SVEN HEDIN
(1865 - 1952)
"Vielleicht glaubt man mir, wenn ich vor Gott beteuere,
daß ich keine Zeile niederschreibe, die nicht Wahrheit,
ist, und daß ich nichts anderes schildere, als was ich
mit eigenen Augen gesehen habe." (Sven Hedin)
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"Sven Hedin war der vielleicht letzte große Reisende.
Was heute noch zu erforschen ist , bedarf keiner
einsam ins Leere vorstoßender Männer mehr."
(A. E. Johann)
Wiewohl er eine Generation nach Mark Twain geboren wurde und ihn um beinahe zwei Generationen überlebte (und Ferdinand Emmerich und Ernst v. Hesse-Wartegg immerhin um eine), zählte der Schwede Sven Hedin eigentlich noch zu einer älteren Generation von Reiseschriftstellern. Bei ihm stand noch die Reise im Vordergrund, nicht deren Beschreibung - geschweige denn die Erheiterung einer anonymen Leserschaft aus Banausen - lieber berichtete er über seine Fahrten in Vorträgen vor ausgewähltem, fachkundigem Publikum, dem er sich und seine Thesen in freier Diskussion stellte. (Eine Fähigkeit, die vielen heutigen Schriftstellern leider abgeht, die Hedin mit Mark Twain und Colin Ross gemeinsam hatte.) Aber nicht auf Dia-Abenden - er fuhr mit Pinsel und Bleistift los, malte und zeichnete seine Bilder selber, wo eine Kamera versagt hätte, wo es zu kalt, zu naß, zu windig oder zu staubig war, um Fotos zu knipsen. Er nahm ja auch nicht gerade an Kreuzfahrten teil und reiste noch nicht mit den (damals noch nicht überall auf der Welt verbreiteten) öffentlichen Verkehrsmitteln, sondern seine ersten großen Reisen um die Jahrhundertwende waren noch richtige Expeditionen, schwer bewaffnete und verproviantierte Karawanen mit Kamelen und Maultieren, über Berg und Tal, durch Wüsten, die nie zuvor ein Europäer bereist hatte. Dabei ging es bisweilen recht rustikal zu, Hedin ging im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen. Dikigoros hat in einem anderen Kapitel seiner "Reisen durch die Vergangenheit" mehr oder minder ausführlich beschrieben, was er eigentlich und ursprünglich unter "Reisen" versteht: Die Kriegszüge bewaffneter Truppen ins Ausland. So war es jedenfalls bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts die Regel. (Die direkte Fortsetzung dieser Erscheinung sind die organisierten Gruppenrundreisenden mit Pauschal-Arrangement von heute, die statt mit dem Gewehr mit der Kamera bewaffnet sind und statt an der Gulasch-Kanone im Hotel-Restaurant abgefüttert werden.) Diese Kriegszüge zu beschreiben mag zwar eine gute Übung für angehende Schriftsteller sein - wohl nicht ganz zufällig haben auch die hier vorgestellten E. E. Kisch und Colin Ross als Kriegsberichterstatter angefangen, ebenso die hier nicht behandelten Stefan Zweig und E. E. Dwinger, der seinen Schreibtisch-Kritikern einst die Worte entgegen schleuderte: "Nein, wir haben nichts mit euch gemein, uns trennt von euch für alle Zeit die Weite - die Weite unserer Herzen, weil wir Millionen Tote darin tragen, die Weite unseres Denkens, weil wir die Weite unserer Erde kennen lernten." Aber genau davon will Dikigoros diesen Bericht frei halten; er soll den "zivilen" Einzelreisenden vorbehalten bleiben, die sich einer bisweilen auch ohne offiziellen Kriegszustand feindlichen Umwelt anders erwehren mußten als mit Gewalt - sei es mit Geld, sei es mit Intelligenz oder Anpassungsfähigkeit. Hedin nahm eine Zwischenstellung ein; er war sozusagen ein Grenzfall: Zwar reiste auch er nur in kleinen Gruppen, die einer ernsthaften militärischen Auseinandersetzung nicht wirklich gewachsen gewesen wären; aber es reichte aus, um sich der Überfälle kleinerer Räuberbanden zu erwehren, denen der wehrlose Einzelreisende wohl früher oder später zum Opfer gefallen wäre.
