohnehin Analfabeten - wie übrigens in fast ganz Europa. Wie sagt man so schön: Nadjezhda (wörtlich das, worauf man wartet), die Hoffnung stirbt zuletzt. Und so klammerten sich die Russen denn wenigstens an diesen einen eigenen Frauennamen, den sie sich nicht von Olga und ihrer griechisch-makedonischen Sprach-Mafia weg nehmen ließen und der in der Form "Nadine" die Welt erobert hat.

Dikigoros verscheucht diese Gedanken aus seinem Kopf und widmet sich wieder der vor ihm sitzenden Olga, rafft sich zu einem improvisierten Kurzreferat über Volks- und Betriebswirtschaft im allgemeinen und über die Hotel-Branche im besonderen auf und leitet daraus schlagende kapitalistische Argumente ab, wie: "Sie verdienen an uns immerhin zehnmal soviel wie an einheimischen Gästen." Aber damit kommt er Olga nicht bei - vielleicht versteht sie auch einfach zu wenig Englisch. "Ich bedaure sehr, so sind nun mal unsere Vorschriften." Den Satz hatte er schon erwartet - obwohl das so nicht stimmt: Die Vorschriften lauten, daß sie hier überhaupt nicht hätten absteigen dürfen. Will sie bestochen werden? Nein, dann könnte sie doch einfach den Übernachtungspreis für Einheimische abrechnen und die Differenz in die eigene Tasche stecken. Es ist einfach eine Denk-Blockade in ihrem Gehirn. Aber ein staatliches Hotel kann seine Gäste auch nicht einfach auf die Straße setzen. "Was machen Sie denn, wenn wir einfach hier bleiben? Wollen Sie die Polizei rufen und einen Skandal riskieren? Wir haben allesamt ein gültiges Visum; Sie werden uns ja wohl nicht zumuten wollen, auf der Straße zu übernachten." - "Suchen Sie sich ein anderes Hotel." - "Nein. Sie müssen uns ein anderes Hotel suchen. Wenn Sie uns eines nachweisen, ziehen wir gerne um, auch wenn das ja eigentlich lächerlich ist für zwei Tage." Sie greift zum Telefonhörer und tut so, als riefe sie ein paar Hotels an - hält sie Dikigoros für blöde, oder hat sie bloß noch nicht mitbekommen, daß er Russisch versteht? (Dann hat Tatjana II aber schlechte Arbeit geleistet!) Danach tut sie genau das, womit er gerechnet hat - sie schiebt ihm ein Anmeldeformular über den Tisch: "Na schön, für zwei Tage. Aber keinen Tag länger. Und Sie müssen sich nochmal neu eintragen." Das tut Dikigoros gerne - und diesmal auf Russisch, damit sie Bescheid weiß...

Auch Geert hat den anderen etwas verschwiegen, nämlich daß er für den Abend wieder seine Germanistik-Professorin und die beiden Switlanas eingeladen hat, und zwar ins Hotel, daß er also nicht mit zum Abendessen kommen wird. Und als Melone das hört, bleibt auch er gleich da. Tatjana II wird mit einem 1-US-$-Schein bestochen. (Das wird noch ein böses Nachspiel haben und ihr fast das Genick brechen; aber das gehört nicht hierher.) Jockel und Dikigoros ist nun doch etwas mulmig, sich in jene Räuberhöhle zu begeben, aber sie wollen Tatjana I nicht versetzen. Die erscheint am gewohnten Treffpunkt, und sie sieht selbst für Dikigoros Geschmack (der nun wahrlich keine überzogenen Ansprüche stellt, was Klamotten anbelangt) verboten aus: Ob sie den Sack, den sie da als Kleid trägt, als stumme Demonstration ihrer - der Ausländer - Unwissenheit angezogen hat? Aber die haben ganz andere Sorgen, zumal Tatjana sie immer tiefer in immer dunklere Gassen führt - und das mitten in der Stadt, das Vorzeige-Kijiw und seine Kehrseite liegen nah beieinander! Zwielichtige Typen stehen herum. Da liegt einer in der Gosse - sicher eine Schnapsleiche. Dikigoros, der schon viele Leichen gesehen hat in der Dritten Welt, läßt das kalt, und er geht davon aus, daß die anderen das genauso sehen. Aber Tanja macht großes Aufhebens darum: "Wir müssen dem armen Menschen doch helfen," meint sie. Ja wieso denn, alle anderen gehen auch ungerührt weiter, warum ausgerechnet wir? denkt Dikigoros. Tatjana verschwindet in der nächsten Telefonzelle. "Sicher ruft sie jetzt den KGB an, wo wir sind," unkt Jockel. "Na wenn schon, das wäre bloß ein Zeichen, daß sie selber Angst vor der Mafia hat." Tatjana kommt zurück: das Telefon sei defekt. Das ist glaubhaft. Ortsgespräche kosten nämlich 2 Kopeken alter Sowjet-Währung, die niemand mehr hat. (Bei 3 Kopeken gäbe es kein Problem, denn Rußland hat die alten 3-Kopeken-Stücke in neue 5-Rubl-Stücke umgeprägt, die man dafür verwenden könnte; aber die alten 2-Kopeken-Stücke haben keine Nachfolger.) Früher oder später sind wohl alle öffentlichen Fernsprecher demoliert worden von Leuten, die darob frustriert waren; Dikigoros hat jedenfalls in Kijiw keinen gesehen, der noch funktioniert.

[Telefone in Kiew]

Also weiter ins Restaurant. Es wird ein ziemlich langweiliger Abend. Sie haben einen Tisch oben auf der Galerie, können also auf die übrigen Gäste hinab blicken, meist jüngere Paare, die sich auf der Tanzfläche amüsieren. Und das soll nun alles Mafia sein? Dikigoros versteht den Haß der Russen und Ukraïner auf "die Kaukasier" ohnehin nicht so recht; seit Armenien, Aserbajdschan und Georgien unabhängig geworden sind, gelten Leute, die von dort kommen, grundsätzlich als "Mafiosi", und Leute aus den kaukasischen Bundesländern der Russischen Föderation - wie Tschetschnien oder Dagistan - erst recht. Essen und Musik sind o.k., aber Jockel und Dikigoros trinken nichts, höchst vorsorglich. Tatjana trinkt auch nicht viel, und so halten sich alle zusammen an einer halben Flasche grusinischen Cognacs fest. "Meine Eltern hatten in diesem Restaurant ihre Hochzeitsfeier," sagt Tatjana, "damals waren noch andere Zeiten." Die Diskussion kommt nicht so recht in Gang, sie belauern einander mit Blicken und mit Worten. Tatjana will wissen, was die beiden wirklich hier machen; und die wollen wissen, wer sie auf sie angesetzt hat und warum. Die einfachste Antwort, "harmlose Touristen" und "harmlose Dolmetscherin", will niemand gelten lassen; dafür haben sie allesamt eine zu schmutzige Fantasie. "Warst du schon mal in Deutschland?" - "Ja, in Leipzig." Aber sie spricht Deutsch ohne jeden Anflug eines sächsischen Akzents; dort kann sie es also nicht gelernt haben. "Wieso sprichst du so gut Deutsch?" - "Mein Chef ist Deutscher." - "Wo arbeitest du denn?" - "Bei einem Unternehmer aus Bayern." Aber Bayrisch klingt ihr Deutsch auch nicht. "Und wo sitzt der?" - "In der Nähe der Sofien-Kathedrale; wir können morgen mal vorbei gehen, wenn wir die besichtigen." - "Gerne." Komischer Chef, denkt Dikigoros, der seine Angestellte ständig mit anderen Ausländern herum ziehen läßt, noch dazu für so wenig Geld. (Auf die einfachste Idee, nämlich, daß der Chef nicht da ist und daß die Mäuse halt gerne auf den Tischen tanzen, wenn die Katze weg ist, kommt er nicht.) "Wieviel verdienst du denn da?" - "15 US-$ monatlich; dazu noch mein offizielles ukraïnischen Gehalt, aber das ist nebensächlich." Sie verdient also etwa soviel im Monat wie das Abendessen für fünf Personen im Hotel-Restaurant gekostet hat - nun versteht Dikigoros, warum sie so vorsichtig gefragt hat, ob das nicht zu teuer sei.

Auf dem Weg zurück ins Hotel fällt Dikigoros' Blick auf eines der neuen Straßen-Schilder: "Aleksander-Newskij-Wol." - ob das nun so viel besser ist als "Aleksandr-Njewskij-Ul."? Gewiß, man wohnt nun in einer ukraïnischen "Woletsia" statt in einer russsichen "Ulitsa" (was an den vielen Schlaglöchern und der schlechten Beleuchtung freilich nichts ändert; Straße bleibt Straße); aber das, worauf es ankommt, nämlich den alten Namen, haben sie gedankenlos übernommen - statt da endlich mal auszumisten. Das ist wieder so ein griechischer Vorname, mit dem die Ukraïner wenig Glück gehabt haben (hat Tatjana II vielleicht doch Recht? Nein, eigentlich war Alexander der Größenwahnsinnige, der bei diesem Namen Pate stand, ja gar kein Grieche, sondern ein Makedone - wie Method!), und dieser hier war der schlimmste: Aleksandr, ein Duodez-Fürst von Wladimir, einem Stadtstaat nordöstlich von Moskau, schlug im 13. Jahrhundert den ersten Nagel in den Sarg der Rus: Er widmete all seine Kraft der Zerstörung des Baltikums, wo noch seine Verwandten saßen, die Schweden. Die nahm er sich zuerst vor (als er sie an der Njewa entscheidend geschlagen hatte erhielt er seinen Beinamen). Dann vernichtete er die deutschen Ordensritter in Livland, und schließlich die Litauer in Lettgallen. Damit war der Handel mit Skandinavien und Europa tot. Schön und gut (oder auch nicht) - aber was ging das Kiew an? Eine ganze Menge, denn um sich den Rücken frei zu halten, hatte sich Aleksandr mit den Tartaren verbündet und ihnen im Gegenzug freie Hand im Land der Rus gelassen: Im selben Jahr, als Aleksandr das Heer des deutschen Ritterordens auf dem Eis des zugefrorenen Peipus-Sees bis auf den letzten Mann vernichtete, machten die Tartaren die damals mit 60.000 Einwohnern zweitgrößte Stadt Europas (nach Byzanz) dem Erdboden gleich und töteten alle bis auf 200 Einwohner. Damit war das Reich der Rus untergegangen. Moskau (mit seiner tartarischen Garnison) trat an die Stelle von Kiew; an die Stelle des europäischen Antlitzes des Waräger-Staates trat für zweieinhalb Jahrhunderte die asiatische Fratze der Goldenen Horde - und so ganz sollten die Moskowiter die nie mehr ablegen können. Der Dank des Vaterlandes war Aleksandr Njewskij dennoch gewiß: Im 18. Jahrhundert stilisiert ihn Peter der Große - der Halb-Tartar, dessen Hauptziel ja auch die Eroberung des Baltikums war - zum National-Helden hoch; dessen Nachfolgerin Katharina benannte den höchsten tsaristischen Orden nach ihm, und im 20. Jahrhundert beförderte ihn die von den Sowjets gleich-geschaltete Orthodoxe Kirche hochoffiziell zum National-Heiligen. Und der 750. Jahrestag der Schlacht am Peipus-See sollte noch 1992 in Rußland ganz groß gefeiert werden.

