Die "Stimme der Han-Chinesen"
oder der tapfere Einfaltspinsel
HAN SU-YIN (1916-2012)

(Mathilda-Rosalie Elisabeth Claire Kuang-hu
geb. Tschou, verw. Tang, gesch. Comber,
verw. Ratnaswāmī alias Ruthnaswamy)
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Un vœu: "Boule de feu, boule de fer,
si je trahis que j'aille en enfer!"
(Han Su-yin, L'arbre blessé)

[Han Su-yin]

Ein Kapitel aus Dikigoros' Webseite:
LÜGEN HABEN SCHÖNE BEINE -
WENN FRAUEN EINE REISE TUN

Die verhinderte Medizin-Studentin, Labor-Assistentin und Hebamme, die sich gerne als "Ärztin" bezeichnete und einen falschen Dr.-Grad führte, wurde zwar in China geboren, war aber ebensowenig eine echte Chinesin wie eine echte Doktorin. Dennoch hatte sie sich - ihrem großen Idol Mao Tse-tung zuliebe - einen Nom-de-plume zugelegt (den sie selber übrigens entgegen internationalen Gepflogenheiten ohne Bindestrich transkribierte, also als "Han Suyin"; dagegen schrieb sie den Namen der Herkunfts-Provinz ihres Vaters ebenso wie das liebste Spiel der Chinesen getrennt und mit Bindestrich, also "Sze-tschuan" und "Mah-jong[g]" - Konsequenz war nie ihre Stärke), der suggerieren sollte, daß sie dem Mehrheits-Volk der Han angehörte. In Wahrheit war ihre Mutter Belgierin, und die Vorfahren ihres Vaters stammten wie gesagt aus Szetschuan, dem "Vierstrom[-land]"). Über ihre genaue Herkunft haben ihre Herausgeber stets einen Schleier der Widersprüche gelegt, den zu lüften jedoch in diesem Falle so wichtig ist, daß Dikigoros seinen Lesern ein wenig Detektivarbeit nicht ersparen kann. Detektivarbeit deshalb, weil wir kaum Quellen haben außer Han Su-yins eigenen, oft widersprüchlichen autobiografischen Angaben - in denen wir halt "zwischen den Zeilen" lesen müssen. Der Ullstein-Verlag schrieb z.B.: "Han Suyin, in Peking geboren, studierte in China und nach dem Tode ihres im Bürgerkriege gefallenen Mannes in England Medizin, kehrte mit ihrem Kinde nach Hongkong zurück und lebt jetzt als Ärztin in Singapur." Kein Wort davon ist wahr, ebenso wenig wie die weit verbreiteten - da von ihr selber in die Welt gesetzten - Märchen, ihre Mutter Marguerite sei Flamin und ihr Vater Tschou Yen-tung sei Hakka-Chinese gewesen. Ihre Eltern lernten sich zwar in Brüssel kennen - das, wenn man so will, in Flandern liegt -, aber ihr Großvater mütterlicherseits war ausweislich seines Namens ein Wallone namens Georges Denis, und ihre Großmutter mütterlicherseits eine Niederländerin, Mathilda-Rosalie Leenders, die sie angeblich nie gesehen hatte. Gleichwohl wurde sie zu ihrem großen Leidwesen auf deren Vornamen getauft. Warum zu ihrem Leidwesen? Na, wolltet Ihr, liebe Leserinnen, wenn Französisch Eure Muttersprache wäre, mit einem Namen in China leben, den die Leute dort wie "l'eau salé [Salzwasser]" aussprechen? (Chinesen können kein "R" rollen und sagen statt dessen "L"; ganz im Gegensatz zu Japanern, denen das auch oft unterstellt wird, bei denen es aber genau umgekehrt ist: Die können kein "L" aussprechen und sagen statt dessen "R" - aber "Rosary [Rosenkranz]" wäre natürlich auch nicht viel besser :-) Nun ist Salz ja an und für sich nichts Schlimmes - Han Su-yin schrieb einmal, daß die Vorfahren ihres Vaters "arme Salzhändler" gewesen seien, aber ohne sich dessen zu schämen -; im übertragenen Sinne kann man das jedoch auch als "Heulsuse" auffassen - und Rosalie tat es offenbar, denn sie kämpfte verbissen dagegen an. Sie schrieb einmal, daß ihre Mutter ihr "Gefühllosigkeit" vorwarf, weil sie nie weinte, und sie darob haßte. So kann ein unglücklicher Name ein ganzes Leben beeinflussen, denn Rosalie haßte umgekehrt auch ihre Mutter, solange sie lebte; und über ihren Tod klagte sie nur, weil sie die Beerdigungskosten zu tragen hatte.

Ihr Vater war ein Lolo, d.h. ein Angehöriger der tibetischen Minderheit, jenes Volkes, das sie später, als "Han Su-yin" so schamlos verraten sollte. Er stammte aus Pihsien, einem Kaff in der Nähe von Tschöngtu - dem Ausgangspunkt der so genannten "Tibet-Straße" (die Chinesen sagen "Tee- und Pferdestraße" - es handelt sich um die Verlängerung einer südlichen Nebenstrecke der "Seiden-Straße", über die Dikigoros an anderer Stelle mehr schreibt), der nicht von ungefähr so heißt; sie führt nämlich bis zur Stadt Tschangtu am oberen Mekong, auf halbem Weg nach Lhasa. (Nach dieser Stadt wurde früher auch die ost-tibetische Provinz, deren Hauptstadt sie ist, "Tschangtu" genannt. 1957 trennten die Chinesen sie unter der Bezeichnung "Kantse" - heute "Ganze" geschrieben - von Tibet ab. Ihre Bewohner nennen sie "Kham" und sich selber "Khamba".) Mit 17 Jahren war ihr Vater nach Belgien geschickt worden, um Eisenbahn-Ingenieur zu lernen (die Belgier hatten gerade die Konzession zum Bau einer innerchinesischen Strecke erhalten) und kehrte 1913 - zwei Jahre nach Ausbruch der Revolution, welche die Mandschu-Dynastie (und China damit ins Chaos) gestürzt hatte - mit seiner belgischen Frau und seinem ältesten Sohn zurück. Er fand Arbeit in der Provinz Hönan (so wird es gesprochen, und so wurde es früher in Deutschland auch geschrieben; die international üblichen Schreibweisen - sowohl das alte "Honan" als auch das neue "Henan" - sind ungenau); dort - nicht in Peking - wurde Han Su-yin als drittes Kind und älteste Tochter geboren (zugleich als "Dritte Tochter" nach chinesischer Zählung, die auch Vettern und Cousinen derselben Generation mit einbezieht; ihr ältester Bruder war zugleich "Erster Bruder" der ganzen Generation). Erst 1921 zogen ihre Eltern nach Peking, wo Rosalie aufwuchs, ganz in dem Gefühl, eine "echte" Chinesin zu sein. (Dikigoros erlaubt sich, an der Schreibweise "Peking", die er als Schulkind erlernt hat, festzuhalten, obwohl sie ebenso irreführend ist wie die jetzt offiziell gebräuchliche "Beijing": Der erste Laut ist ein nicht-aspiriertes "P", der zweite ein langes "e" - aber das wird ja jetzt für "ö" verwendet -, der mittlere Laut entspricht etwa einem griechischen "k" vor "i", also irgendetwas zwischen "ksch", "gsch", "tsch" und "dsch".) Um das so gar nicht "echt"-chinesische Äußere ihrer väterlichen Verwandten zu verheimlichen, entblödete sich Han Su-yin später nicht zu behaupten, daß auch Han-Chinesen nach einiger Zeit des Aufenthalts im Hochland aussähen "wie Tibeter". Und auf einer bekannten Internetseite, deren Betreiber sich anheischig machen, ein "Universal-Lexikon" zu erstellen, indem sie möglichst viele Köche einen Brei anrühren lassen, der dann von irgendwelchen politisch-korrekten Zensoren vollends verdorben wird (einige Inhalte werden neuerdings sogar für "sakrosankt" erklärt und dürfen nicht mehr geändert werden :-) entblödet sich einer jener Kochlöffel-Ethnologen nicht zu behaupten, die Lolo seien gar keine Tibeter, sondern vielmehr ein Stamm der Chinesen - von Amts wegen "Yi" genannt -, der halt bloß einen tibetischen Dialekt spräche - wir werden nachher sehen, wie er darauf kommt. (Daß die Lolo nicht nur eine eigene Sprache, sondern sogar eine eigene Schrift haben, schreibt er nicht; und rassische Unterschiede zu erwähnen wäre ja im Zeitalter der Ent-Wurzelung, pardon des Anti-Rassismus, ohnehin "faschistoïid" und somit tabu. In einem Fernsehquiz im Jahre 2005 wußte ein braver Kandidat nicht mal mehr, daß "Rasse" bzw. "Race" soviel wie "Wurzel" bedeutet - oder vielleicht traute er sich auch nicht, öffentlich zuzugeben, daß er es wußte.)

Exkurs. Für jeden, der sich ein wenig mit Fysiognomie im allgemeinen und asiatischer Fysiognomie im besonderen auskennt, bedürfte es gar keiner großen Diskussion um Han Su-yins Abstammung, sondern lediglich eines Blickes auf ihr Foto: Den dunklen Teint und die scharf geschnittenen Gesichtszüge hat kein Han-Chinese (und auch kein Hakka - nur einige süd-chinesische Völker haben etwas dunklere Haut, aber das wollte sie ja nicht sein), und sie können auch nicht von ihrer belgischen Mutter ererbt sein. Das kann man nur Kindern einer Zeit erzählen, in der "Rassenkunde" nicht nur aus den Lehrplänen der Schulen und Universitäten verschwunden, sondern als vermeintliche "Nazi-Wissenschaft" geradezu geächtet ist; früher wußte jedes Kind, daß bei einer Kreuzung zwischen Europäer[inne]n und Asiaten die erste Mischlings-Generation fänotypisch asiatisch ist. Aber ein braver Gutmensch von heute darf das nicht mehr wissen, der darf das auch nicht mehr auf Fotos erkennen. (Wußtet Ihr, liebe deutsche Leser, daß es inzwischen in den USA als politisch-unkorrekt gilt, wenn bei Stellenausschreibungen von Bewerbern ein Foto verlangt wird? Das gilt dort schon als "Rassendiskriminierung"!) Er hat farben- und sogar schwarz-weiß-blind zu sein; und die Fernseh-Übertragung eines Boxkampfes zwischen Mike Tyson und Wladimir Klitschko müßte politisch-korrekt wie folgt kommentiert werden: "Für alle Zuschauer, die sich später eingeschaltet haben und die Boxer nicht kennen: Tyson boxt in der schwarzen Hose mit dem etwas breiteren weißen Streifen, und Klitschko in der schwarzen Hose mit den etwas schmaleren weißen Streifen..." Bloß keinen Hinweis darauf, daß der eine schwarze und der andere weiße Hautfarbe hat; wer das auch nur beiläufig erwähnte, würde als "Rassist" und als "Nazi" angesehen und sofort seinen Job als Reporter verlieren - fristlos und ohne Abfindung, wahrscheinlich sogar ohne Anspruch auf Arbeitslosengeld, weil er seinen Rauswurf ja vorsätzlich provoziert hätte. Und so können die meisten Westler denn auch keinen Japaner von einem Javaner, keinen Tongkinesen von einem Thai und keinen Bengalen von einem Tamilen unterscheiden (dabei sind die Unterschiede bei den rassebewußten Asiaten viel stärker ausgeprägt und viel leichter zu erkennen als in dem Rassen-Mischmasch, der in großen Teilen der westlichen Welt entstanden ist, wo die Wahl des Sexual-Partners weitgehend beliebig geworden ist) - wie sollten sie da einen Unterschied sehen zwischen den verschiedenen Völkern und [Unter-]Rassen Chinas? Aber Han Su-yin schrieb später - in "Blume Erinnerung" - selber, daß sie eine viel dunklere Haut hatte als ihre jüngste Schwester Marianne (die sich ihre Mutter wohl von einem anderen Mann geholt hatte; die Ehe ihrer Eltern stand schon lange vor ihrer offiziellen Trennung 1948 nur noch auf dem Papier); und überlegt doch mal: Warum wohl schrieb Han Su-yin nach ihrer Tibet-Reise von 1975 jenen dummen, offensichtlich falschen Satz von der äußerlichen Angleichung der Han-Chinesen an die Tibeter bei genügend langem Aufenthalt im Hochland, wenn sie nicht spätestens damals (vielleicht bei einem Blick in den Spiegel) bemerkt hätte, wem sie selber ähnelte, nämlich den Khamba? Wenn das kein überzeugendes Indiz ist... Allerdings übersah sie, daß selbst dann, wenn dieser Satz zuträfe, ihr eigener Aufenthalt im Hochland schwerlich lange genug gedauert hatte, um ihr Aussehen damit zu erklären. (Wohl deshalb versuchte sie später, die harten Gesichtszüge eben doch dem Erbteil ihrer Mutter zuzuschreiben - nachdem diese tot und begraben war, so daß es niemand mehr nachprüfen konnte -; aber schaut Euch mal ihre Backenknochen an; die sind weder flämisch noch wallonisch noch sonst irgendwie westlich, und auch nicht chinesisch; die sind schlicht und ergreifend ost-tibetisch. Lest einmal in alten Reisebeschreibungen, die noch nicht unter dem Diktat der Rassenverleugnung standen, nach, wie die Khamba aussehen, z.B. hier. Selber hinfahren könnt Ihr leider immer noch nicht; es ist - nicht umsonst - Sperrgebiet für Ausländer, denn die Unruhen dort wollen einfach nicht abreißen; so haben die Chinesen denn auch nie einen Gedanken daran verschwendet, etwa eine Eisenbahnlinie durch dieses Gebiet von "Räubern und Wegelagerern" zu bauen, obwohl das die nächste (Ost-West-)Verbindung nach Lhasa wäre; statt dessen haben sie lieber die ungleich weitere und schwierigere Nord-Süd-Strecke von Karmu (alias "Golmud") aus über das Tangla-Gebirge gebaut, die 2005 fertig geworden ist. Exkurs Ende.

