Lexikon zur Geschichte Suedosteuropas

hg. von Edgar Hoesch, Karl Nehring, Holm Sundhausen
UTB 8270
Boehlau Wien 2004


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Stellungnahme zu der auf dem Historikernetz der Humboldt-Universitaet Berlin am 26.10.2004 veroeffentlichten Rezension von Daniel Ursprung zu „Lexikon der Geschichte Suedosteuropas“.

Edgar Hoesch, Karl Nehring, Holm Sundhausen (Hrsg.), Boehlau (UTB 8270), Wien Koeln Weimar 2004.

              Zunaechst stimmt die recht ueberschwaengliche Art nachdenklich, in der Rezensent dieses „Lexikon“ feiert. Es gebe „kaum ein Gegenstand der suedosteuropaeischen Geschichte, der im Lexikon nicht in der einen oder anderen Weise vertreten waere“. Der Platz, der durch das Weglassen von Personeneintraegen gewonnen wurde, werde „gut genutzt“, indem der Geschichte im Mittelalter und in der Fruehen Neuzeit sowie der Osmanistik mehr Platz eingeraeumt wird. Rezensent hebt hervor, dass die Literaturangaben den „derzeitigen Forschungsstand“ reflektierten. Bei der Stichwortauswahl findet Rezensent, es handle sich um „synthetische Beitraege“, die „eine ganzheitliche Darstellungsweise und Problematisierung des entsprechenden Themenkreises“ erlaubten. Es seien „neue Ansaetze und Forschungsrichtungen wie etwa die historische Anthropologie“ praesent.

             Dass die Zeitgeschichte wenig Raum einnimmt und manche Stichworte wie Kommunismus, Sozialismus, Stalinismus angeblich wegen Terminschwierigkeiten nicht mehr aufgenommen werden konnten, sei weiter nicht schlimm, weil die einzelnen Laenderbeitraege abhelfen wuerden und der „hier weniger stark gewichtete chronologische Abschnitt der Zeitgeschichte in anderen Werken bereits recht gut dokumentiert“ sei. Das Lexikon biete also “eine vielschichtige Gesamtschau der suedosteuropaeischen Geschichte.“

            Bei naeherer Betrachtung erweisen sich die aufgezaehlten Verdienstpunkte entweder als recht wacklig oder als unzutreffend. Wenn der besprochene Band wirklich so erschoepfend in der Praesentation suedosteuropaeischer Themenschwerpunkte ist, dann laesst sich nicht nur das Fehlen von Stichworten wie Kommunismus, Sozialismus, Stalinismus, sondern vor allem die Nichtbeachtung der „volksdeutschen“ und der NS-Thematik mit dazugehoerenden Grundbegriffen wie „Nationalsozialismus“, „Volksdeutsche“, „Volksgruppen“, „Instrumentalisierung“, „Rassenlehre“ u.ae. als zentrales Manko dieses Lexikon nennen. Dieser Minuspunkt wird dadurch noch gravierender, dass auf das apologetische und geschichtsrevisionistische „Biographische Lexikon zur Geschichte Suedosteuropas“ (letzter Band 1974) als Ersatzleistung fuer das Fehlen von Personeneintraegen verwiesen wird. Dass durch diese Auslassung das "Lexikon" in einen Zustand fortwaehrender Anonymisierung schlittert, dass dadurch  eine beklemmende Seelenlosigkeit, Leere und Leblosigkeit erzeugt wird, kuemmert die Muenchner Suedosteuropa-Wissenschaftler nicht, weil dieser Kunstgriff es ihnen ermoeglicht, dem Aspekt aus dem Weg zu gehen, der ihnen als ueberaus heikel erscheint. Ueber die Konsequenzen dieses Schrittes scheinen sie sich wenig Gedanken zu machen. Ihr Vorgehen ist naemlich gleichbedeutend mit der Kapitulation vor den Herausforderungen, die eine Richtigstellung und Ergaenzung des antiquierten "Biographischen Lexikons" im Geiste des heutigen Forschungstandes in Angelegenheiten des Nationalsozialismus darstellt. Auch kommt das einem Bekenntnis  zum apologetischen und geschichtsrevisionistischen Geist dieser Schrift gleich.