Warum wird ein Mensch zum Reisenden und gar zum Reiseschriftsteller, und ein anderer nicht? Viele Leute träumen von klein auf davon, um die Welt zu reisen, sie für sich und andere zu entdecken, Abenteuer zu erleben und sie anderen mitzuteilen. Aber bezeichnender Weise sind es nur selten diejenigen, die schon auf der Schulbank "einmal um die ganze Welt" reisen wollten - und dann später doch nur "sur les quais" [was im Französischen sowohl die Bahnsteige als auch die Anlegestellen der Schiffe bedeuten kann] zurück bleiben -, sondern solche, die durch mehr oder weniger zufällige Umstände dazu geworden sind. Dikigoros beschreibt an anderer Stelle, durch welche Verkettung von Zufällen sein seliger Freund Melone zum Asien-(und später Welt-)Reisenden wurde. Als er selber 19 Jahre alt war, kam er als Bundeswehrsoldat in die USA, genauer gesagt nach Texas, an den Rio Grande. Von dort aus unternahm er seine erste Reise nach Mexiko und lernte fleißig Spanisch; als seine Vorgesetzten davon erfuhren, nahmen sie ihn auf ihre nächste Mexiko-Reise als Dolmetscher mit - auch darüber schreibt Dikigoros an anderer Stelle. Als Sven Hedin 19 Jahre alt war, kam er als Hauslehrer einer schwedischen Familie, deren Vater für die Firma Nobel arbeitete (die dort Erdöl förderte), in die Nähe von Bakú in Rußland, genauer gesagt in Aserbajdschan, ans Kaspische Meer. Von dort aus unternahm er seine erste Reise - einen Ritt über das Elburs-Gebirge - nach Teheran und lernte fleißig Persisch; als die Diplomaten in Stockholm davon erfuhren, nahmen sie ihn auf ihre nächste Persien-Reise als Dolmetscher mit. Solche Erlebnisse in jungen Jahren prägen; wenn man einmal "Blut geleckt" hat, sagt man sich: "Irgendwann mußt du dir auch den Rest der Welt mal anschauen." Und wenn man sich dann eine Weltanschauung gebildet hat, sagt man sich: "Irgendwann mußt du darüber auch mal schreiben." Das kann ein simples Reisetagebuch sein, ein Forschungsbericht, oder halt "Reisen durch die Vergangenheit".
Was Hedin schrieb, diente in erster Linie der wissenschaftlichen Forschung. Es liest sich daher bisweilen recht trocken - passend etwa zur Wüste Gobi. Hedin war kein Weltreisender, sondern er konzentrierte sich von Anfang an auf die muslimisch geprägten Gegenden Asiens. Aller Anfang ist schwer. Anfänger machen Fehler und müssen Lehrgeld zahlen, das ist in fast allen Lebenslagen so. In fast allen - beim Reisen machen nämlich auch Fortgeschrittene bisweilen Fehler, denn auf ihre Art ist ja jede Reise ein neuer Anfang. Zum Trost für alle Leser: Auch große Reisende machen solche Fehler immer wieder, und sie müssen oft ein wesentlich höheres Lehrgeld bezahlen. Was kann unsereinem denn schon groß passieren? Flug verpaßt? Spätestens morgen geht der nächste! Falsches Hotel gebucht? Einfach umbuchen! Vom Taxifahrer übers Ohr gehauen? Wird uns nicht gleich umbringen! Magen verdorben? Reiseapotheke steht bereit, auch für etwaige Mückenstiche, aus denen man keinen Elefanten machen sollte. Zu Zeiten Hedins war das alles etwas heikler, zumal in den Gegenden, die er bereiste. Seine beiden ersten größeren Reisen, noch im 19. Jahrhundert unternommen, sollten ihn über "Die Seidenstraße" zu den Turkvölkern Rußlands, nach Bukhara, Samarkand und Kashgar, über den Pamir nach Kirgisien, ins Tarim-Becken, durch die Taklamakan-Wüste zum Khotan führen. Es ging so ziemlich alle schief, was schief gehen konnte, Hedin verlor seine teure Ausrüstung, seine Reit- und Last-Tiere und - nicht ganz so schlimm, aber auch ärgerlich - alle menschlichen Begleiter bis auf einen. (Hedin hatte eine ganz bestimmte Reihenfolge der Wichtigkeit und Wertigkeit: Kamele, Pferde, Maultiere, Muselmanen, Kosaken, Mongolen - in dieser Reihenfolge, über die sich Dikigoros nur wundern kann: Natürlich hätten die Maultiere an die erste Stelle gehört, und die Muslime an die letzte - daß Hedin nach mehreren Reinfällen überhaupt noch welche mit nahm, dazu noch in verantwortlicher Stellung, ist unerklärlich. Außer Konkurrenz - gewissermaßen an allererster Stelle - standen die Hunde, denen Hedin sein allerletztes Werk, das erst kurz vor seinem Tode erschien, widmen sollte: "Meine Hunde in Asien" - aber bis da war es noch ein halbes Jahrhundert hin.) "Durch Asien" nannte er seinen Reisebericht von 1899 kurz und trocken und machte sich gleich wieder auf den Weg, nach Tibet, "Zur heiligen Stadt Lassa".