Von Beginn ihrer schriftstellerischen Karriere an gebrauchte Rosalie den Namen "Han Su-yin", und Dikigoros hat ihn oben bewußt nicht mit dem griechischen Ausdruck "Pseudonym" belegt, sondern mit dem franzöischen "Nom-de-plume". Warum? Weil "Ħàn" das gleiche bedeutet wie "plume", nämlich "Feder, Schreibpinsel". Aber hatte er nicht weiter geschrieben, daß Han Su-yin diesen Namen wählte, weil sie erreichen wollte, daß man sie für eine Han-Chinesin hielt? Ja, hat er, und beides ist richtig, obwohl es sich scheinbar widerspricht. Schaun wir mal: Han Su-yin erzählt in der Tat jedem Westler, der es hören will, sei es selber oder durch ihre Adoptiv-Tochter Yung-mei, die seit einiger Zeit als ihr Sprachrohr fungiert, daß der erste Bestandteil ihres Namens auf eine Han-chinesische Abstammung hindeute, denn auch die Hakka, zu denen ihr Vater gehört habe, seien ja Han-Chinesen. Nun, das kann sie Leuten erzählen, die ihre chinesische Unterschrift noch nie gesehen haben und die, wenn doch, sie jedenfalls nicht lesen können - sei es, weil sie überhaupt kein Chinesisch können, sei es, weil sie ihre Sauklaue nicht entziffern können. (Sie behauptet zwar, als Kind kalligrafisch sehr begabt gewesen zu sein; da sie jedoch nach anderthalb Jahren aus der chinesischen Klosterschule hinaus geworfen wurde - angeblich, weil sie schon alles konnte und ihr niemand mehr etwas beizubringen wußte - ist es halt mit ihren Schreibkünsten nicht allzu weit her, auch wenn sie mit 16 noch einige Privatstunden genommen haben will, um es "richtig" zu lernen.) Aber nicht Dikigoros und seinen Lesern: Die beiden letzteren Zeichen sind - im wahrsten Sinne des Wortes - klar: Sù-yīn bedeutet "einfache, einfältige Stimme", was wohl im Sinne von "klar, verständlich" gemeint ist. (Aber die chinesische Sprache hat es nun mal an sich, unklar und mehrdeutig zu sein; Dikigoros wird sich daher erlauben, es anders, nämlich wörtlich zu übersetzen.) Han Su-yin will ihren Namen also im Westen als "[klare] Stimme der Han-Chinesen" verstanden wissen. Aber am Anfang steht keineswegs das Piktogramm für Han-Chinesen, weder nach der alten noch nach der "reformierten", "vereinfachten" Schreibweise. Nach der ersteren bestand dieses "Hàn" aus den Zeichen für Wasser, Gras, Anbau und Mann, wies die Han-Chinesen also als ein Volk von Reisbauern aus. (Für Japanologen, die in der Vorlesung über Sprach- und Schrift-Geschichte gefehlt oder geschlafen haben, weil es da ja keinen Pflichtschein zu machen gibt: Im Japanischen gibt es das alte Zeichen noch als Kanji, wobei aus dem chinesischen "H" ein "K" geworden ist; für Erstsemester: Hadamitzky Nr. 556.) Nach der letzteren besteht es nur noch aus dem verkürzten Zeichen für Wasser und dem verkürzten Zeichen für Hand, weist die Rot-Chinesen also als ein Volk aus, dem seine (nicht nur Schrift-)Kultur wie Wasser zwischen den Händen zerronnen ist.

[Exkurs. Wenn Ihr Rot-Chinesen mal so richtig ärgern wollt, liebe Leser, sprecht sie auf diesen Punkt an und erklärt ihnen, was der lateinische Spruch "nomen atque omen" bedeutet. (Aber bitte nicht falsch zitieren, etwa als "nomen est omen" - sonst blamiert Ihr Euch am Ende selber, wenn Ihr zufällig an jemanden geratet, der das besser weiß :-) Die schämen sich nämlich insgeheim, weil sie im Grunde genommen genau wissen, zu welch einem Volk von ungebildeten Kulturbanausen sie hinab gesunken sind; und so etwas aus dem Munde eines jener langnasigen ausländischen Teufel zu hören, von denen sie annehmen, daß die allesamt zu dumm sind, um Chinesisch zu lernen, tut ihnen besonders weh. Und reibt ihnen auch ruhig noch unter ihre platten Nasen, auf die sie so stolz sind, daß es nach altem chinesischem Glauben (den nur Kommunisten und andere böse Zungen "Aberglauben" nennen würden) Unglück brachte, Wasser zu verschütten - es galt als böses Omen für den kommenden Verlust an (nicht nur kulturellem) Reichtum. (Taiwanesen dürft Ihr das natürlich auch erzählen - sie werden dieser Interpretation begeistert zustimmen, und sei es nur, weil sie sich ärgern, daß sie selber immer noch die alten, umständlichen Formen mühsam erlernen müssen :-) Dikigoros hat den viel gelobten Bildungs-Standard "der" Asiaten oft als bloßen Papiertiger kennen gelernt, vor allem in den "großen" Staaten. Er verachtet die Indonesier, die weniger Bahasa können als er selber (obwohl das für die 90%, die es nicht als Muttersprache haben, keine gar so große Schande ist :-). Er verachtet auch die Inder, die weniger Sanskrit können als er (was schon wesentlich trauriger ist, denn seine eigenen Sankrit-Kenntnisse sind recht rudimentär, und doch dürfte das auf ca. 99% der Inder zutreffen. Dikigoros legt übrigens Wert auf die Feststellung, daß er es keinem Tamilen oder Kerali zum Vorwurf macht, wenn er kein Hindi kann - aber das ist eine andere Geschichte.) Am meisten verachtet er jedoch die Chinesen, die weniger Chinesisch lesen und schreiben können als er, denn das ist wirklich ein Kunststück - das indes mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Machtergreifung der Kommunisten und ihrer ach-so-gefeierten Alfabetisierungs-Kampagne noch immer Millionen Volksrepublikaner fertig bringen. PISA ist überall, nicht nur in Europa und Afrika, sondern auch in Asien - selbst in Japan, wo man zunehmend die Kanji- mit Kana-Zeichen unterlegt, damit auch halbe Analfabeten noch ihre BILD-Zeitung und vor allem ihre Manga lesen können; aber die Zahl der Japaner, die weniger Japanisch können als Dikigoros, dürfte dennoch sehr gering sein, obwohl er das wesentlich besser beherrscht als Sanskrit und Chinesisch zusammen. Exkurs Ende.]

Was aber bedeutet das Piktogramm, mit dem "Hàn Sù-yīn" den ersten Teil ihres Nom-de-plume schrieb, denn nun wirklich? Tja, den hat sie recht originell aus zwei Homonymen für "Hàn" zusammen gesetzt, nämlich aus dem ersten Zeichen des Piktogramms "Pinsel" (das auch im Wort "Kalligrafie [Hàn-mô]" enthalten ist) und aus dem ersten Zeichen des Piktogramms "tapfer, mutig" (nämlich dem Herzen, weshalb Dikigoros das sonst mit "beherzt" zu übersetzen pflegt - aber nie mit "hochherzig", wie Han Su-yins Übersetzerin Dorothea Naumann-Preiswerk das aus unerfindlichen Gründen tut :-). Diese Zeichen-Kombination gibt es sonst nicht; es ist ihre ureigenste Erfindung. Darf Dikigoros jetzt noch das Adjektiv hinzu nehmen, das wir eben ermittelt haben? Schließlich spricht ein Pinsel nicht, also kann sich die Einfalt nur auf ihn selber beziehen, kurzum, wir haben es mit einem Einfaltspinsel zu tun - und dieser Name paßt so gut auf Han Su-yin, daß man ihr zu dessen Wahl nur gratulieren kann! Denn mit dem "tapferen [Einfalts-]Pinsel" meinte sie natürlich eine mutige Schriftstellerin - wobei in China wesentlich mehr Mut dazu gehört, in einfältiger Offenheit zu schreiben, denn während man dafür im Westen allenfalls ins Gefängnis "wandern" kann (es sei denn, man heißt Salman Rushdie, hat die iranischen Ayatollahs und Annemarie Schimmel zu [Tod-]Feinden und wohnt in England in einer Stadt mit überwiegend muslimischer Bevölkerung), kann das in China leicht den Kopf kosten. Aber keine Sorge, Han Su-yin - die Dikigoros künftig wieder ohne Betonungszeichen schreibt, aus Gründen der Vereinfachung (das ist seine ganz persönliche Schreibreform :-) - schrieb so brav (im deutschen Sinne des Wortes, nicht im italienischen oder englischen, wo es immer noch "tapfer, mutig" bedeutet) über Rotchina und die Rotchinesen, daß ihr von dort nie Gefahr drohte...

[Destination Chungking] [Brennende Fackel] [Manches Jahr bin ich gewandert]

Und damit kommen wir zu Han Su-yins literatischem Werk. Der Schweizer Verleger Helmut Kossodo wählte 1955 den Titel "Manches Jahr bin ich gewandert" für die deutsche Übersetzung eines Buches, das 1942 auf Englisch als "Destination Chungking" erschienen war, denn der Name jener Stadt sagte den Angelsachsen etwas, weil sich dorthin nicht nur die National-Chinesen - die es vorübergehend zu ihrer Hauptstadt gemacht hatten - vor den angreifenden Japanern zurück gezogen hatten, sondern auch die Engländer und Amerikaner, die von dort aus die Wiedereroberung von Barmā in Angriff nehmen wollten. Aber der chinesische Titel lautet völlig anders, nämlich: "Huo Föng (Brennende Fackel[n])". "Föng" sind genauer gesagt die Leuchtfeuer, die bei Kriegsausbruch aufgestellt wurden, um die Bevölkerung zu alarmieren und die Männer zu den Waffen zu rufen. Und genau das war es, was Han Su-yin und ihren Begleiter - und künftigen Ehemann - Tang Pao-huang 1938 nach China zurück rief. Die Beschreibung dieser Rückkehr mit Hindernissen wurde zum ersten der vielen autobiografischen Romane der Han Su-yin, die ja tatsächlich ein interessantes Leben geführt hat und so viel in der Welt herum gekommen ist, daß man darin eine Fundgrube sonder gleichen vermuten würde. Die Lektüre ist jedoch mehr als enttäuschend: Abgesehen von manchen kurzen Reminiszenzen an die Kindheit dauert die eigentliche "Wanderung" nur drei Jahre - von der Abreise aus Europa 1938 bis zum allmählichen Rückzug vor den japanischen Truppen in China 1941. Auch der deutsche Titel ist also mehr als unglücklich gewählt, zumal jeder Schweizer weiß, daß "Destination" soviel wie "Reiseziel" bedeutet, man das Original also ohne weiteres hätte stehen lassen können - aber dafür kann Han Su-yin natürlich nichts. Wohl aber dafür, daß alles irgendwie abgestanden wirkt, wie aus zweiter Hand. Gewiß, über seine ersten Lebensjahre als Kind hat man vielleicht nicht gar so viele Erinnerungen und läßt sie sich von Eltern oder anderen Verwandten erzählen - aber über die Zeit als 20-30-jährige? Vielleicht mußte sie auch zu viel vertuschen, um aufrichtig oder gar spannend schreiben zu können? Sie stammte ja aus einem großbürgerlichen, "kapitalistischen" Elternhaus - die Familie ihres Vaters hatte einen Tabak-Großhandel, und das war nach dem Opium-Handel so ziemlich das lukrativste Geschäft in China. (Böse Zungen behaupten, das gelte heute noch :-) Wie dem auch sei, "Reiseziel Chungking" war ganz aus der Sicht ihres ersten Ehemannes geschrieben und eigentlich eine Hommage auf Tschiang Kai-shek. (In ihrem Nachwort zur Neuauflage von 1955 distanziert sie sich ausdrücklich von dieser Hommage und hält plötzlich alles an der Kuomintang für schlecht und korrupt - und Taiwan für dem Untergang geweiht. Nicht dagegen distanziert sie sich von dem dümmlichen Spruch, daß Tschungking - oder, wie man es jetzt schrieb, Chongqing - diejenige Stadt gewesen sei, die im Zweiten Weltkrieg am schlimmsten bombardiert wurde. Das mag 1942 noch gestimmt haben, aber schon zwei, spätestens drei Jahre danach nicht mehr. Welcher deutsch-sprachige Leser außerhalb der Schweiz sollte sich schon für jene Schilderungen einiger läppischer Bombardements interessieren, deren Spuren bereits nach jeweils wenigen Tagen so weit beseitigt waren, daß man von einem Bombenangriff kaum noch etwas ahnte?) Nur gelegentlich lugt so etwas wie ein eigener Kommentar durch die Zeilen - meist daran erkennbar, daß er irgend einem anderen Textteil widerspricht.

Und damit kommen wir zu dem, was Dikigoros oben "zwischen den Zeilen lesen" genannt hat. Die offizielle Version des Kurzlebenslaufs der Han Su-yin bis zum damaligen Zeitpunkt lautet, daß sie zwei Jahre lang Schreibkraft an einem Krankenhaus in Peking war, dann zwei Jahre in China und drei weitere Jahre (1935-38) in Brüssel und London Medizin studierte, dann nach China zurück kehrte, um einen General der national-chinesischen Kuomintang-Armee zu heiraten, mit dem sie 1942 nach London ging, als er dort Militär-Attaché wurde. Sie habe dann ihr Medizin-Studium in London abgeschlossen, während ihr Mann nach China zurück gekehrt und 1947 im Kampf gegen Maos Rote Armee gefallen sei. Tatsächlich war das alles etwas anders: Sie hätte wohl gerne Medizin studiert, aber es fehlte ihr ja die Hochschulreife, da sie mit 16 (nach eigenen Angaben schon mit 15 - dazu gleich mehr) Jahren von der Schule abgegangen war. Also ging sie ans amerikanische "P.U.M.C. [Peking Union Medical College]", aber nicht als Schülerin, sondern als Sekretärin; und die Veranstaltungen, die sie zwei Jahre lang an der (ebenfalls amerikananischen) Yen-tsching-Universität belegen durfte, obwohl sie durch die Aufnahmeprüfung gefallen war (wegen ungenügender Leistungen in Chinesisch :-), waren kein Universitäts-Studium, sondern so genannte "Vorbereitungskurse", die, wenn man nach drei Jahren die Abschlußprüfung bestand, zur Aufnahme eines Medizin-Studiums berechtigt hätten. Aber das tat Han Su-yin mitnichten; vielmehr ging sie zwei Jahre später nach Brüssel - angeblich um an der dortigen Universität Medizin zu studieren. Aber auch das stimmt nicht; sie studierte vielmehr Naturwissenschaten [sciences], mit Schwerpunkt Chemie (wobei sie die meiste Zeit nicht im Hörsaal, sondern in politischen Diskussionsrunden und auf Demonstrationen verbracht haben will). Es müssen für sie schlimme Jahre gewesen sein, viel schlimmer, als sie es gut drei Jahrzehnte später in "Blume Erinnerung" beschreiben sollte. (An der Sprache kann es übrigens nicht gelegen haben - Rosalie sprach mit ihrer Mutter Französisch und gab, bevor sie nach Europa ging, russischen Exilanten Nachhilfeunterricht in dieser ihrer Muttersprache, muß sie also einigermaßen perfekt beherrscht haben). Sie machte die "Licence" (ein akademischer Grad, den man an französischen - und belgischen - Universitäten nach drei Studienjahren erwerben kann, irgendwo anzusiedeln zwischen Vordiplom und 1. Staatsexamen fürs Lehramt an deutschen Unis, unterhalb der Maîtrise [Magister-Prüfung]), dann sollte sie nach China zurück kehren, um verheiratet zu werden - mit Tang Pao-huang, dem Sohn eines Kuomintang-Generals, den ihr Onkel von der Militär-Akademie kannte. Han Su-yin stellte es später so dar, als habe sie sich, um dieser arrangierten Eheschließung zu entgehen, nach England schicken lassen, wo sie noch eine Ausbildung als Hebamme absolviert habe. Rein zufällig habe sie dort jenen für sie ausgewählten Ehemann wieder getroffen, der sich als ihr Jugendfreund entpuppte (sie waren als Nachbarskinder aufgewachsen); und weil sie doch eine gute Patriotin sein wollte und auch ihn für einen guten Patrioten hielt, kehrten sie 1938 gemeinsam nach China zurück, weil das Vaterland in Not war, und dort heirateten sie dann. Wer's glaubt... Dikigoros nicht. Pao war ein Offiziers-Anwärter, der wie Rosalie väterlicherseits aus guter Familie stammte (wenngleich beide Stammbäume getürkt waren, wie wir später noch sehen werden), aber - ebenfalls wie sie - das Manko hatte, von einer nicht-ebenbürtigen Mutter abzustammen, nämlich einer Nebenfrau - es war also eine durchaus sinnvolle Wahl. Dieser hoffnungsvolle junge Mann wurde 1935 als einer von nur drei Kadetten seines Jahrgangs ausgewählt, um an der englischen Militär-Akademie in Sandhurst zu studieren. Viel wahrscheinlicher als die offizielle Version ist es also, daß Rosalies Eltern sie 1935 ihre Studien-Vorbereitung in Peking vorzeitig abbrechen ließen, offiziell um ein Studium in Brüssel aufnehmen, tatsächlich aber, um ihrem künftigen Ehemann in England nahe zu sein - sie reiste regelmäßig dorthin, angeblich, um Bekannte zu besuchen, bei denen sie Pao eben nicht "ganz zufällig", sondern vielmehr ganz gezielt traf. Die andere Version - aus "Destination Chungking" -, wonach Rosalie ihr "Medizin-Studium" in Brüssel beendet und ihre Verlobung mit Louis, einem belgischen Advokaten und Luftwaffen-Offizier d.R. gelöst habe, weil sie dem Vaterland im Krieg gegen Japan helfen wollte, und Pao - der sie erst gar nicht wieder erkannt habe - rein zufällig auf dem Dampfer von Marseille nach Hongkong wieder getroffen habe, ist noch unglaubhafter.

