H.J. Krysmanski                 Aspekte der Globalisierung                     Seminar-Reihe
Giorgio Agamben : Ausnahmezustand
                                                                                                    zurück zur Hauptseite

Giorgio Agamben
 Unterthemen

Terminus

Was ist Ausnahmezustand?

Geschichtlicher Überblick
21. Jahrhundert
Personenerkennung
USA-Reisen/Agamben
Anti-Terror-Gesetze
Ausblick

Homo Sacer

Im Blickpunkt (Film)

Link

 Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben

In Homo sacer stellt Giorgio Agamben im Anschluß an Foucault und als philosophische Korrektur von dessen Konzept der Biopolitik die These auf, dass diese, indem sie den Menschen auf einen biologischen Nullwert zurückzuführen versucht, das nackte Leben zum eigentlichen Subjekt der Moderne macht. Im archaischen römischen Recht wurde das nackte Leben von der Figur des homo sacer verkörpert: Zwar durfte er straflos getötet, nicht aber geopfert werden, was auch seine Tötung sinnlos und ihn gleichsam unberührbar machte (woraus sich der Doppelsinn von sacer als „verflucht“ und „heilig“ ableitet). Der homo sacer markiert die Grenze zwischen dem nackten Leben und dem rechtlich eingekleideten Leben. Er steht für das rechtlich ungeschützte, nur dem Souverän verfügbare Leben und charakterisiert so die Souveränität als solche.
Ausgehend von Carl Schmitts Souveränitätskonzept und im Umweg über historische Stationen der politischen Kulturgeschichte kommt Agamben zu einer Analyse des Konzentrationslagers als „nόmos der Moderne“, wo Recht und Tat, Regel und Ausnahme, Leben und Tod ununterscheidbar werden. In den zwischen Leben und Tod siechenden Häftlingen, aber auch in den Flüchtlingen von heute sieht er massenhaft realgewordene Verkörperungen des homo sacer und des nackten Lebens.

Wie kommt Agamben zu einer derart düsteren Analyse?
Im Folgenden sollen die wesentlichen Argumentationsschritte der Analyse Agambens dargestellt werden, wobei die folgende Darstellung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt und lediglich versucht die zentralen Gedankengänge nachzuzeichnen.   

Zoe und bios
Agamben beginnt seine Analyse mit einer in der griechischen Antike getroffenen Unterschei-dung zwischen zoe (die einfache Tatsache des Lebens bzw. das nackte Leben) und bios (das politische Leben). In der antiken Welt ist das einfache natürliche Leben aus der polis im ei-gentlichen Sinn ausgeschlossen und als rein reproduktives Leben auf den Bereich des oikos (Haushalt) eingeschränkt. In der Moderne wird diese Unterscheidung aufgehoben; die Moder-ne ist durch das Eintreten der zoe in die Sphäre der polis gekennzeichnet: „Die Politisierung des nackten Lebens bildet auf jeden Fall das entscheidende Ereignis der Moderne und mar-kiert eine radikale Transformation der klassischen politisch- philosophischen Kategorien“ (Agamben 2002: 14).

Das Paradox der Souveränität
In einem nächsten Analyseschritt wendet sich Agamben Carl Schmitts Souveränitätskonzept zu und verweist auf die paradoxe Struktur, die der Logik der Souveränität zugrunde liegt. Das Paradox der Souveränität drückt sich in folgender Formel aus: „Der Souverän steht zugleich außerhalb und innerhalb der Rechtsordnung“ (Agamben 2002: 25). Auf der einen Seite ist der Souverän, indem er ein Gesetz konstituiert, mit der Rechtsordnung verbunden, auf der anderen Seite steht er außerhalb der Rechtsordnung, da er selbst der Gesetzesordnung nicht unterworfen ist und somit gewissermaßen über dem Gesetz steht. Schmitts Definition der Souveränität („Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“) stellt dabei den Ausgangspunkt der Agambenschen Analyse dar. Der Souverän ist derjenige, dem die Rechtsordnung die legale Macht zuerkennt, den Ausnahmezustand auszurufen und auf diese Weise die geltende Ordnung aufzuheben. Insofern steht er außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung und gehört doch zu ihr, denn er ist zuständig für die Entscheidung, ob die Verfassung in toto suspendiert werden kann. Die Souveränität definiert sowohl den Anfang als auch das Ende der Rechtsordnung. Dabei ist die Struktur der Ausnahme von entscheidender Bedeutung und unauflöslich mit der Struktur der Souveränität verbunden. Der Souverän entscheidet allein über die Ausnahme. Wie ist nun diese Ausnahme zu beschreiben?

