PERU - PATTAYA - POSEMUCKEL
VON HÖHENLUFT UND LIEBE

[zehn Jahre später]

EIN KAPITEL AUS DIKIGOROS' WEBSEITE
REISEN DURCH DIE VERGANGENHEIT
GESCHICHTEN AUS DER GESCHICHTE

(FORTSETZUNG VON TEIL II)

Zehn Jahre später. Lulatsch ist zu der Überzeugung gelangt, daß all die schönen wirtschafts-wissenschaftlichen Theorien, die er im Hörsaal vorgesetzt bekommen hat, an der Wirklichkeit vorbei gehen - dazu haben nicht nur seine Erlebnisse auf der Südamerika-Reise aus der Frosch-Perspektive beigetragen, sondern auch die "makro-ökonomischen" Daten: Lateinamerika ist zum Milliardengrab nicht nur für die deutsche Wirtschaft - insbesondere die Banken - geworden; was die Europäer im 16. Jahrhundert oder sonst jemals an Gold, Silber und anderen Werthaltigem aus jenem Kontinent geholt haben mögen, sie haben im 20. Jahrhundert ein vielfaches davon zurück gezahlt, gewollt oder ungewollt, jedenfalls ist jetzt alles futsch, vernichtet durch Fehlinvestitionen der Nieten in Nadelstreifen oder Uniformen. Lulatsch hat die Zeichen der neuen Zeit - des Computer-Zeitalters - erkannt, sein Studium an den Nagel gehängt und auf EDV-Programmierer umgelernt, ist nach Australien ausgewandert und hat nie wieder von sich hören lassen. Tarzan hat sich längst wieder mit Melone vertragen, der Auslandsvertreter eines mittelständischen Maschinenbau-Unternehmens geworden ist. Als solchen führen ihn seine Geschäftsreisen immer seltener nach Lateinamerika und immer häufiger nach Asien, wo es jetzt "boomt", wie man auf Neudeutsch sagt. Dabei verbindet er - wie einst der berühmte Humboldt - stets das Angenehme mit dem Nützlichen, und an seinen Vorlieben hat sich in all den Jahren nichts geändert. Tarzan, der Anwalt geworden ist, könnte alleine von den Vaterschafts- und Unterhalts-Prozessen, die Melone ständig am Hals hat, seine Praxis bestreiten. Melone kommt mal wieder, wie vor jeder Auslandsreise, zu Tarzans auf Abschiedsbesuch, sehr zum Unwillen von Jane, die diesen Sauf-Abenden so gar nichts abzugewinnen vermag. "Der alte Hurenbock sollte endlich heiraten und zuhause bleiben," sagt sie immer zu ihrem Mann, "nun besorg ihm doch endlich eine Frau. Am besten eine Deutsche, mit der ich mich auch mal unterhalten kann." Melone eine Frau besorgen? Der hat mehr Frauen gehabt als Tarzan je aus der Nähe gesehen hat. Aber länger als zwei Wochen hat er es noch mit keiner ausgehalten. Außerdem steht er auf Ausländerinnen, die kein Deutsch können. "Die labern mir nicht ständig die Ohren voll," pflegt er zu sagen, "Hauptsache, sie können Französisch."

Dennoch bringt Jane mutig das Gespräch auf diesen Punkt: "Was ist denn mit der russischen Deutsch-Lehrerin, von der du uns neulich das Foto gezeigt hast?" Melone winkt ab: "Ach, die wollte doch nur mein Geld (Melone verdient nicht schlecht), wie die Weiber von Benni und Gargantua." Benni hat eine Bulgarin geheiratet, die inzwischen mehr und schneller redet als Jane (die auch nicht auf den Mund gefallen ist) - und das stört Melone an ihr am meisten. Aber es gibt natürlich noch andere Gründe: "Die hat ihm zwei Kuckucks-Eier ins Nest gelegt und ihn auf Diät gesetzt, d.h. er darf nicht mal mehr essen und trinken, was ihm Spaß macht; der hat doch überhaupt nichts mehr vom Leben." Scheiden lassen kann er sich auch nicht, denn er ist Lehrer an einem kirchlichen Gymnasium, und diesen gut bezahlten Halbtags-Job würde er verlieren, egal ob schuldig oder nicht schuldig geschieden (was es ja ohnehin nach deutschem Recht nicht mehr gibt); und seine wohlhabende Mutter würde ihn zugunsten der heiligen Mutter Kirche enterben, wenn sie erführe, daß die lieben Kleinen gar nicht ihre Enkel sind. Also macht er gute Miene zum bösen Spiel und schweigt. "Ach was," sagt Jane, die hat doch Recht, sich anderweitig umzusehen, wenn ihr Mann keinen mehr hoch bekommt. Und was die Diät anbelangt, die hat Benni nur gut getan, sonst wäre er eines Tages noch an Herzverfettung gestorben." Auch auf Ita, die Frau von Gargantua, läßt sie nichts kommen. Langsam, zäh und fleißig, wie Asiaten nun mal sein können, hat sie Deutsch gelernt und sich hier eine Existenz als Vertreterin aufgebaut. (Sie fährt - auf Firmenkosten - ein dickeres Auto als Melone, was dessen Konkurrenzneid besonders schürt.) Und eines Tages, als ihr Mann wieder fett, faul und arbeitslos auf dem Sofa lag, hat sie ihre Koffer gepackt und ist abgehauen. "Der war auch selber schuld," versetzt Jane, "der hat sich doch zuletzt mehr von ihrem Geld ernährt als umgekehrt. Und wie... am Ende hat er dreimal soviel gewogen wie sie." Na wenn schon, denkt Tarzan, der nur zweimal soviel wiegt wie seine Frau (die aber auch extrem leichtgewichtig ist), doch Melone hakt nach: "Ja, und dann hat sich heraus gestellt, daß sie sich nur zum Schein von ihrem filippinischen Mann hat scheiden lassen, daß sie ihn und ihre Kinder aus erster Ehe alle heimlich nach Europa nachgeholt hat, und nun lebt sie wieder bei denen." - "Dann heirate doch eine deutsche Frau, die noch nicht geschieden ist, dann kann dir das nicht passieren," schlägt Jane vor.

