William Dalrymple

WILLIAM DALRYMPLE (*1967)

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EIN KAPITEL AUS DIKIGOROS' WEBSEITE
ALS ES NOCH KEIN INTERNET GAB
Reiseschriftsteller des 20. Jahrhunderts

Er stammt aus einer Dynastie großer schottischer Reisender, auch wenn er nicht gerne darüber spricht. Deren Stammvater, der erste Viscount von Stair, reiste nicht ganz freiwillig in die Niederlande, da er sich mit dem späteren König Jakob II überworfen hatte (der damals noch Herzog von York war, und nach dem Neu Amsterdam in Neu York umbenannt wurde - aber das ist eine andere Geschichte); dort nahm er wohl seinen "unschottischen" Namen an (oder zumindest dessen holländische Schreibweise) und kehrte nach vielerlei Reisen 1688 mit der "Glorreichen Revolution" zurück auf die britischen Inseln. Alexander Dalrymple erforschte für die britische Ostindien-Kompagnie die Südsee, wurde Geo-, nein "Hydrograf" (gemeint war natürlich Kartograf) der Admiralität und veröffentlichte 1770 "Historische Erinnerungen an mehrere Reisen und Entdeckungen im Pazifischen Ozean". William Dalrymple senior beschrieb 1774 seine "Reise durch Spanien und Portugal" (auf der er u.a. auch Santiago de Compostela besuchte, aber das ist eine andere Geschichte), ein Buch, das sogar ins Deutsche übersetzt wurde (wovon sein Ur-Ur-Ur-Urenkel nur träumen kann). John Dalrymple schrieb 1874 über seine Reise nach "Ashanti und die Goldküste"; und Clarence Dalrymple beschrieb 1907 seine in den Jahren 1905-06 unternommene Reise "Auf den Spuren Marco Polos. Von Shimla nach Peking". Vor allem letzteres dürfte William Dalrymple junior freilich nicht aus Bescheidenheit verschwiegen haben, sondern um zu verschleiern, daß eben daraus die Idee für seine erste eigene große Reise entstand: Er tat einfach so, als reiste er seinerseits nur auf den Spuren Marco Polos, als er mit gerade mal 21 Lenzen 12.000 Meilen über Land nach Xanadu fuhr, zu den Ruinen des sagenhaften Palastes von Kublai Khan im Norden Pekings, den Coleridge in seinem berühmten Gedicht verewigt hatte.

Nun war "Xanadu" vielleicht noch kein Meisterwerk der Reiseliteratur - zumal sich Dalrymple von seinen wechselnden Begleiterinnen ablenken ließ und bisweilen krampfhaft versuchte, witzig zu sein - bloß kein Griesgram und Miesmacher werden wie Naipaul oder Theroux! Aber zu letzteren fehlte Dalrymple noch einiges, und das spürte er auch; sein nächstes Buch sollte ein fundiertes Werk über Indien werden, insbesondere über die Groß-Muģalen in Delhi, wo er die nächsten fünf Jahre seines Lebens verbrachte, um "Die Stadt der Djinns" zu schreiben.

