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Nachtrag

 

13.  Teilung Sachsens.  Rückkehr des Königs.  Carl Adolf in preußischen Diensten.  Anton von Carlowitz:  seine Jugend und sein erstes Hervortreten.  Hans Georg und Anton bleiben in dem Verkleinerten Vaterlande

ährend des Novembers 1814 veränderte sich die Stimmung in Wien.  Von Metternich wird der Gedanke in den Vordergrund gestellt, daß Österreich unmöglich eine Verschiebung der preußischen Grenzen bis auf den Kamm des Erzgebirges zulassen könne.  Metternich erklärte im Hinblick auf die geplante Überlassung Sachsens an Preußen und auf die gleichzeitigen Pläne des Kaisers Alexander, die Westprovinzen Polens in Rußland einzuverleiben:  „Böhmen sei verloren und das Zentrum der Monarchie gefährdet, wenn sie gleichzeitig von Krakau und von Dresden aus bedroht würde”, und der Kaiser Franz formulierte diesen Gedanken in seiner Weise:  „Der König von Sachsen muß sein Land haben, sonst schieße ich.”  Wollte man nicht den König von Sachsen einfach in den Besitz seines gesamten Landes wieder einsetzen, was den längst getroffenen preußisch=russischen Vereinbarungen widersprach, so blieb nur ein Ausgleich der bestehenden Gegensätze auf einer mittleren Linie übrig, d. h. eine Teilung Sachsens in der Weise, daß seine nördlichen und westlichen, nicht an Österreich grenzenden Teile an Preußen kamen, das übrige aber als Königreich Sachsen seinem alten Landesherrn zurückgegeben würde.  Dieser Gedanke wurde namentlich von Österreich, England und Frankreich verfochten, während Rußland, Preußen und der Minister Stein für den früheren Plan arbeiteten, daß ganz Sachsen an Preußen übergehen müsse.  Doch läßt sich bei Stein, der auch sonst nicht immer konsequent war, bald ein Nachlassen seiner ursprünglichen Absichten beobachten.  Schon am 17. Oktober 1814 schreibt Miltitz aus Wien an Carlowitz (a. a. O.):  „Ich hatte geglaubt, dem Grafen Nesselrode Deinen Wunsch — wegen des vom Kaiser bei Wurzen Dir gegebenen Versprechens (s. S. 142) — mitteilen zu müssen, man hat mich aber an den Minister Stein verwiesen.  Dieser hat mir heut rund heraus erklärt, er tadle alle dergleichen Wünsche und wolle durchaus damit nichts zu tun haben.”

Es war für die preußischen Ansprüche auf Sachsen nicht günstig, daß sich im sächsischen Volke und bei den Ständen der Widerstand gegen die geplante Vereinigung mit Preußen regte und in Petitionen an die verbündeten Monarchen zum Ausdruck kam.  Es zeigte sich, daß das Königshaus trotz des Unglücks der letzten Jahre doch noch das Vertrauen großer Kreise besaß, und das herrische und habgierige Auftreten preußischer Behörden in einem Lande, das für die Befreiung Deutschlands die schwersten Opfer gebracht hatte, war nicht geeignet, Sympathien zu erwecken.  Besonders der preußische Staatsrat von Bülow, der die sächsischen Mitglieder des Gouvernements ohne weiteres beiseite schieben wollte und ihren Protest mit der Drohung beantwortete, er werde sie als Gefangene in eine Festung abführen lassen, hat auch preußenfreundliche Männer wie Oppel, Miltitz und die Brüder von Carlowitz beleidigt und abgestoßen.  Nur mit Mühe verschaffte ihnen Stein in Wien durch ein Schreiben an den Staatskanzler eine gewisse Genugtuung.  Aber die Spannung zwischen sächsischen und preußischen Mitgliedern des Gouvernements blieb bestehen (s. Anne Lore Gräfin Vitzthum, Julius Wilhelm v. Oppel, Dresden 1932, S. 76ff.).  In den Federkrieg, der diese Verhältnisse widerspiegelt, hat auf Hardenbergs Wunsch auch der berühmte Verfasser der ersten wissenschaftlichen römischen Geschichte, Barthold Georg Niebuhr (1776—1831), eingegriffen.  Niebuhr, nicht nur ein Forscher und Gelehrter, sondern auch ein Volkswirtschaftler und praktischer Geschäftsmann, mit 25 Jahren Direktor der Kopenhagener Bank, 1806 von Stein zum Mitdirektor der Berliner Seehandlung berufen, hatte sich in der Unglückszeit Preußens glänzend bewährt.  Im April 1813, als es den Freiheitskrieg durch einen Subsidienvertrag mit England zu finanzieren galt, ließ ihn Stein in das von den Verbündeten besetzte Dresden kommen, und im Kriegslager, zur Zeit der Schlacht von Bautzen, trat er mit Carl Adolf von Carlowitz in freundschaftliche Verbindung, die sich im Laufe des Feldzugs gegen Napoleon immer mehr verdichtete.  Niebuhr schreibt an Carlowitz am 3. Dezember 1814 aus Berlin:  „Sehr oft habe ich an Sie gedacht, nicht bloß im Andenken an jene erste Viertelstunde unserer Bekanntschaft und an die lehrreichen Stunden mannigfaltigen Gesprächs, die Sie mir geschenkt”, und am 23. Dezember:  „Wann werden wir einmal wieder wie zu Reichenbach (in Schlesien, wo am 14. und 15. Juni 1813 die eben genannten Verträge mit England geschlossen wurden) die Geschichte der Zeiten, die nicht unser engeres Wohl und Wehe betreffen, miteinander durchreden? … Unsere erste Bekanntschaft, unser Umgang zu Reichenbach, Prag und Leipzig sind mir unvergeßlich.  Mir deucht, es sei zwischen uns eine Herzensverbrüderung eingetreten wie zwischen Jünglingen im Kriege.”  Zu Niebuhrs berühmter Schrift „Preußens Recht wider den sächsischen Hof” lieferte Carlowitz, wie aus Niebuhrs Briefen vom 3. und 23. Dezember 1814 (A. K.) hervorgeht, wichtigen Stoff teils durch ein Schreiben, teils durch mündliche Auskünfte seines nach Berlin geschickten Adjutanten.  Niebuhr las den Bericht über die Behandlung, die Bülow dem General Carlowitz angetan hatte, als Preuße wie den Bericht „über eine verlorene Schlacht” und war der Ansicht, die preußische Regierung hätte, „um ein Vertrauen zu zeigen, welches allein die Herzen gewinnen kann, die Verwaltung sächsischen Mitgliedern überlassen” „und Carlowitz zum Militärgouverneur ernennen” sollen.  —