"Ausgerechnet," versetzt Melone, "eine Geschiedene werde ich relativ problemlos wieder los, wenn wir noch kein Jahr verheiratet sind, dann leben nämlich ihre alten Unterhaltsansprüche gegen den ersten Ehemann wieder auf; aber wenn eine Frau noch mit keinem anderen Mann verheiratet war, wird sie mich schröpfen." - "Aber aber," hakt Jane nach, "Tarzan setzt dir einen schönen Ehevertrag auf, zum Freundschaftspreis, in dem du alles ausschließt: Unterhalt, Zugewinn- und Versorgungsausgleich, dann kann dir doch gar nichts passieren." - "Aber solange wir noch nicht geschieden sind," beharrt Melone, "wird sie mich doch schröpfen: Pelzmäntel, teurer Schmuck und anderer Schnickschnack, das geht auch ins Geld. Wenn sie das alles abgezockt hat und sich scheiden läßt, braucht sie keinen Zugewinnausgleich mehr, da bin ich auch so der Gelackmeierte." - "Tarzan hat mir noch nie einen Pelzmantel oder teuren Schmuck gekauft," bemerkt Jane trocken (Das ist auch das einzige, was Melone an Jane gut findet - und daß sie nicht jede Woche für 100.- DM zum Friseur geht, wie Ita und andere berufstätige Frauen), "nur Nutten sind mit sowas käuflich." - "Das ist ein böses Wort," sagt Melone, "ich kenne viele deutsche Ehefrauen, die nehmen ihre Männer mehr aus als jede Prostituierte. Und sie verhalten sich weit unmoralischer. Ich gehe fast immer zu Frauen mit Kindern. Das ist erstens ein gutes Anzeichen dafür, daß sie nicht geschlechtskrank sind; und zweitens weiß ich, daß sie mein Geld für etwas Vernünftiges ausgeben, nicht für Fummel und anderen Firlefanz. Viele deutsche Ehefrauen, gerade die aus den so genannten besseren Kreisen, die es weiß Gott nicht nötig hätten, treiben ab, weil ihnen das Geld zu schade ist, um es in Kinder zu investieren." - "Deine Nutten haben sich die Kinder doch vorher bei den Nachbarn ausgeliehen, um Leuten wie dir etwas vorzuspielen. Und überhaupt ist das doch nur eine faule Ausrede, um Prostitution zu rechtfertigen. Ohne Freier gäbs auch keine Nutten." - "Und viele Kinder würden verhungern." - "Die wären dann doch gar nicht geboren." - "Eben," sagt Melone nach einer kurzen Pause trocken, "und das kommt ja wohl auf dasselbe raus. Schau dich doch mal um in diesem unserem Lande. In ein paar Generationen wird es ausgestorben sein. Weil die Ehefrauen hier so hochanständig sind und die Nutten besser verhüten als anderswo auf der Welt. Ihr seid ja so verdammt tüchtig und berechnend und wundert euch, wenn ich es auch bin. Als Geschäftsmann muß ich doch die Kosten-Nutzen-Relation sehen: Bei einer Prostituierten weiß ich genau, welche Gegenleistung ich für mein Geld bekomme; da bezahle ich nur das, was ich tatsächlich in Anspruch nehme. Aber eine Ehefrau, die muß ich ständig aushalten, und wenn ich dann die Gegenleistung will, hat sie Migräne." Jane verkneift sich die Frage, woher Melone das alles so genau weiß, obwohl er noch nie verheiratet war; sie sagt nur: "Eine Ehefrau ist doch nicht nur dazu da, um mit ihr ins Bett zu gehen." Melone schaut sie mitleidig an: "Wozu denn sonst? Eine Putzfrau kostet mich 10.- DM pro Stunde schwarz auf die Hand; kochen kann ich selber, und wenn ich es nicht könnte, wäre es immer noch billiger, alleine essen zu gehen als eine Frau für zwei kochen zu lassen." - "Du könntest es ja wenigstens mal ausprobieren."