[750. Jahrestag der Schlacht auf dem Peipussee]

Wieder im Hotel. Die Gäste von Geert und Melone sind gerade gegangen; es sieht aus wie im Schweinestall - oder, wie Dikigoros' Schwiegermutter sagen würde, "wie in Russisch-Polen". Sie haben nämlich hier gegessen und getrunken - böse Zungen würden sagen: eine Orgie gefeiert. Aber das sieht nur so aus, auch wenn Melone besoffen auf dem Bett liegt und schnarcht. Zumindest Geert muß ziemlich zäh und erfolglos verhandelt haben; und entsprechend frustiert ist er: "Die Kleine verlangt 50 US-$ Gehalt pro Monat; und als ich ihr gesagt habe, das wäre viel zuviel - ich kenne die Durchschnitts-Gehälter hier, von meiner Professorin - hat sie nur ganz cool gemeint, ich würde doch wohl keine junge Studentin ohne Abschluß nur als Fremdsprachen-Sekretärin suchen, sonst würde ich mir ja eine ältere, erfahrenere suchen. Die begreift einfach nicht, warum ich keine Tatjana engagieren will. Die gehört noch zu der vernagelten alten Sowjet-Generation. Ich will junge Leute, die frei im Kopf sind und lernen können, vernünftig zu denken und zu arbeiten. Und das mit den Angestellten ist ja nicht das einzige Problem. Ich bekomme auch kein Büro, schon gar nicht zu vernünftigen Preisen. Als Ausländer kann ich es offiziell nicht mieten, d.h., ich brauche einen einheimischen Strohmann. Und bis jetzt habe ich noch keinen gefunden, der zuverlässig wäre." Dikigoros überlegt, aber auch er ist mit seinem Latein am Ende. Das hier ist nicht die weite Welt, die er kennt; es ist die engste Provinz, die er sich überhaupt vorstellen kann, es ist Ossiland hoch drei. Die schöne alte Stadt, die blitzblanken neuen Straßen-Schilder und die hübschen jungen Mädchen sind nur Fassade. Auch die 20-jährigen sind halt ihr Leben lang vom System geprägt worden, das - von der Elbe bis Sibirien - den einheitlichen homo communisticus hervorgebracht hat. Auch diese Generation wird man noch geschlossen abschreiben und auf den Müllhaufen der Geschichte werfen müssen. Und die Ukraïner haben keine reichen Verwandten im Westen, wie die DDR-Bürger, die sie in der Zwischenzeit über Wasser halten können - selbst die paar Kanadier werden ausbleiben, wenn sie hier weiter so behandelt werden. Aber was soll's; er hat sich wenigstens persönlich davon überzeugt, daß es nicht lohnen würde, hier mehr zu investieren als eine kurze Reise; und deren Rest wird er mit dem obligatorischen Touristen-Programm verbringen - was ja nicht ausschließt, sich in Sachen Büro nochmal umzusehen, und warum nicht bei Tatjanas "Bayern"?

[Kiew Innenstadt]

Am nächsten Tag beschließt das Quartett, mal ein anderes Restaurant auszuprobieren, im größten und elegantesten Hotel auf dem Kristschatik. Als sie die Treppe zum Restaurant betreten wollen, stellt sich ihnen ein bewaffneter Uniformierter in den Weg: "Geschlossen." Nanu? Draußen vor dem Hotel stehen zwar ein paar dicke Wagen herum, aber Hoheitszeichen führen sie ebenso wenig wie die Uniform des Gorillas, und es steht auch nirgends etwas von "geschlossener Gesellschaft." Das Hotel an sich ist geöffnet, wenngleich sich sonst niemand sehen läßt - außer dem Männchen am Zeitungskiosk links hinter dem Eingang. "Mafia", raunt es Dikigoros auf Befragen zu, als der ihm ein paar Postkarten abkauft, "machen Sie bloß schnell, daß Sie weg kommen." Sie sind vorsichtig genug, um diesem Rat zu folgen. Aber was nun? "Warum gehen wir nicht noch mal ins Sport Hotel?" fragt Geert. "Ohne Vorbestellung?" fragt Jockel zurück. "Warum eigentlich nicht," meint Dikigoros, dem das verpaßte Abendessen keine Ruhe läßt, "es ist doch sicher mal interessant zu sehen, wie es dann mit der Verpflegung aussieht." Sie stiefeln also hin, nur um zu erfahren, daß das Restaurant mittags geschlossen hat - es öffnet erst abends. "Und wenn die Herren Sportler zu Mittag essen wollen?" fragt Dikigoros. "Dann können sie in die Kantine gehen." - "Können wir das auch?" - "Bitte. 3. Stock." Als sie diese Mischung aus Küche und Mülldeponie betreten, trifft sie fast der Schlag. Als erster fängt sich Melone wieder: "Da hängt sowas wie 'ne Speisekarte, das scheint mir doch alles sehr preiswert zu sein, was ist es denn?" Dikigoros übersetzt: Kartoffelsuppe umgerechnet 2 Pfennige, Borschtsch (Rote-Beete-Suppe) 3 Pfennige, ein Brotlaib dazu 4 Pfennige, Wodka je 100 gr. 5 Pfennige. (Brot alleine wird nicht abgegeben, Wodka schon - wovon einige Gäste regen Gebrauch machen.) "Sonst gibt es nichts?" Die dicke Matka am Tresen schaut ihn mißmutig an: "Es hat sich noch niemand beklagt," sagt sie mürrisch, "wenn's Ihnen nicht paßt, gehen Sie doch woanders hin." - "Also, wenn ich schon mal hier bin, will ich auch was essen," sagt Melone und tut so, als ob ihm die Kartoffelsuppe wirklich schmecken würde. Die anderen schauen kopfschüttelnd zu und trösten sich mit der vorletzten Tafel Schokolade aus Dikigoros' Vorrat - die letzte Tafel ist für Tatjana.

[Sofien-Kathedrale]

Nachmittags treffen sie sich mit ihr vor der Sofien-Kathedrale. [Nein, liebe deutsche Leser, die Russen sind nicht so dumm, das griechische φ (das sie selber als ф übernommen haben) statt durch ein "f" durch ein "ph" wiederzugeben; das tut nur Ihr und diejenigen, die es von Euch übernommen haben!] Auch dieses einstige Gotteshaus ist heute ein Museum, und die interessantesten Teile sind geschlossen, "wegen Renovierungsarbeiten". Sofia ist auch ein Name, der aus dem Griechischen kommt; er bedeutet "Weisheit". Die erste bekannte Russin, die ihn im 15. Jahrhundert trug - und nach der auch diese Kathedrale benannt ist - hatte freilich nicht die Weisheit mit Löffeln gefressen, sondern viel nahrhaftere Dinge. Als sie im zarten Alter von 13 Jahren mit dem Großfürsten von Moskau verheiratete wurde, wog sie schon stolze 130 kg. Vielleicht hatte sie sich Kummerspeck angefuttert, denn ihre Heimatstadt Byzanz hatten gerade die Türken erobert, und sie saß im italienischen Exil und mußte sich mit Spaghetti und Sahneeis trösten - die Marco Polo dorthin aus China mitgebracht hatte. Zum Glück waren die byzantinischen Diplomaten fähiger als die byzantinischen Soldaten, und so schafften sie es, die Prinzessin nach Moskau zu verheiraten. Nicht, daß das normalerweise für eine byzantinische Thronerbin eine erstrebenswerte Partie gewesen wäre, so einen daher gelaufenen Duodezfürsten, einen brutalen Trunkenbold noch dazu, zu ehelichen, der gerade mal dem Tartaren-Joch entronnen war; aber Sofia war nicht nur fett und häßlich (das wäre kein so großes Handicap gewesen), sondern auch eine Bjespridanitsa, die nichts weiter mit in die Ehe brachte als den durchaus zweifelhaften Kaiser-Titel und den noch zweifelhafteren Anspruch, das "Römische Reich" zu verkörpern. Die byzantinischen Diplomaten sahen ganz nüchtern, daß ihre einzige Chance darin lag, den russischen Großfürsten zu bewegen, Byzanz von den Türken zurück zu erobern; dafür konnte man ihm schon mal die Kaiserkrone zugestehen. Aber der dachte gar nicht daran, sich vor den tief im Dreck steckenden griechischen Karren spannen zu lassen. Zwar trug auch er einen ursprünglich griechischen Namen, nämlich Iohanis (Hans); aber er behielt ungerührt die russische Form Iwán bei (ein Name, mit denen man die Russen im Ausland bald identifizieren sollte). Er begann auch keine neue Ära, sondern zählte einfach weiter durch, firmierte also als "Iwán III", obwohl er fortan Moskau als "das Dritte Rom" und sich selber als "Tsar" bezeichnete. Er übernahm also nicht den griechischen Kaiser-Titel "Wasilios" [oder "Basiläos", wie es die Deutschen falsch transkribieren, die nicht wissen, daß das griechische β kein "Beta", sondern ein "Wita" ist und das η kein "Äta", sondern ein "Ita", ganz zu schweigen davon, daß sich auch das erste σ scharf ausspricht, also als "ss", nicht als "s"] - daraus wurde vielmehr ein weit verbreiter Vorname, Wassilij. (Warum nicht? Das Wort "Kaiser" hatte sich ja umgekehrt auch aus einem Eigennamen [Caesar] entwickelt; der Weg der Sprachgeschichte ist keine Einbahnstraße!)

Nicht, daß die Russen mit den Trägern russischer Namen glücklicher gewesen wären als mit denen griechischer: Iwán III trat in die Fußstapfen des (damals noch) unseligen Aleksandr Njewskij und wandte sich statt gegen die asiatische Gefahr im Osten gegen die letzten Reste eines politisch und wirtschaftlich freien Bürgertums im Westen Rußlands, nämlich gegen die Republik Nowgorod. Er brauchte mehrere Jahrzehnte, bis er sie ruiniert hatte; aber er leistete ganze Arbeit - die letzten überlebenden Bürger ließ er gefangen nehmen, nach Moskau deportieren und in mundgerechte Stückchen zerschneiden; dann verfütterte er sie eigenhändig an seine Fische. (Iwán war ein großer Fischzüchter.) Das verheerte und entvölkerte Ländchen im Westen besiedelte er mit ihm treu ergebenen Hinterwäldlern aus dem Ural, in dem Glauben, die würden es schon ebenso gut managen wie die Kapitalistenhunde, von denen er es gerade "befreit" hatte. (Viereinhalb Jahrhunderte später sollte ein ähnliches Vorgehen eines seiner Nachfolger ähnliche Ergebnisse zeitigen.) Damit war für zwei Jahrhunderte das letzte Fenster zum Westen zu gestoßen. Daran änderte auch der Import ausländischer Tsarinnen und Tsaren nichts - die paßten sich meist schnell an. Die wenigen, die sich nicht schnell genug anpaßten, wie der Tartar Borís Godunow, der polnische "falsche" Demetrius und der deutsche Peter III (drei der hoffnungsvollsten Talente, die je auf dem Tsarenthron saßen), wurden nach kurzer Regierungszeit ermordet. Aber vielleicht hätten sie sich auch noch angepaßt, wenn sie länger regiert hätten. Hoffnungsvolle Ansätze hatten anfangs viele Tsaren, nur um später umso schlimmer zu werden. Wie zum Beispiel Iwáns Enkel, der IV. seines Namens, den seine Untertanen "Grosny" nannten, den Grausamen. (Die Deutschen nennen ihn "Iwan den Schrecklichen" und betonen ihn auf der ersten Silbe, obwohl sie es besser wissen müßten, schließlich ist es der selbe Name wie "Johánnes" - aber manche Deppen sagen ja auch "Jóhann" :-) Er erfand den Vorläufer des KGB, der seine Untertanen Tag und Nacht bespitzelte; er schottete das Land nach außen völlig ab; er rottete die letzten Ausländer aus, die sein Großvater noch am Leben gelassen hatte, nicht nur die Deutschen ("Nemetz" meinte damals jeden "Ausländer"). Damals wurden die letzten Reste der europäischen Substanz verspielt, und das moskowitische "Rußland" (das diesen Namen längst nicht mehr verdiente) wurde endgültig zu dem, was es fortan bleiben sollte: eine Mischung aus natürlicher tartarischer Grausamkeit und küstlichem byzantinischem Despotismus. Nach Iwáns Tod verfiel das innerlich ausgehöhlte Reich; die Polen und Schweden holten sich die Länder im Westen zurück, und die Kosaken im Süden wurden mit polnischer Hilfe unabhängig, nachdem sie unter dem Gulaschfreund Stroganow ganz Sibirien erobert hatten.