Der Streit um Sachsen wurde immer hitziger und hoffnungsloser, ja es schien eine Zeitlang, als könne er nur durch einen neuen Krieg entschieden werden.  Aber schließlich siegte doch die Stimme der Vernunft, und die Teilung Sachsens wurde auch von den ihr zuerst widerstrebenden Mächten als unvermeidlich angesehen.  Am 8. Februar 1815 zog man, nachdem das langumstrittene Leipzig zu Sachsen geschlagen, dafür aber noch Thorn an Preußen überlassen worden war, die endgültige Teilungslinie.  Am 4. März traf der aus der Kriegsgefangenschaft entlassene König Friedrich August in Preßburg ein, damit die Vertreter der Mächte persönlich mit ihm verhandeln könnten, und am 7. März kam eine Nachricht an den Kongreß, die mehr als alle anderen einen schnellen und friedlichen Abschluß der Verhandlungen über das Schicksal Sachsens empfahl:  Napoleon war aus Elba abgesegelt.  Nach wenigen Tagen wußte man, daß er in Frankreich gelandet, daß die gegen ihn geschickten Armeen zu ihm übergegangen und der Bourbonische König von Frankreich als waffenlosen Flüchtling nach England entwichen war.

Unter dem Drucke dieser gänzlich veränderten Verhältnisse erklärte sich der König von Sachsen am 6. April bereit, in der Kriegsbund gegen den Friedensstörer einzutreten.  Am 18. Mai kam der Teilungsvertrag zwischen Preußen, Rußland und Sachsen zustande, und am 22. entband Friedrich August seine abgetretenen Untertanen von ihrem Eide und ermahnte sie, dem König von Preußen Gehorsam und Treue zu leisten.  Der furchtbare Aderlaß, den Sachsen durch diesen Friedensschluß erfuhr, war weder durch das Verhalten seines Herrschers noch durch das des sächsischen Stammes verschuldet, aber er war doch, von einem höheren Standpunkte gesehen, vielleicht notwendig, damit Preußen die äußere und innere Kraft gewann zur Durchführung der Kämpfe, aus denen der deutsche Nationalstaat geboren werden sollte.

Wie hoch die Spannung zwischen den miteinander ringenden Kräften gestiegen war und welche Stimmungen diese Verhältnisse bei den Mithandelnden auslösten, erkennt man am besten aus dem am 12. März 1815 in Dresden geschriebenen Briefe Hans Georgs v. Carlowitz an seinen Bruder Carl Adolf:  „Ich mache es mir wahrhaft zum Vorwurfe, daß ich Dir nicht öfter schreibe; aber die ungeheuere Arbeit entschuldigt mich, welche jetzt ganz besonders auf mir lastet, und die Stimmung, welche aus den Verhältnissen meines unglücklichen Vaterlandes hervorgeht und über die ich einmal nicht Meister werden kann.  Das Kollegium wird sehr gebraucht und noch mehr gefragt; ich soll meine Abteilung zusammenhalten und tue es auch, muß aber auch noch nebenbei Deduktionen schreiben und rechts und links nachhelfen, so daß ich in jeder Mitternacht mit Kummer und Sorgen über rückständige Geschäfte schlafen gehe, um nach kurzer, unterbrochener Ruhe vor Tagesanbruche wieder anzufangen, wo ich stehen geblieben war.  Bei heiterm Gemüt würde ich über diese Lage sehr ruhig sein und mit den Geschäften schnell vorwärts kommen; allein die tägliche Beobachtung des existenten und bevorstehenden Elends macht mich bitter und stumpf.  So hätte ich nicht geglaubt, daß Sachsen endigen würde!  Was mich vorzüglich erzürnt, ist, daß überall um mich her zweideutige Menschen stehen, die aus schändlicher Selbstsucht sich an die stärkere Partei anschließen, weil sie die stärkere ist, und wie Geier über das zerrissene und entehrte Vaterland herfallen.  Unsere gefährlichsten Feinde unter den Franzosen waren diese Sachsen, und sie sind es auch noch jetzt.  — Wenn ich nicht eine verständige Frau hätte, die meinen Studentensinn zu mäßigen wüßte, ich hätte alle Tage Händel und setzte den Krieg gegen gottlose Individuen auf eigene Rechnung fort.  Gott weiß aber, was noch geschieht, denn ein Zufall kann hier entscheiden, wie ein Funke eine Explosion hervorbringen kann.  Schon gibt es vornehmere Leute, als ich bin, denen ich nicht mehr danke, wenn sie mich grüßen, und die bei Tische neben mir sitzen, ohne daß ich sie ansehen mag.