Hier, an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, begann Hedins große Reisezeit, begannen die Abenteuer, deren Schilderungen ihn weltberühmt machten. Die Voraussetzungen waren günstig, er erfuhr großzügige finanzielle Förderung von allen Seiten - nicht ganz uneigennützig, denn jeder wollte den geschickten Kartenzeichner für sich gewinnen (es gab noch keine Flugzeuge und keine Spezialkameras, mit denen man mal eben über den Himalaya fliegen und Fotos schießen konnte): der König von Schweden, der Tsar von Rußland, der (britische) Vizekönig von Indien und sogar der chinesische Kaiserhof (der sonst nicht gerade ausländerfreundlich war, wie der insgeheim von ihm geschürte "Boxer-Aufstand" zeigte). Nur einer spielte nicht mit, da er keinerlei Interesse an strategischen Landkarten hatte: der Dalai Lama, der keine Ausländer im Lande dulden wollte, schon gar keine, die es offenkundig ausspionieren wollten. Er zwang Hedin (dessen Verkleidung als indischer Pilger bald aufflog) zur Umkehr; der fuhr nach Kalkutta und klagte dort Lord Curzon sein Leid. (Es fällt auf, daß Hedin in Indien praktisch nur mit Briten zu tun hatte; über Indiens Inder - er war noch in Bombay, Jaipur, Rawalpindi und Srinagar - berichtet er in "Überland nach Indien" und "Im Herzen von Asien" nichts von Interesse.) Der Vizekönig schickte "zur Strafe" eine Militär-Expedition unter Colonel Younghusband nach Lhasa, die viel Porzellan zerschlug, was Hedin seinerseits offen kritisierte. Die Quittung bekam er auf seiner nächsten Reise: Als er - nach einer Fahrt auf der Route, der viele Jahrzehnte später Melone folgte, ohne es zu wissen, also über Konstantinopel, Teheran und Belutschistan (das heute zu Pakistan gehört) - nach Indien kam, um erneut einen Anlauf nach Lhasa zu wagen, wurde ihm das von den Briten schlicht verboten. (Sie verbreiteten überdies in Tibet das Gerücht, Hedin sei ein russischer Spion, und schickten ihrerseits den gebürtigen Ungarn Marc Aurel Stein auf die Reise, um dieselben Gebiete auszukundschaften wie der Schwede.) Doch Hedin, inzwischen ein gewiefter Reisender, drehte ihnen eine Nase, kehrte nur zum Schein zurück nach Kaschmir, zog dann nach Ladakh (den indischen Teil Tibets) und von dort gewissermaßen durch die Hintertür nach Tibet hinein. In Shigatse empfing ihn der Taschi Lamā (der Dalai Lamā, den Younghusband vertrieben hatte, saß noch immer in Peking, wo er Asyl gefunden hatte - der Beginn einer verhängnisvollen Entwicklung), der ihm alle notwendigen Genehmigungen erteilte. Hedin erforschte also den "wandernden See" Lop-Nor (den die Rot-Chinesen zum Schauplatz ihrer unterirdischen Atombomben-Versuche gemacht haben; seitdem kann man jene Gegend nicht mehr ohne Lebensgefahr bereisen), den Berg Kailash und den Mānsarowar. [Das kann man mit "heiliger See" übersetzen, aber die Hauptbedeutung von "mān" ist weder "heilig" noch "würdig" noch "wertvoll", auch wenn das in den Wörterbüchern stehen mag; es wird vor allem als stolz im Sinne von "eingebildet" und/oder "eingeschnappt" gebraucht, z.B. wenn sich eine angebetete Frau, der man mal wieder nicht alles recht machen kann, in ihren Schmollwinkel zurück zieht; für Prinzessinnen und andere höhere Töchter gab es regelrechte Schmollzimmer - "Māngrih" genannt. Irgendwie ein passender Name für einen See, der sich dem Normal-Sterblichen solchermaßen entzieht.] Hedin konnte in Ruhe seine Karten zeichnen, und als er nach Schweden zurück kehrte, war er ein Volksheld, gleich nach Gustav Adolf und Karl XII; und seine Reiseberichte "Transhimalaya" und "Wildes, heiliges Tibet" wurden Riesen-Erfolge, vor allem in Deutschland, wo Hedins Freund Brockhaus als Verleger wirkte.