                Rezensent Ursprung vertroestet auch damit, dass die suedosteuropaeische Zeitgeschichte angeblich in anderen Werken recht gut dokumentiert sei. Wenn dem so ist, dann haetten diese, das Lexikon ergaenzenden "Werke", zumindest in den jedem Stichwort beigegebenen bibliografischen Abschnitten Eingang finden sollen, was aber nicht der Fall ist.

                Der durch erwaehnte Auslassungen gewonnene Raum wurde kaum vernuenftig besetzt, zumal es unverstaendlich bleibt, wieso ein Stichwort „Noesnerland“ vorliegt, hingegen das in zeitgeschichtlicher Beziehung gewichtigere „Nordsiebenbuergen“, das durch den Wiener Schiedsspruch an Ungarn abgetretene rumaenische Territorium, nicht gesondert vorliegt.

                Rezensent Ursprung betrachtet die osmanistischen Stichworte als Zugewinn. Es ist allerdings so, dass die Osmanistik in diesem Lexikon als Lueckenbuesser fungiert, weil von den insgesamt 548 Artikeln allein 76, also 13,85% dieser Disziplin zuzuordnen sind. Die Abhandlung von Begriffen wie „Wezir“, „Vilayet“, „Tuerken“, „Tataren“, „Sultan“ usw. erscheint durchaus sinnvoll, aber weniger nachvollziehbar die Aufnahme von „Muelk“, „Nahiye“, „Sidschill“ u.ae.

                Auch leuchtet es nicht ein, Stichworte abzuhandeln, die recht weitlaeufig mit der suedosteuropaeischen Thematik verbunden sind, wie „Grossmaehrisches Reich“, „Heiliges Roemisches Reich“, „Hlinka Garde“, „Neurussland“, „Partei (Slowakei)“, „Slowakei“, „Slowakei (seit 1918)“, „Transnistrien“, „Zips“. Im Falle der auf die heutige Slowakei bezogenen Stichworte scheinen nicht Gesichtspunkte des zeitgenoessischen Suedosteuropaverstaendnisses ausschlaggebend gewesen zu sein, sondern eher die einstige Zugehoerigkeit dieses Territoriums zum Koenigreich Ungarn.

                Leider ist auch der Anspruch des Rezensenten Uesprung, das Lexikon reflektiere den „derzeitigen Forschungsstand“, nur bedingt zutreffend. Nicht erkennbar ist dieser Anspruch im Bereich der Zeitgeschichte, wo Nationalsozialismus und Faschismus noch in der Sichtweise der 60er und 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts unter dem Sammelbegriff „Faschismus“ betrachtet werden (vg. Stichwort „Faschismus“ und Verweis auf diesen Artikel in Verbindung mit  „Nationalsozialismus“ auf S. 692). Auch die als „neuer Ansatz“ bzw. „neue Forschungsrichtung“ angesprochene „historische Anthropologie“ weist eindeutig auf das problematische Erbe der voelkisch und dann nationalsozialistisch ausgerichteten Geschichtswissenschaft, wo mit  „anthropologischen“ Forschungen grober Unfug getrieben und viel Leid verursacht wurde.

                   Ebenso wenig zukunftsweisend erscheint die Art und Weise, wie einige Autoren bibliografische Angaben handhaben. So werden noch immer Schriften des von Dogmen der nationalsozialistischen „Volks- und Kulturbodenforschung“ geleiteten NSDAP-Mitglieds Fritz Valjavec angefuehrt: „Der Josephinismus. Zur geistigen Entwicklung Oesterreichs im 18. und 19. Jahrhundert“ (S.329); „Die Eigenart Suedosteuropas in Geschichte und Kultur“ (S.400); „Oesterreich und Russland auf dem Balkan im 19. Jahrhundert“ (S.589). Ebenso problematisch erweist sich die Nennung von Georg Stadtmueller mit der „Geschichte Suedosteuropas“ (S.666) und mit „Westliches Verfassungsmodell und politische Wirklichkeit in den balkanischen Staaten“ (S. 728), eines Autors, der z.B. 1936 in den „Schlesischen Monatsheften“ den Text „Der deutsche Einfluss in der Geschichte der suedosteuropaeischen Voelker“ veroeffentlichte; der 1940, also in der Zeit der gnadenlosesten NS-Besatzung, als geladener Gast bei der Eroeffnung des „Instituts fuer Deutsche Ostarbeit“ in Krakau durch Generalgouverneur Frank teilnahm und in der Zeit des Zweiten Weltkriegs die Schriftleitung der „Leipziger Vierteljahrsschrift fuer Suedosteuropa“ inne hatte. Unangemessen erscheint die Aufnahme des einschlaegig geschichtsrevisionistischen und vom voelkisch-nationalsozialistischen Mythos „deutscher Kulturleistung im Suedosten“ gepraegten „Lexikon der Siebenbuerger Sachsen“, hg. von Walter Myss (S.623).