Aber Melone denkt gar nicht daran. Er fliegt jetzt wieder nach Thailand, offiziell um eine Billiglohn-Fertigungsstätte seines Arbeitgebers irgendwo an der Grenze zu Kambodja zu inspizieren. Dort sind die Löhne noch niedriger und die Arbeitszeiten noch länger als im Landesinneren, da man ausländische Flüchtlinge beschäftigen kann; die beschweren sich nicht über jede Kleinigkeit. Aber inoffiziell hat Melone natürlich auch ein schönes Freizeit-Programm ausgearbeitet: Er wird die Bars von Bangkok (das zur Drehscheibe für alle Asien-Flüge geworden ist, seit die vielen "unternehmungslustigen allein reisenden Herren" die Jumbos füllen) bis Pattaya unsicher machen, und er hätte gar keine Bedenken, eines der Mädchen mit nach Deutschland zu bringen. "Die sind nicht so zickig wie die Frauen hier im Westen," bemerkt er mit einem deutlichen Seitenhieb auf Jane. Die giftet zurück: "Ich möchte mal wissen, was normal veranlagte Männer an asiatischen Frauen finden können. Was haben die, was wir nicht haben?" - "Schlitzaugen!" wirft Tarzan ungefragt ein. "Und sie sind immer lieb," meint Melone. "Sie tun lieb," kontert Jane, "das kann ich auch, wenn ich den ganzen Tag von einem reichen Sugar-daddy verwöhnt werde, der mit mir shoppen geht und ich nichts weiter dafür zu tun brauche, als mit ihm in die Kiste zu steigen." - "Außerdem sind sie meist jünger und hübscher als die deutschen Frauen, die noch zu haben sind." - "Jünger? Hübscher? Mit ihren krummen O-Beinen? Die passen bloß besser in euer Kindchen-Schema, wie ein Schoß-Hündchen: klein, zierlich, große Augen, kleine Stupsnase, runde Bäckchen, flache Brust und hohes Stimmchen, das ist doch nur was für verhinderte Kinder-Schänder." - "So ein Quatsch," sagt Melone, "ich habe es noch nie mit Minderjährigen getrieben, obwohl manche Frauen dort mit 14 reifer sind als manche Europäerinnen mit 40 - übrigens nicht nur körperlich. Und das mit dem Kindchen-Schema der Asiatinnen stimmt auch nicht. Auf die Inderinnen paßt es zum Beispiel gar nicht, und ich kenne Chinesinnen, die sind alles andere als zierlich und haben mehr auf der Brust als du. Die sind bloß braver und geben nicht so viele Widerworte." - "Das glaubst du doch selber nicht. Die geben dir keine Widerworte, weil sie deine Sprache nicht verstehen und du ihre nicht. Frag mal einen Asiaten, der mit einer Asiatin verheiratet ist, was das zuhause für Drachen sind. Und da du Indien ansprichst, hast du uns nicht selber erzählt, daß dort die Schwiegermütter über die Familien herrschen, und daß die alternden Ehemänner nur als Gallions-Figuren im Rollstuhl daneben sitzen?" - "Das liegt in der Altersstruktur der dortigen Familien begründet. [Drückt der sich wieder gespreizt aus, denkt Tarzan, an dem ist ein Rhetorik-Professor verloren gegangen.] Da ist es eben ganz normal, daß eine Frau 20 Jahre jünger ist als der Mann; deshalb macht es den Asiatinnen auch nichts aus, einen älteren Europäer zu heiraten." - "Na klar, die haben alle einen Vaterkomplex, weil deren Väter schon an Altersschwäche gestorben sind, bevor sie selber in die Pubertät gekommen sind," versetzt Jane, "und mit solchen armen psychisch Kranken läßt du dich ein? Pfui Teufel!" - "Was redest du denn da über Dinge, von denen du nichts verstehst? Du warst noch nie in Asien, also sind das alles Vorurteile. Warte ab, bis ich mir eine von denen mitgebracht habe; wahrscheinlich bist du die erste, die sich mit ihr prächtig versteht."

Tarzan schlägt innerlich die Hände über dem Kopf zusammen; er erinnert sich an die junge Brasilianerin, die Melone vor ein paar Jahren nach Deutschland geholt hatte - am Ende prozessierten sie um die Kosten für ihren Rückflug; oder an die kleine Marāthī, die um keinen Preis zurück nach Bombay wollte, weil sie dort vor ihrer Familie das Gesicht verloren hätte - er reichte sie an einen Bekannten weiter (von dem sie inzwischen geschieden ist), und zuletzt die dicke Kenyanerin, die er gerade glücklich abgeschoben hatte, als sie ihm schon eine Postkarte schickte, daß er Vater würde. Nun ist sie mit dem süßen Knaben wieder in Deutschland (sie hat es geschafft, sich von einem anderen Mann einladen zu lassen) und fordert Unterhalt; Melone ist empört: Hat das Gericht nicht gerade erst die Unterhaltsklage einer schon etwas älteren Filippinin abgeschmettert, die ihm ein Kuckucksei unterschieben wollte? Jane rechnet herum und kommt zu dem Ergebnis, daß Melone eigentlich nicht der Vater sein könnte. "Dann soll sie klagen, freiwillig zahle ich nichts." - "Hm... aber ich wäre dir sehr verbunden, wenn du vor deiner Abreise noch meine letzte Honorarrechnung bezahlen würdest," bemerkt Tarzan. Das ist das Stichwort: Melone verabschiedet sich eiligst.