1908 schrieb Hedin, inzwischen 43 Jahre alt, seine ersten Memoiren: "Mein Leben als Entdecker". Etwas voreilig, wie so viele der hier vorgestellten Reiseschriftsteller, denn obwohl der Erste Weltkrieg und die Nachkriegswirren in Rußland und China Hedins Forschungs-Reisen zunächst ein Ende setzten, machte er sich doch wieder auf den Weg, sobald das möglich war: 1923/24 reiste er (per Schiff, Automobil und Eisenbahn - auch den alten Kamel-Reiter hatte die Gegenwart eingeholt) "Von Peking nach Moskau". (Jedenfalls schrieb Hedin nur über diesen - letzten - Teil seiner Reise. Tatsächlich war das ganze eine von finanziellen Zwängen diktierte Vortrags-Tournee um die ganze Welt gewesen, vor allem durch die USA, und dort besonders durch das von Schwedischstämmigen besiedelte Minnesota, wo es harte Dollars zu verdienen gab; aber obwohl Hedin dort zahlreiche interessante Menschen traf, z.B. den Autobauer Henry Ford, schrieb er darüber ebenso wenig wie über seinen anschließenden Aufenthalt in Japan; lediglich die Felsen des Grand Canyon scheinen ihn geologisch fasziniert zu haben, darüber schrieb er später ein eigenes Buch, zusammen mit einer Neubearbeitung seiner Memoiren, die 1925 in New York und 1926 in England veröffentlicht wurde - im durch den Krieg und die Inflation verarmten Deutschland war vorerst nicht so viel zu verdienen.) Dabei lernte Hedin sein neues Lieblings-Reiseziel kennen: die Mongolei. Dort und in den umherliegenden Ländereien des einstigen chinesischen Kaiserreichs - vor allem in Ost-Turkestan ("Sinkiang") - verbrachte Hedin seine letzten aktiven Reisejahre (beschrieben in "Geschichte meiner Asien-Expedition 1927-1935"). Es waren wohl mit die gefährlichsten seines Lebens, denn inzwischen hatte der Ausländerhaß der Chinesen noch erheblich zugenommen, so daß sich die Deutsche Lufthansa - für die Hedin sinnvolle Flugrouten auskundschaften sollte - bald von der Finanzierung zurück zog. An ihre Stelle trat ein US-Millionär schwedischer Abstammung, Vincent Bendix, in dessen Auftrag Hedin einen aufgegebenen buddhistischen Tempel aus Jehol demontierte und nach Chicago verfrachtete (wo er als Kulisse für die Weltausstellung von 1933 fungieren sollte - aber das ist eine andere Geschichte).