„Die Ausnahme ist das nicht Subsumierbare; sie entzieht sich der generellen Fassung, aber gleichzeitig offenbart sie ein spezifisch- juristisches Formelement, die Dezision, in absoluter Reinheit. In seiner absoluten Reinheit ist der Ausnahmefall dann eingetreten, wenn erst die Situation geschaffen werden muss, in der Rechtssätze gelten können. Jede generelle Norm verlangt eine normale Gestaltung der Lebensverhältnisse, auf welche sie tatbestandsmäßig Anwendung finden soll und die sie ihrer normativen Regelung unterwirft. […] Es gibt keine Norm, die auf ein Chaos anwendbar wäre. Die Ordnung muss hergestellt sein, damit die Rechtsordnung einen Sinn hat. Es muss eine normale Situation geschaffen werden, und souverän ist derjenige, der definitiv darüber entscheidet, ob dieser normale Zustand tatsächlich herrscht. Alles Recht ist Situationsrecht. Der Souverän schafft und garantiert die Situation als Ganzes in ihrer Totalität. Er hat das Monopol dieser letzten Entscheidung. Darin liegt das Wesen der staatlichen Souveränität. […] Die Ausnahme ist interessanter als der Normalfall. Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur die Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Ausnahme“ (Agamben 2002: 25f).

Durch den Ausnahmefall schafft und garantiert der Souverän also die Situation, deren das Recht für seine eigene Geltung bedarf. Wie ist nun diese Situation zu beschreiben?
Die Ausnahme kann als eine Art der Ausschließung beschrieben werden. Sie stellt einen Ein-zelfall dar, der aus der allgemeinen Norm ausgeschlossen ist. Das eigentlich Charakteristische der Ausnahme ist jedoch, so Agamben, dass das, was ausgeschlossen wird (also die Ausnah-me) deswegen nicht völlig ohne Beziehung zur Norm ist; im Gegenteil bleibt die Ausnahme mit der Norm paradoxerweise in der Form der Aufhebung verbunden: „Die Norm wendet sich auf die Ausnahme an, indem sie sich von ihr abwendet, sich von ihr zurückzieht“ (Agamben 2002: 27).
Der Ausnahmezustand ist also nicht das Chaos, das der Ordnung vorausgeht, sondern viel-mehr die Situation, die aus der Aufhebung der Ordnung hervorgeht. In diesem Sinne ist die Ausnahme wirklich herausgenommen und nicht einfach nur ausgeschlossen. Die Ausnahme definiert also die Struktur der Souveränität.
Nicht die Ausnahme entzieht sich der Regel, sondern es ist die Regel, die, indem sie sich auf-hebt, der Ausnahme stattgibt; und die Regel setzt sich als Regel, indem sie mit der Ausnahme in Beziehung bleibt. „Die besondere Kraft des Gesetzes rührt von dieser Fähigkeit her, mit einem Außen in Beziehung zu bleiben. Die äußerste Form der Beziehung, die etwas einzig durch seine Ausschließung einschließt [die einschließende Ausschließung], nennen wir Aus-nahme-Beziehung“ (Agamben 2002: 28).
Das Besondere der im Ausnahmezustand geschaffenen Situation besteht darin, dass sie weder als faktische noch als rechtliche Situation beschrieben werden kann, sondern dazwischen „eine paradoxe Schwelle der Ununterscheidbarkeit errichtet“ (Agamben 2002: 28). Als faktisch kann die Situation nicht beschrieben werden, da keine Situation des Ausnahmezustandes ohne die Auflösung der Norm existiert. Aus demselben Grund ist sie ebenso wenig eine rechtliche Situation, da ja eben die Rechtsordnung aufgehoben wird.
Bei der souveränen Ausnahme geht es weniger darum Überschreitungen zu kontrollieren und zu bekämpfen als vielmehr und zuallererst um die Schaffung des Raumes selbst, in dem die juridisch- politische Ordnung überhaupt gelten kann.