Als er zurück kommt, hat er zwar keine Thailänderin mitgebracht (in Deutschland sind inzwischen die Einreise-Bedingungen für Ausländer verschärft worden); aber er schwärmt von den Mädchen in Pattaya. "Mit denen kannste alles machen, und sooo preiswert! Jeden Tag habe ich mindestens drei von denen flach gelegt." - "Bah, lauter Nutten." - "Was heißt das schon," meint Melone, "im Grunde genommen ist das doch ein ganz ehrliches Geschäft. In anderen Ländern - übrigens auch bei uns - kannste eine Frau für ein paar Wochen haben, wenn du sie in einem dicken Wagen oder Flugzeug mit nimmst, ihr ein schönes Hotel und Essen in guten Restaurants spendierst, dafür pennt sie dann solange mit dir, und danach ist Schluß. Aber die Thailänderinnen halten es für Zeit- und Geldverschwendung, sich mit reichen Ausländern in teuren Restaurants und Hotels herum treiben, ohne dafür entsprechend entlohnt zu werden, zumal der Ausländer ja für alles viel mehr bezahlt als ein Einheimischer, die fremden Hoteliers sich also auf ihre Kosten eine goldene Nase verdienen, wo sie dieses Geld doch viel besser gebrauchen könnte. Deshalb wollen Thailänderinnen - egal ob Profis, Halbprofis oder Amateure - halt lieber Geld, um ihre Familien, Eltern, Geschwister und Kinder zu unterstützen; sonst haben sie geradezu ein schlechtes Gewissen: Mit welchem Recht lassen sie es sich gut gehen, während ihre Angehörigen darben? Eigentlich ist das doch ein rührender Zug von Eltern- und Geschwisterliebe." - "Die lieben Eltern und Geschwister versaufen das Geld dann aber meist sehr schnell, statt es für etwas Sinnvolles auszugeben." - "Na wenn schon, selbst das kann man ökonomisch sehen: Von dem Betrag, den ein Ausländer im Restaurant eines Fünf-Sterne-Touristenhotels mit einer Frau an einem einzigen Abend verspeist und vertrinkt, könnte sich ihre ganze Familie zuhause zwei Wochen lang mit einheimischem Whisky besaufen." - "Auf deine Kosten." - "Auf deine nicht?" - "Ich habe noch nie eine Frau für Sex bezahlt; das habe ich nicht nötig." - "Hat es schon mal eine Thai bei dir umsonst gemacht?" - "Hm... jein." - "Was soll denn das heißen?" - "Nun, ich stehe auf Französisch." - "Ausgerechnet... wo die Thais es doch sonst so mit dem Kopf haben?" - "Ja, aber das reizt mich doch gerade. Ich will wissen, was es mit solchen Stereotypen auf sich hat, deshalb streichele ich Thailänderinnen auch immer ganz bewußt über den Kopf, weil überall steht, daß man das nicht tun soll; es hat sich noch keine beschwert." - "Du hast eben als Ausländer den Bonus der Narrenfreiheit." - "Glaube ich nicht. Hast du mal von einer Indonesierin einen Nasenkuß bekommen?" - "Nein, wozu?" - "Weil es interessant ist, ganz anders, als ich mir das immer vorgestellt hatte, und völlig überraschend, die Initiative ging von ihr aus. Und das hatte bestimmt nichts mit Ausländerbonus oder Narrenfreiheit zu tun, sonst hätte sie mir ja nur einen Mundkuß gegeben, oder? Wofür reise ich denn ins Ausland, wenn nicht um solche kulturellen Unterschiede zu erleben?" - "Ach weißt du," seufzt Melone geradezu und schenkt sich noch einen Wein ein, "dieser ganze kulturelle Schnickschnack macht mich nicht mehr neugierig. Entweder die Frau bringt's im Bett oder nicht; und dafür habe ich inzwischen einen ganz guten Blick; ich bin schon lange nicht mehr reingefallen. Und dafür bin ich auch bereit, etwas zu zahlen; was habe ich denn davon, mit einer stundenlang zu quatschen und Händchen zu halten, Kino, Theater und Restaurant zu bezahlen und dann doch nicht zum Zuge zu kommen, bloß weil der am Ende einfällt, daß ihr meine Nasenspitze doch nicht so zusagt? Ich empfinde das als Betrug."

Inzwischen hat sich auch Jane hinzu gesellt, und ihr Mann lenkt das Gespräch in eine andere Richtung. "Wenn du solche Angst hast, betrogen zu werden, dürftest du aber gerade nach Thailand nicht mehr reisen; dort wirst du doch bei allem und jedem übers Ohr gehauen." - "Wieso?" - "Na, ist dir noch nicht aufgefallen, daß du in Thailand als Farang, als Ausländer, für alles mehr zahlst? Ganz offiziell? Nicht nur in Hotels und Restaurants, sondern sogar in der staatlichen Eisenbahn..." - "Na wenn schon, die können auch nicht von Luft und Liebe leben; für uns ist es immer noch billig." - "Ich finde das unmöglich; wir knöpfen Ausländern doch auch nicht für alles mehr ab. Und mit solchen Betrügern machst du noch Geschäfte." - "Mein lieber Tarzan, du bist kein Geschäftsmann. Du glaubst, alle Preise müßten sich in erster Linie nach dem Angebot richten. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Es gibt eben auch Gegenden auf der Welt, wo sie sich in erster Linie nach der Nachfrage richten. So ist es halt in Thailand." - "Also, ich verstehe ja noch, wenn du für ein besonders attraktives Mädchen mehr hinblätterst als für ein weniger attraktives, oder in einem guten Restaurant mehr bezahlst für ein Essen als in einem weniger guten, oder für eine Bahnfahrt 1. Klasse mehr als für eine 2. Klasse; aber wieso willst du für ein- und dieselbe Ware mehr bezahlen als ein Einheimischer?"