[Denkmal Chmelnitsky]

Unweit der Sofien-Kathedrale steht ein imposantes Denkmal auf den Kosaken-Hetman Chmelnitsky, hoch zu Roß. Das schließt sich auch historisch nahtlos an die Kathedrale der Tsarin Sofia an. Nachdem die Polen den Moskowitern die Ukraïne entrissen hatten, wurde diese de facto autonom: Die Kosaken hatten Selbstverwaltung im Inneren, wählten ihren eigenen Anführer, den Hetman, und taten auch nach außen praktisch nur, was ihnen selber gefiel. Aber manchen Völkern tut es offenbar nicht gut, wenn sie zuviel Freiheit haben und wenn sie wählen können - prompt wählen sie die Falschen! In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhundertes wählten die Kosaken Chmelnitsky zum Hetman, denn der war zwar ein Volltrottel, konnte aber dafür hervorragend reiten und saufen. Pech nur, daß er sich im Suff mit dem König von Polen verkrachte und sich deshalb Moskau in die Arme warf. Er schenkte die Ukraïne dem Tsaren, denn im Schenken war er groß. "Bogdan" hieß er mit Vornamen, "Geschenk Gottes". (Da Dikigoros oben den einzigen "echten" slawischen Mädchennamen erwähnt hat, der sich gegenüber seinem griechischen Pendant behaupten konnte, will er der Vollständigkeit halber darauf hinweisen, daß dies der einzige "echte" slawische Männername ist, für den das auch gilt, obwohl er längst nicht [mehr] so verbreitet ist wie "Fëdor [Fjodor]", die Verballhornung seiner griechischen Entsprechung "Theodor".) Für die Moskowiter war er das sicher auch; ihnen legte er damit den Grundstein für ihren Aufstieg zur Weltmacht. Für die Ukraïner war er dagegen eher ein Geschenk des Teufels; sie mußten die Eselei ihres Hetmans bitter bereuen und teuer bezahlen. (Die Juden übrigens auch - sie haben die nach dem Anschluß der Ukraïne an Rußland durchgeführten Pogrome, die sie den "Holocaust des 17. Jahrhunderts" nennen, bis heute nicht vergessen und tragen sie nicht etwa den Russen, sondern den Ukraïnern nach.) Das von den Sowjets errichtete Denkmal wird wohl bald abgerissen werden; jetzt errichten sie neue Denkmäler - auf Bandera.

So gründlich hat die Gehirnwäsche der Sowjets gewirkt, daß die Ukraïner zwischen diesen beiden niemanden mehr zu kennen scheinen; man hat sie ihrer eigenen Geschichte entfremdet. Schlimm genug, daß die Pseudo-Historiker ihren Verderber Chmelnitsky zum Helden und ihren letzten großen Führer zum Verbrecher umfunktioniert haben; auch alle verzweifelten Versuche dazwischen, sich vom Joch der Moskowiter zu befreien, wurden abgestempelt zu "Aufständen, Rebellionen und Revolten" irgendwelcher Verbrecher, die letztlich ihr gerechtes Schicksal ereilte. Schon Chmelnitsky's Sohn und Nachfolger Jurij hatte versucht, das Steuer herum zu reißen; so kam wenigstens die West-Ukraïne, das heutige Galizien, zu Polen (und später zu Österreich-Ungarn, wo die ukraïnische Kultur und Sprache überleben konnten) - aber ihm hat noch niemand ein Denkmal errichtet. Peter Doroschenko, der Hetman der Ost-Ukraïne, der ein paar Jahre später erfolglos versuchte, die beiden Landesteile wieder zu vereinigen und unabhängig von Moskau zu machen? Ein Verräter, denn er verbündete sich zu diesem Zweck ja mit den Krım-Tartaren. Stenka Razin, wer war das? Irgend so ein Kosaken-Revoluzzer und Kulaken-Führer zwischen Wolga und Don, den sie im 17. Jahrhundert hingerichtet haben. (Nur im Westen kennen einige sein Lied noch - oder wenigstens die Melodie. The Seekers haben 1965 einen neuen, passenden Text dazu geschrieben: "The carnival is over", der Karneval ist vorbei, und damit in England - und Deutschland - einen Hit gelandet.) Pugatschjów? Dto - nur 100 Jahre später und etwas weiter westlich. (Aber selbst das dürften nur die wenigsten wissen; die meisten würden ihn wohl, wenn man sie fragte, für einen Verwandten der bekannten Schlager-Sängerin Alla Pugatschjówa halten - die kennt man natürlich, in der ganzen ehemaligen Sowjet-Union; sie singt ja auch nicht auf Ukraïnisch, sondern auf Russisch!) Kondrat Bulawin? Noch so ein Don-Kosak. Hans Stephan Mazepa? Nie gehört, auch der steht ja in keinem normalen Lexikon mehr. Ein Kosaken-Hetman und Verräter allemal, denn er kämpfte ja 1709 mit dem König der Schweden bei Poltawa gegen Väterchen Tsar und die guten Moskowiter. Ein Glück, daß der damals verlor, denn sonst hätten die Ukraïner (und nebenbei auch die Balten) all die Probleme, die es jetzt mit der Unabhängigkeit unzweifelhaft gibt, schon knapp 300 Jahre früher bekommen - auch der 275. Jahrestag jener Schlacht wurde von den Sowjets 1984 noch groß gefeiert.

[Medaille auf den 275. Jahrestag der Schlacht bei Poltawa]

"Wo ist denn nun das Büro von deinem Chef?" fragt Dikigoros Tatjana. "Gleich hier um die Ecke." Sie führt sie hin: Ein ziemlich herunter gekommenes Haus - es erinnert irgendwie an die Bruchbuden in der Ex-DDR. "Und wo hängt das Firmen-Schild?" - "Wir lassen gerade ein neues machen," lügt Tatjana. Dikigoros weiß es besser: Natürlich läuft auch dieses Büro nur über einen Strohmann; wenn der Bayer hier ein Firmen-Schild aufhängen würde, bekäme er gleich Besuch von den Behörden oder von der Mafia. Nein, unter diesen Umständen hat es keinen Zweck, in der Ukraïne irgend etwas anzufangen, da sind sich alle einig - außer Melone. Er hat sich nochmal mit seinen "Künstlern" verabredet und will tatsächlich versuchen, ein Bild von ihnen mit zu nehmen und in Deutschland zu verscherbeln. "Der hat's gut, der braucht seine Wanzen nicht mehr auszugeben, weil er sich alles am ersten Tag hat klauen lassen," meint Jockel, "aber was machen wir denn nun?" Tatjana führt sie zu einem großen Kaufhaus, dort können sie billig Socken einkaufen (alles andere taugt entweder nichts, paßt nicht oder ist aus). Dikigoros kauft keine Socken; er findet es unmöglich, den Leuten hier das bißchen Ware, das noch angeboten wird, weg zu nehmen. Er kauft nur ein Buch über Peter den Großen - das ist der, der die Deutschen wieder ins Land geholt und das Fenster nach Westen wieder aufgestoßen hat. (Den Moskowitern, nicht den Ukraïnern; Kiew geriet durch die Verlegung der Hauptstadt an die Ostsee nur noch mehr ins Abseits; und kurz vor seinem Tode hob Peter die letzten Reste der ukraïnischen "Autonomie", die ohnehin nur noch auf dem Papier stand, auch formell auf). Das reicht ihm; schließlich sammelt er Geldscheine; wenn was von dem Zeug übrig bleibt, nimmt er es mit nach Hause. Und da auch Tatjana kein Geld zuviel hat, stehen die beiden unversehens alleine auf der Straße, während die anderen noch krampfhaft nach einer Möglichkeit suchen, welches los zu werden. Sie schmiegt sich an ihn und legt ihr Köpfchen an seine Brust. Woher dieser plötzliche Gesinnungswandel? "Bei mir bist du an der falschen Adresse, Tanja," sagt Dikigoros gedehnt, "ich bin schon verheiratet, auch wenn ich hier aus Sicherheitsgründen keinen Ehering trage. An Melone hättest du dich halten müssen; der ist her gekommen, um eine Frau zu finden. Und er war hier in einer derart verfahrenen Situation, daß er völlig auf dich angewiesen war. Du hättest ihn im Handumdrehen um den Finger wickeln können. Aber du hast alles falsch gemacht, alles."

Mit einem Schlag fällt Tatjanas einstudierte Maske und weicht schierer Panik: "Was? Was habe ich falsch gemacht?" fragt sie in einem Tonfall, als hätte Dikigoros soeben den Welt-Untergang verkündet und ihr die Schuld daran gegeben. "Du verstehst uns nicht, du bist eben eine... Kommunistin." - "Ich habe ständig gefragt, weswegen ihr wirklich her gekommen seid." - "Ja, aber sowas sagt man doch nicht." - "Und er hat sich überhaupt nicht um mich gekümmert. Er wollte mich nicht mal mit zum Postamt nehmen am ersten Tag. Und die beiden anderen hatten nur diese jungen Mädchen im Kopf. Der einzige, der sich ganz offensichtlich um mich bemüht hat, warst du." - "Ja, aber doch nur aus Interesse an deinem Land. Du warst für mich ein potentieller Glücksfall; ich dachte, ich könnte dich dazu bringen, mir etwas mehr über die heutige Ukraïne und dich selber zu erzählen. Aber ich bin ja bei dir ständig gegen eine Wand gerannt." - "Wo ist er jetzt?" - "Wer?" - "Melone." - "Bei einem Ehepaar, das ihm Bilder verkaufen will, keine Ahnung, wo das ist - ihr sagt einem ja nicht, wo ihr wohnt." Tatjana schreibt ihm sofort ihren vollen Namen und ihre Adresse auf. Doch nun ist es zu spät; denn Dikigoros kann Melone natürlich nicht alleine klar machen, daß Tatjana seines Erachtens die richtige Frau für ihn wäre - da hätte sie schon selber etwas dazu tun müssen; aber gerade zu Melone hatte sie am meisten geschäftsmäßig-kühle Distanz bewahrt, schließlich war er ihr eigentlicher Auftraggeber. "Ich will sehen, was ich tun kann," sagt Dikigoros zum Abschied. Zu abend ißt er ein letztes Mal im Hotel-Restaurant - dort kostet die Borschtsch zwar mehr als 10x soviel wie in der Kantine des "Sport"-Hotels, aber das ist es ihm wert. Wo die anderen abgeblieben sind, weiß er nicht, fragt auch nicht danach, als sie irgendwann gegen Mitternacht eintrudeln. Sie werden wohl irgendwo ihren Frust ersäuft haben.