Nein, liebe Leser, niemand regte sich darob auf, und das sollte uns zu denken geben, warum von den drei größten ethnischen Minderheiten im Reiche der Han heute nur noch zwei einen Teil ihrer eigenen Identität bewahrt haben und die dritte nicht. Hedin hätte wohl gesagt: "Die Mongolen sind den Chinesen nun mal am verwandtesten und können daher am leichtesten von ihnen aufgesogen werden." Aber das würde zu kurz greifen. Wenn das Mongolentum in der "inneren Mongolei" (wie das Rumpfgebiet der einstigen Provinz Jehol jetzt heißt) heute so gut wie ausgelöscht ist, obwohl es einen selbständigen Staat "[äußere] Mongolei" gibt (der freilich überwiegend aus der Wüste Gobi besteht), während sowohl die Tibeter als auch die Uiguren trotz aller Ausrottungsversuche der Han-Chinesen als Völker überlebt haben, dann muß das noch andere Gründe haben, und zwar vor allem religiöse: Die Uiguren halten ebenso eisern am Islam fest wie die Tibeter am Lamaïsmus - beides durchaus fragwürdige Religionen, wie Dikigoros meint, aber sie erfüllen offenbar ihren Zweck, das Volkstum und die Kultur jener Völker zu erhalten. Dagegen stellte Hedin schon in den 30er Jahren fest, daß der Lamaïsmus in Jehol im Aussterben begriffen war. (Er hatte dort keine so lange Tradition wie etwa in Tibet, war erst im 17. Jahrhundert eingeführt worden und wohl nie wo tief verwurzelt.) Es mag um die Mongolen nicht schade sein, ein primitives, brutales Volk, das während seiner ganzen Geschichte nur von fremden Kulturen schmarotzt, sie überfallen, ausgeraubt und/oder zerstört hat - in China, Indien und Osteuropa -, und dessen größenwahnsinnige Führer noch heute von den Taten eines Dschingis Ķhan oder eines Tamerlan träumen; es verdient daher unser Mitleid nicht. Dennoch verwundert es, daß Hedin, der sich so dezidiert und mutig gegen den europäischen Kolonialismus etwa in China ausgesprochen hat, nie ein Wort fand gegen den Kolonialismus der Han-Chinesen. über deren Herrschaft in Tibet schreibt Dikigoros an anderer Stelle; über den Kampf der Uiguren (und der anderen Turkvölker, wie der Tunganen) in Sinkiang [früher auch "Hsinkiang" geschrieben; der erste Konsonant spricht sich wie ein deutsches "ß", und das "ki" etwa wie das griechische "ki" in Süd-Kreta, also mehr zum "ksch" als zum "kj"], dem alten Ķhanat Kashgar, schrieb Hedin in "Die Flucht des großen Pferdes: Die Spur des Krieges in Zentral-Asien". Er geriet bei den bürgerkriegsähnlichen Kämpfen der "War-Lords" in Gefangenschaft von Ma Tschung-ying, der vergeblich versuchte, ein Groß-Turkestan ("Turanien") zwischen Sowjet-Rußland und China zu errichten - ein Ziel, das seine geistigen Enkel nach dem Zusammenbruch der Sowjet-Union wieder ins Auge gefaßt haben. [Ma Tschung-ying war letztlich an den im chinesischen Exil lebenden weißrussischen Truppen gescheitert, die sich gegen ihn stellten, also letztlich der Sowjet-Union und dem späteren Rot-China in die Hände arbeiteten - einer der im Westen weniger bekannten Treppenwitze der Weltgeschichte.] Der mittlerweile siebzigjährige Hedin aber war, als er endlich wieder frei kam, von seiner Reisewut geheilt; von nun an widmete er sich nur noch der Auswertung seiner Reisen, und das hieß in den meisten Fällen dem Verfassen von Büchern.