Ryssel geht in der preußischen Generalsuniform umher, hat aber dadurch in der Meinung nicht gewonnen.  Du weißt, daß man hier dem preußischen Militär die Schuldige Hochachtung widmet; um so unbegreiflicher findet man, daß er in dieser ehrwürdigen Klasse deutscher Bürger einen so hohen Posten finden konnte.  Sein Entschluß, die äußere Schale umzuändern, wurde durch seltsame Nebenumstände bestimmt.  Man sagte im Publikum, daß er in preußische Dienste getreten sei, ehe er selbst etwas davon äußerte, und dies gab jedem seiner Schritte, die auf Plünderung unserer Kriegsvorräte abzweckten, einen noch gehässigeren Anstrich.  Ein Schwätzer, wie er ist, hatte er gegen den Major Boudet geäußert, daß er den Abschied aus sächsischen Diensten in der Tasche habe, gleich nachher aber die Auslieferung gewisser Militärvorräte aus dem Zeughause verlangt.  Boudet verweigerte ihm den Gehorsam, weil er nun in Sachsen nichts mehr zu befehlen habe.  Überall sah er, daß man ihm den Dienst aufkündigte, er fand seine persönliche Sicherheit gefährdet, und so mußte er endlich die Maske ablegen.  Er hat von der Kriegsverwaltungskammer in einem zärtlichen Kommunikat Abschied genommen, vermutlich, um ein höfliches Rekommunikat zu erhalten, mit dem er sich hätte brüsten können; aber Anton — der brave Junge — hat seinen Zettel ad acta resolviert und keine Antwort gestattet.  Jetzt ist Ryssel Mitchef der 4ten Sektion.  … Dieser räumt förmlich aus.  Die hiesige Landwehr ist bis auf 100 Mann entwaffnet, welche ohngefähr zum gewöhnlichen dreitägigen Wachtdienste gebraucht werden.  Alle Waffen, alle Vorräte aus dem Zeughause gehen nach Torgau, unter dem Vorwande, dort brauchbar gemacht zu werden, und dem Einschiffen an der Brücke sehen Hunderte von Menschen zu.  Du kannst denken, welchen Eindruck dies auf die öffentliche Stimmung macht.  Überhaupt finde ich diese Maßregel einer voreiligen Aufräumung des sächsischen Staatseigentums höchst bedenklich.  Man weiß hier, daß es auf die Erklärung des Königs von Sachsen ankomme, ob er den ihm zugedachten Teil des Landes annehmen wolle, und daß, wenn er ihn nimmt, eine gemeinschaftliche Kommission die Teilung des Staatseigentums besorgen solle.  Jeden Vorgriff hält man also für unrechtmäßig.  Die Preußen sollten doch überlegen, daß ihre Bravour im letzten Kriege nur die Folge gekränkter Ehre und des Gefühls der Unterdrückung war, daß gleiche Ursachen gleiche Wirkungen hervorbringen, und daß ein Nachbarvolk von 1 200 000 Menschen, unterstützt von einer Armee, ihnen zu seiner Zeit genug zu schaffen machen könne, wenn es von ihnen behandelt wird, wie sie selbst von den Franzosen behandelt wurden.”

Die endlich wiederhergestellte Eintracht der Verbündeten war wohl die wichtigste Vorbedingung für die endliche Niederzwingung des französischen Tyrannen, der unterdes einen großen Teil Belgiens zurückerobert hatte:  am 18. Juni 1815 unterlagen seine neu ausgehobenen Truppen samt den respektabeln Resten seiner alten Armee bei Belle=Alliance dem zähen Standhalten der Engländer unter Wellington und dem unwiderstehlichen Ansturm der Preußen unter Blücher und Gneisenau.  Alles Nähere sagt uns der Brief Hans Georgs an Jeanette vom 26. Juni:

„… Der König von Preußen ist vor einigen Tagen über Wittenberg, Merseburg und Naumburg zur Armee abgegangen.  Er hat sich nur kurze Zeit aufgehalten und ist nicht sonderlich heiter gewesen.  In Naumburg hat ihn der Oberst Thiele mit der Nachricht von dem am 18ten dieses erfochtenen Siege bei Charleroi überrascht, worauf sogleich Bulletins gedruckt wurden, wovon bereits einige Exemplare hier sind.  Auch der hiesige Hof hat offizielle Nachrichten aus dem Hauptquartier der Monarchen in Heidelberg erhalten, welche jenen Sieg vollkommen bestätigen.

Napoleon griff den Marschall Blücher am 15ten mit einer überlegenen Macht an, die aus 4 Armeekorps, 12 000 Man der besten Kavallerie und einer furchtbaren Artillerie bestand, und drängte ihn am 16ten und 17ten nach einer überaus tapferen Gegenwehr, wo jeder Fußbreit Landes Schritt vor Schritt verteidigt wurde, unter fortwährendem Gefechte bis 5 Stunden vor Brüssel.  Die Preußen verloren hierbei 20 000 Man und 20 Kanonen.  Am 16ten griff Napoleon zugleich den seitwärts stehenden Wellington an; auch hier dauerte die Schlacht den 17ten und 18ten, wobei zuletzt die Engländer, die wie Löwen gefochten haben, in die Enge gebracht wurden.  Am 18ten griff Blücher, der sich nach Wellington hingezogen hatte, die Franzosen plötzlich in der rechten Flanke an, forcierte zwei Dörfer, an die die französische Linie sich angelehnt hatte, kam einem Teil des Feindes in den Rücken und rollte so die Kolonne auf, während Wellington in Front auf ihn eindrang.  Der Erfolg war eine gänzliche Niederlage.  Beim Abgange des letzten Kuriers war die Armee der Franzosen völlig zersprengt und in einer allgemeinen Flucht, die Engländer und Preußen aber im Nachsetzen begriffen.  150 französische Kanonen waren bereits in ihren Händen.  Gefangene hat man von beiden Seiten nur sehr wenige gemacht, vielmehr alles tunlichermaßen totgeschlagen.  Der Herzog von Braunschweig nebst mehreren der bedeutendsten englischen und preußischen Generale sind auf dem Platze geblieben, manche andere verwundet.  Auch der österreichische Armeegesandte bei Wellington, General St. Vincent, ist verwundet.