„Da es keine Ordnung gibt, die auf ein Chaos anwendbar wäre, muss dieses zuerst durch Schaffung einer Zone der Ununterschiedenheit zwischen Innen und Außen, Chaos und normaler Situation, das heißt des Ausnahmezustandes, eingeschlossen werden. Denn eine Norm muss, um sich auf etwas beziehen zu können, das voraussetzen, was außerhalb der Beziehung ist (das Beziehungslose), und trotzdem auf diese Weise eine Beziehung damit herstellen. Die Ausnahmebeziehung führt so einfach die originäre formale Struktur der Rechtsbeziehung vor. Die souveräne Entscheidung über die Ausnahme ist in diesem Sinn die originäre politisch- juridische Struktur, von der aus das, was in der Ordnung eingeschlossen und das, was von ihr ausgeschlossen ist, erst seine Bedeutung gewinnt“ (Agamben 2002: 29).

Die Ausnahme ist also die originäre Struktur, in der sich das Gesetz auf das Leben bezieht. Die Beziehung zwischen der souveränen Rechtsordnung und dem Einzelnen ist keine Beziehung, die durch einen Vertrag charakterisiert ist, sondern „eine Beziehung des Banns“ (Agamben 2002: 39). Der Verbannte ist nicht einfach außerhalb des Gesetzes und von diesem unbeachtet gelassen, sondern von ihm verlassen, das heißt „ausgestellt und ausgesetzt auf der Schwelle, wo Leben und Recht, Außen und Innen verschwimmen“ (Agamben 2002: 39). Es lässt sich also nicht eindeutig sagen, ob sich der Verbannte außerhalb oder innerhalb der Ordnung befindet. „Die originäre Kraft des Gesetzes mit dem Leben ist nicht die Anwendung, sondern die Verlassenheit“ (Agamben 2002: 139). Die Kraft des Gesetzes besteht darin, dass es das Leben in seinen Bann hält, indem es sich von ihm abwendet. Wie ist nun die Struktur des Banns zu verstehen?
„Der Bann ist eine Beziehungsform. Doch um was für eine Beziehung handelt es sich eigentlich, wenn sie keinen positiven Inhalt hat und sich die Glieder gegenseitig auszuschließen (und zugleich einzuschließen) scheinen? Welche Gesetzesform drückt sich darin aus? Der Bann ist die reine Form des Sich-auf-etwas-Beziehens im allgemeinen, das heißt, die einfache Setzung einer Beziehung mit dem Beziehungslosen“ (Agamben 2002: 39f).
Bislang wurde die Struktur der Souveränität beschrieben. An dieser Stelle stellt sich die Fra-ge, was eigentlich von ihr ausgenommen und zugleich in sie hineingenommen wird. Wer ist der Träger des souveränen Banns?