[Sonnenblumen]

Am nächsten Morgen stellt sich die Frage: Wie kommen wir zum Flughafen? Die Metro fährt nicht hin, ein Taxi ist zu teuer, das hat Melone ja am Ankunftstag erfahren. "Aber woher denn?" sagt der Portier, "ich besorge Ihnen ein Privat-Taxi." Auch da zeigen sich also Ansätze zur kapitalistischen Wirtschaft, allerdings macht es auch deutlich, wohin diese in der ganzen ehemaligen UdSSR gegangen ist und noch weiter gehen wird: in die Illegalität. Denn natürlich hat der Fahrer dieser schrottreifen Mühle keine Lizenz zum Taxifahren; es handelt sich um einen Privatmann, der das schwarz macht - und daher auch entsprechend billiger, als wenn er Steuern, Versicherungen und Sozialabgaben zahlen müßte. Melone schleppt ein riesiges Bild mit, notdürftig verpackt. "Mußte es denn gleich das größte sein, das die im Angebot hatten?" - "Das gefiel mir am besten." Die Künstler haben groß "Geschenk" drauf geschrieben; das gleiche pinselt Melone auch auf die Ausfuhr-Erklärung - und kommt damit durch. Der einzige, dem sie bei der Ausreise Ärger machen wollen, ist Digikoros. "Haben Sie Rubl bei sich?" fragt die Zollbeamtin. Deren Ausfuhr ist nämlich streng verboten. "Nein." - "Aber was ist denn das da?" - "Das sind Karbowanzen." - "Das ist ja wohl dasselbe." - "So? Na, die Vorschrift zeigen Sie mir mal, aber bitte nach den ukraïnischen Gesetzen. Die sowjetischen gelten hier nämlich nicht mehr. Sprechen Sie übrigens Ukraïnisch? Nein? Dann fangen Sie bald mal an, es zu lernen; sonst können Sie Ihren Job im öffentlichen Dienst nämlich bald vergessen. Da steht's." Sagt's und läßt ihr die Zeitung da, die er im Hotel hat mitgehen lassen. Danach sollen für Staatsdiener obligatorische Sprach-Prüfungen eingeführt werden, wie in den baltischen Ländern. Da werden sich hier in Kijiw noch einige umgucken, denkt Dikigoros. Er selber blickt nicht zurück im Zorn, sondern eher mit Galgen-Humor: Hier kann es wohl nur noch besser werden...

Dikigoros' Versuche, Melone und Tatjana zu verkuppeln, führen nicht zum Erfolg. Er schreibt ihr noch ein paarmal, und so erfährt er, daß sie als "Tänzerin" nach Holland geht - gegen seinen Rat, aber das schöne Geld, das man ihr verspricht, ist einfach zu verlockend; danach verliert sich ihre Spur.

Melone (dem Thomas Cook die gestohlenen Reise-Schecks anstandslos ersetzt) bemüht sich ein paar Jahre lang vergeblich, das Bild der Künstler bei irgend einer Auktion loszuschlagen. Wenn er es mal unterbringt, bleibt es liegen. Irgendwann rechnet er sich aus, daß ihn die ständigen Telefonate und Briefe nach Kiew mehr kosten als wenn er das Bild gleich selber kauft, und so überweist er den beiden denn ihre Mindestpreis-Vorstellung und hängt es sich selber ins Arbeitszimmer - schließlich hat es ihm ja wirklich gut gefallen. Auch Jockel gelingt es nicht, seinen Artikel über die "Ruch" (so heißen die ukraïnischen Nationalisten) bei irgend einer Zeitung zu plazieren (bei seiner eigenen versucht er es gar nicht erst); Geert muß seinem Chef erklären, warum in Kiew außer Spesen nichts gewesen ist, und Dikigoros wendet sein Interesse anderen Ländern des zerfallenen Ostblocks zu - ohne wesentlich andere oder gar bessere Erfahrungen zu machen als in der Ukraïne. 1997 drehen die Limeys (ausgerechnet die!) einen James-Bond-Film, in dem ein Linzer, pardon Lienzer Kosak der Bösewicht ist, der die Welt vernichten will - so wird Geschichts-Klitterung betrieben... (Ja, liebe Leser, die berühmten 007-Filme haben, wenn man ihren Inhalt mal kritisch unter die Lupe nimmt, ihren Machern selten zur Ehre gereicht; bereits zehn Jahre zuvor hatten sie in "The Living Daylight" - in deutschen Kinos als "Der Hauch des Todes" gelaufen - den Kampf der tapferen afģānischen Tāliben gegen die bösen russischen Besatzer verherrlicht und sogar den Opium-Handel gerechtfertigt; aber das nur am Rande, da Dikigoros ja auch die Afģānistān-Veteranen erwähnt hat. Immerhin wird dort richtig dargestellt, daß die Tāliben - wie ja schon ihr Name sagt - Schüler der westlichen Geheimdienste waren, übrigens nicht nur des britischen, sondern auch des amerikanischen. Und wie es der junge Mann in Kijiw richtig voraus sagte, sollten ihre Lehrer das eines Tages bitter bereuen - aber das ist eine andere Geschichte.)

* * * * *

Wir schreiben das Jahr 2000. Dikigoros' alter Lektor ist gestorben - an gebrochenem Herzen, wie seine Tochter meint, nach seiner letzten Reise in die alte Heimat. Die Universität findet keinen Nachfolger für ihn und streicht Ukraïnisch vom Lehrplan; es gibt eh keine Interessenten mehr. (Auch für Melone ist der Karneval vorbei; aber das ist eine andere Geschichte.) Dikigoros hatte sich - unerfahren wie er in Sachen Ostblock war - geirrt: Nichts ist besser geworden, sondern alles noch viel schlimmer als es zur Zeit seiner Reise schon war. Die Ukraïne ist bankrott. Industrie und Landwirtschaft liegen am Boden, obwohl in Tschjórnobil wieder Gemüse angebaut wird - die Politiker, die das verfügt haben, brauchen es ja selber nicht zu essen. Sie nutzen die Gefahr, die noch immer vom Atom-Kraftwerk am Ort des Schwarzen Ginsters ausgeht, um den Westen zu erpressen: "Wenn ihr uns nicht soundsoviel Milliarden gebt, lassen wir es hochgehen. Unsere Leute wären davon zwar auch betroffen, aber ihr im westlichen Ausland noch viel mehr - der Wind kommt von Osten." Es ist ein rauher Wind, er bläst auch von der Ost-Ukraïne den West-Ukraïnern scharf ins Gesicht. Der Westen zahlt: 1,5 Milliarden DM für die endgültige Stillegung des alten Reaktors und 3 Milliarden DM für den Bau eines neuen, der - wie sinnig - ausgerechnet nach dem Kosaken-Hetman "Chmelnitsky" (dem Vater, nicht dem Sohn) benannt werden soll. (Der alte war nach Uljanóws Pseudonym "Ljenin" benannt.) Der Name ist Programm: Die ukraïnische Regierung (es ist immer noch die alte kommunistische) will sich wieder Rußland anschließen. Kijiw heißt wieder "Kiew" (oder gar "Kiev"), die Straßen-Schilder sind wieder zweisprachig, und die Ansagen in der Metro auch. Den Plan der obligatorischen Sprach-Prüfungen in Ukraïnisch für öffentlich Bedienstete hat man stillschweigend zu den Akten gelegt. Ukraïnisch ist auch kein Pflichtfach an den Schulen geworden. Auf der Homepage einer jungen Ost-Ukraïnerin aus Charkiw - sie nennt es mit seinem russischen Namen "Charkow" - , deren Familie vor ein paar Jahren nach Deutschland "geflüchtet" ist, liest Dikigoros den Satz: "Ukraïnisch - wozu soll denn das gut sein?" Auch "ihr" Hotel in Kiew hat bald eine eigene Webseite. Dort liest Dikigoros, daß eine Übernachtung in der "Superior Suite" jetzt für Auslandsreisende nur noch 145.- US-$ pro Nacht koste ("Preisangebot freibleibend"). Das sei weniger als es für russische (!) Staatsbürger und Gruppenreisende koste (wers glaubt wird selig :-), allerdings könnten "in Ausnahmefällen" die Heizung und das Warmwasser ausfallen - so schlimm war es damals noch nicht...

[Sirko] [Doroschenko] [Mazepa]

Nach außen hin ist wenigstens die Geschichtsschreibung korrigiert worden: Sirko ist an die Stelle Chmelnitzkys getreten; und auch das Andenken Doroschenkos und Mazepas wird offiziell gepflegt. Schöne große Gedenkmünzen aus Silber werden geprägt - aber in Wahrheit sind die nur dazu da, ausländischen Sammlern die Valuta aus der Tasche zu ziehen, welche die Ukraïne so dringend benötigt; im Inland hat die Dinger noch kein Normalverbraucher gesehen. Deren Blicke richten sich vielmehr verstärkt nach Norden: Der neue Tsar in Moskau heißt wieder Wladímir. Noch beliefert er die Ukraïne mit Energie zu einem Preis, der 80% unter Weltmarktniveau liegt; aber als Gegenleistung erwartet er Wohlverhalten, sonst wird er den Hahn zudrehen und eine eigene Pipeline durch die Ostsee direkt nach Westeuropa bauen lassen, mit Hilfe der Deutschen (deren Kanzler ihn so sympathisch findet, weil er der einzige Regierungschef auf der Welt ist, der noch kürzere Beine hat als er selber; dagegen kann er sich in Frankreich nicht sehen - und vor allem nicht hören - lassen, weil sein Nachname dort gleichbedeutend ist mit dem Schimpfwort für Huren :-). Denn wie sein Namensvetter Uljanów spricht er Deutsch und kennt Deutschland gut (er hat dort für den sowjetischen Geheimdienst KGB gearbeitet). Und musikalisch ist er auch. "Tsar Borís", der tapsige Bär, hatte 1991 die sowjetische National-Hymne von Aleksandr Aleksandrowitsch Aleksandrow, die Stalin 1944 an Stelle der "Internationale" eingeführt hatte, durch eine Komposition des großen russischen Komponisten Michail Glinka ersetzt; der neue Wladímir führt Stalins Hymne wieder ein. (Zugegeben, auch Dikigoros gefällt die Aleksandr-Melodie rein musikalisch besser - aber ist es nicht peinlich, im Hinterkopf ständig an den "unvergänglichen Bund freier Sowjet-Republiken" erinnert zu werden?) Die Mörder Banderas sind wieder an der Macht. Überall im Osten, von Berlin bis Wladiwostók, blüht und gedeiht der Kommunismus aufs prächtigste - zum Teil unter anderem Namen, aber was soll's. Es ist fast alles wieder wie früher. Nur die Sonnenblumen-Felder sind verdorrt.