Von Wellingtons Generalstabe ist der größte Teil der Offiziere tot oder verwundet.  Er selbst ist völlig wohl.  Den alten Blücher, der immer die Nase voraus haben soll, hat ein französisches Kürassierregiment überritten, er ist aber dabei gut weggekommen und nicht einmal unter den Verwundeten.  Die Verbündeten geben ihre Verluste selbst auf 30 000 Mann an.  Die Franzosen haben ungeheuer verlosen.  Ihre Kürassiere, die sich vorzüglich ausgezeichnet haben, sind fast ganz aufgerieben.  2 Bataillone der alten Garde, die nicht weichen wollten, wurden von den englischen Dragonern ganz und gar zusammengehauen.  1000 Engländer haben 2 Tage über ein für die Stellung Wellingtons wichtiges Dorf gegen die wiederholten Angriffe der Franzosen unter der eigenen Führung Napoleons und einen großen Teil seiner Artillerie gehalten.  Napoleon selbst ist überall gewesen, hat sich den größten Gefahren ausgesetzt, ist aber am 18ten abends, da er alles verloren geben mußte, davon geritten.  Man weiß nicht, ob die sächsische Kavallerie Teil an der Schlacht genommen habe …”

Elf Tage zuvor war der König von Sachsen, tief gebeugt von den erduldeten Schicksalsschlägen, aber zugleich wie ein Märtyrer seiner Gewissenhaftigkeit in sein verkleinertes Land zurückgekehrt, trotz alledem von den Seinen mit Jubel empfangen.  Wäre ihm ein großzügiges Denken zu eigen gewesen, so hätte er allen denen, die dafür gekämpft hatten, daß Sachsen ungeteilt an Preußen übergehe, aus ganzem Herzen verzeihen müssen, weil sich auch die Edelsten und Besten in der Abschätzung der Lebensmöglichkeit eines Staates unter so verworrenen Verhältnissen und einander zuwiderlaufenden Bestrebungen irren konnten, aber der enge Horizont seines Ministers, des Grafen Einsiedel, verhinderte die allgemeine Amnestie.  So gingen um Sachsen treu verdiente Männer wie Dietrich von Miltitz, Julius von Oppel, Moritz von Schönberg, Gottfried Christian Körner und Carl Adolf von Carlowitz in das Exil.  Miltitz wurde als Oberst in das preußische Heerwesen übernommen, nahm 1830 als Generalleutnant seinen Abschied und lebte noch bis zum 29. Oktober 1853 auf seinem Schosse Siebeneichen bei Meißen.

Generalmajor Carl Adolf von Carlowitz hatte schon am 19. April 1815 sowohl aus dem sächsischen Militär wie aus dem Gouvernementsdienst mit „dem aufrichtigsten Danke” für die „mit vielem Eifer und rühmlicher Auszeichnung geleisteten Dienste” seinen Abschied erhalten und fand zunächst ein Unterkommen in Oberitalien.  Hans Georg schreibt an Jeanette am 26. Juni 1815:  „Carl ist zum preußischen Armeegesandten bei der österreichisch=italienischen Armee unter dem Kommando des Generals Frimont ernannt, welche in der Lombardei steht und jetzt aufgebrochen sein wird, um über Piemont in das südliche Frankreich einzufallen.  Er betreibt jetzt seine Equipierung ziemlich tätig und wird bald abreisen.”

Aber noch vor Jahresschluß war diese Stellung beendet — er fuhr um Weihnachten durch Dresden nach Berlin, um sich bei Friedrich Wilhelm III. zu einem neuen Dienst zu melden, und wir finden ihn als Inspekteur der Landwehr erst in Halle, dann in Merseburg; am 30. März 1822 wird er erster Kommandant von Magdeburg und 1824 Vizegouverneur der Bundesfestung Mainz.  Aber der große Zug seines Lebens war mit dem Jahre 1815 vorbei.  Ihm blieben seine gelehrten Studien, seine großen Erinnerungen, seine unverwelkliche Liebe zur Heimat.  Es wurde ihm nicht leicht, auf eine wirkliche Aktivität größeren Stils zu verzichten, zumal da er dadurch, daß er russische und dann preußische Dienste angenommen hatte, auch die Möglichkeit verloren zu haben schien, in Sachsen eine seinen Fähigkeiten entsprechende Stellung einzunehmen.