Und andere Motive für ihre Rückkehr nach China, d.h. andere als die Begleitung ihres künftigen Ehemannes Pao? In "Blume Erinnerung" schrieb sie etwas von "Gerechtigkeit" und "Freiheit", für die sie kämpfen wollte, die unteilbar sei, weshalb alle Völker der Welt ihrer teilhaftig werden müßten, bla bla bla... Ach, liebe Leser, was ist "Freiheit"? Ein abstrakter Begriff! Konkret muß man immer fragen: "Freiheit wessen wovon wozu?" Des einzelnen von staatlicher Ordnung um zu tun, was er will? Aber wenn jeder einzelne tun und lassen könnte, was er wollte, dann würde das erst zur Anarchie, und dann zur Herrschaft des "Rechts" des Stärkeren führen! Freiheit der einzelnen Staaten von internationalen Verpflichtungen, um "ihre" eigene Politik treiben zu können, wie es ihren Herrschern beliebt? Aber dann hätten wir das gleiche Problem, nur potenziert: Es gäbe permanent Krieg aller gegen alle. Freiheit von Fremdherrschaft? Ja ja, das wünschen sich die Herrschenden - keine "Einmischung in innere Angelegenheiten" nennen sie das. Aber für die Untertanen ist die Unterdrückung durch "eigene" Herrscher objektiv oft viel schlimmer als die durch so genannte "Fremdherrscher"! (Was nicht ausschließt, daß sie die erstere subjektiv dennoch vorziehen. Der große Reiseschriftsteller Richard Katz schrieb in den 1930er Jahren, daß den Eingeborenen Indonesiens die Herrschaft des grausamsten "eigenen" Sultans um vieles lieber wäre als die des mildesten holländischen Gouverneurs; und Dikigoros hat zwar - anders als Katz - kein Verständnis dafür, aber er kann es zumindest verstehen.) Nein, das mit der "Freiheit" ist schwerlich mehr als ein Vorwand aus der Rückschau, gut für europäische Leser, die so etwas lesen - und glauben - wollen. Han Su-yin war wohl einfach (oder mehrfach :-) frustriert, weil sie in Belgien niemand als das anerkennen und achten wollte, was sie war, nämlich eine "Eurasierin". Die einen sagten: "Du dreckige Bastardin [sale métisse] bist keine echte Belgierin", und die anderen sagten: "Du bist keine echte Chinesin, kennst China ja gar nicht, denn Peking ist nicht China." (Ja ja, liebe Leser, und New York City ist nicht Amerika, und Paris ist nicht Frankreich usw., aber dennoch... :-) Und: "Die echten Chinesen denken gar nicht daran, in ein Land zurück zu gehen, wo Krieg herrscht; willst du etwa chinesischer sein als die?" (Ja, das wollte sie - das ist das Fänomen der "150%igen", auf das wir später noch einmal zurück kommen.) Und überhaupt nahmen "die Belgier" ständig Partei gegen die Chinesen und für die Japaner, mit der Begründung, daß die Japaner die Chinesen nur vom Kommunismus befreien wollten. (Behaupteten nicht später auch die USA im Vietnam-Krieg, daß sie die Vietnamesen vor dem Kommunismus retten wollten? fragte Han Su-yin anzüglich.) Und wie verlogen sie das taten: In "La libre Belgique" las sie mal einen Bildbericht über den Krieg, der zeigte, wie freundlich lächelnde japanische Soldaten chinesischen Kindern Bonbons schenkten und böse chinesische Kommunisten erschossen, alles mit äußerst wohlwollenden Kommentaren versehen...

[Ach, liebe Leser, wie sich die Bilder gleichen: 1945 konnte man nicht nur in belgischen Zeitungen Bildberichte über die Endfase des Zweiten Weltkriegs lesen, die zeigten, wie freundlich lächelnde amerikanische Soldaten deutschen Kindern Bonbons schenkten und böse deutsche Nazis erschossen, alles mit äußerst wohlwollenden Kommentaren versehen... Es gibt da nur einen kleinen Unterschied zwischen den nachgeborenen Deutschen und den nachgeborenen Chinesen, die das alles noch nicht persönlich mit erlebt, sondern nur aus ihren Geschichts- und Märchenbüchern erfahren haben: Die dummen Deutschen nehmen das alles für bare Münze und glauben, daß die Alliierten die Deutschen nur vom Nazismus befreien wollten; die Chinesen glauben nichts dergleichen, sondern bestehen auf einer "umfassende Entschuldigung" von den Japanern (welche diese, allen westlichen Zeitungsmeldungen zum Trotz, bis heute nicht abgegeben haben, denn sie selber sehen das ganz anders :-). Sie wissen Bescheid, denn sie selber haben es umgekehrt nicht anders gemacht: So wie die Amerikaner 1945 im Konzentrationslager Dachau Gaskammern errichteten ("zu Museumszwecken", wie sie später kackfrech behaupteten), um den Deutschen vorzuspiegeln, das sei ein Vernichtungslager gewesen (was es im Reich gar nicht gab, sondern nur im "General-Gouvernement"), so bauten die Chinesen in Tibet Folterkammern (ebenfalls "zu Museumszwecken", für leichtgläubige Touristen), in denen gezeigt wurde, wie tibetischen "Sklaven" die Augen ausgestochen und die Fußsehnen zerschnitten wurden - dabei waren (?) das typisch chinesische und völlig un-tibetische Foltermethoden. Das Ergebnis war das gleiche: Die dummen Deutschen fielen auf den Trick herein und nahmen die "Museen" für bare Münze (was in diesem Fall besagen will, daß sie für deren Besichtigung sogar noch Eintritt zahlten!), die Tibeter nicht. Aber das liegt vielleicht an den Büchern...]

Wie dem auch sei, Rosalie und Pao kehrten gemeinsam zurück nach China, heirateten und erlebten ein paar Jahre Krieg mit. (Wobei Rosalie eine Ausbildung zur Hebamme machte - auch deshalb glaubt ihr Dikigoros die in England nicht, jedenfalls hatte sie dort offenbar keinen Abschluß geschafft.) Pao war zwar nie General, sondern zunächst nur (Ober-)Leutnant, wurde aber durch Protektion Tschiang Kai-sheks schnell befördert - binnen vier Jahren bis zum Oberst. Als solcher wurde er 1942 zum stellvertretenden Militär-Attaché in London ernannt, wohin er Anfang 1942 voraus flog. Seine Frau folgte ihm - zusammen mit ihrer Adoptivtochter Yung-mei - auf einer Reise (zumeist per Schiff), über die sie sich leider nie näher ausgelassen hat, über Kalkatta, Bambai, Kapstadt, Kingston/Jamaika, New York City und Washington. Anfang 1945 wurde Pao zurück nach China versetzt, wo er - in Ungnade gefallen, degradiert und an die Front versetzt - 1947 im Kampf gegen die kommunistische "Volksbefreiungs"-Armee Mao Tse-tungs fiel. Han Su-yin war in England geblieben und nahm - angeblich - zum dritten Mal ein Medizin-Studium auf, das sie 1948, "nach nur zweidreiviertel Jahren" abschloß. Danach soll sie 15 Jahre lang als Ärztin gearbeitet haben. Aber auch das stimmt nicht. Nach eigenen Angaben besuchte sie zunächst - ab September 1944 - Vorbereitungskurse in Anatomie, Biochemie und Fysiologie an der Hunter Street School of Medicine, bestand dann - im März 1945 - die Aufnahmeprüfung zur London School of Medicine und legte dort im Januar 1948 ihr Examen ab. Nun konnte - und kann - man aber an der "Imperial College of London School of Medicine", wie sie vollständig heißt, gar nicht Medizin studieren, sondern lediglich "biomedizinische Wissenschaften" ("biomedical science", heute bisweilen auch "health science" genannt). Das ist ein Zwischending aus Medizin und Farmazie - für eine ehemalige Chemie-Studentin und Hebamme also genau das richtige. Das Lernpensum im Grundstudium entspricht in etwa dem einer Labor-Assistentin (oder, wie das heute heißt, "medizinisch-technische Laborassistentin") in Deutschland; aber in den angelsächsischen Ländern gilt das nicht als Lehrlings-Ausbildung ("Lehrlinge" bzw. "Azubis" im deutschen Sinne gibt es dort bis heute nicht), sondern als Studium: Man kann in sechs Jahren einen echten "Doktor" in B.[M.]S. machen und in vier Jahren einen "Master" - in drei (bzw. zweidreiviertel) Jahren allerdings nur einen "Bachelor" - und genau das tat Rosalie denn auch. (Das ist etwas mehr als das deutsche "Physicum" - für Nicht-Mediziner: die Zwischenprüfung, die das Grundstudium abschließt -, da dieser unterste akademische Grad in angelsächsischen Ländern bereits zu einer Tätigkeit als Hilfsarzt berechtigt; und genau diese Tätigkeit übte Han Su-yin von Januar bis Dezember 1948 in London aus. Und wie man bei uns auch den nicht-promovierten Arzt selbstverständlich nicht mit "Herr Medizinmann", sondern mit "Herr Doktor" anredet, so gebrauchen Chinesen die Bezeichnung "Shì" noch großzügiger. Ursprünglich bedeutete sie wohl "Gelehrte[r]" im weitesten Sinne, d.h. eine Person, die etwas gelernt hatte; im alten China bezeichnete sie den Bachelor - so steht es noch in Dikigoros' Wörterbuch -, im "modernen" China - und in Japan - den promovierten Doktor. Aber in Rotchina wird schon die Krankenschwester als "Hù-shì [Pflege-Doktor]" bezeichnet; der Betrug beginnt also streng genommen erst, wenn sie im Westen ein "Dr." vor ihren Namen setzt.) Damit ging sie im Januar 1949 nach Hongkong. Das war nun freilich keine echte "Rückkehr", denn in Hongkong hatte sie nie zuvor gelebt - es nur einmal kurz auf der Durchreise gestreift. (Sie fühlte sich als "Nordchinesin" und verachtete die Südchinesen im allgemeinen und die Kantonesen im besonderen, erstens weil die so klein waren und zweitens weil sie kein "Chinesisch" sprachen.) Aber es war halt die einzige Möglichkeit, unter englischem Schutz in China zu leben - denn in der kommunistischen Volksrepulik war der Teufel los und an der Macht; da hätte sie als Witwe eines "nationalistischen Militaristen" nicht lange zu leben gehabt. Sie arbeitete für die britischen Kolonialherren in Hongkong, als Sanitäts-Ärztin (also das, was in Deutschland ein nicht-studierter Fachoffizier unterhalb des - studierten - Stabsarztes ist; Dikigoros war selber "nur" Sanitäter und versteht nicht, warum jemand, der doch eine nützliche und manchmal viel sinnvollere Tätigkeit ausübt als so mancher studierte Stabsarzt, diese Tätigkeit derart verleugnen kann und sich einen falschen akademischen Grad zulegt - wen will sie damit beeindrucken?), allerdings nicht im Militär-, sondern im Polizeidienst, dem damals die Aufgabe zufiel, die vielen Flüchtlinge aus Rotchina notdürftig medizinisch zu versorgen, bevor sie entweder aufgenommen oder abgeschoben wurden. Und über diese Zeit schrieb sie ihr zweites Buch.