                Unzeitgemaess erscheint auch die Verwendung der Begriffspraegung „indogermanische Sprachen“ (S.645,649). Dem „derzeitigen Forschungsstand“ koennen auch jene Stichworte des Lexikons kaum entsprechen, deren Literaturangaben das Jahr 1990 nicht ueberschreiten (beispielsweise S. 184, 188, 200, 481).

                Nachdem vor allem technisch-bibliografische Fragwuerdigkeiten eroertert wurden, sollen nun einige der krassesten thematischen und inhaltlichen Gebrechen des „Lexikon“ herausgegriffen werden. Es ist augenfaellig, dass das Stichwort „Antisemitismus“ recht kurz ausgefallen ist, wobei auch unerwaehnt bleibt, dass die antisemitische Gesetzgebung in Rumaenien bereits vom Kabinett Gigurtu im Jahr 1940 in Angriff genommen wurde. Hier haette auch der Begriff der „Dissimilation“ einen sinnvollen Platz finden koennen. Dann wuerden uneingeweihte Leser verstehen, was auf S. 203 mit „auf Segregation u. Dissimilation abzielendes, die voelkische Identitaet verabsolutisierendes Konzept“ gemeint ist.

                Es ist raetselhaft, warum im Stichwort „Berliner Kongress“ die Rumaenischen Fuerstentuemer Walachei und Moldau nicht erwaehnt werden. Auch erscheint es recht duerftig, die Geschichte der siebenbuergischen Rumaenen in der Neuzeit auf den Aufstand Horeas (S.289-291) zu beschraenken und das Schimpfwort ueber den „Bukarester Nationalchauvinismus“ (S. 622) als kennzeichnend fuer den seit 1920 bestehenden rumaenischen Nationalstaat zu gebrauchen. Unverstaendlich bleibt, warum ebenfalls in rumaenischem Kontext durchgaengig deutsche Ortsnamen fuer ehemals von Deutschen bewohnten Ortschaften genannt werden (S.185-186).

                Die breiteste Luecke schliesst sich in der Sparte der „Volksdeutschen“ auf. Im Beitrag ueber Jugoslawien werden die Verbrechen der SS-Division „Prinz Eugen“, die aus Volksdeutschen eben dieses Landes bestand, einfach totgeschwiegen (S.322). Ein Prozess der Nationalisierung und Nazifizierung der verschiedenen deutschen Gruppen Suedosteuropas und die dabei entwickelte politische Selbstinitiative bleibt unbekannt (S.203). Die Behauptung, das

auf Segregation u. Dissimilation abzielendes, die voelkische Identitaet verabsolutisierendes Konzept, das die Konfrontation mit den gleichfalls immer nationalistischer agierenden Heimatlaendern herbeifuehrte, kam aus Deutschland u. war eng mit den Organisationsformen u. –inhalten des Nationalsozialismus verbunden (S.203)
sollte richtig „war mit den Organisationsformen u. –inhalten des Nationalsozialismus identisch“ lauten. Wem nuetzt es, mit Unschluessigkeit festzustellen:
Inwieweit dieser [der NS] in den breiten Schichten der D.(onauschwaben) Fuss gefasst hat, ist bis heute nur unzureichend erforscht (S.203),
wo dieses unverzeihliche Manko selbstverschuldet ist, naemlich vom Muenchner Institut und der institutionalisierten "Suedosteuropaforschung" insgesamt,  deren Aushaengeschild und Leistungsnachweis dieses „Lexikon“ sein will,  weil eben diese Kreise in einem halben Jahrhundert in den Sparten "Nationalisierung" und "Nationalsozialismus bei den Deutschen Suedosteuropas" ihre  Aufgaben  straeflich vernachlaessigt haben ?