"Du bist Anwalt, nicht wahr? Wenn du eine Unterhaltssache für mich machst, bekommst du dafür soviel Geld wie in der Gebührentabelle steht, und das richtet sich nach meinem Gehalt. Wenn du exakt die gleiche Sache machst, wenn es um dieselbe Mutter und dasselbe Kind geht, wenn du exakt die gleiche Menge Zeit und Arbeit dafür aufwendest, dem Gericht exakt das gleiche schreibst und sagst, aber der angebliche Vater hat weniger Geld als ich, dann nimmst du dafür weniger Honorar. Kannst du mir mal erklären, was daran gerecht ist, wenn ich für die gleiche Sache mehr zahle?" - "Das hat nichts mit dir zu tun, sondern mit dem Streitwert. Wenn die Gegenseite verliert, muß sie mein Honorar nach demselben Streitwert zahlen, auch wenn sie arm ist." - "Ach, heißt das, wenn ich reiche Leute verklage wird das teurer als wenn ich arme Leute verklage?" - "Nein, wenn ich von jemandem viel Geld haben will wird es teurer, als wenn ich weniger einklage." - "Ach, papperlapapp, erstens bekommen die Armen Prozeßkostenhilfe vom Steuerzahler, und zweitens, wenn sie nicht zahlen können bleibe ich ja doch auf der Rechnung sitzen." - "Aber du kannst die Urteile und Kostenfestsetzungsbeschlüsse später immer noch vollstrecken, wenn die zu Geld kommen sollten, 30 Jahre lang." - "Ha, ha, mit den Dingern könnte ich inzwischen tapezieren, wenn ich wollte." - "Das ist doch nicht der Punkt. Wenn du in Thailand die Preise verdirbst, zum Beispiel für den Rikscha-Fahrer, wenn der an dir soviel verdient wie sonst an einem ganzen Tag an den Einheimischen, glaubst du im Ernst, der macht noch eine Fuhre, wenn abends der arme Bauer vom Feld kommt, der dringend auf den Transport angewiesen wäre? Der muß dann zu Fuß gehen, denn der kann sich die Touristenpreise nicht leisten. Und wenn die Touristen die Preise für Lebensmittel verderben - der kleine Mann in Thailand zahlt die Zeche für die Inflation." - "Ach was, erstens geht mich der kleine Mann in Thailand nichts an, zweitens bekommt der es schon noch billiger, und drittens mußt du dich mal von der überkommenen Vorstellung freimachen, es gäbe unterschiedliche Wirtschaftszweige. Im Grunde genommen ist alles Dienstleistung. Wer als Bediensteter bei einem Reichen angestellt ist, bekommt auch mehr Gehalt als wer bei einem Armen arbeitet. Die Kokosnuß, die du auf dem Markt kaufst, ist als Produkt an sich auch umsonst, sie wächst ja von selber; bloß die Dienstleistung, auf die Palme zu klettern, sie zu pflücken, wieder herunter zu klettern, sie mir aufzuschlagen und womöglich noch einen Strohhalm hinein zu stecken, das sind alles Arbeitsgänge, die der Eingeborene mir abnimmt, das spart meine Zeit, und die ist halt wertvoller als die des Bauern, der abends vom Feld kommt. Und reiche Einheimische zahlen für so eine Dienstleistung auch mehr als arme. So einfach ist das."

"Nein, so einfach ist das nicht," widerspricht Tarzen, "die paar tausend reichen Thailänder können die Preise gar nicht auf so breiter Front verderben wie die vielen Millionen Touristen, die jedes Jahr ihr Geld dort lassen. Wenn der Touristen-Nepp überhand nimmt, führt das dazu, daß sich der Arme nicht nur keine Rikscha-Fahrt mehr leisten kann, sondern bald auch keine Kokosnüsse mehr. Und bevor du mir wieder mit der Anwalts-Gebühren-Tabelle kommst - schau, ich bin auch in den USA als Anwalt zugelassen. Dort rechnet man üblicherweise nach Stundenlohn ab. Wenn der Anwalt dort nun für einen kleinen Fall ebenso zehn Stunden braucht wie für einen großen und pro Stunde 300 US-$ nimmt, kannst du dir ausrechnen, ab wann es sich für arme Leute nicht mehr lohnt, zum Anwalt zu gehen. Die können dann selber sehen, wie sie zurecht und zu Recht kommen - wie der Bauer in Thailand, der abends zu Fuß nach Hause gehen muß." - "A propos, ich muß los, die letzte Straßenbahn fährt in 10 Minuten." Melone, der in Thailand keinen Schritt zu Fuß gehen würde ("da ist es ja so heiß"), fährt in Deutschland grundsätzlich nie Taxi, das ist ihm zu teuer; und das Auto läßt er natürlich in der Garage, wenn er sich irgendwo zum Weintrinken einlädt. "Siehste," meint Jane hinterher zu ihrem Mann, als der sich todmüde ins Bett verkriecht, "an dem solltest du dir ein Beispiel nehmen, der kann noch jeden Tag mindestens dreimal." - "Das ist der Coolidge-Effekt," versetzt Tarzan, "wenn ich jeden Tag drei andere Frauen hätte, könnte ich das auch noch; ich wußte gar nicht, daß du Melones Liebesleben neuerdings als vorbildlich empfindest. Und seit wann nimmst du für Bennis Frau Partei?" Den Vaterschafts-Prozeß gegen die Kenyanerin verliert Melone mit Pauken und Trompeten; sie war clever genug, ihn nicht an seinem Wohnsitz zu verklagen, sondern in Posemuckel an der Lippe, ihrem eigenen Aufenthaltsort, denn am dortigen Gericht ist Tarzan nicht als Anwalt zugelassen, und der junge Kollege, an den Melone dort gerät, ist eine ausgemachte Niete. Melone schimpft und zahlt, aber er bleibt sich treu - wenn schon nicht den Frauen.