Nun ja, fundiert war das gewiß, aber irgendwie verhedderte sich Dalrymple doch ein wenig in der Geschichte des Muģal-Reiches, die zwar durchaus interessant sein mag, aber darüber gab es eigentlich schon genug Bücher - und wo blieb der aktuelle Gegenwartsbezug? Nach all den Arbeiten an der Geschichte des Hinduïsmus und des Islam kehrte Dalrymple nach England zurück (nein, nicht nach Schottland - nach London) und nahm sich dort ein weiteres altes Reisebuch vor, das zwar weniger bekannt war als die Reisen Marco Polos nach China, aber nicht weniger faszinierend: die Reisen von Iohanis Moschos und Sofronius vom Bosporus zum Nil in den 580er Jahren. Das sollte in den 1990er Jahren Jahrhunderts noch möglich sein? Dikigoros hätte es bezweifelt und sich gehütet, mit zu fahren; aber Dalrymple hatte den Mut, und er kam durch: Durch den Bürgerkrieg in Türkisch-Kurdistan, durch den von Jahrzehnte langen Kriegen ruinierten Libanon, durch den Bürgerkrieg in Palästina und durch den Bürgerkrieg im heute "Sudan" genannten Oberägypten. Und während fünf Jahre Indien glaubensmäßig so gut wie völlig an ihm abgeprallt waren - auf dieser Reise wurde Dalrymple zum militanten Christen, den in Kenntnis und im Angesicht dessen, was geschehen war und noch immer geschah, was Juden und vor allem Muslime den Christen angetan hatten und noch antaten, voller Wut zur Feder griff und seinen Gefühlen freien Lauf ließ; er schrieb nicht mehr und nicht weniger als die Tragödie vom allmählichen Untergang des Christentums in seiner Heimat, dem Nahen Osten. "Vom Heiligen Berg" nannte er sein Buch, da er es auf dem Berg Athos in Griechenland begann; aber natürlich steht dieser auch symbolisch als die scheinbar letzte Bastion eines strengen Christentums in Europa. Diesem Christentum war in Dalrymple über Nacht ein neuer, wortgewaltiger Streiter vor dem Herrn entstanden, wenn auch vorerst nur als Rufer in der Wüste: Die "gutmenschlichen" Zensoren und Verschweiger in den laschen, pardon toleranten Demokratien des Westens waren entsetzt ob solch deutlicher Worte - und dies ist wohl auch der Grund, weshalb sich in Deutschland bis heute kein Verlag bereit gefunden hat, Übersetzungen der Reisebücher von Dalrymple heraus zu bringen.

Über alledem reifte der junge Mann zusehens; und siehe da, 1998 war er so weit, ein neues Indien-Buch zu veröffentlichen, das als eine Hommage und späte Rechtfertigung des "alten Nörglers" V. S. Naipaul aufgefaßt werden kann: "Das Zeitalter Kalis". Das ist das "Kali Yug", das Zeitalter der Finsternis (die blutrünstige Menschenfresserin Kali wird als schwarzgesichtige Göttin vor- und dargestellt), das er inzwischen für ebenso gekommen hält wie der Autor von "Eine Zone der Finsternis". Es ist eine Sammlung von Aufsätzen, die nur auf den ersten Blick an die Berichte eines Marc Tully erinnern; tatsächlich hat Dalrymple ganz Indien bereist, d.h. nicht nur Bhārat, sondern auch Pākistān, Bangla Desh, Shrī Lankā und andere "Randgebiete", und bei seinen "Reisen und Begegnungen" (so der Untertitel) hat er An- und Einsichten gewonnen, die bloßen Journalisten wie Tully verschlossen geblieben sind. (Über die Filmindustrie von "Bollywood", Witwen-Verbrennungen und das Kastensystem kann jeder Ausländer daher schreiben - auch und gerade, wenn er nichts davon versteht und nichts davon verstehen will. Aber wer traut sich schon zu den Rauschgift-Dealern an der afģānischen Grenze, zu den Räubern von Bihār oder zu den Tamil Tigers?) Wenn man genau hin sieht, bemerkt man, daß diese Aufsätze zum größten Teil bereits 1989-94 entstanden sind, als Dalrymple in Delhi lebte, und im Rückblick stellt sich heraus, daß diese Berichte über die Kleinigkeiten der Gegenwart - und nicht die Fleißarbeit über die vermeintlichen Großartigkeiten der Vergangenheit - die eigentlich wertvollere Frucht jener indischen Jahre waren.