[verdorrte Sonnenblumen]

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Nachtrag. Im Spätsommer 2003 bekommt Dikigoros eine Einladung nach "Kiev", zum 5. Jahrestreffen von "REPIN" im Oktober. Repin? Da war doch was? Dikigoros denkt an seine eigene Reise in die Ukraïne zurück und was er über die Dummheit der Kosaken geschrieben hat, die sich damals den Russen in die Arme warfen. Der große russische Maler, dessen Namen die komischen Umweltschützer da mißbrauchen, hat auf einem seiner bekanntesten Bilder festgehalten, wie sie dem König von Polen schriftlich die Loyalität aufkündigen. Da aber zu Repins Lebzeiten der russische Tsar zugleich Herrscher von Polen war und als Abnehmer jenes Bildes in Frage kam, änderte er den Titel kurzerhand in "Die Kosaken schreiben einen Brief an den Sultan". Die Kosaken konnten zwar garantiert kein Türkisch schreiben (denn das tat man damals noch in arabischer Schrift), aber Rußland lag mit dem Osmanischen Reich gerade mal wieder im Clinch, da traf sich das gut. Tsar Aleksandr III kaufte ihm den Schinken tatsächlich ab, für die ungeheure Summe von 35.000 Goldrubl. (Das ist so viel, daß man es kaum in Wanzen umrechnen kann :-)

[Kosaken schreiben einen Brief - Gemälde von Repin]
Ukraïnische Kosaken schreiben einen Brief an die Hohe Pforte - Gemälde von Repin

Dikigoros würde das hier nicht erwähnen, wenn nicht inzwischen auch die BRD mit der Türkei - und anderen muslimischen Staaten - im Clinch läge, u.a. mit dem, den er am Ende des ersten Teils dieses Reiseberichts erwähnt hat. Nun sind nach den Russen und den Amerikanern also auch die Deutschen an Hindukusch angelangt; und genau wie einst die Kosaken sind sie im Begriff, einen schweren Fehler zu begehen. Nein, Dikigoros meint nicht den, der etwas später von den Medien hoch gekocht wird und den der Karikaturist hier auf die Schippe nimmt; aber er fand die Nachahmung des Repin-Bildes so gelungen, daß er sie seinen Lesern nicht vorenthalten wollte.

[Deutsche ISAF-Soldaten schreiben einen Brief - Karikatur von 
Götz Wiedenroth. Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers]

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Noch ein Nachtrag. Um die Jahreswende 2004/2005 geriet die Ukraïne erneut ins Zentrum des Medien-Interesses, als der Weihnachtsmann den Osterhasen, pardon, als Wiktor Juschtschenko den Favoriten seines Vorgängers, einen gewissen Janukowitsch, bei den Präsidentenwahlen schlug. Aber macht Euch nichts vor, liebe Leser, das ändert gar nichts; denn die Hoffnungen des ersteren richten sich lediglich darauf, die katastrofale Wirtschaftskrise im Lande statt mit russischer mit westeuropäischer Hilfe zu lösen, d.h. auf Kosten der EU (also letztendlich der BRD als deren größter Beitragszahlerin), der die Ukraïne zwecks Subventions-Erschleichung beitreten soll. Dabei geht es der Ukraïne schlechter als je zuvor: Im neuen Jahrtausend haben bereits über eine Million Männer und Frauen im besten erwerbsfähigen Alter ihr Land Richtung Westen verlassen, zumeist mit Hilfe krimineller Regierungsmitglieder der BRD, die den deutschen Botschaften und Konsulaten verboten hatten, "Touristenvisa"-Anträge ordnungsgemäß zu prüfen und sich dafür von Schleuser-Organisationen Millionen Teuros auf die Konten ihrer privaten "Beraterfirmen" in Lichtenstein und der Schweiz haben überweisen lassen. In Dikigoros' Nachbarort hat ein "Russenmarkt" aufgemacht. Der Renner dort sind allerdings wider Erwarten nicht Piwo und Wodka (die gibt es im deutschen Supermarkt nebenan viel billiger), auch nicht die süßen, klebrigen Bonbons sondern - Buchweizengrütze und Sonnenblumenkerne. Beide werde in riesigen Tonnen lose angeboten, d.h. man kann sie sich scheffelweise selber abfüllen (es gibt sie auch abgepackt in Plastiktüten, aber dann sind sie deutlich teurer und auch nicht besser), und das tun die Russen und Ukraïner, die dort in Scharen einkaufen, mit Begeisterung. Entgegen weit verbreiteten Gerüchten sind nur rund 10% jener auf "Joschka-Fischer-Visum" Reisenden kriminell. (Und daß ausgerechnet jene kriminellen 100.000 in der BRD hängen geblieben sind, ist Pech - oder auch nicht, denn wer kann in diesem Staat schon noch mit legaler, anständiger Arbeit zu Geld kommen?) Die anderen sind weiter gereist, meist nach Frankreich, Spanien oder Portugal. Ohne billige Bauarbeiter aus der Ukraïne wären die Stadien für die Fußball-Europameisterschaft 2004 in Portugal nie und nimmer, geschweige denn rechtzeitig, fertig geworden; und in Madrid sind einige Altstadtviertel inzwischen fest in ukraïnischer Hand. Von Sonnenblumen redet dort allerdings niemand mehr - die Flagge wird nicht mehr als Himmel über Sonnenblumenfeldern interpretiert, sondern über Weizenfeldern; und überhaupt sind die Farben der Ukraïne jetzt nicht mehr blau und gelb, sondern orange (im Westen des Dnipro) oder rot (im Osten des Dnjepr). Der Tag ist nicht mehr fern, an dem die Ukraïne ebenso auseinander fallen wird - und vielleicht nach ebenso blutigen Auseinandersetzungen - wie der Staat, von dem das nächste Kapitel dieser "Reisen durch die Vergangenheit" handelt.

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Und noch ein Nachtrag, der leider immer länger wird. Die Welt ist klein; und wieviel Zeit auch vergehen mag; irgendwann und -wo trifft man sich leicht mal wieder. Sommer 2009. Dikigoros ist anläßlich einer Sportveranstaltung nach Berlin gereist. Dabei trifft er zufällig auf einen nicht mehr ganz so jungen Mann - sie erkennen einander sofort wieder. "Ilja!" - "Kolja!" - "Sag bloß, Du hast nach all den Jahren doch noch Deine Freundschaft zu den Deutschen entdeckt." - "Wieso Freundschaft? Ich habe hier einen Job gefunden, bei dem ich meine beruflichen Erfahrungen und Fähigkeiten voll einsetzen kann." - "Als ehemaliger Afģānistān-Kämpfer?" fragt Dikigoros eher im Scherz. - "Ja." - "Hier in Berlin?!?" - "Wo sonst?" Dikigoros wird neugierig, und obwohl er eigentlich nicht mehr trinkt, springt er über seinen Schatten und lädt Ilja in den nächsten Biergarten ein. Nachdem er 20 Minuten erzählt hat, unterbricht ihn Dikigoros: "Das soll ich Dir glauben?" - "Wer hätte wohl eher Grund, Dich zu belügen? Deine Regierung und die Medien, oder ich? Hab' ich Dir nicht auch in meinem Land nur die Wahrheit gesagt?" - "Die Frage ist doch, ob Du nicht einer Geschichte aufsitzt, die man Dir hier nur erzählt hat." - "Nein, ich arbeite ja wie gesagt selber daran mit; ich dürfte Dir das eigentlich gar nicht erzählen." - "Jetzt will ich Dir mal was erzählen, was ich von einem älteren Landsmann gehört habe. Der diente seit 1939 bei einem Panzer-Regiment; und im Sommer 1941 verlegte man seine Truppe an die Grenze zur Sowjet-Union. Damals hieß es, sie sollten sich dort bereit halten für einen Durchmarsch, den die Sowjets den Deutschen gewähren wollten, damit sie Britisch-Indien eroberten. Na ja, und hinterher sagten alle: Wie konnte man nur so naïv sein, eine derart offensichtliche Lüge zu glauben? Und nun kommst Du und erzählst mir, daß die Bundeswehr heimlich Panzertruppen an die Grenze zur Ukraïne verlegt und daß die Ex-Sowjet-Republiken ihnen Durchmarschrechte gewähren, damit sie Afģānistān erobern können?!" - "Ja, was ist denn daran so unwahrscheinlich? Euer ganzer Nachschub ist doch schon lange auf dem selben Weg zum Hindukusch gelangt. Und Du glaubst doch wohl nicht, daß die Deutschen uns wie 1939 selber angreifen würden?" - "Nein, aber zufällig weiß ich, daß die Bundesregierung den Einsatz unserer Truppen am Hindukusch auf keinen Fall zum offenen Krieg eskalieren lassen will. Es gibt gerade einen Mordsknatsch im Versicherungsrecht; da hat nämlich ein Bw-Soldat - übrigens ein Landsmann von Dir, der sich zu diesem Zweck hat einbürgern lassen - vorher eine Lebensversicherung abgeschlossen und dabei angekreuzt, daß er keinen Kriegseinsatz mitmacht; dann hat er sich nach Afģānistān gemeldet und ist dort gefallen, und nun will die Versicherung nicht zahlen, weil Kriegseinsätze nicht mitversichert sind; die Bundesregierung windet sich wie ein Dutzend Aale im Salzeimer, und die Hinterbliebenen pochen auf Auszahlung der Versicherungssumme, schließlich sei das doch bloß eine Friedensmission. Deshalb hat die Bundeswehr dort auch keine schweren Waffen im Einsatz, auch keine echten Kampfpanzer, sondern nur so eine Art Panzerspähwagen, ohne Kanonen." - "Das wird sich sehr bald ändern." - "Warum sollte es?" - "Ja, was glaubst Du denn, weshalb Ihr da unten seid? Etwa um so einen Turbanträger zu fangen, der entweder längst tot oder außer Landes ist? Oder um dort Demokratie und einen Rechtsstaat aufzubauen? Das erzählt man doch nur dem Fernsehpublikum." - "Und den Soldaten, die dafür immerhin ihren Kopf hinhalten." Ilja lächelt mitleidig. "Blödsinn, das sind Söldner, die bekommen für einen Tag Einsatz am Hindukusch mehr als ein Wehrpflichtiger zuhause im Monat; da fragt man nicht nach moralischen oder sonstigen Gründen für den Einsatz. Was glaubst Du denn, weswegen Ihr da unten seid?" - "Weil der Westen da mal eine Pipeline von den Turkrepubliken zum Indischen Ozean bauen wollte. Aber daraus wird wohl nichts, also ist das erst recht kein Grund, das Engagement dort zu verstärken." - "Nein, aber man hat dort vor einiger Zeit ungeheure Mengen an Bodenschätzen entdeckt, u.a. die größten Kupfervorkommen der Welt, und Lithium und Niobium und Gold in ungeheuren Mengen. Und da wittern einige Leute das ganz große Geschäft, dafür sind sie sogar bereit, sich mit den Taliban zu arrangieren. Wußtest Du nicht, daß die Transportwege dort schon mit deren Einverständnis gebaut werden, mit Schmiergeldern in Millionenhöhe an deren Chefs?" - "Das glaubst du doch selber nicht!" - "Das glaube ich nicht, das weiß ich; sie kommen aus dem Topf Eures Entwicklungshilfe-Ministeriums und einiger angeblich privater NGOs, die einheimische Baufirmen als Subunternehmer beauftragen, und die machen dann halbe-halbe mit den Taliban, damit die den Straßenbau nicht behindern, sondern sich anderen Zielen zuwenden." - "Wie z.B. unseren Truppen?" - "Richtig; aber damit die Taliban einsehen, daß das aussichtslos ist, fahrt Ihr jetzt auch schweres Geschütz auf, um sie nieder zu kämpfen." - "Panzer im Gebirge? Das soll gut gehen?" - "Keine Ahnung, aber so kalkuliert Eure Regierung, die sind ja fast alle ungedient." - "Und Du machst dabei mit?" - "Ja, als Berater; und Du kannst mir glauben, daß ich noch besser bezahlt werde als ein deutscher Bundeswehr-Söldner." Knapp zwei Wochen nach diesem Gespräch rücken deutsche Kampfpanzer in Afģānistān ein, vor laufenden Kameras; und niemand wundert sich, und niemand stellt Fragen nach dem wie und warum. Dikigoros auch nicht - er weiß es ja jetzt.