* * * * *

Irgendwann Ende des 20. Jahrhunderts im Rheinland. Zwei alte Freunde, die sich in den letzten Jahren ein wenig aus den Augen verloren haben, sitzen in einem Café und laben sich an Kakao (der kommt aus Ecuador, das wissen sie noch) und Kuchen. Tarzan hat kaum noch Haare auf dem Kopf, sein alter Spitzname paßt irgendwie nicht mehr zu ihm, sie nennen ihn jetzt "Dikigoros", weil er sich nicht mehr durch die Weltgeschichte hangelt (außer mit dem Finger auf der Landkarte und im Internet) und seinen Urlaub lieber in Griechenland verbringt. Und das Weltgeschehen in den von ihm einst bereisten Ländern verfolgt er zwar immer noch aufmerksam, aber halt auch hauptsächlich aus dem Fernseher oder aus der Zeitung - was er früher immer so verachtet hatte. Längst sind auch die vermeintlichen "Boom"-Länder Asiens zum Milliardengrab nicht nur für die deutsche Wirtschaft geworden; der "Asien-Crash" von 1997 hat die großen Träume platzen lassen wie Seifenblasen; man kann also die Vergleiche mit Lateinamerika jetzt, nachdem der Rausch verflogen ist, etwas nüchternder ziehen, auch was die Fremdenfeindlichkeit anbelangt - inzwischen zeigen die Thais sie fast noch offener als die Bolivianer.


Schild am Eingang eines Ladens in Thailand:
"ALL foreigners are bad (ALLE Ausländer sind schlecht).
We preferred not to have any one (wir zögen es vor, keinen einzigen zu haben).
THAI ONLY (NUR FÜR THAIS).
Foriegner Don't Enter, Please (Aulsänder nicht eintreten, bitte"

Man stelle sich vor, so etwas hinge irgendwo in Deutschland herum - der Verfasser würde sofort vor Gericht gestellt und nach einem Schauprozeß, den die deutschen Medien weltweit breit träten, lebenslänglich eingesperrt - mindestens, vielleicht würden einige politisch besonders korrekte Gutmenschen sogar nach Wiedereinführung der Todesstrafe rufen, für das Kapital-Verbrechen der Diskriminierung von Ausländern! Aber im Ernst: Jetzt noch einmal nach Südamerika fliegen, um sich erneut ein eigenes Bild aus der "Frosch-Perspektive" zu machen? Lohnt es sich denn, dafür sein Leben zu riskieren? Die paar westlichen Reisenden, die es tun, werden mit unschöner Regelmäßigkeit von Drogendealern, Indios oder anderen Banditen, die sich als "Widerstandskämpfer" aufspielen und um nichts besser sind als die Tupamaros und Senderistas unseligen Angedenkens, überfallen, ausgeraubt, ermordet oder entführt, um Lösegeld zu erpressen. Mit Mitteln der "inneren Sicherheit" kann man den Banditen nicht mehr beikommen, denn die einstigen deutschstämmigen Diktatoren - die da keine "rechtsstaatlichen" Skrupel gehabt hätten - sind längst gestürzt, und gleichwertige Nachfolger haben sich nicht gefunden. Inzwischen haben die meisten erkannt, was man an ihnen hatte, bis auf ein paar unverbesserliche Narren, die auch nach dem Zusammenbruch des Sowjet-Imperiums noch immer glauben, daß die Welt im allgemeinen und Südamerika im besonderen am sozialistischen Wesen hätte genesen können, wenn man die Allendes und Genossen nur hätte machen lassen.

[Allende]