Auch die Sachsen, die das Schicksal nach Berlin geführt hatte, fühlten sich dort meist nicht wohl.  W. J. v. Oppel schreibt am 9. Juni 1817 aus Breslau an Carl Adolf v. Carlowitz:  „Voriger Winter ist mir ganz angenehm verflossen; aber doch habe ich in Berlin nicht wohl länger aushalten können.  Die Kälte und Sprödigkeit meiner Wiener Bekannten vom Jahre 1815 hat mir gleich anfangs auffallen müssen.  Die meisten von ihnen waren zu vornehm geworden und ich zu stolz geblieben, um mich ihren Forderungen zu fügen … Die überhandnehmende Frivolität auf der einen und der militärische Hofton auf der anderen Seite, vor allem aber die jüdisch=französische Klügelei und Witzelei werden einem so schlichten und einfachen Menschen, wie ich bin, nach und nach unausstehlich.  Dazu kommt der Ärger, den man um so lebhafter empfindet, je näher man an der Quelle ist, über so vieles, was in bezug auf das öffentliche Beste gegen unsere angelegensten Wünsche, gegen unsere besten Hoffnungen von oben her verhängt oder auch verabsäumt wird.”

Ehe wir Carl Adolfs und Hans Georgs Schicksale weiter verfolgen, müssen wir über den dritten Bruder, der schon hier und da in diesem Buche genannt worden ist, das Nötige nachtragen.

Christoph Anton Ferdinand von Carlowitz war als jüngster Sohn erster Ehe des Hans Carl August von Carlowitz am 6. Juni 1785 in Großhartmannsdorf geboren.  Früh verwaist — die Mutter starb bald nach seiner Geburt, der Vater, als Anton 8 Jahre alt war — fand er 1799—1801 auf der Fürstenschule zu Grimma den Abschluß seiner Schulzeit.  Er trat als Extraneus beim Konrektor Hochmut am 23. Oktober 1799 in Quarta ein und ging am 30. September 1801 aus Obertertia ab.  Das Abgangszeugnis Antons vom 22. September 1801 fand ich unter den mir aus dem Heydaer Geschlechtsarchiv überlassenen Papieren.  Es betont, lateinisch abgefaßt und vom Rektor, Konrektor und vier anderen Lehrern unterzeichnet und gesiegelt, im Eingange den Wert der Klassischen Sprachen und ihrer Literatur auch für den künftigen Staatsmann und teilt uns mit, daß das Lehrerkoilegium den fein gesitteten und strebsamen Jüngling gern noch länger in seiner Unterweisung behalten hätte, daß er aber auf den Wunsch seines Vormunds, d. h. seines Bruders Hans Georg, schon damals die Fürstenschule mit der Universität vertauschen sollte.  Der sechzehnjährige Anton studierte nun in Leipzig die Rechtswissenschaft und wurde durch Reskript vom 12. Juni 1805 als Auditor beim Leipziger Oberhofgericht zugelassen, 1806 Assessor bei der Landesregierung in Dresden und 1809 Hof= und Justizrat.

Schon in der Studentenzeit war ihm der 1801 begründete Hausstand seines Bruders Hans Georg und seiner Schwägerin Jeanette der Zufluchtsort, wo sich der zarte, leicht erregbare, auch von schreckvollen Ahnungen und Gespensterfurcht heimgesuchte Jüngling immer wieder kräftigte.  Hier entwickelte sich zwischen ihm und der nur 4 Jahre älteren Schwägerin eine zarte Freundschaft, die sich auch in den zwischen beiden gewechselten Briefen ausprägt (s. m. Aufsatz über Anton v. C. im NAS. 52, S. 249 f.).

Während der ältere Bruder seinen Fuß nie über die Grenzen des Deutschen Reiches bzw. des Deutschen Bundes hinaussetzte, unternahm Anton, zum Teil in Rücksicht auf seine Gesundheit, schon 1808 eine längere Reise durch Deutschland und die Schweiz und hielt sich 1811 und 1812 meist in Italien auf.  Dabei erweiterte er seine Menschenkenntnis, seinen Blick für wirtschaftliche Belange und sein Geschick, Verwicklungen zu lösen.  So gehörte Anton zu den frühreifen Menschen, die schon in jungen Jahren wertvolle Urteile über die verschiedenartigsten Gegenstände abzugeben vermochten.  In dem kritischen Jahre 1813 wurde er als 28jähriger durch das Vertrauen seiner Standesgenossen zum ersten Mitglied der Meißner Kreisdeputation ernannt und damit an die Spitze der ständischen Verwaltung dieses Gebietes gestellt.  Bald darauf sah er sich gleichzeitig von den Franzosen, die ihn zum Verpflegungskommissar machen wollten, und vom König Friedrich August umworben, der ihm eine Stelle im sächsischen Staatsdienste nach eigener Wahl anbot.  Anton erklärte sich damals bereit, die Stelle des Kreishauptmanns im Meißner Kreise zu übernehmen, aber der König, wohl unter dem Einflusse des Ministers Grafen Einsiedel, gab diese Stelle und dazu auch den Vorsitz in der Kreisdeputation dem Geh. Finanzrat von Zezschwitz, so daß Anton aus dem sächsischen Staatsdienst austrat.  Doch wirkte er nach der Leipziger Schlacht und der Kapitulation Dresdens als Mitglied der Deputation des Meißner Kreises sehr günstig auf die Erleichterung der Kriegslasten und wußte, sehr geschickt zwischen den militärischen Behörden und seinen Standesgenossen zu vermitteln (s. S. 136).  Und als das russische Generalgouvernement eine Kriegsverwaltungskammer einrichtete, wurde ihm in ihr die Stelle des dritten Rates übertragen.  Als solcher begegnet er uns mehrfach in den ungedruckten Briefen Dietrichs von Miltitz (S. 138).  Auch in Preußen wurde man auf den tüchtigen Beamten aufmerksam.  Fürst Hardenberg bot ihm, als die Abtretung von 3/5 des sächsischen Gebiets an Preußen bevorstand, eine Stellung im provisorischen Generalgouvernement in Merseburg an mit der Aussicht, daß er später in Preußen als Regierungsdirektor angestellt werden sollte.  Anton lehnte ab.  Dagegen wurde er, als sich der Krieg gegen den aus Elba entflohenen Napoleon erneuerte, beauftragt, den von Sachsen geforderten fünfmonatlichen Verpflegungsbedarf für 72 000 Russen in Franken zu beschaffen.  Hans Georg schreibt an Jeanette:  Dresden, 26. 6. 1815.  „… Anton hat mir von seinem Hauptquartier Schweinfurth geschrieben und sagt Dir die schönsten Dinge.  Seine Kollegen, die Rayons=Kommissarien der übrigen Höfe, welche die Russen zu verpflegen haben, sind größtenteils Juden.  Er wird nun bereits bis Frankfurt sein, wo der russische General=Intendant Courier ihn erwartet.”  Anton löste diese schwierige Aufgabe in einer für Sachsen sehr günstigen Weise und vermochte darüber hinaus den englischen General Harries, die für die sächsischen Hilfstruppen in Aussicht gestellten Hilfsgelder schon im voraus zu zahlen, noch ehe das englische Parlament den Subsidienvertrag genehmigt hatte.  Dadurch kam der König von Sachsen in die Lage, die verpfändeten Wertstücke wieder einzulösen.  Er belohnte Anton durch den Zivilverdienstorden und durch das erneute Versprechen, daß er die durch Zezschwitz’ Tod wieder erledigte Meißner Kreishauptmannstelle bekommen solle.  Die Stelle wurde aber dem Geh. Finanzrat v. Zeschau übertragen, und Anton v. C. beruhigte sich gern, „da sie innige Freunde waren”.