1999 ging Dalrymple - wie einst Colin Ross - auch unter die Filmemacher: Er drehte einen Bericht über eine Reise zu den Bergheiligtümern des Garhwal und zu den Quellen des Ganges (der inzwischen, Dank Terra Nova, auch bis nach Deutschland gedrungen ist). Gewiß, einige Bilder sind recht eindrucksvoll, und doch sind Dikigoros beim Anblick der Sequenzen ernste Zweifel an Dalrymple's Glaubwürdigkeit gekommen: Er will von Rishikesh über Masūrī (das er penetrant "Missourie" nennt) nach Triyug Narayan, Gaurikund und Kedarnāth gefahren sein. Das ist schon ungewöhnlich genug; doch nehmen wir mal an, daß er die Zuschauer nicht mit umständlichen Ausführungen über das Straßennetz im Himalay langweilen wollte (das einen zwingt, von Masūrī erst wieder zurück nach Rishikesh zu fahren, bevor man in die andere Richtung nach Kedarnāth aufbricht - aber wer will schon die gleiche Strecke zweimal sehen). Doch was dann kommt, nimmt ihm Dikigoros nicht ab: Dalrymple will von Kedarnāth zu Fuß bis zum "Gomukh" (der Quelle des Ganges) geklettert sein. Das sind zwar "nur" knapp 50 km Luftlinie, aber tatsächlich ist es bedeutend weiter, und selbst Dikigoros, der zwar fast eine Generation älter als Dalrymple, aber fysisch noch wesentlich besser drauf ist, würde sich das nicht zutrauen, zumal in der Variante, die Dalrymple behauptet: Erst nordwestlich nach Gangotri (ca. 80 km Luftlinie) und dann knapp 30 km scharf östlich zum Gomukh - ein solcher Umweg wäre nicht nur blanker (im wahrsten Sinne des Wortes) Wahnsinn, sondern schlicht unökonomisch. Könnte es sein, daß Dalrymple - der mit einem vielköpfigen einheimischen Filmteam reiste - gar nicht so recht mitbekam, wo er da lang gefahren bzw. gewandert ist? Werft doch mal einen Blick auf die Karte, die Dikigoros in seinem eigenen Reisebericht über diese Tour abgebildet hat: Nach Gangotri und zum Gaumukh reist man weder über Masūrī (das dient vielmehr als Zwischenstation nach Yamunotri - aber bis dorthin ist Dalrymple offenbar nicht gekommen) noch über Kedarnāth (das ist ein Ziel für sich), sondern über Uttarkashi, auf einer Strecke, die ziemlich genau in der Mitte zwischen den beiden vorigen liegt. Nun ja, und Dalrymple's Begegnungen mit einer Wahrsagerin sowie allerlei Yogis und Bettelmönchen am Wegesrand waren denn so eindrucksvoll auch nicht.

Aber das war noch nicht das schlimmste, wozu sich Dalrymple vom Fernsehen korrumpieren ließ: Während von Pākistān bis Indonesien die letzten christlichen Kirchen brannten, dem Christentum also im Fernen Osten das gleiche Schicksal drohte wie im Nahen Osten, und Dikigoros sehnlichst erwartete, daß Dalrymple bald erneut zur Feder greifen würde, nicht nur um ein paar kurze, wenngleich treffende Aufsätze über die Tālibän zu schreiben - was er schon getan hat -, sondern um auch diese Tragödie umfangreich für die Nachwelt festzuhalten, tat er das genaue Gegenteil: Er gab sich - und den Titel eines seiner Indien-Bücher, "City of Jins" - dazu her, um einen Streifen zu drehen, der auch in der BRD unter dem Titel "Stadt der Geister" lief, der zwar die angespannte Lage zwischen Hindus und Muslimen in Indien allgemein und besonders in Delhi faktenmäßig korrekt wieder gab, jedoch in Geschichts-Klitterungen und verharmlosenden Schlußfolgerungen endete, die man nur als verbrecherisch bezeichnen kann: Die Muslime, insbesondere die Muģalen, hätten die Hindus und ihre Kultur nie unterdrückt, sondern sie ganz im Gegenteil kulturell befruchtet und eine einzigartige Symbiose zwischen den Religionen hervor gebracht, die auch für Gegenwart und Zukunft das beste hoffen lasse, wenn man sich nur auf die für den Islam - insbesondere für den (in Indien völlig unbedeutenden, Anm. Dikigoros) Sufismus - sprichwörtliche Toleranz besinne, zu dem sich schon viele gutwillige Hindus gerne bekennen (kameramäßig belegt mit ein paar Pennern, die vor einem Sufi-Tempel betteln und sich in den Mund legen lassen, gutwillige Hindus zu sein :-). Fazit: Die armen Muslime sind heuer die Juden Indiens, und die nationalen Hindus die Nazis. (Jawohl, diesen Vergleich zieht er allen Ernstes an den Haaren herbei!) Dikigoros ist schwer enttäuscht: Dalrymple, früh gealtert, fett und faul - wohl auch denkfaul - geworden, ist zum Schreibtisch zurück gekehrt und zur Geschichte der von ihm neuerdings so bewunderten Muģale - "Weiße Mughale" heißt sein jüngstes Buch; aber Dikigoros fürchtet - nein, er hofft -, daß es kein Bestseller wird.