Aber am nächsten Wochenende spricht er einen alten Sportfreund an, der im BMVg arbeitet, aber noch in Bonn wohnt und nur unter der Woche nach Berlin pendelt, und fragt ihn rundheraus, ob er glaube, daß sich die BRD diesen militärisch und finanziell erweiterten Einsatz angesichts zunehmender Verluste und leerer Kassen leisten könne und solle. Der schaut ihn mit traurigen Dackelfalten an: "Ach, wenn Sie wüßten... [Sie sind immer noch per 'Sie', obwohl sie einander schon eine Ewigkeit kennen - seit Dikigoros mit 31 Jahren wieder angefangen hat, Sport zu treiben, und obwohl das unter Sportlern eigentlich ganz unüblich ist.] Es ist ja alles noch viel schlimmer. Vor allem finanziell ist das ein Faß ohne Boden und wird das jetzt noch mehr denn je werden." - "Rechnen Sie denn mit so viel höheren eigenen Verlusten? Wenn doch jetzt zurück geschossen werden darf?" - "Ja, gerade deshalb. Wir führen doch offiziell keinen Krieg; deshalb zahlt die Bundesregierung für jeden getöteten Afganen ein Wergeld in etwa hundertfacher Höhe dessen, was dort unter Einheimichen üblich ist." - "Wie bitte?" - "Ja, üblich sind umgerechnet 200.- US-$, und wir zahlen 20.000.- US-$ pro Kopf; jeder tote Afgane gilt als Mordopfer, das der deutsche Steuerzahler sühnen muß." - "Aber in den Medien wird doch etwas von umgerechnet 3.700.- US-$ kolportiert." - "Das ist gelogen, um den Steuerzahler zu beruhigen." - "Das kann doch nicht wahr sein." - "Doch," meint er gequält, "das ist ja auch einer der Gründe, weshalb wir offiziell keinen Krieg führen dürfen, denn dann wäre das Wergeld ja nicht mehr zu rechtfertigen." - "Wollen Sie damit sagen, daß, während unsere Soldaten, die dort fallen, ihre Lebensversicherung nicht ausgezahlt bekommen, die gefallenen Krieger unserer Feinde mit Gold aufgewogen werden?" - "Ja - deshalb sind wir ja dort unten so beliebt." - "Jetzt verstehe ich." - "Nein, Sie verstehen nicht, was ich mit 'beliebt' meine. Unsere Leute sind dadurch auch als Angriffsziele beliebt. Und zwar auch für getürkte Angriffe von unbewaffneten Frauen und Kindern. Die fingieren Terroranschläge und lassen sich dabei erschießen, damit ihre Verwandten hinterher versorgt sind - von einmal Wergeld lebt ein ganzes Dorf mehrere Jahre lang in Saus und Braus für dortige Verhältnisse. Das sind nichts anderes als Selbstmord-Attentäter, halt nur unbewaffnete; jeder dort unten weiß das, aber die Bundesregierung ist blind und taub; selbst die Opposition, die doch angeblich gegen den Kriegseinsatz am Hindukusch ist, schweigt; und es darf von den Medien auch nicht an die Öffentlichkeit gebracht werden." - "Wenn selbst Sie, die Sie es wissen, schweigen..." - "Hören Sie mal, ich habe noch ein Jahr bis zur Pensionierung, und ich will meine Pensionsansprüche nicht verlieren, deshalb werde ich auch danach schön den Mund halten. Setzen Sie es getrost in eines Ihrer Internetforen, das nimmt sowie niemand ernst, von wegen 'Verschwörungstheorie' und so, aber nennen Sie um Himmels Willen meinen Namen nicht!" [Und selbst wenn... Der Sportfreund hat einen Allerweltsnamen, von dem es im BMVg wahrscheinlich ein Dutzend Träger gibt, Anm. Dikigoros] - "Keine Angst. Wissen Sie, zufällig traf ich vor kurzem einen alten Bekannten aus einem der Nachfolgestaaten der Ex-SU wieder; und wir sprachen auch darüber, daß in unseren staatlich kontrollierten Medien die Regierungen von Rußland, der Ukraïne und Weißrußland ständig als Verbrecher-Cliquen hingestellt werden. Mein Bekannter meinte, das möge ja berechtigt sein; aber ich sollte mich doch auch mal an die eigene Nase fassen und mir meine eigene Regierung anschauen; ich glaube, da hat er Recht." - "Ich habe diese Regierung nicht gewählt; aber als Beamter muß ich loyal sein." - "Ja," denkt Dikigoros (aber er spricht es nicht laut aus), "wie schon die Staatsdiener im Dritten Reich, in der DDR und in der Sowjet-Union..." Die Tālibän in Afģānistān haben wenigstens den Mut, gegen das Verbrecherregime Karzai und seine ausländischen Helfershelfer aufzustehen; und insgeheim wünscht er ihnen den Sieg - ein toter BundeswehrbesatzerAufbauhelfer kostet den deutschen Steuerzahler schließlich weniger als ein toter Tālib! (Und dabei hat der Sportfreund noch nicht mal erwähnt, was Dikigoros einige Zeit später aus dem Internet erfährt, nämlich daß die NATO auch die lebenden Tāliban-Kämpfer üppig bezahlt, nämlich mit monatlich US-$ 150 pro Nase - fürs Stillhalten; aber das könnt Ihr Euch hier selber anschauen - solange es noch nicht vom Zensor gelöscht ist :-)

Wenige Wochen nach diesen Gesprächen eskalierte der "Friedenseinsatz" am Hindukusch erneut: Die Bundesregierung hatte den Tālibän unter der Hand zwei deutsche Tanklastzüge mit Benzin versprochen; und als die braven Mannen sich die eines Nachts vereinbarungsgemäß abholten, forderte der zuständige Bw-Oberst (der von dieser Vereinbarung nichts wußte - wo kämen wir hin, wenn jeder popelige Offizier unterhalb Generalsrang in die schmutzigen Pläne seines obersten Dienstherrn eingeweiht würde?) die Hilfe der US-Luftwaffe an, und die bombte die vermeintlich gestohlenen Tanklaster mitsamt denen, die sie abgeholt hatten, zusammen. Nun war der Aufschrei aber groß, und alle waren sauer (nicht nur Frau Sauer alias "Merkel" :-) Nein, nicht auf die US-Luftwaffe, sondern auf den deutschen Oberst, der "den Tod von 135 unschuldigen Zivilisten verursacht" hatte. (Ca. 50 Tālibän waren bei dem Luftangriff gefallen; aber wir erinnern uns: die gelten ja juristisch gesehen nicht als Kombattanten, sondern als "Zivilisten"! Den Rest hatten sie frei erfunden, aber man hätte es als "pietätlos" empfunden, nachzuzählen :-) Die Bundesregierung zahlte also den Tālibän vom Geld der deutschen Steuerzahler Wergeld - insgesamt 2,7 Mio US-$ -, entschuldigte sich untertänigst bei der US-Regierung, völlig ungerechtfertigter Weise ihre Luftwaffe in Anspruch genommen zu haben, und wies den zuständigen Generalstaatsanwalt an, gegen den Oberst ein Strafverfahren wegen Massenmordes einzuleiten. Fällt Euch dazu noch etwas ein, liebe Leser, besonders Ihr, die Ihr Zeit- oder Berufssoldaten bei der Bundeswehr seid? Wie lange wollt Ihr Euch noch verheizen und/oder als "Mörder" verunglimpfen lassen, bevor Ihr diesem Verbrecher-Regime, das Euch nur für seine eigenen Interessen einspannt, nicht einmal für die der BRD, geschweige denn für die Deutschlands, den Kram hin werft? Wie sagten die "Bremer Stadtmusikanten" in Grimms Märchen: "Einen besseren Job findet Ihr woanders allemal"! (Oder so ähnlich :-) Und Ihr hättet es wissen müssen, denn es ist alles schon mal da gewesen, sogar unter dem selben Regime. Was ist denn aus denen geworden, die sich im letzten großen Krieg haben verheizen lassen, "um Deutschland zu verteidigen"? Dabei hatte man die nur halb so weit geschickt, bis in den Kaukasus; und wenn man ihnen nicht gleich nach dem Krieg den Prozeß machte, dann noch 50 Jahre später, als hilf- und wehrlosen Greisen... wollt Ihr auch so enden?