Auffallender war es, daß auch Hans Georg v. Carlowitz in Sachsen blieb, da er doch durch so innige Bande mit seinem älteren Bruder verknüpft war und bei der Hochachtung, die er dem Reichsfreiherrn vom Stein eingeflößt hatte (s. S. 134 u. Gräfin Vitzthum, Oppel S. 66 f., 73 f.) leicht eine angemessene Stellung in Preußen hätte finden können.

Er hatte begriffen, daß Preußen bei der Neuordnung der deutschen Verhältnisse eine führende Stelle gebühre.  Schon am 21. November 1813 hatte er dem Bruder geschrieben:  „Die ersten Verfügungen in dem preußischen Staate sind das Vollendetste, was ich in dieser Art gesehen habe, diese sollte man auf uns übertragen, um zwei nachbarliche Völker zu verbrüdern.”  Hans Georg wäre also einverstanden gewesen, wenn das sächsische Königshaus auf Sachsens Thron verzichtet hätte und Sachsen in einer Art Personalunion unter die schirmende Hand des preußischen Königs gestellt worden wäre.

Aber der Teilung Sachsens hatte er mit aller Enschiedenheit widerstrebt.  Als sie sich dennoch durchsetze und der von ihm persönlich hochgeachtete König in das verkleinerte Land wieder eingesetzt worden war, zog er, und ebenso sein Bruder Anton (S. 159), aus den neuen Verhältnissen eine ganz andere Folgerung als sein älterer Bruder.  Das in ihm sehr stark ausgeprägte Heimats= und Stammesgefühl ließ es nicht zu, daß er das geliebte Land in seinem Unglück verlasse.  Am 28. Februar 1813 schrieb er an Oppel (Freiheitskriege S. 135):  „Mein Entschluß ist gefaßt.  Ich habe nie mir, sonder stets nur meinem Lande gedient, sonst hätte ich auf meinem Gute bleiben müssen, wo ich froher leben und reicher sterben könnte als hier (in Dresden).  Das Unglück dieses Landes verdoppelt meine Pflicht, ich will sein Schicksal teilen, und mein Posten soll da sein, wo die Gefahr und das Elend am größten sind … Und einst möge die Nachwelt richten, ob das sächsische Volk es verdiente, ins Elend gestoßen zu werden”, und am 20. März 1814 offenbarte er demselben Freunde in folgenden klassischen, sozusagen mit seinem Herzblut geschriebenen Sätzen den politischen Standpunkt, zu dem er sich durchgerungen hatte:  „Es ist nicht möglich, der deutschen Sache … inniger anzuhängen als ich.  Die deutsche Sache ist mein Maximum, der protestantische Thron von Norddeutschland der Punkt, auf den sich alle meine Wünsche und Hoffnungen konzentrieren.  Preußen ist für mich das Land, das uns in der Deutschheit vorangegangen ist, und Sachsen, mein kleines geliebtes Vaterland, würdig der Nacheiferung.  Dies ist der Inbegriff aller meiner politischen Ansichten, Wünsche und Hoffnungen; aus ihm erklären sich die anscheinenden Widersprüche in meinen Handlungen.  Ich werde eben darum in keinem anderen Lande als in Sachsen dienen; eben darum gegen jede Maßregel nach allen Kräften ankämpfen, die preußische Beamte zum Schaden Sachsens in Ausübung bringen wollen und immer der erklärte Feind eines jeden sein, der Sachsen anfeindet … Hier weiß man nicht, was man aus mir machen soll.  Bald hält man mich für einen Royalisten, wenn ich Sachsens Interesse verfechte, bald für einen Preußen, wenn man sieht, wie innig ich das Heldenvolk verehre — soweit es unter den Waffen steht.  Wenige Menschen können ihre Ansichten generalisieren, und daher muß man gefaßt darauf sein, von den meisten verkannt zu werden.  Von Ihnen, mein verehrter teuerer Freund, werde ich nicht verkannt, von Ihnen und von Miltitz nicht, Sie beide werden mir Gerechtigkeit widerfahren lassen, kein Mißtrauen in mein deutsches Herz setzen, wenn ich mich jetzt nach allen Kräften der Sachsen annehme, weil sie die Meinigen und verlassen sind.”  (Freiheitskriege S. 160.)