Und so nimmt die Geschichte der großen Reiseschriftsteller des 20. Jahrhunderts denn ein unrühmliches Ende. Vielleicht hätte Dikigoros Dalrymple gar nicht mehr unter sie aufnehmen sollen? Doch, liebe Leser, denn seine negative Entwicklung verschafft ihm den Aufhänger für eine abschließende Betrachtung dieser "Reise durch die Vergangenheit"; sie zeigt nämlich sehr [un]schön, daß einem weit verbreiteten Vorurteil zum Trotz die Wahrnehmungsfähigkeit eines vor Ort "seßhaften" Beobachters der des "nur" Durchreisenden meist unterlegen ist. Der letztere lernt notwendigerweise immer wieder neue Leute und damit auch immer wieder neue Perspektiven eines Landes kennen. Wer dagegen statisch am selben Ort klebt, muß schon sehr viel Glück haben, um einen Bekanntenkreis zu finden, der groß genug ist, um ihm auch nur annähernd ein Gleiches zu ermöglichen, sonst endet er wie der Pauschaltourist im Ausländerghettohotel, der allenfalls mal eine Dolmetscher-begleitete Exkursion zu irgendwelchen "Sehenswürdigkeiten" der näheren oder weiteren Umgebung macht, oder wie der Auslandskorrespondent, der im 5-Sterne-Hotel hockt, die lokalen Zeitungen liest bzw. sich in seine Sprache übersetzen läßt und deren banalen Inhalt dann als seine eigenen "wertvollen Erkenntnisse" nach Hause faxt oder mailt. Im Nahen - oder, wie die Briten sagen, Mittleren - Osten hatte Dalrymple das Glück gehabt, die richtigen Leute zu treffen, die ihm die Augen öffneten; und er machte sich die Mühe, mit eben diesen offenen Augen durch die Lande zu fahren - daraus resultierten seine frühen, hervorragenden Reisebücher. In Indien vergrub er sich dagegen in alte Bücher und umgab sich einseitig mit Leuten aus dem muslimischen Dunstkreis, die alles Hinduïstische verteufelten. Er fiel darauf herein - vielleicht ein typischer Zug der Briten, denen es in den drei Jahrhunderten ihrer Kolonialherrschaft ja genauso ergangen war. Wohlgemerkt, auch Dikigoros hat auf seinen Indien-Reisen Muslime kennen gelernt ("sein" Buchhändler in Dillī ist einer von ihnen), und auch er weiß, daß unter den Hindu-Nationalisten nicht nur Helden und Heilige zu finden sind; aber er käme nie auf die Idee, Indiens Geschichte und Gegenwart derart naïv und einseitig verzerrt darzustellen, weder aus islamischer noch aus hinduïstischer Sicht. Vielleicht ist Dalrymple auch der typischen Forscher-Versuchung erlegen zu glauben, "wissenschaftlich gearbeitet" zu haben und deshalb zu einem "eindeutigen Ergebnis" kommen zu müssen. Einem "nur" Durchreisenden würde es nie einfallen, derart verallgemeinernde Urteile zu fällen. Aber machen wir uns nichts vor: Die Zeit, in der solche Reisen mit offenen Augen und Ohren noch möglich waren, geht zuende oder ist schon zuende gegangen. Und gar Reiseberichte der Art, wie sie einst ein Colin Ross, ein Richard Katz oder selbst noch ein Paul Theroux verfaßten, sind nicht mehr erwünscht, weder am Zielort noch zuhause, denn sie könnten ja die Wahrheit verbreiten, und die ist - fast - immer und überall unbequem. Erwünscht sind einfache und eindeutige Antworten auf komplizierte Fragen, auch wenn sie falsch sein mögen; Hauptsache, sie lassen sich in einem Dreizeiler für die Kurznachrichten zusammen fassen - und das tun gute Reiseberichte halt nicht.

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