Homo sacer
Der homo sacer ist die ursprüngliche Figur des in Bann genommenen Lebens.
„Der Protagonist dieses Buches ist das nackte Leben, das heißt das Leben des homo sacer, der getötet werden kann, aber nicht geopfert werden darf […]. Eine obskure Figur des archaisch römischen Rechts, in der das menschliche Leben einzig in der Form ihrer Ausschließung in die Ordnung eingeschlossen wird…“ (Agamben 2002: 18f.).
Der homo sacer ist ein Verbannter, der zwischen dem menschlichen und dem göttlichen Recht stand. Weil der homo sacer aber straflos getötet werden darf, ist er aber wiederum in die Gemeinschaft eingeschlossen, disponibel gemacht. Der Bann, mit dem der homo sacer belegt wurde, fixiert ihn in eine Zwischensphäre, eine Zone der Indifferenz von Opfer und Mord, von Innen und Außen, von Recht und Natur. Diese durch Exklusion sich eröffnende Dimension eines „nackten Lebens“, d.h. eines rechtlich nicht eingekleideten Lebens, über das der Souverän verfügt, stellt die ursprüngliche politische Dimension dar.
„Was unter den souveränen Bann fällt, ist ein menschliches Leben, das getötet, aber nicht geopfert werden kann: der homo sacer. […] Heilig, das heißt tötbar und nicht opferbar, ist ursprünglich das Leben im souveränen Bann, und die Produktion des nackten Lebens ist in diesem Sinn die ursprüngliche Leistung der Souveränität. Die Heiligkeit des Lebens, die man heute gegen die souveräne Macht als Menschenrecht in jedem fundamentalen Sinn geltend machen möchte, meint ursprünglich gerade die Unterwerfung des Lebens unter eine Macht des Todes, seine unwiderrufliche Aussetzung in der Beziehung der Verlassenheit“ Agamben 2002: 93).
Der homo sacer stellt eine parallele Figur zum Souverän dar, die allerdings am anderen Ende der Machtskala steht: „Souverän ist die Sphäre, in der man töten kann, ohne einen Mord zu begehen und ohne ein Opfer zu zelebrieren, und heilig, das heißt tötbar, aber nicht opferbar, ist das Leben, das in dieser Sphäre eingeschlossen ist…“ (Agamben 2002: 91). „Souverän ist derjenige, dem gegenüber alle Menschen potentiell homines sacri sind, und homo sacer ist derjenige, dem gegenüber alle Menschen als Souveräne handeln“ (Agamben 2002: 94). Beide sind in der Figur eines Handelns verbunden, das, indem es sich sowohl vom menschlichen Recht als auch vom göttlichen Recht ausnimmt, den ersten eigentlichen politischen Raum absteckt, der sowohl vom religiösen als auch vom profanen Bereich, von der natürlichen Ord-nung wie von der normalen Rechtsordnung abgegrenzt ist.
Die Heiligkeit deutet Agamben als die „ursprüngliche Form der Einbeziehung des nackten Lebens in die juridisch- politische Ordnung, und das Syntagma homo sacer benennt etwas wie die ursprüngliche politische Beziehung, das heißt das Leben, insofern es in der einschließen-den Ausschließung der souveränen Ausnahme als Bezugsgröße dient. Heilig ist das Leben nur, insofern es in der souveränen Ausnahme erfasst wird“ (Agamben 2002: 95).
Zur Verdeutlichung dieser Thesen führt Agamben die Formel „vitae necisque potestas“ an, die aus dem römischen Recht stammt und die bedingungslose Gewalt des Vaters über die Söhne bezeichnet. Demnach erscheint das Leben im römischen Recht nur als Gegenstück einer Macht, die mit dem Tod droht. Diese Macht ist absolut und ist nicht als Sanktion einer Schuld gedacht. „Sie entspringt unmittelbar und allein der Vater- Sohn- Beziehung (im Augeblick, da der Vater den Sohn anerkennt, indem er ihn vom Boden hochhebt, erwirbt er über ihn die Macht über Leben und Tod)“ (Agamben 2002: 97). Die Gewalt bezieht sich auf jeden freien männlichen Bürger von Geburt an und scheint so das Modell der politischen Macht im allgemeinen zu sein. Um am öffentlichen Leben teilhaben zu können, muss mit einer bedingungslosen Auslieferung an eine Macht gezahlt werden, die über Leben und Tod entscheiden kann. „Nicht das einfache natürliche Leben, sondern das dem Tod ausgesetzte Leben (das nackte oder heilige Leben) ist das ursprüngliche Element“ (Agamben 2002: 98). Dabei besteht nach Agamben eine wesentliche Verwandtschaft zwischen der vitae necisque potestas des Vaters und dem imperium des Magistraten, also der souveränen Macht. Das Imperium des Magistraten ist die Ausweitung der vitae necisque potestas des Vaters auf die gesamte Bürgerschaft. Das erste Fundament der politischen Ordnung ist ein absolut tötbares Leben, „das durch seine Tötbarkeit selbst politisiert wird“ (Agamben 2002: 98).
Der homo sacer ist also die erste und unmittelbare Referenz der souveränen Macht und die Beziehung zwischen ihnen ist eine Beziehung des Banns: „Der Bann ist im strengen Sinne die zugleich anziehende und abstoßende Kraft, welche die beiden Pole der souveränen Ausnahme verbindet: das nackte Leben und die Macht, den homo sacer und den Souverän“ (Agamben 2002: 120f.). So ist es auch zu erklären, dass der Bann sowohl als Banner der Souveränität als auch als Ausschluss aus der Gemeinschaft verstanden werden kann.
 Diese Struktur des Banns müssen wir, so Agamben, in den politischen Beziehungen und den öffentlichen Räumen, in denen wir auch heute noch leben, zu erkennen lernen. Die Struktur des Banns ist der souveräne nomos, der jede weitere Norm bedingt. In der Moderne rückt das Leben immer stärker ins Zentrum der Politik, die Biopolitik geworden ist. In ihr ist der mo-derne Mensch, zumindest virtuell, ein homo sacer, weil die Bannbeziehung von Anfang an die Struktur gebildet hat, die der souveränen Macht zu eigen ist.
Die heutige Demokratie verhindert nicht den homo sacer noch schafft sie ihn ab, sie zersplittert es [das heilige Leben] und verstreut es in jeden einzelnen Körper, um es zum Einsatz in den politischen Konflikten zu machen“ (Agamben 2002: 132).