Während des ganzen Sommers 1815 scheint Jeanette in Rücksicht auf ihre Gesundheit mit den Kindern in Oberschöna gewesen zu sein.  Diese lange Trennung konnte der vielbeschäftigte, der Erholung bedürftige Hans Georg nur schwer ertragen, sie verursachte ihm eine quälende Sehnsucht, die sich bisweilen in einer Art von Galgenhumor offenbarte, wie in dem am 4. Juli an Jeanette gerichteten Briefe:

Dresden, vom Balkon, 4. 7. 1815.  „Eben erhalte ich Deinen Brief, mein Engel, und danke Dir herzlich dafür.  Die Inlage an Anton werde ich bestellen, so grob sie auch dem Eingange nach zu sein scheint.

Herrschsüchtiger zu sein wie die Weiber, ist nicht möglich; und auch die allerbesten sind es.  Ihn regierst Du am Ufer des Main, mich am Ufer der Elbe.  Während ich nicht ein Wort von Deinem Treiben und Tun in Oberschöna erfahre, nicht einmal weiß, nach welcher Weltgegend Du wohnst, werde ich darüber hart in Schriften konstituiert, daß ich nicht eine halbe Elle über der Erde schlafe.  So arg mußt Du Dir meine Wirtschaft aber auch nicht vorstellen, mein kleiner Drache!  Ich werde doch in 14 Jahren im Umgang mit Dir etwas gelernt, etwas von meinen akademischen Sitten vergessen haben.  Es ist keineswegs eine Bucht im Saale.  Um 10 Uhr legt die Zofe, die Du mir großmütig zurückgelassen hast, die Matratze, ein Kissen, ein Tuch und eine Decke in die Ecke des Saals, brennt die Lampe an und verschwindet dann, wie eine Fee in Macbeth.  Ich lege mich dann, mit Deiner gnädigen Erlaubnis, nieder, wenn mir’s gefällig ist, gewöhnlich um 11 Uhr, und stehe früh ziemlich zeitig auf, sobald ich ausgeschlafen habe.  Gegen 7 Uhr erscheint das Gespenst wieder, setzt mir Kaffee auf den Stuhl, der neben dem kleinen Arbeitstische steht und trägt die Bestandteile meines Lagers ganz ordentlich und bedächtig in die Schlafstube in den großen, schweren Kasten, in den Du mich durchaus bannen willst.  In diesem modo procedendi finde ich doch wirklich nichts, was wider den Anstand und die Ordnung der Natur oder des häuslichen Lebens liefe!  Überfalle mich nur, mein Kätzchen, Du sollst mich gerüstet finden und aus meiner Gefangenschaft gewiß so bald nicht wieder entkommen …”

Derselbe Brief bringt auch wichtige Nachrichten aus Dresden und über den Fortgang der Kämpfe in Frankreich:  „Leyser ist zwei Tage vor der Übergabe der sächsischen Armee vom Könige von Preußen zum Sächsischen General ernannt, jedoch nunmehr vom hiesigen Könige bestätigt worden.  Die ganzen sächsischen Truppen bleiben bei Osnabrück stehen.  Nach heutigen über Bayreuth eingegangenen Nachrichten haben die Franzosen Napoleon verlassen und die von ihm eingesetzten Regierungsmitglieder Carnot, Fouchet usw. ihn in Paris arretiert; die Verbündeten wollen sich aber durch nichts abhalten lassen, nach Paris vorzudringen und stürmen von allen Seiten dahin.  Die Preußen haben bereits Laon mit Sturm genommen und dadurch die letzte haltbare Position vor Paris in Besitz …”

Eine wehmütige, weltschmerzliche Stimmung spricht aus dem Briefe an Jeanette vom 30. Juli:

„Von vorgestern 2 Uhr bis gestern um 8 Uhr abends bin ich nicht aus dem Saale gekommen und so ungeheuer fleißig gewesen, daß ich mich über mich selbst gewundert habe.  Die Tageszeit saß ich auf dem Balkon.  Gegen 8 Uhr tat die Sonne einige Blicke, die eine himmlische Beleuchtung machten.  Ich ging, um dies seltene Schauspiel zu genießen, vor das Tor, und weil ich den Menschen nicht in den Weg kommen möchte, Deinen Lieblingsweg nach dem Neustädter Kirchhofe.  In tiefem Sande, links schlechten Klee, rechts dürre Gerste, gelange ich an die Pforten des Todes.  Der Totengräber wendete sein Heu, ich hatte also freien Zutritt und sah mich so gründlich um, wie Du es an mir gewohnt bist.  Nicht ein einziges Denkmal ist schön nicht eine einzige Inschrift edel.  Die Plattheit der Dresdner spricht sich im Tode wie im Leben aus.  Es wurde ganz dunkel, so daß ich nicht mehr lesen konnte, als ich den Rückweg antrat.  Unterwegs dachte ich nach über die Eitelkeit, den Geiz, die Schmeichelei, kurz, alle die schönen Tugenden, welche unsere Kirchhöfe zur Schau stellen, — zugleich tat ich aber auch einen Seitenblick auf Deine sonderbare Liebhaberei, bei Deinen Spaziergängen einen solchen Weg und einen solchen Endpunkt zu wählen …”