                Die Betrachtungen Seewanns ueber die Vertreibung der Donauschwaben (S.304) haetten in gesonderten, der „Vertreibung“ und der „Umsiedlung“ gewidmeten Stichworten, Platz finden sollen. Die Vertreibung der Deutschen aus Jugoslawien wird einseitig beleuchtet, indem von Todeslagern, Massakern an Donauschwaben und „grausamem Genozid“ sowie von der „Menschenverachtung“ gesprochen wird, deren „das Tito-Regime in dieser Frage faehig war“ (S.204), ohne z.B. den geringsten Hinweis auf das Wueten der Wehrmachtbesatzer, aber vor allem der SS-Division „Prinz Eugen“ zu liefern, die ausschliesslich aus Donauschwaben zusammengesetzt war und die im Namen des reichsdeutschen Expansionismus ihre ehemaligen Mitbuerger serbischer, kroatischer, mazedonischer oder bosniakischer Herkunft dahinschlachteten. Ein weiteres Manko ist, dass unter dem Stichwort „Minderheiten, Minderheitenschutz“ mit keinem einzigen Wort auf die deutschnationalen und NS-Umtriebigkeiten der deutschen Minderheiten in den Staaten des europ. Suedostens Bezug genommen wird (S.444-448).

                Die Unzulaenglichkeit, mit der zeitgeschichtliche Themen und Inhalte behandelt werden, zeigt sich auch darin, dass in Verbindung mit dem Nazifizierungsprozess der Deutschen in Suedosteuropa nur in Gemeinplaetzen formuliert wird: Im Stichwort „Rumaenien“ heisst es lediglich:

dt. „Lehrtruppen“ kamen zur Absicherung der Oelfelder sowie zum Aufmarsch gegen die Sowjetunion ins Land. Die „dt. Volksgruppe“ erhielt 1940 eine Sonderstellung  (S.584);
die voelkischen Traditionen erhielten nach 1930 einen nationalsozialist. Schwerpunkt, der sich 1933 durchsetzte. Die „Deutsche Volksgruppe in Rumaenien“ bezog als „gleichgeschaltete“ Organisation 1940-1944 ihre Befehle aus Berlin (S.623).
                Wenn in Verbindung mit dem Zweiten Wiener Schiedsspruch und dem von Deutschland, Ungarn und Rumaenien unterzeichneten Protokoll, das der deutschen Minderheit die gleichen „Volksgruppenrechte“ wie in der Slowakei einraeumte, es heisst,
Damit wurde ueber die Koepfe der betroffenen Minderheit hinweg deren voellige pol. u. ideolog. Gleichschaltung sowie kriegswirt. Ausbeutung in die Wege geleitet (S.756),
so wird mit diesen Aussagen vorausgesetzt, dass die deutschen Minderheiten

a) wie das zur Schlachtbank gefuehrte Lamm ohne jegliches Dazutun ins NS-Schlamassel schlitterten (das entspricht der „Opferpespektive“);

b) dass die Minderheiten vor diesem Zeitpunkt dem NS gegenueber ideologisch indifferent gewesen seien;

c) dass sie sich also eine derartige Einbindung in den NS-Kriegsaufwand ueberhaupt nicht gewuenscht haetten;

                Was in keinem der Punkte zutrifft. Deshalb ist die in diesem Zusammenhang betonte „Instrumentalisierung“ auch nur bedingt zutreffend auf die Rekrutierung und den Dienst in der Waffen-SS, die erwiesenermassen bereitwillig und mit Begeisterung, gespeist vom "Pflichtgefuehl" gegenueber dem "Fuehrer aller Deutschen"  und als „Opfer“ fuer das „deutsche Volk" und fuer die "Neuordnung Europas" geleistet wurde (Zu "Instrumentalisierung" vgl. unseren Beitrag Die Instrumentalisierung der deutschen "Volksgruppen" im Sinne des nationalsozialistischen Expansionismus und die andauernden Widerstaende gegen die Offenlegung dieser historischen Tatbestaende ).