Zehn Jahre lang hatte Han Su-yin, beleidigt (oder, wie sie später schrieb, von Minderwertigkeits-Komplexen gequält), weil ihr Erstlingswerk ein Ladenhüter geworden war - was niemanden, der "Destination Chungking" gelesen hat, ernsthaft verwundern kann -, nichts mehr geschrieben. Doch dann, 1952, gelang ihr völlig überraschend ein Bestseller: "A Many-Splendoured Thing [Ein viel glänzendes Ding]" lautete der englische Titel, der französische entsprechend "Multiple splendeur". Warum für die deutsche Übersetzung der Titel "Alle Herrlichkeit auf Erden" gewählt wurde, weiß der Geier. (Der Schlager mit dem Titel "Die Liebe ist ein seltsames Spiel" war noch nicht erschienen, eine Plagiatsklage wäre also nicht zu befürchten gewesen :-) Es ist ein Zitat aus dem vorletzten Kapitel des Buches, genauer gesagt aus dem letzten Brief des Reporters aus Korea, der seine Geliebte in Hongkong erst erreicht, als sie schon von seinem Tode erfahren hat, was dem ganzen eine romantisch-tragische Note verleiht; aber ansonsten ist der Inhalt - wie eigentlich immer bei Han Su-yin - eher enttäuschend: Halt eine Liebesgeschichte zwischen einer chinesischen Ärztin und einem englischen Reporter, der am Ende im Korea-Krieg umkommt, eine kaum verhüllte Autobiografie der Autorin. Wohlgemerkt, liebe Leser, die Geschichte der Liebe zwischen einer verwitweten Chinesin und einem verheirateten Engländer könnte durchaus den Stoff für einen interessanten Roman abgeben, obwohl (oder gerade weil :-) damals die bloße Idee des Ehebruchs in England wie auch der Wiederverheiratung einer Witwe in China ein - ganz und gar nicht glänzendes - Ding der Unmöglichkeit schien. Aber Dikigoros bezweifelt, daß eine Chinesin - oder überhaupt eine Asiatin - dazu in der Lage ist; denn die Vorstellung der romantischen Liebe zwischen Mann und Frau war dem Fernen Osten nicht nur damals noch völlig fremd, sondern ist es bis heute weitgehend geblieben. (Damit will Dikigoros kein Werturteil abgeben, sondern nur eine Feststellung treffen :-)

Darf Dikigoros Euch wieder zu einem kleinen filologischen Exkurs einladen und Eure Aufmerksamkeit auf den chinesischen Titel dieses Werkes lenken? Man könnte ihn übersetzen mit "Was vom Frühling blieb". Ja, warum nicht, schließlich haben sich die beiden im Frühling kennen gelernt, und am Ende bleibt halt das, woraus das chinesische Piktogramm für "übrig bleiben" passenderweise besteht: ein von zwei Speeren durchbohrter Leichnam. (Das war vor der rot-chinesischen Rechtschreibreform, bei der jenes Zeichen "vereinfacht" wurde, indem man die beiden Speere zu einem etwas längeren zusammen faßte - in dieser Form werden wir ihm später wieder begegnen.) Aber wie schon bei "Han Su-yin" ist es das erste Zeichen, das unser besonderes Interesse verdient: "Frühling" - vordergründig die Jahreszeit, in der die Sonne scheint - steht auch für Sex, wohlgemerkt nur für fysischen Sex, nicht für romantische Liebe: Han Su-yin nennt ihren ältesten Bruder (der auf Französisch nach dem Großvater mütterlicherseits "Georges" heißt) auf Chinesisch "Sohn des Frühlings" - aber vom Frühling hat noch niemand einen Sohn bekommen; "den Frühling verkaufen" ist die blumige Umschreibung für "auf den Strich gehen", "Frühlings-Bilder" meint Pornografie usw. Und Han Su-yin macht ja keinen Hehl daraus, daß sie Mark vor allem sexuell verfallen ist, d.h. wegen seiner hervorragenden Leistungen im Bett, die sie von ihrem ersten - chinesischen - Mann nicht gewohnt war, obwohl sie sich eigentlich schämt, als "anständige Chinesin" ein Verhältnis mit einem langnasigen ausländischen Teufel zu haben, noch dazu als ehrbare Witwe mit einem verheirateten Mann. Und was war es nun, das blieb? Normalerweise Kinder, aber in diesem Fall halt nur ein paar Briefe - und ein Buch.

Warum wurde dieses Buch - das nicht besser ist als ihre meisten anderen Bücher auch (also ziemlich schlecht :-) - so ein großer Erfolg? Nun, sicher in erster Linie wegen der ausgezeichneten Verfilmung von Henry King, deren Titel noch die Worte "Love is [Liebe ist]" voran gestellt wurde, um auch unbedarften Kino-Gänger[innen] zu verdeutlichen, um was es ging (manche Gänschen wären sonst vielleicht nicht hin gegangen, weil sie eine Art Schleichwerbung für Putzmittel erwartet hätten :-), mit William Holden und Jennifer Jones in den Hauptrollen. Nanu, eine Weiße spielte die Chinesin? Warum das? Nun, es handelte sich um eine US-Produktion (wie Ihr auch daran seht, daß es nicht mehr "splendoured", sondern "splendored" heißt, ohne "u", und daß die Frau vor dem Mann kniet, nicht umgekehrt, wie noch auf dem Buch-Cover :-), und damals gab es dort noch keine Gesetze über die Gleichheit der Rassen und ähnlichen Firlefanz. In den USA herrschte vielmehr strenge Segregation, und auf Miscegenation [Rassenschande] stand Gefängnis; wenn es ein farbiger Mann mit einer weißen Frau trieb, nicht unter einem Jahr - es war also ein Schwerverbrechen -; umgekehrt war es weniger schlimm; gleichwohl mußte die weibliche Hauptrolle von einer Weißen gespielt werden. (An dieses ungeschriebene Gesetz sollte sich Hollywood noch Jahrzehnte lang halten, bis 1992, als es in "Bodyguard" mit Kevin Costner und Whitney Houston erstmals gebrochen wurde.) Dennoch galt der Film 1955 als so verrucht wie 17 Jahre später "Deep throat" mit Linda Lovelace, und er wurde ein ähnlicher Renner, der die Verkaufszahlen des Romans, die zunächst drei Jahre lang so vor sich hin dümpelten, mit in die Höhe riß.

Wenn man Han Su-yin glauben darf, hatte sie sich echte Mühe gegeben, um ihren "Mark" zu heiraten; sie reiste sogar nach Szetschuan, um die Zustimmung ihrer Familie zur Wiederheirat einzuholen, während "Mark" nach England flog, um seine Frau zur Scheidung zu überreden. (Damals ging das noch nicht so einfach und einseitig wie heute.) Es muß eine peinliche Angelegenheit gewesen sein; denn ihre Verwandten - die ja von "Mark" noch nichts wußten, bereiteten ihr zunächst einen besonders herzlichen Empfang, weil sie sie für eine so vorbildliche, keusche Witwe sei, die nicht im Traum an Wiederverheiratung dachte. Von einer anständigen chinesischen Ehefrau erwartete man traditionell, daß sie beim Tode ihres Mannes Selbstmord beging, oder aber - wenn Kinder vorhanden waren - zumindest nicht wieder heiratete, geschweige denn außereheliche Affairen hatte, schon gar nicht mit verheirateten Männern, und erst recht nicht mit Ausländern. (Habt Ihr, liebe Leser, mal irgendwo gehört oder gelesen, daß das eine indische Besonderheit [gewesen] sei? Täscht Euch nicht - Asiaten denken da ganz nüchtern und praktisch. In Japan wurde noch vor wenigen Generationen auch von männlichen Witwern, die sich nicht mehr selber versorgen konnten, erwartet, daß sie Selbstmord begingen, um der Verwandtschaft nicht zur Last zu fallen - und zwar nicht so einfach und primitiv wie auf dem Scheiterhaufen, mit einer Kugel oder einem Strick, sondern langsam und qualvoll, aber in einem Akt von Würde und Selbstbeherrschung: indem sie auf einen hohen Berg stiegen und sich dort zu Tode hungerten. Und über die indische Variante schreibt Dikigoros an anderer Stelle mehr.) Die lieben Verwandten müssen aus allen Wolken gefallen sein; aber letztlich erteilten sie ihre Zustimmung - wohl wissend, daß ein Veto nicht mehr verbindlich war, die Zeiten hatten sich halt geändert. Gleichwohl zerschlug sich das Heirats-Projekt, da Marks Ehefrau ihre Zustimmung zur Scheidung verweigerte, so daß es eine rein hypothetische Frage ist, was Han Su-yin bewogen hätte, ihre Hemmungen - die sie zweifellos hatte - zu überwinden? Was bewegt eine Asiatin, einen Mann aus dem Westen zu heiraten? Daß er gut im Bett ist? Nun ja, da soll es auch Asiaten geben... Daß er reich ist? Gewiß, selbst unter asiatischen Frauen, die nach außen lautstark ihren Patriotismus und ihre Fremdenfeindlichkeit hinaus posaunen, gilt, sobald die Trauben nicht mehr zu hoch hängen, oft der Satz: "Ami go home - and take me with you [Ami geh nach Hause - und nimm mich mit]"! (Daß dabei auch "Sleepless in Seattle" oder "Jobless in Germany" heraus kommen kann, wissen sie ja noch nicht :-). Aber Han Su-yin hatte sich zweifellos etwas dabei gedacht: "Mark" war in Peking geboren, hatte Jahre lang in China gelebt und gearbeitet, verstand etwas "Mandarin", hatte nichts gegen Chinesen (obwohl er sie kannte - oder zu kennen glaubte :-) und war sogar bereit, mit ihr auf Dauer nach Rotchina über zu siedeln. (Was freilich darauf hindeutet, daß er China und die Chinesen doch nicht so gut kannte, wie er ihr weis zu machen suchte - halt die weit verbreitete Überheblichkeit von Auslands-Reportern, die glauben, wenn sie ein paar Jahre im Elfenbeinturm ihres 5-Sterne-Hotels sitzen und regelmäßig Zeitung lesen, schon Land und Leute zu "kennen".)
(...)

Da "Alle Herrlichkeit auf Erden" das bekannteste Buch der Han Su-yin ist und viele Hobby-Biografen kein anderes von ihr gelesen haben, glauben einige, sie sei in Peking geboren; sie schrieb nämlich an einer Stelle, daß sie das mit Mark Elliott (hinter dem sich übrigens Ian Morrison - Schwager der einst berühmten und heute so gut wie vergessenen deutschen China-Fotografin Hedda Hammer - verbergen soll) gemeinsam habe - aber das ist offensichtlich falsch. Und noch etwas stimmt nicht mit ihrer Geburt - damit kommen wir auf den ersten und wichtigsten Punkt, weshalb Dikigoros meint, daß sie eine halbe Lolo (also tibetischer Abstammung), nicht - wie sie immer wieder behauptete - eine halbe Hakka war. (Weitere Anhaltspunkte werden im Absatz über "Der verkrüppelte Baum" folgen.) Habt Ihr, liebe Leser, Euch mal mit dem chinesischen Kalender, genauer gesagt den vielen asiatischen Kalendern, beschäftigt? Wenn nicht, dann ist es jetzt an der Zeit. Ein junger Hakka-Chinese namens Ding Jiandong hat es auch getan; und Dikigoros darf voraus schicken, daß er völlig unverdächtig ist, denn er hält Han Su-yin für eine Landsfrau und ist ihr wohl gesonnen; außerdem hat er zwar die entscheidende Frage aufgeworfen, die Antwort aber nicht gefunden. Han Su-yin schrieb, daß sie im Jahre 1917 geboren wurde, am Tag des chinesischen "Festes der Herbstmitte". Dieses Fest gibt es überall in Asien (es hat sogar den Kommunismus überdauert), als Erntedankfest, Fest der Ahnenverehrung und Fest der Orakel (die auf Zettelchen in kleinen "Mondkuchen" eingebacken wurden, wie Ihr sie heute noch bisweilen in asiatischen Restaurants zum Nachtisch gereicht bekommt - und wenn Ihr denkt, da stünde doch nur dummes Zeug drauf, tröstet Euch: Es ist immer noch origineller als das eintönige "Tötet die langnasigen ausländischen Teufel", das in Rotchina durchweg drauf steht - zum Glück können die Betroffenen es ja meist nicht lesen :-). Heute wird es meist um den 18. September herum gefeiert ("Chusok" in Korea am 17., "Chung chiu" in China und Tet Trung Tu in Vietnam am 18., und "Akimatsuri" in Japan am 19. - im Kanji für letzteres kann man übrigens diese alten Bedeutungen noch alle wunderschön beisammen sehen: Getreide, Feuer, Kniebeugen, Anschauen - die Bilder der Ahnen wurden angeschaut, wie die Götterbilder beim indischen "Darschan"); aber das macht überhaupt keinen Sinn. Ursprünglich wurde es in der Nacht des hellsten Vollmonds im Jahr gefeiert, und das war nach dem Mondkalender der 15. Tag des 7. Monats - an einem solchen Tag geboren zu werden, war natürlich ein glückliches Omen sonder gleichen. Nun sind die Tage des Mondkalenders, nach dem damals in China noch gerechnet wurde, gegenüber dem Sonnenkalender zwangsläufig variabel, d.h. das "echte" Datum ist weder der 17. noch der 18. noch der 19. September, sondern es schwankt zwischen vielen möglichen Tagen von Anfang September bis Anfang Oktober. Für das westliche Jahr 1917 kommen zwei chinesische Jahre in Betracht: Das Jahr des Drachen (3.2.1916 - 22.1.1917) und das Jahr der Schlange (23.1.1917-10.2.1918), jeweils im 5. Teilzyklus des 76. Zyklus chinesischer Zeitrechnung. [Ein Teilzyklus umfaßt 12 Mondjahre, die nach Tierkreiszeichen benannt sind; ein Zyklus umfaßt 5 Teilzyklen, die nach Kombinationen aus den 12 Tierkreiszeichen und den fünf Elementen Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser benannt sind, also jeweils 60 Jahre umfassen.] Nun hat Ding Jiandong einfach mal nachgeschlagen und dabei festgestellt, daß das Erntedankfest 1917 gar nicht auf den 12., sondern auf den 7. September fiel - Han Su-yin muß ihr Geburtsdatum also falsch angeben haben! Nun schloß unser braver Ding ganz simpel, daß sie folglich am 12. September 1916 geboren sein müsse, denn das Mondjahr ist ja durchschnittlich um fünf Tage kürzer als das Sonnenjahr, also brauchen wir nur vom 7.9.1917 an 360 Tage zurück zu zählen, und wir sind sind da - voilà!