Doch nun ist es zu spät: Die alten Strukturen sind zerstört, und die Substanz, aus der neue entstehen könnten, ist nicht mehr vorhanden. Erinnert Ihr Euch noch an den Anfang dieses Berichts, liebe Leser, und an Dikigoros' naïven Glauben, "die" Menschen würden sich eh nicht ändern? Mag ja sein - aber wenn es nicht mehr die selben Menschen sind, sondern ganz andere? Die Zusammensetzung der Bevölkerung Südamerikas hat sich weiter massiv zuungunsten derjenigen Teile verschoben, die bereit und in der Lage wären, zu arbeiten, etwas aufzubauen, auf die Beine zu stellen. Sie sind nur noch eine Minderheit, und die zählt bekanntlich an den "demokratischen" Wahlurnen nicht. (1958 schrieb Peter Härlin in "Weltreisen" optimistisch, daß in Südamerika 100 Jahre zuvor weniger als die Hälfte der Einwohner "reinblütige Weiße" waren; inzwischen habe sich das Dank der Einwanderung aus Europa grundlegend geändert... Nur 50 Jahre später war der Anteil der "reinblütigen Weißen" unter 5% gesunken, und noch einmal 50 Jahre später wird es überhaupt keine mehr geben!) Nicht nur die brasilianische Ost-Küste, sondern auch die Nord- und Nordwest-Küste Südamerikas werden jetzt mehrheitlich von Schwarzen bevölkert. Sie sind aus der Karibik herüber geschwappt und haben, wie einst dort, die Menschen verdrängt, die vor ihnen dort lebten - diesmal nicht nur die Roten, sondern auch die Weißen. Die Gesellschaften zerfallen in ihre natürlichen Bestandteile: Die hellhäutige Oberschicht isoliert sich in ihren festungsartig ausgebauten Prachtvillen und genießt ihre Privilegien. Die dunkelhäutige Unterschicht, die nicht arbeiten kann oder will, verlegt sich auf Prostitution, Drogenhandel, Diebstahl, Raub und Plünderung; sie schickt dazu ihre Kinder vor - die Mädchen landen im Bordell, die Jungen hausen in großen Banden auf offener Straße, wie in einem Feldlager. Die verarmte Mittelschicht, die zwischen diesen beiden Blöcken aufgerieben und vom Staat im Stich gelassen wird - "Kinder" sind ja nicht strafmündig (ob die Herren Gesetzgeber in ihren Elfenbeintürmen schon mal eine Horde halbwüchsiger Neger-"Kinder" mit Macheten, Eisenstangen und Pflastersteinen von nahe gesehen haben?) - greift verzweifelt zur Selbsthilfe, stellt private Schutztruppen auf, die in die Offensive gehen und die jugendlichen Straßenbanditen bis aufs Messer bekämpfen. Von allen die sie kennen werden diese Bürgerwehren mit erleichtertem Beifall bedacht und geachtet, von allen anderen geächtet - vor allem von ausländischen Schmierfinken, die ihre Zeitungs- und Fernseh-Reportagen im gut bewachten Luxus-Hotel verfassen und sie als "Todesschwadronen" und "Mörder" diffamieren.

Halt, hat Dikigoros da eben etwas gehört wie: "Die armen, unschuldigen Kinder..."? Ach, liebe Leser, das ist ja nur eine blauäugige Wunsch-Vorstellung, die an Zeiten und Orten vorherrscht, wo der statistische Trend zur Nullkommafünf-Kinder-Familie anhält, wo man deshalb um die paar Kinder, die es noch gibt, den Tanz ums Goldene Kalb aufführt und alles mögliche und unmögliche Schöne in sie hinein interpretiert! Andere Gesellschaften - in denen Kinder noch in Massen, in Banden und in Horden auftreten - sind klüger. Sie wissen, daß Menschen-Kinder mit einem natürlichen Hang zum Zerstören, zu Töten, zur Grausamkeit geboren werden ("Destruktionstrieb" nannte Freud das), und wenn man ihnen den nicht durch Erziehung austreibt, behalten und vertiefen sie ihn womöglich noch. Kinder sind weiter nichts als böse kleine Erwachsene, aus denen im besten Fall etwas weniger böse große Erwachsene werden. Wo immer besonders bestialische (Bürger-)Kriege toben, da stehen "Kinder" in vorderster Front, und zwar entgegen weit verbreiteter Vorurteile nicht nur als Opfer, sondern auch und vor allem als Täter. Wer waren die Speerspitzen der Golfkriege zwischen Iran und Irak? Kinder, weil sie ob ihres geringen Gewichts die Minenfelder überqueren konnten, ohne sie zur Explosion zu bringen. Wen schicken die Palästinenser in die erste Reihe, wenn sie vor den Kameras der ausländischen Fernsehteams die israelischen Truppen durch Steinwürfe provozieren? Frauen und "Kinder". Wer führt den Bürgerkrieg der Karen im Grenzgebiet zwischen Barmā und Thailand? "Kinder"! Und wer stellt das Gros der mordenden und plündernden Soldateska in Afrika, in Ruanda, Burundi, Kongo, Sierra Leone, Äthiopien, Somalia? Wer verübt immer und überall die abscheulichsten Kriegsverbrechen? "Kinder"-Soldaten! Und wer da etwa behauptet, die täten es nicht freiwillig, sondern würden zum Kriegsdienst "gepreßt", der schaue nach Fernost: Chinas "Kultur"-Revolution, die größte Kultur-Vernichtung des 20. Jahrhunderts, wurde von den "Roten Garden" getragen, Schul-"Kindern", den Schülern Maos; und auch die Terror-Truppen Pol Pots in Kambodja waren solche "Kinder". Sie alle sind alt genug, um zu töten - dann müssen sie auch alt genug sein, um dafür zu sterben. Also, liebe Leser, die Ihr noch nie in Brasilien oder sonstwo auf der Welt wart, wo "Kinder"-Horden ihr Unwesen treiben, wenn man es ihnen ungestraft durch gehen läßt: Brecht nicht voreilig den Stab über die so genannten "Todesschwadronen". Gott segne sie - und das schreibt Dikigoros in vollem Ernst.