Zu Antons erfolgreicher Heimkehr aus Frankfurt mit den englischen Hilfsgeldern (S. 159) führt uns der Brief an Jeanette aus Dresden, 12. 8., Freitags (1815) „… Anton ist diese Nacht über Leipzig zurückgekommen.  Er hat 250 000 Taler in Gold und Wechseln mitgebracht, über die hier eine allgemeine Freunde ist.  Um unterwegs nicht totgeschlagen zu werden, hat er eine Eskorte sächsischer Garde aus Frankfurt zu Wagen mitgebracht.  Er ist Tag und Nacht gereist und hat so überaus schlechtes Wetter gehabt, daß er selbst einsieht, es sie (für mich) besser gewesen, hier zu bleiben.  Ich hätte ja nicht aus dem Gasthofe gehen können, die schlechten Wege ungerechnet … Der Schaden an der Elbe ist ungeheuer, die Elbe steht auf 6 (Ellen) und ist seit diesem Morgen um eine Elle gestiegen.  Eben tritt sie in den hinteren Garten unseres Hauses …”

Die beiden nächsten Brief an Jeanette bieten wichtige Geschäftsberichte aus dem Bereich der Tätigkeit Hans Georg und der Aussichten und Leistungen Carl Adolfs und Antons.  Der letzte Brief des Kapitels ist ein Werbebrief für Jeanettens baldigste Übersiedlung nach Dresden.

Dresden, 18. 8. 1815.  „… Erdmannsdorf war gestern gegen zwei Stunden bei mir und, wie mir schien, geschickt, um sich über manches, was Wichtiges beabsichtigt wird, mit meinen Ansichten bekannt zu machen.  Meine Äußerungen waren freimütig; sie schienen nicht sonderlich mit den gehegten Absichten überein zu stimmen, und so werde ich wohl immer meinen Weg ohne Stelze, ohne Krücke und ohne Brille allein wandeln … Mit dem General Zeschau habe ich gestern über die Einrichtung der hiesigen Militärakademie für Ärzte verhandelt, und er hat mir seine tätigste Mitwirkung versprochen, daß dies Institut in der vollkommenen Art, wie ich solches im Gouvernement eingerichtet, hergestellt und begründet werde.  Wenn mir nur dies noch gelänge!  Hunderte von Kranken würden es dann zugleich und recht hauptsächlich mir zu danken haben, daß sie genesen und daß der karge Staat für sie sorgt …”

Dresden, 21. 8. 1815.  „Carl soll zum Preußischen Gesandten in Neapel bestimmt sein, doch ist von ihm seit dem 26. Juli keine direkte Nachricht hier.  Von Neapel kann er so geschwind nicht wieder nach Großhartmannsdorf kommen.  Seine Frau ist heute hier, geht aber diesen Abend wieder nach Liebstadt zurück.  Anton, der sich viele tausend Mal empfiehlt, wird vielleicht eine neue und sehr ehrenvolle Mission bekommen.  Er hat heute Erdmannsdorfen wieder verpflichtet und scheint sich in der Kriegskammer nicht sonderlich mehr zu gefallen.

Im Vertrauen kann ich Dir soviel sagen, daß Herder (Sohn des Dichters) nicht zu uns kommen wird, doch äußere davon ja niemand etwas.  Im Wesen hat Einsiedel viel Gutes, wenn auch die Formen nicht viel wert sind, und immer bleibt ihm das Verdienst, daß er bis jetzt keine schlechten Menschen emporgelassen und keine guten gedrückt, auch manches Bessere mit gutem Willen erstrebt hat.  Was uns persönlich angeht, interessiert ja nicht den Staat[1].  Von Manteuffeln habe ich eben wieder einen gar zärtlichen Brief erhalten.

Anton hat vermittelt, daß morgen alle in Sachsen stehenden Russen aufbrechen und das Land verlassen.  Die Sache ist durch den General Herzog von Württemberg gegangen und macht hier viele Freude.  Deine Gegend wird also auch wieder frei …”

 

Dresden, 30. 8. 1815.  „Meine Rückreise (von Oberschöna) hierher ging sehr gut, und schon halb zwölf Uhr war ich bei hellem Mondscheine wieder hier an meiner Tür.  Unterwegs habe ich viel geschlafen, und Anton hat die Atmosphäre mit Tabakrauch erfüllt.  Jetzt, seit ich wieder bei Dir und im Gebirge war, empfinde ich, außer meiner steten Sehnsucht nach Dir, auch noch ein gewisses Heimweh nach der vaterländischen Gegend, das meine Zufriedenheit eben nicht befördert und nur durch Zerstreuung in anhaltender Arbeit erstickt werden kann.  Der Augenblick unserer Wiedervereinigung, Du kleiner Engel! die Gegend von Hartmannsdorf, der Ort unserer ersten Liebe, alles dies steht lebhaft vor meiner Seele und kontrastiert auffallend gegen die trockene, einsame Gegenwart.  Es ist dringend nötig, daß Du zu mir kommst, entweder ganz oder zum Besuche, je nachdem es Dir gefällt, wenn ich nicht in eine drückende Laune verfallen soll.  Hier in Deinem Quartiere sieht alles einer Zerstörung ähnlich.  Nichts ist mehr an seiner Stelle, alles liegt verworren umher, und schon eine neuwaschene Stube macht mir eine fatale Impression …”


 


[1] Dieser Satz bezieht sich wohl darauf, daß Minister Graf Einsiedel aus Geschäftsneid den Anton v. C. zurücksetzte.  (S. 159. 171 f.)

 

 

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