Das Lager als biopolitisches Paradigma der Moderne
Das nackte Leben als neues politisches Subjekt findet sich implizit schon in jenem Dokument, das man der modernen Demokratie zugrunde legt: den writ des Habeas corpus von 1679. „Nicht der Mensch mit seinen Eigenschaften und seinen Statuten, und nicht einmal schlicht homo, sondern corpus ist das neue Subjekt der Politik, und die Geburt der modernen Demokratie ist genau diese Einforderung und Ausstellung dieses Körpers: habeas corpus ad subjiciendum, du musst einen Körper vorzuzeigen haben“ (Agamben 2002: 132).
Dies zeigt sich mit der Gründung der Nationalstaaten und der Nativität (Geburt) als Kriterium der Zugehörigkeit sehr deutlich. Das Gesetz benötigt für seine Geltung einen Körper und wird deshalb von der Demokratie verpflichtet, sich desselben anzunehmen. Der corpus ist sowohl der souveränen Macht unterworfen als auch Träger der individuellen Freiheit. Hier tritt be-sonders die Ambivalenz hervor, die auch von der Demokratie nicht gelöst werden kann. Denn gerade die Vermischung von Ausnahme und Regel, die Agamben immer wieder mit dem Begriff der Ununterscheidbarkeit thematisiert, höhlt letztendlich die Demokratie von innen aus.
Agamben sieht die Menschenrechte untrennbar mit dem Schicksal der Nationalstaaten verbunden.