                Die unzulaengliche Behandlung der Nationalismus-Problematik aeussert sich auch darin, dass Stichwoerter wie „Nationalisierung/Nazifizierung“, „Nationalismus“ und „Pangermanismus“ fehlen, obwohl wesensverwandte Stichwoerter wie „Dakoromanismus“ (S.274-176), „Panslawismus“ (S.523-525) und „Transsilvanismus“ (S.620) erfasst wurden. Das liegt durchaus auf der Linie der Unausgewogenheit, selbst Feindseligkeit, mit der die nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen neuen Nationalstaaten als mit „uebersteigertem Nationalismus“ behaftet gekennzeichnet werden, der iauf die

Unterdrueckung der zu Minderheiten herabgestuften Deutschen, Magyaren u.a. ethn. Gruppen hinauslief (S.517).
                Hinter derartigen Formulierungen darf eine sonderbare Sichtweise ueber den Inhalt des Begriffs „Minderheit“ vermutet werden: es wird Herabwertung in der Form von „Herabstufung“ vorausgesetzt. Das bedeutet aber, nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen, dass der Minderheitenstatus am Ende eines politischen Prozesses steht. Die Theorie der "Herabstufung" bezweifelt die geschichtliche Legitimitaet dieses Entwicklungsptozesses nicht nur, sondern sie wird - wohl an der Stange ehemaliger deutscher und oesterreich-ungarischer imperialer „Groesse“ gemessen -, kategorisch verworfen. Auch laesst sich keine Einsicht erkennen, dass Minderheiten  in einem Mehrheitsstaat sich nicht so auffuehren koennen, als ob sie, die Minderheit, die Mehrheit waere, was durchaus das Verhaltensmuster der voelkisch und NS-orientierten Suedostdeutschen war. Uebrigens wurde der als Herabwertung aufgefasste Minderheitenstand bereits in den spaeten 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts von den zu „Volksgruppen“ zusammengeschlossenen suedosteuropaeischen Deutschen in wehleidig-psychotischer Weise als Hauptvorwurf gegen die jeweiligen Mehrheitsstaaten auch dann gefuehrt, wenn es uebarhaupt keinen greifbaren Anlass dafuer gab. Doch „psychologische Finessen“ dieser Art liegen der "Neuartigkeit" dieses Lexikon nicht !

               Es ist muessig, darueber zu streiten, ob die "fachwiss. Etablierung einer eigenstaendigen Geschichtsregion "Suedosteuropa" [...] heutzutage kein ernsthafter Diskussionsgegenstand mehr" ist (S.398). Auch die Aufgliederung des suedosteuropaeischen Raums in "zwei gegensaetzliche Kulturwelten", in einen "orth(odoxen) Kulturkreis" und in einen "lateinischen" (S.399), ebenso die auf volkskundlichen Grundlagen vorgenommene Gliederung in 12 Kulturprovinzen (S.400) und aehnliche Paradigmen werden der urspreunglichen ost- und suedosteuropaeischen Volkskultur und Volkszivilisation nicht gerecht. Das nimmt  nicht  Wunder, weil das von hoher Warte her gesteuerte westliche Kulturverstaendnis die Eigenarten dieser Kultur, ihre fuer westlich gestylte Begriffe exotisch und auch bedrohlich empfundene Fremdheit als Ergebnis des byzantinisch-orthodoxen und des osmanisch-islamischen Erbes missinterpretiert und mit gesellschaftlicher und wirtschaftlicher "Rueckstaendigkeit" behaftet (S.82), unter Betonung der "segnenden" Wirkung  "europaeischer Einfluesse" bzw. der "Europaeisierung" (Stichwort "Volkskultur S.735-736). Vor allem letztere Begriffspraegungen belegen, dass in der Suedosteuropaforschung deutsch-osesterreichischer Herkunft noch immer alte Stereotypen und Klischees vom Kulturraum Mittel- und Westeuropa als das eigentliche Europa und von Ost- und Suedosteuropa als nichteuropaeischer, "ostisch-nomadischer", mit einem unberechenbaren Bedrohungspotential besetzter Raum in den Hinterkoepfen praesent ist. In diesem Sinn wird der Westen, der Katholizismus, das deutsche Kolonistentum, das "Deutsche Reich" und  das Habsburgerreich als "europaeisierende", sprich "kulturbringende" Faktoren aufgefasst, die dem  "rueckstaendigen" Suedosteuropa  technische Errungenschaften und geistigen Fortschritt bescherten. Damit ist eine kaum uebersehbare Naehe zur  "Volks- und Kulturboden"-Dogmatik der NS-Zeit erreicht, die nicht nur kuriose Blueten trieb, sondern fuer die jeweils damit bedachten Kulturraeume und Voelker des europaeischen Ostens und Suedostens, aber auch des Westens (Elsass-Lothringen) und Suedens (Tirol) in Umsiedlungen, Deportation und Vernichtung endete.  Angesichts dieses aus der Hinterlassenschaft verblichener "Reiche" gespeisten imperialen Gehabes ist die Frage gestattet, wann die Suedosteuropaforschung sich bemuessigen wird, sich dieses ausgesprochen kulturchauvinistischen und kulturimperialistischen Ballasts zu entledigen? (Wie sich die Handhabung von Stereotypen und Klischees im Fall von Meinolf Arens niederschlaegt, vgl. Stereotypen in der Geschichtsforschung ).