Aber ganz so einfach ist es nicht. Ding Jiandong hat zwar richtig bemerkt, daß etwas mit Han Su-yins Geburtsdatum nicht stimmt, und damit ein wahres Ei des Kolumbus aufgeschlagen (natürlich hätte das jeder gekonnt, der es nachgeprüft hätte - aber auf die Idee, das zu tun, mußte man erstmal kommen!), und er hat im Ergebnis auch Recht. (Han Su-yin "verplappert" sich an einer Stelle in "Sommer ohne Vögel" selber einmal, als sie gedankenlos schreibt, bei ihrer Bahnfahrt von Peking nach Brüssel anno 1935 sei sie 19 Jahre alt gewesen. Wenn sie Jahrgang 1917 wäre, hätte sie damals entweder 18 oder [noch] 17 Jahre alt sein müssen; um 1935 das 19. Lebensjahr vollendet zu haben, muß sie entweder Jahrgang 1916 oder Jahrgang 1915 gewesen sein. Und in "Blume Erinnerung" eiert sie furchtbar herum, um zu erklären, warum sie 1931, als sie Sekretärin im P.U.M.C. wurde, angeblich erst knapp 15 Jahre alt war, obwohl man dort erst mit 16 angestellt werden konnte; angeblich hatte sie denen etwas von einer abweichenden chinesischen Altersberechnung erzählt - als ob die das nicht nachgeprüft und sich auf einen solchen Schmu eingelassen hätten!) Aber auf dem Weg dorthin ist ihm ein Fehler unterlaufen, der ihn davor bewahrt hat, die letzten Konsequenzen dieses Ergebnisses zu erkennen - was vielleicht ein Glück ist, denn sonst hätte er als guter Hakka-Chinese seine Entdeckung womöglich lieber für sich behalten als sie ins Web zu setzen. Das chinesische Erntedankfest fiel nämlich auch 1916 nicht auf den 12. September, denn 1916 war ein Schaltjahr; und da der Mondkalender nicht bloß jeweils einen Tag einschaltet, wie der Sonnenkalender, sondern gleich zwei bis drei Wochen, war jenes Schaltjahr nicht 360, sondern 381 Tage lang (deshalb hat Euch Dikigoros oben die exakten Daten angegeben - wenn Ihr ihm nicht glaubt, könnt Ihr sie hier nachprüfen), und der 15. Tag des 8. Monats fiel folglich auf den 17. September! Was nun? Hat Han Su-yin nicht nur ihr Geburtsjahr, sondern auch ihren Geburtstag falsch angegeben? Und wozu? Um sich ein Jahr jünger zu machen? Lächerlich, das lohnt doch gar nicht, außerdem wäre das typisch westlich gedacht - in Asien gilt noch nicht der Jugendwahn, sondern der Alterswahn, da macht man (und frau :-) sich eher ein paar Jährchen älter als jünger! Was käme sonst als Motiv in Frage? Daß Han Su-yin nicht im Jahr des Drachen, sondern der Schlange geboren sein wollte? Ebenso lächerlich! Die Lösung muß woanders liegen - liegt sie auch, und zwar im tibetischen Kalender. Was, werden die Sinologen sagen, der alte tibetische Mondkalender - Tsànglì[fă] - ist doch der gleiche wie der alte chinesische, die Probleme mit dem Geburtsdatum wären also die gleichen, oder? Fast, liebe Leser, aber eben nur fast. Wenn Ihr mal in Ladakh wart - wo sich, anders als im chinesisch besetzten Teil Tibets, noch viele alte Bräuche erhalten haben -, und zwar nach Möglichkeit bevor man dort die alten folkloristischen Feste im Dienste des Touristennepps um 1-2 Monate in den Sommer vorverlegt hat, wenn noch alle Paßstraßen von und nach Indien geöffnet sind, dann wißt Ihr, daß es mehrere Richtungen des tibetischen Buddhismus gibt (von denen die "Gelbmützen" - denen u.a. der "Dalai Lama" angehört - nur die bekannteste ist), die einige ihrer Feste traditionell an unterschiedlichen Tagen feiern. Eines dieser Feste ist das Erntedankfest, das z.B. in Mulbekh - wie in China - am 15. Tag des 7. Monats gefeiert wird, aber in Shey am 10. Tag, also 5 Tage früher. Diese Abweichung gibt es wiederum nur bei den Tibetern, und sie erklärt, warum Han Su-yin durchaus am 12. September 1916 geboren sein kann - allerdings nur, wenn ihr Vater kein Hakka-Chinese war (denn die feierten das Erntedankfest 1916 wie die Chinesen am 17.9.), sondern ein Lolo, und zwar einer der Richtung, die das Erntedankfest am 10., nicht am 15. Tag des 7. Monats feierten. Daß Han Su-yin tatsächlich am Erntedankfest geboren ist, glaubt ihr Dikigoros ohne weiteres - so etwas denkt man sich nicht aus. Nun wollte sie aber keine Lolo, sondern eine "echte" Han-Chinesin sein (sie glaubte ja, daß auch die Hakka dazu zählten), also konnte sie schlecht zugeben, daß sie am Tage des tibetischen Erntedankfestes geboren wurde; und daß der 12.9.1916 nicht auf das chinesische Erntedankfest fiel, hätte früher oder später jemandem auffallen können. Was tat sie also? Sie machte es wie unser guter Ding Jiandong, nur in umgekehrter Richtung: Sie übersah, daß 1916 ein Schaltjahr war, zählte einfach vom 17.9.1916 - dem Datum des chinesischen Erntedankfestes - an 360 Tage weiter, kam so auf den 12. September 1917, und fortan gab sie den als ihr Geburtsdatum an - voilà. Sie merkte nicht, daß der 12. September auch 1917 nicht das Datum des Erntedankfestes (weder des chinesischen noch des tibetischen :-) war, und 85 Jahre lang hat es auch sonst niemand gemerkt - nicht mal Dikigoros. (Danke, Ding!) Kompliziert, liebe Leser? Sicher - nicht umsonst ist noch niemand zuvor der Han Su-yin in diesem Punkt auf die Schliche gekommen. Unglaubhaft? Bitte - liefert Dikigoros eine bessere Erklärung für das falsche Geburtsdatum; er freut sich schon auf die Diskussion (aber bitte nicht auf dem Niveau gewisser "Wikipedianer" wie "Babelfisch", deren "Argumentation" sich darauf beschränkt, Dikigoros zu unterstellen, seine Seiten seien "pornografisch" :-).

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Als "Alle Herrlichkeit auf Erden" auf den Büchermarkt kam, lebte Han Su-yin schon in Johore Baharu in Malaya. (Damals war das - wie Hongkong und Singapur - noch eine britische Kolonie.) Warum und wann genau sie dorthin gegangen war, ist Dikigoros nie ganz klar geworden. Angeblich hatte sie immer nach Rotchina gehen wollen, um "ihrem" Volk beim Wiederaufbau zu helfen und sich deshalb nicht fest an "Mark Elliott" binden wollen, den langnasigen ausländischen Teufel. Und dann heiratete sie in zweiter Ehe ausgerechnet Leonard Comber, einen Briten französischer Abstammung! (Letzteres war praktisch für sie, denn mit der englischen Sprache stand sie - was immer sie später behaupten sollte - immer noch auf Kriegsfuß auch mit "Mark Elliott" hatte sie Französisch gesprochen, und selbst die dem deutschen Titel zugrunde liegende Wendung ist eine französische: "Tout le bonheur sur la terre..." Dennoch - oder vielleicht gerade deshalb - ist der Film in Frankreich unter einem ganz anderen Titel gelaufen: "La colline de l'adieu [Der Hügel des Abschieds]".) Wenn man dem Verleger ihres nächsten Buches - "... und der Regen mein Trank" - glauben darf, geschah dies am 1. Februar 1952, und erst danach ging sie mit ihm nach British Malaya, genauer gesagt nach Singapur, wo sie sich als Ärztin nieder ließ. Für wahrscheinlicher hält es Dikigoros allerdings, daß sie bereits 1950 alleine nach Malaya ging, und zwar gleich nach Johore Baharu, gegenüber Singapur an der Südspitze der Halbinsel Malakka gelegen, und ihren Mann dort kennen lernte. Der war Superintendent (Hauptkommissar) bei der Geheimpolizei (ein Dienstgrad, den eine echte Ärztin mit einem englischen Dr.-Grad niemals geheiratet hätte - das wäre unter ihrer Standeswürde gewesen); und auch sie selber arbeitete wieder - wie schon in Hongkong - im britischen Polizeidienst: So wie Rosalie Tang dort die Flüchtlinge aus Rotchina untersucht hatte, so untersuchte nun "Dr. Elisabeth Comber", wie sie sich fortan mit bürgerlichem Namen nannte (die "Rosalie" begrub sie endgültig, als in British Malaya die lächerliche Jazz-Schnulze "Oh how I love you, Rose, Rose, I love you" ein Hit wurde :-), von den Briten aufgegriffene chinesische Untergrund-Kämpfer, bevor sie ins KZ Todak eingeliefert wurden.

Exkurs. Woher Han Su-yin den Vornamen "Elisabeth" (bisweilen auch "Elizabeth", also englisch, geschrieben, aber die belgische Version schreibt sich korrekt mit "s") hat, weiß Dikigoros nicht. Bleiben noch "Claire" und "Kuāng-hú" - oder, in "moderner" Transkription (die Han Su-yin selber nicht teilt - sie kürzt sie "C.K." ab und fügt sie zwischen "Elisabeth" und "Comber" ein), "Guāng-hú". Auch die sind den meisten Lesern ein Rätsel, zu dessen Aufklärung die Autorin nicht gerade beigetragen hat. Sie selber übersetzt ihren Namen als "Eingeladene [Gast] des Mondes" - und das würde natürlich gut zu ihrem Geburtstag am Vollmond passen; aber die filologischen Fakten tragen eine solche Interpretation schwerlich. Kluge Leute, die es besser zu wissen glauben, übersetzen ihren Namen mit "glänzender See". In der Tat kann "kuāng" glänzend, strahlend, kurz "splendo[u]red" heißen, und "hú" See. Nun bestreitet Han Su-yin aber, daß "guāng" etwas mit dem Adjektiv "glänzend" zu tun habe; es handele sich vielmehr um ihren Familien-Namen (Hsìng, heute "Xìng" geschrieben); ihr eigentlicher Vorname sei Hú - und das beliebt sie halt mit "Gast des Mondes" zu übersetzen. Das ist interessant und zeigt, daß sich die klugen Leute geirrt haben müssen. Deren Interpretation setzt nämlich voraus, daß man "Hú" mit den Zeichen für "Wasser", "alt" und "Mond" schreibt (also etwa "stehendes Gewässer, in dem sich der Mond spiegelt"); man kann es aber auch ohne das Zeichen für Wasser schreiben, und dann bedeutet es - "Gast[Volk]". Nanu - hatten wir das nicht schon mal? Ja, bei den Hakka - auch das bedeutet "Gast[Volk]" - aber eben ein anderes. "Hú" bezeichnet ein Volk aus dem Westen - und welches könnte das wohl sein? (Nein, liebe Leser, bitte nicht mit den [H]Ui[guren] verwechseln - die gelten nicht als "Gastvolk", sondern als "Fremdländische"!) Aber erliegt Dikigoros da nicht einem Denkfehler? Wenn doch gar nicht "Hú", sondern "Kuāng" der Familienname ist? Aber seht Ihr, genau das stimmt nicht - und Han Su-yin hat sich mal wieder an einer Stelle verplappert, nämlich als sie erklärt, daß die Namen in Szetschuan umgekehrt geschrieben werden wie in Han-China (wo man also "Hú-kuāng" schreiben würde), und das deutet darauf hin, daß in Wahrheit nicht Kuāng, sondern Hú der Familienname ist. Als solcher zählt er denn auch zu den 50 häufigsten "Xìng", den knapp ein Prozent der rotchinesischen Staatsbürger tragen - auch das kommt hin. Dann bleibtalso für "Kuāng" nur die Funktion des Vornamens. Welcher Vorname das sein soll? Na - wie würdet Ihr denn "Claire" ins Chinesische übersetzen, zumal wenn Ihr so darauf erpicht wäret, es mit "Mondschein" [auf Französisch: "clair de lune"] in Verbindung zu bringen? Eben! Bleibt noch der erste Namensbestandteil - den Dikigoros bewußt "Tschou" schreibt - nicht "Tschu", wie es ihre frühesten deutschen Übersetzer[innen] noch taten: Der chinesische Vokal "u" wird bisweilen als "ü" ausgesprochen, wofür es natürlich irgendwelche Regeln gibt, je nachdem welchem Konsonant er folgt. Die sind auch für alle Laute nachvollziehbar, nur nicht - für das "tsch": Wenn es mit heutigem "ch" transkribiert wird, ist die Aussprache "u", wenn es mit heutigem "q" transkribiert wird, ist sie "ü" - das verstehe wer will, Dikigoros nicht. Er hegt vielmehr den Verdacht, daß es sich gar nicht um den Laut "u" handelt (auch wenn er in den französischen Fassungen "ou" geschrieben wird), sondern vielmehr um ein "óu". Warum? Nun, liebe Leser, nehmt mal an, Ihr wäret ein "Lolo" und müßtet - oder wolltet - diese Eure (tibetische) Herkunft verschleiern, indem Ihr einen chinesischen Namen annehmt. (Han Su-yin macht keinen Hehl daraus, daß ihr "erster Großvater" väterlicherseits den Namen seines Clans änderte.) Welchen Namen würdet Ihr wählen, wenn Ihr in Tschöngtu leben würdet, dem Endpunkt der Tibet-/Seiden-Straße? Dikigoros würde sich für "Tschóu" entscheiden, denn das bedeutet - Seide. Exkurs Ende.

Ins KZ? Ja, in British Malaya herrschte seit 1948 Ausnahmezustand; denn es gärte in ganz Südostasien: Die japanischen Besatzer, die "gelben Teufel", waren zwar nach dem verlorenen Weltkrieg abgezogen, aber vorher hatten sie boshafterweise noch überall den Eingeborenen die Unabhängigkeit versprochen. Und deshalb wollten die letzteren gar nicht einsehen, weshalb nun ihre ehemaligen Kolonialherren, die "roten Teufel" wieder die Herrschaft übernehmen sollten. Auf den Filipinen wollte niemand die Amerikaner zurück, in Indochina niemand die Franzosen, in Indonesien niemand die Holländer und in Malaya niemand die englischen "Schweineschnauzen", wie Han Su-yin sie nennt. Was in allen anderen der vorgenannten Ländern selbstverständlich erscheinen mag, nämlich das "niemand", bedarf in Malaya der genaueren Aufschlüsselung, denn auf der Halbinsel Malakka saß ein buntes Gemisch aus überwiegend chinesischen, malayischen und indischen Völkern und Stämmen, die sich nur in dem einen Ziel einig waren, die Engländer los zu werden - für die Zeit danach hatte alle ihre eigenen Vorstellungen. Han Su-yin schreibt zwar, daß sie aus jenen drei "Wörtern" [sic!] eine neue Nation schmieden wollten, nämlich "das Volk von Malaysia"; aber aus der Feder einer Person, deren Muttersprache Französisch ist, liest sich das wie eine "Freud'sche Fehlleistung", denn "forger" bedeutet (ebenso wie das englische "to forge") nicht nur "schmieden", sondern auch "fälschen"; und was dabei heraus kommt, heißt auf Französisch "la Malaisie" - die Malaise. (Erinnert Ihr Euch noch, liebe Ossis, wie Ihr Euren letzten Minister-Präsidenten, den braven IM Lothar de Maizière, genannt habt? Eben - die Misere :-) Tatsächlich sahen sich die Malayen als die einzig wahren "Söhne der Erde [Bumiputra]" und wollten die Herrschaft für sich alleine - für sie bedeutete "Merdeka" (Han Su-yin schreibt "Mirdéka", was zwar nicht korrekt, aber aus französischer Sicht gar nicht so dumm ist, denn das kurze "e" in geschlossener Silbe wird zum "i" hin gesprochen, das "e" in offener Silbe ist geschlossen, spricht sich also wie ein französisches "é" - der Akzent hat nichts mit der Betonung zu tun, die liegt in beiden Sprachen auf der letzten Silbe) die Freiheit, alle Nicht-Malayen zu unterdrücken und zu bevormunden und ihnen insbesondere den allein selig machenden Glauben, den Islam, aufzuzwingen. Die Chinesen dagegen (meist Kantonesen oder Hakka) wollten Autonomie; und die Inder (meist Tamilen und "Orang Keling" [bei Han Su-yin "Orang Kling"] - Verballhornung von Kaling[a], aber über das traurige Schicksal jenes Volkes aus dem heutigen Urīsā ["Orissa"] schreibt Dikigoros an anderer Stelle mehr) versprachen sich zumindest Religionsfreiheit - unter den Briten waren sie, wie auch in ihrem Heimatland Indien, in Ost- und Südafrika, als "Heiden" und "Götzendiener" diskriminiert worden. (Die Briten hielten es im Zweifel immer und überall - in Palästina, in Indien und eben auch in Malaya - mit den Muslimen, weil sie sich denen als "Monotheïsten" glaubensverwandt fühlten - von dieser Narretei kam im 20. Jahrhundert mehr Unglück über die Welt als von jedem anderen Irrglauben.) Sie hätten gebrannte Kinder sein müssen nach allem, was kurz zuvor bei der Entlassung Britisch-Indiens in die Unabhängigkeit geschehen war; aber wer will das schon wahr haben...