 „Nun ist es an der Zeit, damit aufzuhören, die Erklärungen der Menschenrechte als wohlfeile Proklamationen von ewigen metajuridischen Werten anzuschauen, die (in Wirklichkeit ohne viel Erfolg) den Gesetzgeber zu Respekt vor ewigen ethischen Prinzipien verpflichten sollen, um ihre reale historische Funktion bei der Herausbildung des modernen Nationalstaates zu betrachten. Die Erklärung der Menschenrechte stellt die originäre Figur der Einschreibung des natürlichen Lebens in die juridisch- politische Ordnung des Nationalstaates dar. Jenes natürliche Leben, das im Ancien regime politisch belanglos war und als kreatürliches Leben Gott gehörte und das in der antiken Welt (wenigstens dem Anschein nach) als zoe klar vom politischen Leben (bios) abgegrenzt war, wird nun erstrangig in die Struktur des Staates und bildet sogar das irdische Fundament der staatlichen Legitimität und der Souveränität“ (Agamben 2002: 138).

Die Erklärung der Menschenrechte muss als der Übergang von der königlichen zur nationalen Souveränität gesehen werden.

„Die Erklärung der Menschenrechte muss mithin als Ort angesehen werden, an dem sich der Übergang von der königlichen Souveränität zur nationalen Souveränität vollzieht. Sie sichert die exceptio  des Lebens in der neuen staatlichen Ordnung, die auf den Zusammenbruch des Ancien regime folgt. Dass sich dadurch der Untertan, wie bemerkt worden ist, in einen Bürger verwandelt, bedeutet, dass die Geburt – das heißt, das natürliche nackte Leben als solches- zum ersten Mal (mittels einer Transformation, deren biopolitische Folgen wir heute erst zu ermessen beginnen) zum unmittelbaren Träger der Souveränität wird. Das Prinzip der Nativität und das Prinzip der Souveränität, die im Ancien regime (wo die Geburt bloß die das Vorhandensein des sujet, des Untertans, markierte) getrennt waren, vereinigen sich nun unwiderruflich im Körper des souveränen Subjekts, um das Fundament des neuen Nationalstaats zu bilden“ (Agamben 2002: 137).

Agamben zufolge ist es unmöglich die nationale und biopolitische Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts zu verstehen, wenn man den Menschen als freies, bewusst politisches Subjekt denkt, und nicht als nacktes Leben.
In diesen Zusammenhang kommt Agamben nun auf die Flüchtlinge zu sprechen. Die Flüchtlinge sind für die nationale Ordnung deshalb so beunruhigend, weil sie die Kontinuität zwischen Mensch und Bürger, zwischen Nativität und Nationalität, Geburt und Volk, aufbrechen und damit die Ursprungsfunktion der modernen Souveränität in eine Krise stürzt. „Der Flüchtling, der den Abstand zwischen Geburt und Nation zur Schau stellt, bringt auf der politischen Bühne für einen Augenblick jenes nackte Leben zum Vorschein, deren geheime Voraussetzung er ist“ (Agamben 2002: 140).
In einem letzten Analyseschritt verbindet Agamben die bisherigen Darstellungen mit der Struktur der Lager. Das Lager ist nicht als eine historische Tatsache und als Anomalie anzusehen, das der Vergangenheit angehört, sondern in gewisser Weise als verborgene Matrix, als nomos des politischen Raumes, in dem wir auch heute noch leben. Das Lager geht nicht aus dem gewöhnlichen Recht hervor (und noch weniger, wie man hätte vermuten können aus einer Entwicklung des Strafvollzugsgesetzes), sondern aus dem Ausnahmezustand und dem Kriegsrecht.
 „Das Lager ist der Raum, der sich öffnet, wenn die Ausnahme zur Regel zu werden beginnt“ (Agamben 2002: 177). Im Lager erhält der Ausnahmezustand, der vom Wesen her eine zeitliche Aufhebung der Rechtsordnung auf der Basis einer faktischen Gefahrensituation war, eine dauerhafte räumliche Einrichtung, die als solche jedoch ständig außerhalb der normalen Rechtsordnung bleibt. Durch das Lager wird der Ausnahmezustand in die Ordnung eingeschlossen, d.h. es wird eine Situation geschaffen, in der keine Rechtsordnung gilt.
„Insofern seine Bewohner jedes politischen Status entkleidet und vollständig auf das nackte Leben reduziert worden sind, ist das Lager auch der absoluteste biopolische Raum, der je in der Realität umgesetzt worden ist, in dem die Macht, nur das reine Leben ohne jegliche Vermittlung vor sich hat. Darum ist das Lager das Paradigma des politischen Raumes, und zwar genau an dem Punkt, wo die Politik zur Biopolitik wird und der homo sacer sich virtuell mit dem Bürger vermischt“ (Agamben 2002: 180).