Die Nachwelt hat Hedin fast vergessen. Vordergründig wird sein "trockener", wissenschaftlicher Stil dafür verantwortlich gemacht, der die Lesbarkeit seiner Bücher mindere. Aber das ist allenfalls die halbe Wahrheit, denn um dem entgegen zu wirken, hatten Brockhaus und andere Verleger schon immer mehrere Versionen seiner Reiseberichte auf den Markt gebracht: Eine wissenschaftliche für seine Fachkollegen (Hedin war studierter Geograf), eine verkürzte Version für den Normalverbraucher, eine auf "Abenteuer" getrimmte Fassung für Karl-May-Fans und eine Version ad usum Delphini für Jugendliche. Freilich ist ihnen allen etwas gemeinsam: Kein größerer Gegensatz läßt sich etwa denken als die Schilderungen Indiens durch Mark Twain und Sven Hedin: Dem Amerikaner ging es um die Schilderung der Menschen, und vor allem ihrer Schwächen; die Landschaft um sie herum nahm er bloß als deren (zumeist recht schmutziges) Nebenprodukt wahr. Der Schwede hingegen suchte vor allem die großartige Landschaft, Berge und Seen zu erkunden. Seine menschlichen Helfer - Führer, Träger usw. - waren ihm dabei lediglich Mittel zum Zweck (oder, wenn es sich um Räuber handelte, Hindernisse). Schon in seinen frühesten Reiseschilderungen liest man, was ihn wirklich faszinierte: "die Bergriesen des Kaukasus", "die Stille der Wüsten" und "die Einsamkeit der langen Wege". Dann kamen die Häuser, dann die Tiere, dann eine Weile gar nichts, dann die Menschen und ihre unvermeidlichen Begleitumstände, z.B. die lästigen Einladungen zum Essen. Wie schrieb Hedin mal nach einem Besuch bei einem chinesischen Beamten: "Jetzt habe ich einen gründlich verdorbenen Magen, denn schlimmeres Zeug, als man da hinunter schlucken mußte, ist mir noch nicht vorgekommen. Das Mittagessen bestand aus über 20 Gerichten, unter denen geräuchertes Schweinefleisch in Zuckersaft figurierte." Letzteres ist übrigens eine Delikatesse, die heute nur noch von den Chinesen in Singapur zubereitet wird, aber in kulinarischer Hinsicht war Hedin eben ein Banause. Auch mit Frauen hatte er nichts am Hut. (Er blieb sein Leben lang Junggeselle und lebte mit seinen Schwestern zusammen, die ihm den Haushalt führten und als "Sekretärinnen" die Korrespondenz erledigten.) Während heute so viele junge (und ältere :-) Männer um die Welt jetten auf der Suche nach amoureusen Abenteuern in weichen Betten schrieb Hedin: "Es wird ein kolossales Vergnügen sein, in der Wüste auf ganz jungfräulichem Boden die Zelte aufzuschlagen." Na ja, jedem das seine...
Wenn Hedin mehr und mehr aus der Erinnerung verdrängt wurde und von seinem umfangreichen Werk heutzutage nur noch kleine Auszüge neu aufgelegt werden, dann ist der Hauptgrund dafür sicher ein ganz anderer, nämlich seine durch nichts zu erschütternde Liebe zu Deutschland und den Deutschen selbst während der beiden Weltkriege, der er auch schriftlich ungeniert Ausdruck gegeben hatte, obwohl sein Land neutral geblieben war: Im Ersten Weltkrieg reiste er, gleich 1914, an die Westfront ("Ein Volk in Waffen"), dann an die Ostfront ("Nach Osten") und schließlich in den damals noch zum - mit Deutschland verbündeten - Osmanischen Reich gehörenden Nahen Osten (weder "Bagdad, Babylon, Ninive" noch "Nach Jerusalem" wurden Bestseller). Vor dem Zweiten Weltkrieg war er ins Dritte Reich gereist (u.a. 1936 zu den Olympischen Spielen nach Berlin, wo er eine Rede "an die Jugend der Welt" hielt) und in die USA; dabei war er zu der Auffassung gelangt, daß Roosevelt auf eben diesen Krieg hin arbeitete, an dem der US-Präsident, nicht der deutsche Führer und Reichskanzler Hitler, die Haupt-, wenn nicht sogar die Alleinschuld trug ("Amerika im Kampf der Kontinente"). [Dies ist umso bemerkenswerter, als Hedins Buch von 1937 über das Dritte Reich ("Deutschland und der Weltfrieden") wegen seiner kritischen Haltung insbesondere zur national-sozialistischen Juden-Politik in Deutschland nicht hatte erscheinen dürfen - er hatte soviel Rückgrat, das Angebot einer um die betreffenden Passagen gekürzten Ausgabe abzulehnen. Sein jüdischer Verleger in Schweden wiederum, Bonnier, der alle seine Reisebücher heraus gebracht hatte, verweigerte sich, weil ihm das Buch mit der Juden-Politik der Nazis nicht hart genug ins Gericht ging. In Groß-Britannien und in den USA war es dagegen ein Bestseller geworden.]