Die Briten dachten vorerst gar nicht daran, Malaya mit seinen wertvollen Zinnminen und Gummibaum-Plantagen aufzugeben, in denen so viel Blut und Schweiß steckte (nicht unbedingt britisches, aber immerhin) - die waren, wie Han Su-yin es formuliert, "sakrosankt". Und sie hatten ihre Wahl getroffen, auf wen sie sich stützen wollten: Die Chinesen in Malaya waren ja nicht nur "Götzendiener", sondern auch intelligenter, fleißiger, kurz tüchtiger als die dummen und faulen, aber muslimischen und vermeintlich braven Malayen mit ihrer "Tidapah"-Mentalität, wie Han Su-yin das nennt [von "tidak apa²" (macht nichts), dabei ist das gar nicht spezifisch malayisch - die Thais haben den gleichen Spruch: "mai pen lai"]; also waren die letzteren die Favoriten der Briten. (Daß sie mit den Chinesen besser gefahren wären - obwohl der Satz, den Han Su-yin einer Chinesin in den Mund legt: "Wir sind Ihre wahren Freunde, auch wenn Sie das nicht wissen!" leicht übertrieben sein dürfte -, sollte sie erst später das Beispiel Singapur lehren, aber da war es schon zu spät.) Wenn man Han Su-yin glauben darf (und das müssen wir hier einmal tun, denn während man bei der Lektüre all dessen, was über den Indochina- bzw. Vietnam-Krieg geschrieben wurde, kaum noch mit kommt, ist über den Dschungelkrieg, der 1948-1960 auf der Halbinsel Malakka herrschte, im Westen praktisch nichts anderes veröffentlicht worden) saßen während des Ausnahmezustandes an die 500.000 Chinesen in über 300 britischen Konzentrationslagern, rund ein Fünftel der chinesischen Bevölkerung, vielfach Frauen und Kinder, deren Männer in den Untergrund gegangen waren, zur... nein, sie nannten es nicht "Volksbefreiungs-Armee", wie in China, sondern "Rassenbefreiungs-Armee" (und das ist keine Erfindung Han Su-yins - auch Dikigoros hat das in Malaysia aus chinesischem Munde so gehört), um gegen die Briten zu kämpfen. Han Su-yin ("das sind keine Banditen, sondern Soldaten") stellt das freilich anders dar: Nach ihr wurden die Frauen und Kinder ziemlich wahllos verhaftet, woraufhin die Männer erst zu Widerstandskämpfern wurden und untertauchten; sehr glaubhaft ist das allerdings nicht, sonst hätten die Briten doch wohl auch ein paar Männer im kampffähigen Alter zu fassen bekommen; und sie schreibt selber, daß sie in den Konzentrationslagern keinen Mann zwischen 16 und 30 gesehen hat, es wird also eher so gewesen sein, daß erst die chinesischen Männer zu den Waffen griffen und dann die Briten deren Frauen und Kinder ins KZ steckten - wie ein halbes Jahrhundert zuvor in Südafrika die Frauen und Kinder der Buren, die es gewagt hatten, sich gegen ihre Kolonialherrschaft zu erheben.

Wie war es überhaupt möglich, daß die Chinesen in Malaya über Waffen, Munition und Know-how verfügten, um einen solchen Dschungelkrieg gegen die britische Kolonialmacht zu führen? Nun, eigentlich hatten sie mit dem kämpfen schon viel füher begonnen, nämlich als die Japaner Ende 1941/Anfang 1942 den größten Teil Südostasiens besetzt hatten - so auch British Malaya. Die Briten, schon immer darin geübt, bis zum letzten Preußen, bis zum letzten Franzosen, bis zum letzten Neger und eben auch bis zum letzten Chinesen zu kämpfen, drückten den letzteren Waffen in die Hand und sagten: "Nun kämpft mal schön gegen die japanischen Besatzer, schließlich geht es auch um Eure Freiheit!" Als die Japaner weg waren, sagten sie: "Nun gebt mal schön Eure Waffen wieder ab, Freiheit gibt es später!" Da gaben viele ihre Waffen nicht wieder ab, sondern kämpften weiter, diesmal gegen die britischen Kolonialherren. Kommt Euch das bekannt vor, liebe Leser? Das sollte es auch, denn die Parallele ist nur zu offensichtlich: Auch in Afģānistān hatte der Westen Jahre lang die tapferen islamischen "Freiheitskämpfer" - zumeist Paschtunen - in ihrem Guerilla-Krieg gegen die bösen kommunistischen Besatzer aus der Sowjet-Union unterstützt, sie mit Waffen, Munition und Know-how ausgestattet. Und dann, als die Russen abzogen, war plötzlich alles ganz anders: Die Paschtunen wollten auch von ihren "Befreiern" nichts mehr wissen, und so wurden sie in deren Augen bald zu "terroristischen Taliben" - und die anderen Völkchen, Stämme und Clans, die einander allesamt spinnefeind sind, waren kaum besser. Aber wer lernt schon aus der Geschichte, und zumal der malayischen, die eh kaum jemand kennt - und auch wer die Fakten kennt, durchschaut meist die Hintergründe nicht, heute noch nicht, geschweige denn damals schon. Fakt ist, daß die Chinesen in Malaya auch von Rot-China unterstützt wurden - und das machte sie in den Augen der Angelsachsen automatisch zu bösen "Kommunisten". Also statteten sie nun ihre braven malayischen Untertanen mit Waffen, Munition und Know-how aus, um den chinesischen "Aufstand" nieder zu werfen. Doch nachdem sie das getan hatten, wandten sich die Malayen auch gegen die Briten - 1957 mußten sie abziehen. Aus ihren Kolonien - den "Straits Settlements" (Penang, Malakka und Singapur), "British Malaya" (der südlichen Hälfte der Halbinsel Malakka) und "British North Borneo" (Sabah und Sarawak) - wurde "Malaysia", ein "Bundesstaat" rückständiger muslimischer Sultanate. (Bald darauf sollte das überwiegend chinesisch besiedelte Singapur seinerseits von Malaysia unabhängig werden; aber das "si" in Malaysia ist bis heute stehen geblieben, obwohl es jetzt keinen Sinn mehr macht, weil der Staat nur noch aus Malaya und Nord-Borneo besteht.)

Wie Ihr aus diesen Ausführungen unschwer erkennen könnt, hegt Dikigoros durchaus Sympathien für die Chinesen in Malaysia - er hat sie persönlich als sehr nett und gastfreundlich in Erinnerung (es sind halt keine Han-Chinesen :-); aber das ändert nichts daran, daß sie den falschen Kampf an den falschen Fronten gegen den falschen Gegner geführt haben, darüber kann auch die Geschichts-Klitterung der Han Su-yin nicht hinweg täuschen. Denn nicht unter den Briten, sondern erst unter den Malayen erfuhr die chinesische Minderheit, was Unterdrückung und Ausbeutung ist - Malaysia schikaniert sie nun, da sie nicht mehr den britischen Schutz genießt, als Staatsbürger 2. Klasse, die nur noch als Melkesel geduldet sind, die das Steueraufkommen erwirtschaften. (Was übrigens auch keine Lebensversicherung auf Dauer ist, wie die Inder in Ost- und Südafrika bereits schmerzlich erfahren mußten - auch sie hätten sich nicht träumen lassen, wie dreckig es ihnen ergehen sollte, nachdem die Schwarzen mit ihrer Hilfe die Herrschaft der Weißen beendet hatten.) Und damit kommen wir zu einem Punkt, der bezeichnend ist - sicher nicht nur für Han Su-yin, aber gerade ihr sollte er besonders peinlich sein. Sie wirft ja den britischen Kolonialherren in Malaya vor, daß sie die Sprache der Eingeborenen nicht gelernt hatten und sie deshalb nicht verstanden - auch im übertragenen Sinne nicht. (Sie legt diesen Satz dem britischen Lager-Kommandanten Hinchcliffe in den Mund.) Da hat sie im Prinzip Recht, denn wenngleich das Erlernen einer Sprache noch nicht zwangsläufig bedeutet, daß man ihre Sprecher auch im übertragenen Sinne versteht, kann man letzteres zwangsläufig nicht, wenn man nicht einmal ihre Sprache versteht. Der Witz ist nur, daß auch die Chinesen in Malaya weder die Briten noch die Malayen verstanden und deshalb an der falschen Front kämpften. Und zu diesen Chinesen zählte eben auch Han Su-yin. Kleines Beispiel gefällig? Bitte sehr: Sie schildert (im 5. Kapitel) ein üppiges Bankett bei einem "angepaßten" Chinesen, zu dem neben zahlreichen Engländern und einigen "angepaßten" Malayen auch sie eingeladen war. Sie nennt die leckeren Speisen, die dort aufgetragen wurden: Haifischflossensuppe, Entenleber... und schließlich Spanferkel. Wegen des letzteren ißt einer der malayischen Gäste nicht mit, weil er Muslim ist und ihm seine Religion den Genuß von Schweinefleisch verbietet. Das ist eine interessante Feststellung, denn - sie ist falsch.

Die verschiedenen Ernährungs-Tabus der Menschen sind allenfalls im Nachhinein religiös begründet worden; in Wahrheit sind sie meist viel älter und an die Ethnie gebunden: Das Verbot, Schweinefleisch zu essen, ist nicht typisch muslimisch, sondern typisch semitisch: es gilt für Juden ebenso wie für Araber. Das Christentum verbietet den Genuß von Hunde- und Pferdefleisch nicht, dennoch halten sich die Deutschen de facto noch immer an das alte germanische Tabu, kein Fleisch ihrer treuesten Begleiter zu essen. Auch das indische Tabu, kein Rindfleisch zu essen, dürfte älter sein als "der" Hinduïsmus. Und wie die Verbote, so sind auch die Vorlieben für bestimmte fleischliche Nahrung (wobei Dikigoros Fisch und Geflügel der Einfachheit halber weg läßt) nicht religiös, sondern ethnisch bedingt: Europäer und Amerikaner essen am liebsten Rindfleisch, Araber und Turkvölker Hammelfleisch, Mongolen Pferdefleisch, Chinesen Hundefleisch (der so genannte "Pekinese" ist ein Nahrungsmittel!), die Indios Südamerikas Meerschweinchen, und die Malayen - Schweinefleisch, auch wenn sie Muslime sind. Woran mag das liegen? Die Frage wird heute nicht mehr gerne gestellt, und noch viel weniger gerne eine Antwort gegeben - geschweige denn die richtige, dabei ist es ganz einfach: Als die Araber im Mittelalter über Indien nach Hinterindien und Insulinde kamen, da stellte sich das Problem gar nicht, denn die Malayen waren bis vor etwa 100 Jahren Menschenfresser. (Angeblich gibt es im Inneren Borneos noch heute "kannibalische" Stämme; Dikigoros hat darauf verzichtet, das persönlich nachzuprüfen :-) Nun gibt es ein Tier, dessen Fleisch - nach allem, was alte Malayen auf Befragen immer wieder versichert haben - ziemlich genauso schmeckt wie das des Menschen, weil es wie dieser ein Allesfresser ist, nämlich das Schwein. Als also im 19. Jahrhundert die christlichen Missionare kamen und den Genuß von Menschenfleisch verboten, stiegen die Malayen - Islam hin, Islam her - auf Schweinefleisch um; und in der Zubereitung dieses ihres neuen Nationalgerichts haben sie es zur Weltmeisterschaft gebracht: Ein malayischer Schweinebraten mit knuspriger Kruste, dazu Reis mit Pfefferschoten, gekocht in Kokosmilch, um die Schärfe der letzteren etwas zu mildern, das alles serviert auf einem Bananenblatt, ist schon ein köstliches Mahl - auch Dikigoros hat es, als er noch jung war und Fleisch aß, auf seinen Reisen durch Südostasien mit wahrer Begeisterung gefuttert, ebenso wie dies alle Malayen tun. Han Su-yin hat das offenbar nie beobachtet, was nur zeigt, daß sie die Malayen ebenso wenig verstanden hat wie ihre chinesischen Landsleute, denn neben der Sprache ist es vor allem das Essen, das eine Ethnie und ihre Kultur prägt - der Mensch ist, was er ißt!

Zurück zu Han Su-yin und zu "... und Regen mein Trank". Der Titel stammt aus einem Gedicht der chinesischen Guerillas, das sie dem Roman voran gestellt hat: "Ich gehe in den Dschungel, um Gerechtigkeit zu suchen. Der Wind ist mein Kleid, und der Regen mein Trank." (Während die deutschen Übersetzer sich bei "Alle Herrlichkeit auf Erden" für ein Zitat vom Ende des Titels entschieden hatten, entschieden sie sich hier umgekehrt für den Anfang des entscheidenden Satzes - während alle anderen Ausgaben den Schluß vorzogen. Die deutsche Original-Ausgabe zeigt auch als einzige auf dem Cover den Stacheldraht des Konzentrationslagers - die anderen machen durch die Bank einen auf harmlos mit Urwald und Regen, und für die Neuauflage von 2002 schloß sich dem auch der Ullstein-Verlag brav an.) Als sie das Buch Ende 1956 - nach ihrem ersten Besuch als Touristin in Rot-China - veröffentlichte, lag die englische Kolonialherrschaft bereits in den lezten Zügen - und ihre Ehe mit Leonard Comber, der ihr ja danach zu nichts mehr nutze sein konnte, auch. Aus dem britischen Polizeidienst war sie inzwischen ohnehin "freiwillig gegangen" worden, nachdem sie eine chinesische Untergrund-Kämpferin als Haushaltshilfe aufgenommen hatte, deren zahlreiche Kontaktleute ihr Haus allmählich zu einem Logistikzentrum der Widerstands-Bewegung machten. (Sie wechselte daraufhin in eine kleine Polioklinik, wo sie sich auf Tbc-Fälle spezialisierte.) Sie brauchte also nun keine Rücksicht mehr zu nehmen, sondern konnte ordentlich gegen die "roten Teufel" vom Leder ziehen. Plötzlich war alles, was bisher ihr Leben bestimmt hatte, schlecht, "kolonialistisch" und "kapitalistisch". [Nein, nicht ganz alles - eine Ausnahme machte sie: Sie hielt als einzige Jugendfreundschaft die mit Su-tschen aufrecht, der Enkelin der Kaiserin-Mutter, mit anderen Worten: der Nichte des letzten Kaisers Pu-yi, den Han Su-yin natürlich als "Ausbeuter des Volkes" verabscheuen mußte. Warum hielt sie ausgerechnet ihr die Freundschaft? Aus Mitleid, weil sie Polio gehabt hatte und deshalb gehbehindert war? Wohl kaum. Nein, Han Su-yin behauptet, weil Su-tschen ein so hervorragendes Mandarin-Chinesisch pekinesischer Mundart sprach, und das war nun mal in ihren Ohren "die schönste Sprache der Welt". (Dikigoros weiß zwar nicht, was daran schön sein soll; aber es ist der einzige chinesische Dialekt, den er ein wenig gelernt hat - vielleicht sind die anderen ja noch schlimmer :-) Eine Ausrede hatte sie immerhin: angeblich war Su-tschen gar keine "echte" Prinzessin, sondern nur von der Fürstin Dan adoptiert worden.] Merkwürdigerweise trägt keines von Han Su-yins Büchern den Titel "Après nous le déluge [nach uns die Sintflut]" - hier wäre er besonders angebracht gewesen; denn nachdem die Briten Malaysia in die Unabhängigkeit entlassen hatten, ging der Dschungelkrieg noch Jahre lang weiter, geschürt nicht nur von den Rot-Chinesen, sondern auch und vor allem vom indonesischen Diktator Soekarno, der von einem Großreich aller malayischen Völker träumte; und die Chinesen in Malaya waren dumm genug, sich für seine Zwecke einspannen zu lassen - gegen Versprechungen, die er bestimmt nicht eingelöst hätte. Es war vergeblich; die Dschungelkämpfer wurden nach und nach aufgerieben, Soekarno arrangierte sich mit der Regierung in Kuala Lumpur, und es zog vorerst Friedhofsruhe ein. Als Soekarno 1965 in Indonesien gestürzt und bei der Gelegenheit die dortige chinesische Minderheit ausgerottet wurde (nein, man machte sich nicht erst die Mühe, sie in Konzentrationslager zu stecken, sondern brachte sie gleich um - übrigens auch dann, wenn sie Christen, also Monotheïsten waren!), begriffen die Chinesen in Malaysia, daß sie noch das geringere Übel erwischt hatten, und begannen, sich mit dem Regime in Kukala Lumpur zu arrangieren, das sich aus politischem Kalkül tolerant gab - in den 70er Jahren galt es als das freiheitlichste muslimische Land der Welt. Das war die Zeit, als Dikigoros es kennen lernte, und auch für ihn kam die radikale Islamisierung der sunnitischen Malayen (nicht nur in Malaysia, sondern auch in Indonesien, Süd-Thailand und Teilen der Filipinen) im Kielwasser der shi'itischen Revolution im Iran völlig überraschend. Er hat ihr allmähliches Voranschreiten von Reise zu Reise miterlebt - bis er nicht mehr hingefahren ist. Aber auch aus der Ferne hat er die weitere Entwicklung intensiv verfolgt - er versteht Bahasa, das erleichtert vieles -, von der kurzen Scheinblüte auf Pump bis zum wirtschaftlichen Zusammenbruch von 1997, der fast ganz Südostasien mit sich gerissen hat.