                Ein weiteres, besonders auffallendes Kennzeichen des westlichen Kulturverstaendnisses ist es, nur die auf Trennung hinauslaufenden  Konflikterscheinungen bei der Erstellung von Typologien und Einstufungen zu beachten und sich ueberhaupt nicht die Muehe zu nehmen, den suedosteuropaeischen Raum nach der Moeglichkeit sozio-kultureller GEMEINSAMKEITEN abzufragen. Anders ausgedrueckt: die "Suedosteuropaforschung" und ihr "Lexikon" erachtet nur jene Erscheinungen als relevant, die sie als in Gegensatz stehend zu  ihrem westlich verankerten Standpunkt und Kulturverstaendnis einstuft, wodurch jene Erscheinungen der ost- und suedosteuropaeischen Volks- und bodenstaendigen Kultur zu Wesensmerkmalen uminterpretiert und  zu Gegensaetzlichkeiten degradiert werden, die das Trennende veranschaulichen sollen. Die Alteritaet, d.h. das Fremde, wird ueberbetont, hingegen das Verbindende sowie das soziale wie politische Kohaesion Stiftende , also das sozial, kulturell und konfessionell Verbindende, Zusammenhaltende uebersehen. Was auch deshalb nicht ueberrascht, weil dem "Lexikon" soziologische Dimension und Handhabe unbekannt sind. Das "Lexikon" vermittelt den Eindruck, dass die Suedosteuropaforschung die urtuemliche, seit Urzeiten auf Gemeinsamkeit und sozial-konfessionellem Konsens beruhende und als  Allgemeingut  geltende Lebens- und Produktionsweise der in dem betrachteten Raum beheimateten Menschen als voellig irrelevant betrachtet. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass das "Lexikon" kein Stichwort beinhaltet, das  "Gemeinschaft", "gemeinschaftliche Lebensformen" oder GEMEINSCHAFTSSOLIDARITAET/SOZIALER KONSENS als Grundstein der ost- und suedosteuropaeischen Lebensweise und Lebenswelten thematisieren wuerde. Der Suedosteuropaforschung entgeht auch, dass die volkskulturelle Einheitlichkeit des europaeischen Suedostens bis in die 60er/70er Jahre des vorigen Jahrhunderts Bestand hatte vor dem konfessionellen Oppositionspaar von byzanztinisch/slawischer Orthodoxie und lateinischem Katholizismus (S.399), auch vor dem seit dem 19. Jahrhundert  sich artikulierenden Nationalismus und expandierenden Kapitalsimus wie auch vor dem seit 1944 hier herrschenden Kommunismus.  (Ueber den suedosteuropaeischen Kulturraum in Verbindung mit der Diskussion um die Kontinuitaet des rumaenischen Volkes vgl. Gegen sich wissenschaftlich aufspielendes  Propagandisten- und Hetzertum ).