Nach 1945 wurde Hedin dafür von seinen schwedischen Landsleuten zwar nicht gleich an die Wand gestellt, auch nicht nackt in einem Käfig aufgehängt und nach einer gründlichen Gehirnwäsche in die Irrenanstalt eingewiesen wie sein Kollege Ezra Pound von den Amerikanern, ja nicht einmal verurteilt, enteignet und entmündigt wie sein Kollege Knut Hamsun von den Norwegern, vielleicht weil Hedin anders als jene das Glück hatte, eine jüdische Ur-Urgroßmutter vorweisen zu können (die er übrigens nicht erst nach 1945 "entdeckte", wie so viele andere; niemand in der Familie hatte aus dieser Abstammung je einen Hehl gemacht: der Vorname seines Vater war ebenso jüdisch wie der Mädchenname seiner Mutter); aber es machte ihn bis an sein Lebensende zur persona non grata. (Seine - sehr differenzierten - Erinnerungen an Deutschland, "Ohne Auftrag in Berlin", mußten 1949 in Argentinien erscheinen, weil sie in Europa niemand aufzulegen wagte.) Das galt und gilt nicht nur in politischen, sondern auch und besonders in so genannten "Fach"-Kreisen, die ja heutzutage pauschal jedem Geografen, der das Pech hatte, die Jahre 1933-45 mit erlebt zu haben, vorwerfen, ein "Nazi" gewesen zu sein. Es liegt dies wohl in der "gutmenschlichen" Tendenz begründet, alles zu verteufeln, was im "Dritten Reich" für gut und richtig befunden wurde. Da aber nun alle Geografen die Erde für rund hielten - ebenso wie die Nazis - mußten sie wohl alle welche gewesen sein. [Vielleicht wird man eines Tages auch allen Mathematikern, die wie die Nazis die Auffassung vertraten, daß 2+2=4 ergibt, für ebensolche halten. Bei den Biologen, Medizinern und Psychologen ist es ja schon längst so weit gekommen, von "Gesinnungsfächern" wie Geschichte, Politik und Filosofie ganz zu schweigen.] Als Hedin 1952 starb, hatte niemand von den "Großen", die sich einst zu seinen "Freunden" gezählt hatten, die Zivilcourage, zu seinem Begräbnis zu erscheinen. Der König von Schweden schickte immerhin einen Kranz, der Präsident der BRD, Theo Heuss, verbot dem deutschen Gesandten in Stockholm, ein gleiches in seinem, Heuss', Namen zu tun; jener Diplomat besaß gleichwohl den beachtlichen Mut, in eigenem Namen einen Kranz zu stiften und damit seine Karriere aufs Spiel zu setzen. (Solche Kleinigkeiten, liebe Leser, machen den Unterschied aus zwischen einem echten Mann von Welt und einem schäbigen kleinen Scheiß-Liberalen, den man zum Marionetten-Präsidenten dreier Besatzungszonen gemacht hat.)
Tatsächlich war Sven Hedin nicht nur ein Freund der Deutschen, sondern auch der Russen, unabhängig von allen Regierungsformen: Wenn die Russen Kommunisten sein wollten und die Deutschen Nazis, so schrieb er einmal, dann war das deren Sache, nicht seine. Im Zweiten Weltkrieg war seine größte Sorge, ob am Ende die skandinavischen Länder im allgemeinen und Schweden im besonderen ihre Unabhängigkeit und ihre überlieferten Lebensformen, ihre nationalen Eigenheiten, würden bewahren können. Hedins Reisen ins Ausland hatten bei ihm nicht das bewirkt, was politisch-korrekte Gutmenschen von heute erwarten (die darunter Gruppenreisen mit muttersprachlicher Führung oder Pauschalurlaub "alles inclusive" in abgeschirmten Hotelburgen für Ausländer verstehen), nämlich den Glauben, daß alle Länder und Menschen gleich seien. Hedin hatte vielmehr erfahren (im wahrsten Sinne des Wortes!), daß die Länder und Menschen verschieden sind, und er wollte, daß es so bliebe. Er war nicht das geworden, was man heutzutage einen "weltoffenen Kosmopoliten" nennt, sondern im Grunde seines Herzens ein Kleinbürger und schwedischer Patriot geblieben. Er wollte Schweden weder national-sozialistisch noch kommunistisch noch kapitalistisch