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[The Mountain is Young] [Wo die Berge jung sind] [La montagne est jeune]

Zurück zu Han Su-yin. Bereits 1958 war ihr nächstes Buch erschienen: Der Roman einer Reise, nein sogar eines kurzen Arbeitsaufenthalts in Nepal, mit dem Titel... Nein, den kann Dikigoros nicht einfach mit ein paar Worten abtun, schon gar nicht mit "Der Berg ist jung" oder "Wo die Berge jung sind", wie es in der deutschen Übersetzung heißt - denn nichts davon steht im Original (wenn wir mal unterstellen wollen, daß Han Su-yin sich das Original auf Chinesisch ausgedacht hat, denn Englisch war für sie immer noch eine Fremdsprache, in der sie zwar auch geschrieben und geredet haben mag, aber mehr auch nicht). Nein, Dikigoros stört sich nicht daran, das erste Piktogramm mit "Berg", "Berge" oder "Gebirge" zu übersetzen, obwohl das da eigentlich auch nicht steht - man kann "Erde-Mond" ja als blumige Umschreibung für ein besonders hohes Gebirge auffassen, das zwischen Erde und Mond zu liegen scheint - und das paßt auf den Himālay sicher recht gut. Aber das zweite Piktogramm bedeutet nicht jung, sondern... alt! Verblüfft, liebe Leser? Nun, wie Dikigoros schon weiter oben geschrieben hat, herrscht in China nicht der Jugend-, sondern der Alterswahn; und das Wort "lăō" ist durch und durch positiv besetzt (oder war es jedenfalls bis zur "Kultur"-Revolution der "Roten Garden" 1966/67), mit Erfahrung, Wissen usw. (Der Urwald - im Englischen als "virgin forest", also "jungfräulicher Wald" bezeichnet ["jungle" ist nur ein bengalisches Lehnwort, Verballhornung von "jangal"] - heißt auf Chinesisch Lăōlīn, alter Wald, was ja eigentlich auch logischer ist. Dem steht übrigens nicht entgegen, daß die meisten Chinesen - auch in der Volksrepublik, obwohl das durchschnittliche Heiratsalter dort wie bei uns auf die 30 zugeht - bei ihren Bräuten weiterhin auf Jungfräulichkeit bestehen :-)

Exkurs. Der "traditionelle" Kult um die Jungfräulichkeit, den die Asiaten im allgemeinen und die Chinesen im besonderen z.T. bis heute treiben, ist ein Punkt, den Han Su-yin immer wieder scharf kritisiert. (Vielleicht, weil sie selber nicht unberührt in die Ehe gegangen war und sich das von ihrem ersten Mann immer wieder vorwerfen lassen mußte.) Er scheint ja auch sooo unsinnig. Darf Dikigoros gleichwohl einmal den Advocatus Diaboli spielen? Ihr, LLL (liebe linke Leser[innen]), haltet ihn ja ohnehin für einen unverbesserlichen Chauvi und Macho, bei Euch hat er also nichts mehr zu verlieren, und die anderen Leser interessiert es vielleicht. Ihr lebt im 21. Jahrhundert und durchweg in Ländern, wo es Dank Pille, Verhüterli und - für diejenigen, die auf der Schule noch Rechnen statt Mengenleere hatten - Knaus-Ogino praktisch keine ungewollten Schwangerschaften mehr gibt, und wenn doch, dann "Dank" kostenloser Abtreibung auf Krankenschein praktisch keine ungewollten Kinder mehr. (Ob die "gewollten" darob besser behandelt werden, läßt Dikigoros mal dahin stehen; es tut hier nichts zur Sache.) Wenn eine Frau Sex vor der Ehe hat, braucht das also praktisch keine Konsequenzen mehr zu haben; ebenso wenig, wenn sie während der Ehe fremd geht, d.h. sie braucht ihrem Ehemann nicht umständlich ein Kuckucksei unter zu schieben. Und auch der Ehemann braucht umgekehrt keine große Angst mehr zu haben, denn er weiß ja, daß sich die Vaterschaft zur Not durch einen Gentest feststellen läßt. [Eine Ausnahme bildet in den zivilisierten Ländern alleine die BRD, wo "heimliche" Vaterschaftstest (gibt es auch unheimliche?) verboten sind. Warum wohl? Die Justiz-Ministerin behauptet, um den "Familienfrieden" zu wahren - aber das ist natürlich Unsinn. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Wenn sich heraus stellt, daß der Ehemann doch der Vater ist, ist der Familienfriede ja gesichert - zumal der Mann, dessen Mißtrauen sich als unberechtigt erwiesen hat, nun gegenüber seiner Frau auf reuiger Sünder machen wird -, und wenn nicht, dann kann es mit dem "Familienfrieden" eh nicht allzu weit her gewesen sein, und eine Trennung dürfte für alle Beteiligten das Beste sein, denn Kinder gehören zu ihren biologischen Eltern. Aber was soll man von der Justizministerin einer Bundesregierung erwarten, deren Chef in vier Ehen kein einziges eigenes Kind zustande gebracht hat, sondern sie alle nur erheiratet oder im Ausland käuflich erworben, pardon "adoptiert" hat?) Früher war das anders - da war die einzige Möglichkeit für einen Mann, sicher zu sein, daß wenigstens das erste Kind von ihm war, eine Jungfrau zu heiraten. (Natürlich konnte er auch versuchen, sie später als Ehefrau gut "unter Verschluß" zu halten, aber das war schon schwieriger.) Auf "Erfahrung" der Frau legte er dagegen keinen Wert - was für eine Art von Erfahrung sollte das schon sein? Doch wohl keine, die sie nicht auch in der Ehe machen konnte! Und so denkt man[n] auch heute noch in Ländern, wo die meisten Menschen zu arm sind, um sich kostspielige Verhütungsmittel, Abtreibungen und Gentests zu leisten. In Rotchina kommt noch etwas hinzu, das verständlich macht, weshalb der "Jungfrauenkult" dort mehr denn je aktuell ist. Nein, nicht etwa übertriebene "Moral"-Vorstellungen (das Land von Tugend, Anstand und Moral ist in den Augen der Chinesen noch immer Dékuó - oder, wie man heute schreibt, Déguó -, jedenfalls setzen sie "Deutschland" aus den Zeichen für "Tugend, Anstand, Moral" und "Land" zusammen, was indes nichts beweist - außer vielleicht, daß sie von den heutigen Deutschen ebenso wenig wissen wie die von ihnen :-), sondern das Postulat der "Ein-Kind-Familie". Wenn der Mann nur ein einziges Kind haben darf, ist es für ihn natürlich noch wichtiger, ganz sicher zu sein, daß es von ihm stammt. (Übrigens hat die erzwungene "Ein-Kind-Ehe", anders als Han Su-yin glauben mag, keineswegs dazu geführt, daß nun auch eine Tochter so freudig begrüßt würde wie früher ein Sohn, sondern ganz im Gegenteil dazu, daß eine Tochter im Zweifel abgetrieben wird, und die nächste wieder und wieder, so lange, bis endlich ein Sohn kommt - in keinem anderen Land der Welt ist das Mißverhältnis zwischen Jungen- und Mädchen-Geburten so kraß wie in Rotchina, aber die Regierung unternimmt nichts dagegen, weil es "gut gegen die Überbevölkerung" ist.) Bei allem, was Han Su-yin über die Tötung neu geborener Mädchen, über böse Ehemänner und insbesondere über ihre eigenen, als Unrecht empfundenen Demütigungen als "unkeusche" Braut und Ehefrau schreibt, wollt Ihr das bitte immer im Hinterkopf behalten. Exkurs Ende.

Manche Leser haben sich gefragt, wieviel Autobiografisches von Han Su-yin in jener "Anne Ford" steckt, die vor einem langweiligen Eheleben in die nepalesischen Berge flieht, nach Kathmandu, und - obwohl ihr Ehemann ihr folgt - dort einen anderen Mann kennen lernt. Eigentlich findet Dikigoros diese Frage ziemlich müßig - Fakt ist, daß sie auf einer Reise nach Nepal einen anglo-indischen Offizier namens Vincent kennen lernte, den sie nach ihrer Scheidung von Leonard Comber in dritter Ehe heiraten sollte, um mit ihm nach Australien zu gehen. Aber Dikigoros will an dieser Stelle auf etwas anderes hinaus, gewissermaßen als "Vorbereitung" auf ein Buch, das Han Su-yin fast zehn Jahre später veröffentlichte, in dem sie Rot-Chinas ach-so-segensreiche Fremdherrschaft über Tibet lobte. Diese Fremdherrschaft ist heute in aller Munde, da der im indischen Exil lebende Führer der Tibeter durch die Verleihung des Friedens-Nobel-Preises Weltruhm erlangt hat. Aber während im fernen Skandinavien ein paar ahnungslose Schreibtischtäter schöne Reden zum Fenster hinaus hielten und den "Dalai Lama" für seinen friedlichen Widerstand lobten, spielte sich im benachbarten Nepal ein mörderischer Bürgerkrieg ab. Gewiß, die Nepalis sind "rassisch" keine Inder (was schon die britischen Kolonialherren wußten - deshalb bedienten sie sich als "einheimischer" Soldaten bevorzugt der "Gurkhas", um die Inder nieder zu halten); sie sind aber auch keine Chinesen, obwohl sie ihnen genetisch näher stehen. Kulturell fühlen sie sich jedoch - ebenso wie die Tibeter, eher noch mehr - Indien zugehörig, und das hat mehr mit religiösen Gemeinsamkeiten zu tun als mit politischen Ismen. Gleichwohl wird man es Euch, liebe Leser, wenn Ihr denn in den westlichen Medien überhaupt mehr als einen gelegentlichen Dreizeiler zu diesem Thema erfahrt, stets als eine Auseinandersetzung zwischen solchen Ismen darzustellen suchen: Kommunistische Guerillas, von Rot-China heimlich unterstützt, kämpfen gegen eine marode und korrupte Monarchie; und niemand nimmt Rücksicht darauf, was dabei - außerhalb einiger kleiner touristischer Enklaven, die ausgespart werden, damit die wichtigste Devisenquelle des Landes nicht versiegt - an Kulturgütern zerstört wird. Aber China unterstützt die nepalesischen Rebellen nicht, weil sie sich als Kommunisten gebärden, sondern aus rein imperialistischen Gründen: Wenn China sich nach Tibet auch Nepal unter den Nagel reißen könnte - und sei es durch eine abhängige Marionetten-Regierung -, könnten als nächstes Bhutan, Asām und die Provinzen im Südosten (womöglich sogar Barmā alias "Myanmar", wo Chinesen aus dem benachbarten Yünnan bereits große Teile der Wirtschaft in ihre Hände gebracht haben) ebenso fallen wie Ladakh und weite[re] Teile Kashmirs im Südwesten. An alledem arbeitet Rotchina im Moment - und niemand im Ausland scheint es zu bemerken.

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Da Han Su-yin ihrem dritten Ehemann Vincent nach Australien folgte, konnte sie nicht länger im Gesundheitswesen arbeiten, denn ihr Bachelor in Bio-Medizin wurde dort natürlich nicht als ärztliches Examen anerkannt, und im Polizeidienst konnte sie nach ihrem Rausschmiß in Johore Baharu auch nicht mehr unterkommen (Australien gehörte schließlich noch zum "Commonwealth"). Also verlegte sie sich ganz auf die Schriftstellerei, und nachdem sie wegen ihrer bisherigen Bücher eine Menge Ärger mit Leuten bekommen hatte, die sich darin wieder fanden und schlecht behandelt fühlten, verfremdete sie die biografischen Züge ein wenig mehr - ohne sie ganz verleugnen zu können. 1962 schrieb sie ein Buch über ihre Studienjahre in London, also die Zeit, die zwischen "Reiseziel Chungking" und "Alle Herrlichkeit auf Erden" noch fehlte, als ihr erster Mann nach China zurück gekehrt war. Was tat die Stroh- und dann tatsächliche Witwe in jenen Kriegstagen in London außer studieren? Nun, in erster Linie lernte sie, comme il faut, die bösen Nazi-Deutschen ob ihrer Bombenangriffe auf die Hauptstadt des Empires zu hassen. (Auf die war sie ohnehin schlecht zu sprechen: Schon ihre Eltern waren 1914 vor den "Hunnen" aus Belgien nach England geflohen, zu allem Überfluß auch noch auf der Lusitania.) Und privat versuchte sie es zur Abwechslung mal mit einer Frau - und das offenbarte sie zu einer Zeit, als es zwar nicht mehr als gar so "shocking", aber auch noch nicht als ausgesprochen "chic" galt, lesbisch zu sein und sich als "dyke" zu outen. "Winterliebe" (das ursprünglich zusammen mit der Novelle "Wirf nur einen Schatten" in einem Buch mit dem Titel "Zwei Lieben" veröffentlicht wurde - heute erscheint es separat) hat also nichts mit ihrer Liebe zum Winter zu tun, sondern der zu einer Kommilitonin. Aber wer die Lebensgeschichte der Han Su-yin kennt, durch die sich die Bindungsunfähigkeit wie ein roter Faden zieht, ahnt schon, wie diese Beziehung enden muß: genauso wie die Beziehungen zu ihren Männern, nämlich mit Zank und Streit, Enttäuschung und Verbitterung, Trennung und Wieder-allein-sein. Fini l'amour...