Als Dikigoros diese Frage seinem alten Bw-Kameraden und Vorgesetzten H., seines Zeichens Oberst im Ruhestand, stellt, rennt er zu seiner unangenehmen Überraschung nicht nur offene Türen ein, sondern erntet sogar noch Kritik ob seiner Zurückhaltung: "Wenn Sie so etwas ins Internet stellen, dann lachen die Machthaber da doch bloß drüber. Wenn die Einen nicht mehr zum Militär und an den Hindukusch gehen wollen, werden sich andere Dumme finden, die sind doch austauschbar. Schauen Sie mal in den Irak. Dort wird es bald offiziell keinen einzigen US-Soldaten mehr geben; die werden samt und sonders durch private Söldner ersetzt sein, die sind nämlich billiger; aber dadurch wird sich die Zahl der Besatzungstruppen de facto um keinen einzigen Mann verringern." - "Was würden Sie denn vorschlagen?" - "Wenn ich nicht so alt und schon außer Dienst wäre, würde ich mir mal am nächsten 20. Juli ernsthafte Gedanken über das Widerstandsrecht und die Widerstandspflicht machen, die im Grundgesetz stehen." - "Wieso am 20. Juli?" - "Weil da doch jetzt immer öffentlich gefeiert wird, mit den Spitzen des Regimes; die könnte man da alle auf einmal erledigen." - "Hören Sie, ich gebe das gerne so wieder, aber nicht, ohne mich davon ausdrücklich zu distanzieren; dafür können Sie in den Bau gehen." - "Wieso? Wer diese Verbrecherclique beseitigt, handelt doch im Einklang mit Recht und Gesetz!" - "Was Recht und Gesetz ist, das bestimmt noch immer das Regime. Dann müßten Sie nicht nur dessen Spitzen beseitigen, die am 20. Juli irgendwelche Reden ablesen - die sind nämlich genauso austauschbar wie die Bw-Soldaten am Hindukusch -, sondern einen Staatsstreich riskieren, um das ganze Regime zu stürzen und ein anderes System aufzubauen. Aber damit würden Sie einen Bürgerkrieg in Kauf nehmen, und Sie hätten alle drei Gewalten gegen sich: die Regierung sowieso, die Quasselbude auch, und das höchste Gericht dieser Republik hat schon vor Jahr und Tag geurteilt, daß nach seiner Auslegung des Grundgesetzes zwar die Vorbereitung eines Angriffskrieges strafbar sei, nicht aber dessen Durchführung, weshalb es gar nicht zu prüfen brauche, ob der Einsatz am Hindukusch ein Krieg sei, womöglich sogar ein Angriffskrieg, und wenn es denn eine Vorbereitung gegeben habe - was zweifelhaft sei, vielleicht war es auch nur ein ganz spontaner Einsatz ohne jede Vorbereitung -, dann sei das jedenfalls verjährt. Wollen Sie das Akzenzeichen?" - "Verzichte. Daran stimmt nur ein Punkt, nämlich daß man diesen Einsatz völlig planlos durchgeführt hat, sowohl hinsichtlich der Mittel als auch der Ziele. Im übrigen bin ich inzwischen tatsächlich zu der Überzeugung gelangt, daß das ganze System beseitigt werden muß!" - "Sie, der Sie Mitglied einer Regierungspartei sind?" - "Das bin ich schon lange nicht mehr; ich bin gleich nach der Pensionierung ausgetreten. Jetzt bin ich bei der Linkspartei, weil das die einzige ist, die konsequent gegen all diese verbrecherischen Kriege ist." - "Seien Sie doch nicht naïv; wenn die ans Ruder käme, dann würde die Bw eben nach Honduras geschickt oder sonst wohin, um irgendwelche kommunistischen Regimes an die Macht zu bringen! Wäre das besser?" - "Dann würde es überhaupt keine verfassungswidrigen Auslandseinsätze der Bw mehr geben." - "Dann würde es überhaupt keine Verfassung mehr geben." - "Junge, Junge, sind Sie immer noch so ein sturer Kommunistenfresser wie früher?" - "Nein, aber man muß doch den Tatsachen ins Auge sehen. Sie wollen einen neuen Bastian geben? Versuchen Sie's, aber ich profezeihe Ihnen, daß Sie ebenso enden werden." - "Warum sollte ich Selbstmord begehen?" - "Sie glauben immer noch, daß Bastian und Kelly Selbstmord begangen haben? Dann sind Sie wirklich zu naïv fürs politische Geschäft. Träumen Sie weiter..." - "Ich träume nicht, Tarzan, im Gegenteil, Sie träumen. Im Ernstfall interessieren niemanden Ihre komischen drei politischen Gewalten, sondern nur ein ganz bestimmter Teil der Exekutive, nämlich die Streitkräfte." - "Die deutschen Streitkräfte taugen nicht dazu, Revolution zu machen. Das hat doch die jüngste Vergangenheit erst wieder klipp und klar gezeigt: Wie war denn das 1990, als die BRD die DDR übernahm? Von mehreren hunderttausend z.T. hervorragend ausgebildeten und ausgerüsteten NVA-Soldaten hat kein einziger ernsthaft daran gedacht, Widerstand zu leisten. Ein paar Subalterne haben sich in die Bw übernehmen lassen und dort schön gekuscht; der Rest ist brav nach Hause gegangen und hat sich gefreut, von seiner Frühpension Westautos und Bananen kaufen zu können. Sie waren doch nach der Wende auch mal eine Zeit lang Kommandeur in den neuen Bundesländern. Haben Sie die Ex-NVA-Offiziere nie gefragt, warum...?" - "Das konnte ich doch die Ossis nicht fragen! Von denen hat mit mir, einem Wessi, sowieso niemand freiwillig geredet, über nichts und gar nichts; was glauben Sie, weshalb ich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt habe, um so schnell wie möglich wieder von dort weg zu kommen?" [Als Dikigoros seiner Frau von diesem Gespräch erzählt, meint sie nur: "Wenn man dem H. damals, statt ihn zu pensionieren, ein Kommando am Hindukusch angeboten hätte, verbunden mit einer Beförderung zum Brigade-General, dann wäre der mit fliegenden Fahnen zu den Kriegsbefürwortern übergegangen und hätte Dir heute erzählt, daß das der edelste Friedenseinsatz aller Zeiten sei. Und jeden Soldaten, der dagegen ist, hätte er als Vaterlandsverräter und Deserteur bezeichnet, den man standrechtlich erschießen müßte!"] - "So, und nun glauben Sie, die Bw stünde im Falle eines Putschversuches hinter Ihnen, einem pensionierten Schlipssoldaten aus dem BMVg?" - "Hinter mir vielleicht nicht; aber es gibt noch andere Soldaten, die so denken wie ich, auch unter den Aktiven. Sie werden jetzt hoffentlich nicht verlangen, daß ich Ihnen Namen nenne... Sie brächten es fertig und würden die denunzieren!" - "Solange Sie nicht von mir verlangen, daß ich Ihnen die Namen der Verfassungsrichter nenne, die das Hindukusch-Urteil verbrochen haben... Sie brächten es fertig und würden die umlegen!" - "Hm... äh, sagen Sie mal, mit so einem Aktenzeichen könnte ich nichts anfangen; aber wenn Sie mir vielleicht eine Abschrift des Urteils besorgen könnten? Ich würde Ihnen dafür auch den Bierdeckel von Mamacita überlassen, auf den Sie damals so scharf waren." - "Danke, ich sammele keine Bierdeckel mehr, ich trinke auch kein Bier mehr." - "Nicht mal mehr Tecate?" - "Nein. Aber Sie haben Glück; ich habe Ihnen höchstvorsorglich einen Ausdruck mitgebracht, für den Fall, daß Sie mir etwa nicht glauben sollten. Es steht nicht alles in der Urteilsbegründung, was ich Ihnen eben erzählt habe, aber ich kenne auch die Protokolle der mündlichen Verhandlung und weiß deshalb, daß das Urteil auf dieser Argumentation beruht." H. überfliegt die paar Seiten. "Das ist doch nicht zu glauben: Der Krieg in Afghanistan ist also ein Friedenseinsatz im euro-atlantischen Raum? Haben die im Geografie-Unterricht nicht aufgepaßt oder hat man denen einen falschen Globus in den Gerichtssaal gestellt? Das ist ja der reinste Volksgerichtshof!" - "Was reden Sie denn da?" - "Na, stimmt doch!" - "Was wissen Sie schon vom Volksgerichtshof?" - "Na, Freisler & Co..." - "Hören Sie mal, vor meiner Promotion habe ich ein Oberseminar bei meinem Doktorvater besucht, da ging es um Urteile des Staatsgerichtshofs der so genannten Weimarer Republik und des Volksgerichtshofs des so genannten Dritten Reichs; und obwohl der gute Herr Professor da die haarigsten aller Entscheidungen heraus gesucht hatte, kann ich Ihnen versichern, daß kein einziges Urteil jener beiden Gerichte derart eklatant gegen Buchstaben und Geist der damals geltenden Gesetze verstoßen hat wie dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegen Buchstaben und Geist des Grundgesetzes verstößt. Ihr Freisler war, vergleichen mit seinen Epigonen, ein Ehrenmann." Nun ist es an H., unangenehm überrascht zu sein: "Die Mörder sind unter uns," murmelt er. "Nein, Mann, das wäre ja nicht weiter schlimm. Aber die Mörder sind über uns, und das ist das Problem. Wir sprechen uns wieder, wenn Ihre Partei an der Macht ist." - "Also bald. Ich werde auch ein gutes Wort für Sie einlegen." - "Danke, wenn es so weit kommt, dann werde ich anfangen darüber nachzudenken, wie man dieses Regime beseitigen kann."

* * * * *

Und der Nachträge ist immer noch nicht genug. Eine Journalistin, die Dikigoros mal in Indien kennen gelernt hat, sich von dort aber auch mit den Geschehnissen in Afģānistān befaßt hat, hat es fertig gebracht, während ihres Heimaturlaubs in Deutschland ein Treffen mit "hochkarätigen" Kollegen aus aller Welt, vor allem aus den USA, zu organisieren, zu dem sie auch Dikigoros - als einzigen Nicht-Journalisten - eingeladen hat, der neugierig genug war, diese Einladung anzunehmen, obwohl er erhebliche Vorbehalte gegen einige jener "alten Hasen" hegte und hegt - jene Sorte Journaille, die gegen alles und jedes war und ist, was eine US-Regierung, insbesondere eine republikanische, tut und läßt, die sich ihre "Namen" mit der Iran-Contra-Affäre, der Diffamierung der Weißen in Südafrika und der Israelis im Westjordanland gemacht hat - an ihren Fingern klebt also nicht nur Tinte, sondern Blut; und er glaubt ihnen auch jetzt noch nicht jedes Wort. Das voraus geschickt, will er seinen Lesern dennoch nicht vorenthalten, was dort geredet wurde. Nachdem Mike und Charly erstmal ihrer Empörung über den Krieg am Hindukusch im allgemeinen und über die Kriegspolitik der USA im besonderen freien Lauf gelassen haben, fragen sie auch die beiden Deutschen um ihre Meinung. Willi refereriert brav das, was er seit Jahren allwöchentlich aus dem fernen Thailand (dort sitzt der einzige deutsche Korrespondent, dessen Beiträge zum Krieg am Hindukusch regelmäßig in den Medien veröffentlicht werden!) an die Nachrichten-Agenturen verschickt; und Dikigoros referiert ebenso brav, was er von Ilja, Sportfreund W. und Oberst a.D. Känguruh gehört hat. Er erntet ein müdes Lächeln der beiden Amerikaner: "Aber Nick, wie können Sie nur so einen Blödsinn glauben? Bodenschätze gibt es überall auf der Welt, im zugefrorenen Sibirien, mitten in Afrika und am Meeresboden. Das Problem ist nur, daß es ungeheuer viel Zeit und Geld kosten würde, die zu heben, wobei eine Ausbeutung im Gebirge des Hindukusch womöglich noch schwieriger und kostspieliger wäre als an den vorgenannten Orten; in so langfristigen Kategorien denkt doch keine Regierung, die nur für 4 oder 5 Jahre gewählt ist! Die einzige Ausnahme ist die chinesische, die sich ja nicht so schnell wird abwählen lassen; deshalb hat sie sich bisher auch als einzige ernsthaft um die Schürfrechte bemüht." [Und inzwischen Erfolg gehabt, Anm. Dikigoros] - "Aber warum dann...?" - "Na, denken Sie doch mal nach; es gibt etwas, womit man sofort und ohne große Investitionen ein Vermögen scheffeln kann, gegen die die paar Millionen, die Ihre Regierung an die Taliban zahlt, Peanuts sind - das rechtfertigt auch die Kosten des Militäreinsatzes insgesamt." - "Sie meinen Drogen?" - "Na klar; allein in die USA exportiert Afghanistan jährlich für 300 Milliarden US-$ Rauschgift; und daran verdienen ja in erster Linie nicht die kleinen Mohnbauern am Hindukusch - die werden genauso mit ein paar Cent abgespeist wie die Kokabauern in Kolumbien und Bolivien -" (das ist wieder typisch, denkt Dikigoros bei sich, für solche Leute sind Chavez und Morales keine Verbrecher, sondern Helden, die den kleinen Kokabauern etwas Gutes tun), sondern diejenigen, die den US-Markt beherrschen, und da haben die Familien Bush und Cheney ihre dreckigen Pfoten im Spiel." - "Aber will man die Opium-Produktion nicht gerade bekämpften?" fragt Dikigoros vorsichtig. "Wo denken Sie hin?! Erinnern Sie sich doch mal: Die USA haben seinerzeit die Taliban an die Macht gebracht im Vertrauen darauf, daß sie die von den Sowjets unterbundenen Drogen-Lieferungen in die USA wieder aufnehmen. Und was haben diese undankbaren Burschen gemacht, bloß weil im Koran steht, daß Rauschmittel verboten sind? Die haben die Mohnfelder fast völlig zerstört; 2001, als die US-Truppen einmarschiert sind, stand der Export in die USA praktisch bei null. Natürlich wurde der Anbau sofort wieder aufgenommen, nach einem Jahr war das Vorkriegsniveau wieder erreicht, seitdem ist es jährlich um ca. 60% gestiegen, und heute ist es fast zehnmal so hoch wie zu den besten Zeiten davor. Und die Familie Karsai ist Hauptexporteuer."