                Wuerde dieser kulturgeschichtlichen Realitaet Rechnung getragen, waere auch eine sachgerechte Erklaerung des Haidukentums moeglich, die naemlich aufzeigen wuerde, dass die altertuemlich-traditionelle Lebensweise, die auf Gruppenkonsens beruhenden Sitten und das Brauchtum die urspruengliche Motivation des Phaenomens sind, nicht die Ausweitung des Ackerbaus im 16. Jahrhundert, die die Interessen viehzuechtender Gruppen beeintraechtigt habe, indem deren Wanderwege in die Weidegebiete vielfach abgeschnitten wurden, wodurch sich die "latente Konfliktsituation zwischen der sesshaften Bev(oelkerung) und den mobilen u. in der Regel auch bewaffneten Wanderhirten" ergab (S.269). Auch angesichts des Umstandes, dass  Nomadismus im eigentlichen Sinn nur fuer die Sarakatsanen bezeugt ist (S.598-599), sollte von dieser zahlenmaessigen Minderheit nicht auf allgemeine Gepflogenheiten der suedosteuropaeischen Landbevoelkerung, vor allem der Vlachen (S.730-732) geschlossen werden. Eine weitere Hauptkomponente der suedosteuropaeischen Lebensweise, die kaempferisch-kriegerische, auf Idealen des Heldentums beruhende Komponente, die z.B. in der Volksdichtung besonders einpraegsam ueberliefert ist (bei den Rumaenen von den Heldengestalten der "voinici" und "viteji" verkoerpert), wird vom "Lexikon" nicht gebuehrend gewuerdigt. Im Stichwort "Geheimbuende" sucht man vergeblich nach Hinweisen auf das heroische Weltbild der traditionellen Gesellschaft oder nach   Burschen- und Maennerbuenden, die nach Altersklassen organisiert waren. Hier wird nur ueber die politisch motivierten Zusammenschluesse der spaeten Neuzeit und der Fruehmoderne referiert und mit dem Stichwort "Freimaurer" nur auf eine fuer den laendlichen Bereich untypische, buergerliche Gruppenbildung der Aufklearungszeit Bezug genommen. Uebrigens scheint dieses Stichwort dem dubiosen "Forschungs"-Programm des "Volks- und Kulturboden"-Experten Fritz Valjavec uebernommen worden zu sein, der sich in recht fragwuerdiger Weise in seinen Schriften sowohl ueber die Aufklaerung wie auch ueber die damit verbundene Freimaurerei ausliess (so in dem bereits erwaehnten Text  „Der Josephinismus. Zur geistigen Entwicklung Oesterreichs im 18. und 19. Jahrhundert“) (Zu Fritz Valjavec vgl. Fritz Valjavec (1909-1960) oder »Ueber die "deutsche Wissenschaft" als nachrichtendienstliche Aufklaerungsarbeit«
und
Dokumente ueber Fritz Valjavec's NS-Lebenswandel

                Schliesslich und endlich: das Stichwort „Revisionismus“ haette mit dem ideengeschichtlichen Begriff des „historischen Revisionismus“ erweitert werden sollen. Auch der mit diesem Temenschwerpunkt eng verknuepfte Bereich der "Ressentimentkultur" haette die fruehere und zum Teil auch heutige Befindlichkeit vieler Deutschen des Suedostens sowie bestimmter Bevoelkerungsteile der Nachwendestaaten abdecken koennen (Ueber die "Ressentimentkultur" als Spross dessen, was wir als MYTHENKULTUR definieren, vgl. Den Nationalsozialismus verstehen und begreifen. Guenter Rohrmoser: Philosoph, Propagandist oder Ideologe ? )
Zwar liegen die Stichwoerter "Ethnische Saeuberung" und "Zwangsmigrationen" vor, aber es laesst sich ausser der Nennung von Nationalismus als ausloesender Faktor darin kein Hinweis auf den eigentlichen Naehrboden dieser Erscheinung , der aus der Kultur des Ressentiments geborene Drang nach politischer Revision, feststellen.

                Das "Lexikon" traegt, weil eisern auf "Geschichte" spezialisiert , andersgepolter Persepektiven wie sie beispielsweise von der Ideen-, Mentalitaets- oder  Kulturgeschichte geboten werden, keinerlei Rechnung. Seine Interdisziplinaritaet bleibt naemlich auf die als Bereicherung und Neuerung gefeierte "historische Anthropologie" beschraenkt.

            Also: das einwandfreie Bild, das Rezensent Daniel Ursprung diesem Lexikon als „erstes seiner Art“ ausmalt (Vorwort, S.5), verweist eindeutig in den Bereich propagandistischer Legendenbildung.


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Die fehlende Bereitschaft die Offenlegung des Nazifizierungsgrades des "Volksdeutschen" Suedosteuropas zur Kenntnis zu nehmen veranschaulicht

Dieselbe Kerbe der Unbelehrbarkeit


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 Datei: Lexikon.html       Erstellt: 29.10.2004      Geaendert: 14.04.2006          Autor und ©Right Klaus Popa


 
 
 
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