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Ein Jahr später - 1963 - veröffentlichte Han Su-yin einen Roman, der zwar nicht autobiografisch ist, aber gleichwohl unser Interesse verdient. Er spielt in Kambodyā, das damals trotz seines ebenso trotteligen wie Rotchina-freundlichen Staatsoberhaupts Norodom Sihanouk (der sich "Prinz" nannte, nachdem er zunächst König gewesen war, dann zugunsten seines Vaters abgedankt war und nach dessen Tod seinen alten Titel nicht wieder annehmen wollte) so etwas wie eine Insel der Seligen. [Ja, liebe Leser, Mitte der 60er Jahre gab es so etwas noch auf der Welt, sogar mehrfach: Uruguay, bevor die Tupamaros kamen, Libanon, bevor die Syrer kamen, Kashmir, bevor die Pakistani kamen, Ceylon, bevor die Tamil Tigers kamen, Cypern, bevor die Türken kamen, Bali, bevor die Touristen kamen - und eben Kambodyā, bevor es vom Vietnam-Krieg eingeholt wurde.] Zwischen dem Indochina- und dem Vietnam-Krieg war für ein paar Jahre der Friede ausgebrochen; auch die "Roten Khmer" hatten noch nicht begonnen, den Dschungel unsicher zu machen, man konnte also auch als Ausländer einigermaßen gefahrlos nach Pnom Penh reisen und sich dort an billigem Reiswein und ebenso billigen wie willigen Nutten delektieren. Viel weiter ins Landesinnere kamen die wenigsten, allenfalls solche, die sich für die Architektur der alten Khmer interessierten - wie Dikigoros' seliger Reisefreund Melone, aber der machte die Reise erst ein paar Jahrzehnte später, als Sihanouk den Königstitel doch wieder angenommen hatte - und deshalb die Ruinen der alten Hauptstadt Angkor besuchten. Und so treffen sich eben dort eines schönen Tages einige Schriftsteller und noch ein paar Verrückte zu einem Kongreß. (Nein, Dikigoros hat keine Anhaltspunkte dafür gefunden, daß dieser Kongreß tatsächlich statt gefunden hat, geschweige denn, daß Han Su-yin daran teilgenommen hätte.)
(...)

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Danach begann Han Su-yin, sich ernsthaft mit der Familiengeschichte ihrer Vorfahren in China zu beschäftigen, der sie auf ihren folgenden Reisen dorthin nachspürte. Erste Frucht dieser Forschungen - u.a. beruhend auf Informationen einer Familie Tsong, die sie erstmals 1962 in Peking (sie reiste nun jedes Jahr einmal nach Rotchina) aufgesucht hatte - war der autobiografische Roman "Der verkrüppelte Baum" von 1965, in dem sie die - angebliche - Geschichte der Familie ihres Vaters mit der Chinas verknüpft. Warum schreibt Dikigoros "angeblich"? Weil diese Geschichte nicht nur tendenziös ist, sondern schlicht unwahr, da unvollständig - was auch im Titel zum Ausdruck kommt, wenn man ihn denn zu lesen weiß: In dem eindrucksvollen Hakka-Stammbaum vergangener Jahrhunderte, den Han Su-yin uns da entwirft, fehlen nämlich glatt sechs Generationen - er ist also "verkrüppelt". Die Beweiskraft der ersten Generationen für die Behauptung, ihr Vater sei ein Hakka gewesen, ist also gleich null, da es keine Kontinuität gibt; tatsächlich hat sie dem alten Stammbaum nach der Lücke nur die Familien-Geschichte ihres Vaters "aufgepropft" (wenn Dikigoros mal im Bild - und im Jargon - der Baumzüchter bleiben darf :-). Und die beginnt erst im Jahre 1886, mit der Geburt ihres Vaters (und endet - vorläufig - 1928, als seine älteste Tochter Rosalie auf die englische Schule in Tien-tsin kommt.
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Die einzigen Reis-Esser in der Familie... wäre unter Hakka wohl kaum aufgefallen - wohl aber unter Lolo, die statt dessen, wie die Tibeter, traditionell Gerstenbrei essen.
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Der Onkel, der kein Lolo sein wollte (obwohl sie einmal von dem Tigerfell berichtet, von dem sie anderer Stelle schreibt, daß dieses ein typisches Kennzeichen der Lolo sei), sondern ein Hakka-Chinese, der angeblich in die Familie eingeheiratet hatte, indem er die älteste Schwester von Han Su-yins Vater zur Frau genommen hatte, nachdem er zufällig zur selben Zeit wie ihr Vater in Belgien war, um Eisenbahn-Ingenieur zu werden, ist in Wahrheit ein Bruder ihres Vaters, denn seine Frau hat eingebundene "Lotus"-Füße, und die hat es bei den Hakka nie gegeben (Han Su-yin empfindet sie denn auch an anderer Stelle als besonders auffällig); also konnte sie nicht die Schwester von Han Su-yins Vater sein, wenn er denn wirklich ein Hakka gewesen wäre, sondern nur eingeheiratet haben - es war also genau umgekehrt. Den Schlüssel zur Entlarvung der Geschichts-Klitterung, die Han Su-yin da abliefert, bildet eine kurze Anmerkung auf Seite 613 der ersten französischen Ausgabe. Bekanntlich behauptet die amtliche Propaganda der Volksrepublik China, daß die Hakka zu den Han-Chinesen gehörten, also kein eigenes Volk seien - und Han Su-yin stößt in den ersten Kapiteln dieses Buches kräftig ins selbe Horn: "Hakka" bedeute zwar "Gast" aber so hießen die nicht etwa, weil sie ein von außen nach China zugewandertes fremdes Volk waren, sondern weil sie innerhalb Chinas so etwas waren wie (han-)chinesische "displaced persons". [Wenn Ihr nicht wißt, was das ist, liebe jüngere Leser, fragt Eure Großeltern oder schlagt es irgendwo nach; damals wußte das in Mitteleuropa noch jedes Kind.] Als ob das nicht schon absurd genug wäre, setzte die rot-chinesische Regierung in den 60er Jahren noch eins drauf, indem sie behauptete, die Lolo seien "ein Stamm der Hakka", und das alte Wort "Lolo" werde nur noch abwertend gebraucht (diese beiden Aussagen bilden den Inhalt der besagten Anmerkung), und zwar, wie wir aus dem Text weiter erfahren, für wilde Bergbewohner aus dem Nordwesten Szechuans (nein - nicht aus Tibet, denn dessen Ostgebiete haben die Chinesen ja längst abgetrennt).

[Tibet - statt 'Ü-Tsang' wird heute zunehmend 'Uzang' geschrieben; die ältere Umschrift entspricht der deutschen Aussprache eher. Rechts die Provinz Kham, aus der Han Su-yins Vorfahren väterlicherseits stammten.]

Ein braver Lolo durfte sich also nicht mehr als solcher (oder gar als Tibeter bzw. Khamba) fühlen - denn das war ja schon fast ein Schimpfwort -, sondern mußte sich für einen Hakka halten, und somit für einen "echten", d.h. Han-Chinesen. So gesehen hätte Han Su-yin Recht: Die Lolo wären Hakka, die Hakka wären Han, und das sind bekanntlich die Chinesen - alles andere zählt nicht. [Inzwischen hat sich die amtliche Propaganda, wie bereits eingangs erwähnt, leicht gewandelt: Jetzt zählt sie die Lolo zum fiktiven "Stamm" der "Yi" - die ihrerseits wieder zum "Volk" der Han-Chinesen gerechnet werden.] Aber da wir gerade bei den Bergbewohnern aus dem Nordwesten waren: Han Su-yin ist noch ein schwerer Patzer unterlaufen bei dem Versuch, die wahre Herkunft ihrer Vorfahren väterlicherseits zu vertuschen: In "Destination Chungking", als sie noch relativ jung und unerfahren war, beschreibt sie, wann und wie die "Integration" ihrer Familie in die chinesische Gesellschaft vor sich ging: Eines Tages erklärte ihr "Erster Großvater" (d.h. ihr ältester Großonkel, der älteste Bruder ihres Großvaters im westlichen Sinne) als Familien-Oberhaupt verbindlich, daß sie den [Aber-]Glauben an Geister, Elfen, Kobolde, Nymphen, etc. aufgeben sollten zugunsten der viel rationaleren Verehrung der Vorfahren, wie sie unter gebildeten Chinesen allein üblich war. Damit hatte er natürlich, "rational" gesehen, völlig Recht. (Aber kommt es beim Glauben wirklich darauf an? Wer seine Religion nicht auf Glauben, sondern auf Wissen gründen will, muß Hindu werden - doch das ist eine andere Geschichte.)

[Hu Li-jing, die Fuchsfee]

Aber darum geht es Dikigoros an dieser Stelle nicht, sondern um die Gestalt, die der Großonkel an erster Stelle aus dem Glauben seiner Sippe verbannt wissen wollte: Hu Li-jing, die Fuchsfee. Fuchsfee? Nie gehört, nicht wahr liebe Leser? Natürlich nicht - deshalb liefert Euch Han Su-yin freundlicherweise auch gleich die Erklärung dazu: Dieses merkwürdige Wesen - bzw. der Glaube daran - stammte aus dem Kunlun-Gebirge. [Als Dikigoros zur Schule ging, schrieb man es noch "Kuënlun" - aber ansonsten hat sich nichts geändert.] Schaut bei Gelegenheit einfach mal in den Atlas, was sich dahinter verbirgt (jedenfalls bestimmt nicht die Heimat der Hakka :-). [Ihr meint, das sei doch Blödsinn, eine Füchsin mit gelbem Fell, wie sie oben abgebildet ist? Aber lest mal "Riding the Iron Rooster" von Paul Theroux - er schreibt ganz nebenbei, daß er im Kunlun-Gebirge einen "fahlgelben" Fuchs gesehen habe; und sein Zeugnis ist vollkommen unverdächtig, denn er wußte nichts von einer Fuchsfee (jedenfalls schrieb er nichts davon; und es ist ja nicht gerade seine Art, mit seinem Wissen hinterm Berg zu halten :-) geschweige denn davon, daß sie ein gelbes Fell hat. Soweit Dikigoros weiß, gibt es solche gelben Füchse - die Zoologen nennen sie "vulpes ferrilata" - sonst nirgendwo auf der Welt, und das scheint ihm doch ein gewichtiges Indiz zu sein.]

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Nun ist es eine Sache, die eigene Vergangenheit zu verfälschen, die kaum ein Außenstehender zuverlässig nachprüfen kann, und eine andere, falsche Zukunftsprognosen abzugeben. Gewiß konnte Han Su-yin darauf bauen, daß in Rotchina auch künftig nach außen hin alles schön geredet und geschrieben würde - und so ist es ja auch gekommen; aber nur die dümmsten Blindfische (z.B. westliche Kanzler, Wirtschafts-Minister, Funktionäre von Industrie-Verbänden und Vorstände gewisser Unternehmen, denen das Geld der Aktionäre von je her locker sitzt) glauben heute noch, daß die Milchmädchen-Rechnung, die Han Su-yin 1967 mit "China im Jahre 2001" aufgemacht hat, sich bewahrheitet habe. Die Statistiken mit den tollen Wachstumsraten, die wir von dort alljährlich vorgesetzt bekommen, sind genauso getürkt worden wie die der untergehenden DDR; dahinter verbergen sich Armut, Hunger und immer wieder kehrende kleinere oder größere "Unruhen", die kaum noch zu verheimlichen sind und nur unter Einsatz schwer bewaffneten Militärs nieder geschlagen werden können. Das Buch wurde denn auch überall ein Flop.

So kehrte Han Su-yin wieder zu ihrer eigenen Lebensgeschichte zurück, und zwar um sie umzuschreiben: 1968 erschien ein Buch, das sich noch einmal das Jahrzehnt von 1938 bis 1948 vornahm: "Zwischen zwei Sonnen" beliebte es sowohl dem Bechtle- als auch dem Ullstein-Taschenbuch-Verlag aufs Cover zu schreiben. (Pardon, liebe Sprachschützer, aber Dikigoros würde die Vokabel "Cover" in einem deutschen Text nicht gebrauchen, wenn das Wort "Umschlag" die gleiche Aussagekraft hätte; ihm fehlt jedoch die Konnotation des Verbergens und Vertuschens, und die darf an dieser Stelle nicht verloren gehen, wie Ihr gleich sehen werdet.) Eine gute Wahl, allerdings nur unter der Voraussetzung, daß der Leser in klassischer chinesischer Literatur bewandert ist - und da hegt Dikigoros bei Fans von Mao Tse-tung und Han Su-yin doch gewisse Zweifel. Er selber könnte nicht mit letzter Sicherheit sagen, von wem der - abwechselnd "Konfuzius" und "Mencius" (die beide richtig anders hießen, aber das tut hier nichts zur Sache) zugeschriebene - Satz stammt: "So wie es keine zwei Sonnen am Himmel gibt, so kann es keine zwei Kaiser auf Erden geben." (Man bemerke: "auf Erden", nicht etwa "in China" - aber was zählen schon die popeligen Randgebiete der Erde außerhalb des alles beherrschenden Reiches der Mitte :-) Beim Durchschnittsleser werden weder der deutsche noch der englische Original-Titel ("Birdless Summer") besondere Assoziationen wecken; aber der französische Leser wird bei "Un été sans oiseaux [Ein Sommer ohne Vögel]" vielleicht über eine Gedichtzeile von Paul Éluard stolpern, aus der Han Su-yin im Text noch einmal zitiert, wenn sie schreibt, daß sie sich weder hinter den Vögeln des Sommers noch hinter Müdigkeit oder Faulheit verbergen könne: "Les oiseaux ne sont plus un abri suffisant, ni la paresse, ni la fatigue." Wer war dieser Paul Éluard, zu dessen Vorbild sich Han Su-yin nie offen bekannt hat? Er hieß richtig Eugen Grindel und stammte aus dem von Frankreich annektierten Teil Flanderns. Er wurde Mitglied der KPF - die ihn wieder hinaus warf -; er beschrieb die Schlacht um Guernica - zurecht - als großen Sieg der Roten, da die solch einen Propaganda-Erfolg daraus machten; er verleugnete und verriet im Zweiten Weltkrieg seine Heimat - denn wo hätte ein anständiger Flame stehen können, wenn nicht auf deutscher Seite? -, indem er sich den Verbrecher-Banden der Résistance anschloß, die bei Kriegsende den Völkermord an den Tibetern, pardon, so weit sind wir noch nicht, den Elsässern verübten, mit anderen Worten: ein durch und durch verachtenswertes Subjekt. Und Han Su-yin kannte nicht etwa nur zufällig dieses eine Gedicht von ihm, sondern er schrieb auch noch "Le Phénix" - darauf kommen wir gleich zurück.


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