Immer wenn eine derartige Struktur geschaffen wird, befinden wir uns in der Gegenwart eines Lagers:
 „Ein Lager ist dann sowohl das Stadion von Bari, in dem 1991 die italienische Polizei vorübergehend die illegalen Einwanderer aus Albanien zusammentrieb, bevor sie sie zurückgeschafft hat, als auch das Velodrome d` Hiver, in dem die Vichy. Behörde die Juden vor der Übergabe an die Deutschen gesammelt haben, sowohl das Konzentrationslager für Ausländer in Cottbus- Sielow, in das die Weimarer Regierung die ostjüdischen Flüchtlinge gesteckt hat, als auch die Wartezonen in den internationalen Flughäfen Frankreichs, wo die Ausländer, welche die Anerkennung des Flüchtlingsstatus verlangen, zurückgehalten werden. In all diesen Fällen grenzt ein scheinbar harmloser Ort […] in Wirklichkeit einen Raum ab, in dem die normale Ordnung de facto aufgehoben ist, in dem es nicht vom Recht abhängt, ob mehr oder weniger Grausamkeiten begangen werden, sondern von der Zivilität und dem ethischen Sinn der Polizei, die da vorübergehend als Souverän agiert […] Die zunehmende Entkopplung von Geburt (nacktem Leben) und Nationalstaat ist das neue Faktum der Politik unserer Zeit, und das, was wir Lager nennen, ist der Abstand. Einer Ordnung ohne Ortung (der Ausnahmezustand, in dem das Gesetz aufgehoben ist) entspricht nun eine Ortung ohne Ortung (das Lager als dauerhafter Ausnahmeraum). Das politische System ordnet nicht mehr Lebensformen und Rechtsnormen in einem bestimmten Raum, sondern birgt in seinem Inneren eine das System überschreitende entortende Verortung, von der jede Lebensform und jede Rechtsnorm virtuell erfasst werden kann. Das Lager als entortende Verortung ist die verborgen Matrix der Politik, in der wir auch heute noch leben und die wir durch alle Metamorphosen hindurch zu erkennen lernen müssen, in den Wartezonen unserer Flughäfen wie in manchen Peripherien unserer Städte. Es ist das vierte unablösbare Element, das zur alten Trinität von Staat, Nation (Geburt) und Territorium hinzugekommen ist und sie aufgesprengt hat. […] Das Lager, das sich mittlerweile fest in seinem Inneren eingelassen hat, ist der neue biopolitische nomos des Planeten“ (Agamben 2002: 183ff.).


 

Copyright Statement: As this site is non-profit-making, and produced for educational use, it is intended that persons visiting the site do so for personal reasons only. It is requested that visitors do not save any of the information, audio or images from this site for commercial use. Although this site makes use of material protected by copyright, no infringements of any copyrights or trademarks are intended. It is the intention that the use of images, audio and information contained on this site should be viewed for research and education only. As a result of people visiting this site, no financial loss is intended to any of the copyright holders. In making these statements of request and intent it is argued that this site should therefore be protected under the 'fair use' provisions of copyright law.

Hosted by www.Geocities.ws

1