sehen, sondern er hoffte inständig, daß es sich dreierlei erhalten möge: seine Monarchie - "die älteste Europas" -, den Sozialstaat und "die höchste Reinrassigkeit aller Germanen auf der Welt". Dieses sein Vermächtnis ist nun freilich bitter enttäuscht worden - und vielleicht ist gewissen Kreisen sein Andenken heute auch deshalb so peinlich: Die schwedische Monarchie dient nur noch als Fassade, und die Marionetten, die für die Klatschblätter "das Königshaus" spielen, sind so dekadent, daß sie zur Blutauffrischung schon eine bürgerliche "Hostess" aus Deutschland zu Hilfe nehmen mußten; die Schweden sind inzwischen nicht mehr das reinrassigste, sondern das am stärksten bastardisierte "germanische" Volk der Welt, seit sie vor allem während der Regierungszeit des Sozialisten Olof Palme (von dem man heute glaubt, daß ihn die CIA um die Ecke gebracht hat, wie zuvor schon Lumumba, Kennedy und Allende - wenn dem so war, dann geschah es auch in diesem Falle viel zu spät) Millionen Ausländer ins Land holten, vor allem Schwarzafrikaner, die dort nicht, wie etwa in Großbritannien oder Deutschland, Parallel-Gesellschaften gebildet, sondern sich munter mit den Schweden vermischt haben; und der Sozialstaat wurde durch Mißbrauch und Mißwirtschaft derart ruiniert, daß er in den 1990er Jahren abgeschafft werden mußte.
[Exkurs: Inzwischen hat ein rüder Propaganda-Feldzug amtlicher und halbamtlicher Geschichtsfälscher eingesetzt, um Hedins verdienstvolle Entdeckungsreisen einem anderen zuzuschreiben: dem bereits erwähnten Ungarn Marc Aurel Stein (der von den Briten eingebürgert und sogar - wie Hedin vom schwedischen König - geadelt worden war). Der hatte zwar nichts anderes getan, als auf Hedins Spuren (und mit Kopien der von Hedin gezeichneten Karten) diesem hinterher zu fahren, aber er hatte den nicht zu leugnenden Vorteil, daß er nicht bloß zu einem Sechzehntel, sondern zu hundert Prozent jüdischer Abstammung war; so wurde er denn zum "Pionier der Seidenstraße" hoch gejubelt. Daß er keine vergleichbaren Reiseberichte hinterlassen hat, sondern nur ein paar trockene Forschungsberichte (noch trockener als die Hedins - aber das müssen Forschungsberichte wohl sein, um in akademischen Kreisen Anerkennung finden zu können :-) störte nicht; sie wurden dennoch in den Jahren 1974-1981 fast alle neu aufgelegt - und zu Ladenhütern, ebenso wie die Hagiografien seiner Lobhudler, pardon Biografen Mirsky (1977) und Walker (1995). Im neuen Jahrtausend versuchte man es dann zur Abwechslung mit Steins Glaubensgenossen, dem französischen Rüstungs-Magnaten und Automobil-Produzenten André Citroën, der in den 20er und 30er Jahren einige Expeditionen ausgerüstet hatte, die Haardt, Point und Audouin-Dubreuil auf Hedins Spuren - was sie natürlich nicht zugaben, sie behaupteten, den Spuren Marco Polos zu folgen - bis nach Peking führten. Über jene "Kreuzfahrten [Croisières]" wurden zwar gar keine Bücher geschrieben, aber die Enkelin eines Beteiligten grub auf ihrem Speicher einige alte Filmrollen wieder aus - ein weiterer Grund, Sven Hedin zu vergessen, denn der hatte ja keinen Kurbelkasten dabei gehabt. Exkurs Ende.]
Wie dem auch sei, man muß der posthumen Ächtung Sven Hedins auch etwas Positives abgewinnen können: Während die Nachdrucke spärlich und fast nie vollständig waren, so sind doch die Originale seiner Reisebücher, insbesondere derer mit den hohen Auflagen aus der Zwischenkriegszeit ("Drei Jahre im innersten Asien" - später "Durch Asiens Wüsten" genannt -, "Im Herzen von Asien", "Rätsel der Gobi", "Transhimalaya. Entdeckungen und Abenteuer in Tibet"), heute billig antiquarisch zu haben.
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