[Es gibt nur eine kleines Problem mit den blühenden Landschaften]

"Woher haben Sie diese Zahlen?" - "Aus einer UN-Studie." Dikigoros behält wiederum für sich, was er von der UNO im allgemeinen und von solchen "geschätzten" Zahlen irgendwelcher Studien im besonderen hält und fragt nur: "Aber es heißt doch, daß die alliierten Truppen nur noch ganz kleine Teile Afģānistāns besetzt halten, vor allem die Städte - wo doch wohl keine Mohnfelder liegen -, während das Umland immer mehr von den Tālibän beherrscht wird; wie kann da die Mohnproduktion noch weiter steigen? Und müßten die Besatzungstruppen dann bei der Bevölkerung - die ja weithin vom Mohnanbau lebt - nicht besonders beliebt sein, während sie tatsächlich zunehmend verhaßt sind?" - "Aber ich sagte Ihnen doch schon, daß die einheimische Bevölkerung keine großen Gewinne mit dem Mohnanbau macht; und die hassen die Besatzer halt, weil sie ständig die gewachsenen Strukturen in den Dörfern zerstören, etwa indem sie Brunnen graben, Krankenhäuser und Schulen bauen, wo sie dann Mädchen unterrichten und Frauen behandeln wollen, was die Mehrheit der Bevölkerung ablehnt. Und die Mohnfelder werden selbstverständlich von unseren Truppen gut bewacht; die sind ja nicht wie Ihre Schlipssoldaten, die sich kaum noch aus ihren Lagern raus trauen." - "Aber wer organisiert denn das alles in so großem Umfang? Doch nicht die U.S. Army?" - "Nein, die C.I.A.; Sie wissen doch, Bush senior war mal deren Chef; und seitdem läuft das so." - "Und wenn Ihnen tatsächlich jemand die Leiche 'bn Lādins präsentiert?" - "Mir? dann werde ich es sofort publik machen; aber das wird nicht geschehen; denn dessen Leiche liegt wahrscheinlich längst irgendwo gut verscharrt, oder noch besser, sie ist vollständig zu Asche verbrannt, damit niemand auf die Idee kommt, weiter dumme Fragen nach dem Sinn des Krieges am Hindukusch zu stellen, wie Sie." (Als die USA im April 2011 ihre Taktik änderten und plötzlich behaupteten, sie hätten 'bn Lādin soeben getötet, wartete Dikigoros vergeblich auf eine Nachricht von Mike; aber vielleicht kommt sie noch, wenn der erstere unversehens lebend wieder auftauchen sollte :-) [Dikigoros läßt diese seine dumme Bemerkung stehen, statt sie klammheimlich zu löschen, obwohl ihn inzwischen jemand mit der Nase darauf gestoßen hat, daß die USA jene famose Leiche ja gar nicht präsentiert haben, sondern nur das umgetürkte Foto eines spanischen Politikers; er schreibt dazu an anderer Stelle mehr; aber hier will er nicht den Eindruck erwecken, klüger gewesen zu sein als er war. Und inzwischen ist es auch mehr oder weniger amtlich, daß die US-Truppen die afģānischen Mohnfelder vor der Zerstörung durch die Tālibän geschützt und den Einheimischen die Wiederaufnahme der Produktion gestattet haben - "Operation Moshtarak" nannte sich das; und die US-Regierung scheint sogar stolz darauf zu sein. Mikes Informationen waren also offenbar doch fundierter, als Dikigoros ursprünglich glauben wollte.]

Nein, Dikigoros wagt nicht mehr, an dieser Stelle "Nachtrag Ende" zu schreiben; das hat er zu oft getan und ihn dann doch wieder verlängern müssen; er ist auch ziemlich weit vom Thema "Ukraïne" abgekommen; aber das war nun mal der Ort, wo er zum ersten Mal mit dem Afģānistān-Krieg in Berührung gekommen ist, und zwar nicht durch abstrakte Zahlen, sondern durch persönliche Begegnungen mit Betroffenen, und zwar mit solchen, die offenbar mehr Durchblick hatten und haben als die Soldaten der Bundeswehr, die dort in ihren Elfenbeintürmen sitzen und mit denen zu diskutieren wohl nicht viel Sinn hätte; denn sie sind ja alle freiwillig dort und (glauben zu) wissen, daß sie für eine gute Sache (oder mehrere - z.B. ihre Geldbeutel :-) kämpfen; es wäre schlimm für sie selber, wenn sie gewisse unbequeme Wahrheiten nicht verdrängen würden.

* * * * *

Und Dikigoros hatte Recht mit seiner Befüchtung, daß die Geschichte noch nicht beendet ist. Im Frühjahr 2012 bekommt er Besuch von einem Kollegen, der in den USA in der Kanzlei eines Strafverteidigers arbeitet, der durch einige spektakuläre Fälle berühmt oder berüchtigt geworden ist, wie man es nimmt. Dikigoros neigt eher letzterem zu, aber er weiß ja selber, daß man sich seine Mandanten nicht immer aussuchen kann, und als Strafrechtler schon gar nicht, denn wer nichts ausgefressen hat, braucht nun mal keinen Verteidiger, und von Luft und Liebe kann auch ein Jurist nicht leben. Trotzdem - manche Mandanten, von denen man so hört und liest, z.B. dieser Robert Bales... "Ach Nick, glaubst du jetzt auch schon alles, bloß weil es in der Zeitung steht?" - "Nein, aber ob man nun jeden Mörder verteidigen muß, an dessen Schuld nicht mal der Schatten eines Zweifels besteht..." - "An dessen Schuld, oder an dessen Täterschaft?" - "Ich dachte beides." - "Du denkst zu viel." - "Oder du zu wenig." - "Oh, ich mache mir schon Gedanken, z.B. daß manche der Firmen, die du vertrittst, mehr Menschenleben auf dem Gewissen haben als Leute, die gerade mal einen einzigen Mord begangen haben und den vielleicht aus gutem Grund, z.B. Rache, was ja in der BRD als straferschwerend statt als strafmildernd angesehen wird, was ich nie begreifen werde. Wer mit besoffenem Kopf ins Auto steigt und jemanden, den er persönlich überhaupt nicht kennt, ohne Sinn und Verstand tot fährt, der bekommt den Führerschein entzogen und zwei Jahre Gefängnis, die auch noch zur Bewährung ausgesetzt werden, wenn es das erste Mal war, dabei ist so ein Kerl gemeingefährlich und kann jederzeit zum Wiederholungstäter werden, sobald er wieder Autofahren darf, denn er braucht ja kein Motiv dafür außer seiner Liebe zum Alkohol. Aber wer jemanden, der ihm nach dem Leben trachtet, in vorauseilender Notwehr..." - "Das ist keine Notwehr, die gilt nur bei einem gegenwärtigem Angriff." - "Aber Nick, da hat der Betreffende doch gar keine Chance, weil der Angreifer immer im Vorteil ist. Und wenn er zur Polizei geht, sagt die ihm: Kommen Sie wieder, wenn Sie tot sind! Und die Frage nach der Schuld..." - "Fang mir bloß nicht an mit schwerer Kindheit u.a. Wehwehchen. Wenn jeder, der eine schwere Kindheit hatte, deshalb einen Jagdschein bekäme..." - "Ich will ja gar nichts mit der Kindheit entschuldigen; trotzdem muß man damit anfangen, um sich ein Bild von der Persönlichkeit eines Täters zu machen. Du kennst doch den Bobby gar nicht, über den du da so voreilig den Stab brichst." - "Du wirst mich sicher gleich aufklären." - "Nur wenn Du es hören willst und etwas Zeit hast." - "Na, denn leg mal los." - "Also, der Bobby war schon als Kind immer sehr hilfsbereit..." Dikigoros stöhnt auf - das ist genau das, was er nicht hören will. "Warte doch erstmal ab, worauf ich hinaus will. Auch auf der Schule hat er sich immer für alle und alles geopfert, von der Drecksarbeit auf dem Footballplatz bis..." - "Hör mal, wenn du mir jetzt noch erzählst, daß er auch immer alten Frauen über die Straße geholfen hat..." - "Na schön, lassen wir das, fangen wir mit seiner beruflichen Karriere an." - "Ja, Ende 30 und noch immer Stabsunteroffizier, und wahrscheinlich entsprechend gefrustet und nach Heldentaten gierend, die ihm eine Beförderung eintragen könnten." - "Nein, Mitarbeiter bei einer Anlageberatung." - "Aha." - "Ja, ich weiß, was du meinst, aber die Leute, die zu solchen Finanzhaien gehen, sind doch selber schuld. Wenn die Spekulationen gelingen, nehmen sie die Gewinne gerne mit; aber wenn es schief geht, schreien sie: Falschberatung, Haftung!" - "Oder haben, nach deiner Auffassung, einen Grund, ihren Vermögensberater zu ermorden?!" - "Nein, das saubere jüdische Pärchen, das sein Geld bei Bobbys Firma verzockt hatte, zog vor Gericht. Bobbys Chef hat die ganze Schuld auf ihn abgewälzt, und er - nicht etwa die Firma - wurde zu Schadensersatz in Millionenhöhe verurteilt, die er nie im Leben hätte aufbringen können. Statt aber nun Privat-Insolvenz anzumelden und von Stütze zu leben, wollte er seiner Frau und seinen Kindern das nicht antun, sondern meldete sich zum Militär - die nahmen jeden, und einen anderen Job hätte er nicht bekommen. Natürlich konnte er als Späteinsteiger keine große Karriere mehr machen, deshalb der relativ niedrige Dienstgrad. Im übrigen hat niemand Rücksicht auf sein Alter genommen; er ist genauso an den Brennpunkten eingesetzt worden wie andere StUffze in ihren 20ern. Also Irak zum ersten, Irak zum zweiten, Irak zum dritten, und dann Afghanistan. Dort mußte man Tag und Nacht auf der Hut sein vor Überfällen der Einheimischen, und zurück schießen durfte man ja nicht, jedenfalls nicht offiziell. Einen nach dem anderen seiner Kameraden mußte er sterben sehen, und das war noch nicht das Schlimmste. Eines unschönen Tages erwischte es einen von ihnen, der in eine Booby-trap geriet, die ihm ein Bein abriß. Und da kamen die Kameraden - die genau wußten, wer dahinter steckte - zusammen und berieten, was zu tun sei. Sie kamen zum einzig richtigen Schluß: Die Banditen mußten beseitigt werden, und einer mußte sich opfern, d.h. die Schuld auf sich nehmen. Wer war der Blöde? Natürlich Bobby, wie immer. Sie zogen also los, erschossen den Strippenzieher, seine Weiber und seine Brut - die sonst in ein paar Jahren in seine Fußstapfen getreten wäre -, und hinterher stellte sich Bobby und sagte, er sei es alleine gewesen." - "Ein schönes Plädoyer, aber..." - "Pardon, das habe ich nur dir so erzählt; vor Gericht werden wir nicht so plädieren, denn erstens will Bobby niemanden mit hinein ziehen, und zweitens könnte er es ja nicht beweisen, wenn die anderen es bestreiten. Wir werden also auf schuldig plädieren und all die mildernden Umstände geltend machen, die du nicht hören wolltest: daß er selber schwer am Kopf verwundet war, daß er gegen seinen Willen nach Afghanistan geschickt wurde usw. Hoffentlich ist die Jury einsichtiger als du und begreift, daß nicht die kleinen Soldaten vor Ort die wahren Schuldigen sind, sondern die Regierenden, die uns das alles eingebrockt haben, indem sie Leute wie bin Laden ins Land geholt und die Taliban mit Geld, Waffen und Munition ausgestattet haben." Dikigoros will das hier nicht weiter kommentieren; aber nachdem er so viele Nachträge zu diesem Thema geschrieben hat, wollte er seinen Lesern auch dieses Gespräch nicht vorenthalten; schließlich ist dies inzwischen die am häufigsten besuchte Seite seiner "Reisen durch die Vergangenheit", und das sicher nicht, weil alle Welt so sehr an der Ukraïne und/oder Kiïw interessiert ist.


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