Als 1992 der 500-jährigen Wiederkehr der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus gedacht wurde - von den einen schön geredet, von den anderen verdammt (als ob die alten Kamellen noch durch eine zwingende Kausalkette mit den heutigen Zuständen verbunden wären) - zog Carlos Fuentes, dessen Stimme Gewicht hat, weil er zwar nicht der beste, aber der im Ausland bekannteste Schriftsteller Lateinamerikas ist (er schreibt in englischer Sprache und in einem chaotischen Stil, der an Döblin erinnert), ein vernichtendes Fazit - nein, ein vernichtendes und ein euforisches: Überall in Lateinamerika herrschen Inflation, Arbeitslosigkeit, Verschuldung, Armut und Analfabetentum. Die Kaufkraft und der Lebensstandard sinken. Soweit die schlechte Nachricht. Nun aber die gute Nachricht: Es hat sich daraus in ganz Lateinamerika - in einigen Ländern mehr, in anderen weniger - eine "multikulturelle Gesellschaft" entwickelt, in der Indios, Schwarze und Weiße gleichberechtigt nebeneinander leben; und das sei doch viel wichtiger als Reichtum. "Der vergrabene Spiegel" hat Fuentes sein Buch genannt; aber Dikigoros fragt sich, ob da nicht eher der Hund begraben liegt und ob er nicht Ursache und Wirkung verwechselt - ist die Armut nicht eher eine Folge der multikulturellen Gesellschaft? Oder einfach nur der politischen Fehlentwicklungen? Wie dem auch sei: Inzwischen herrschen fast überall die Genossen Not und Chaos - aber die sind wenigstens frei gewählt, was gute Demokraten im In- und Ausland mit Wohlgefallen zur Kenntnis nehmen, zumal die südamerikanischen Länder so keine lästige Konkurrenz auf den Weltmärkten darstellen können, sondern ständig am Rande des Staatsbankrotts krebsen und weiter auf die großzügigen neuen Kredite der "reichen" Industrie-Länder angewiesen bleiben, schon zur Abbezahlung der alten - "Umschuldung" nennt man das. (Ob die Hausfrau aus Buenos Aires das noch miterlebt hat?) Tarzan hat Recht behalten mit seiner These, daß nur "Ausländer" den südamerikanischen Karren aus dem Dreck ziehen können - wenn überhaupt, wenigstens ein bißchen. In Argentinien hätte es ein gewisser Menem, den sie "El Turco" nennen, weil er Levantiner ist, fast geschafft; aber als es ansatzweise wieder bergauf ging, wurde das Wahlvolk des Gürtel-enger-Schnallens müde und wählte ihn ab. In Perú wäre es einem Japaner namens Fujimori fast gelungen, den jahrelangen Bürgerkrieg zu beenden und den Terror-Sumpf trocken legen - die Inflation von siebentausend Prozent im Jahr hatte er bereits besiegt und die Wirtschaft halbwegs wieder in Schwung gebracht; zum Dank wurde er im eigenen Land mehr und mehr gehaßt und im Ausland als "Faschist" verschrien. Nach zehn Jahren hat der Mohr seine Schuldigkeit getan: Die Korruption eines - eingeborenen - Ministers nimmt man zum Anlaß, ihn - der persönlich absolut integer ist - aus dem Amt zu jagen. Er reist zurück in das Land seiner Vorfahren, nach Nippon; und der Anden-Staat, den er fast saniert zurück läßt, versinkt bald wieder im Chaos. Allein die Bolivianer haben den alternden Hugo Banzer zurück geholt - wohlgemerkt in freien Wahlen, so daß das Ausland nicht meckern kann; aber es ist eh zu spät, im Indio-Staat Bolivien ist endgültig Hopfen und Malz verloren.

Exkurs. Dikigoros ist von kritischen Lesern (vor allem von solchen, die noch nie in Lateinamerika waren oder jedenfalls die damalige Zeit nicht mit erlebt haben, sondern sie nur aus ihren Märchen-, pardon Geschichts-Büchern "kennen") gefragt worden, ob dies etwa eine Hommage an die bösen Militär-Diktaturen der sechziger und siebziger Jahre sein solle. Nein, so pauschal kann man das nicht sagen. Dikigoros erlaubt sich, zu differenzieren (manche nennen das auch "diskriminieren" - beides bedeutet aber letztlich nur "unterscheiden"; und wer zu unterscheiden weiß, der darf doch auch Unterschiede machen, oder?): Es gibt Völker, die brauchen die Knute, sei es die eines Zaren, die einer sozialistischen oder sonstigen Diktatur; beim Aufhören dieses Zwanges wäre die Mehrheit dieser Menschen nicht einmal bereit, soviel zu arbeiten, daß es zum Bestreiten ihres eigenen Lebensunterhalts ausreicht. Pardon, da ist Dikigoros doch ein Zitat von Sigmund Freud in die Tastatur gerutscht ("Die Zukunft einer Illusion", Kapitel I, Seite 3, von Dikigoros aus dem Englischen zurück übersetzt; er hofft, daß der geneigte Leser es dennoch im deutschen Original wieder findet, falls er danach suchen sollte). Er selber würde gar nicht so weit gehen, das psychologisch zu deuten; er will es einfach nur mal aus der Frosch-Perspektive des ausländischen Reisenden betrachten: Es gibt Länder, in denen herrschen Verbrecher-Regime, kein Zweifel. Bemerkenswerterweise kann man sich in diesen Ländern oft darauf verlassen, daß "das (einfache) Volk" den Reisenden gastfreundlich aufnimmt und sich mit ihm gegenüber den schikanösen Behörden solidarisch fühlt; dazu zählen z.B. die meisten kommunistischen Länder, vor allem die des alten Sowjet-Imperiums in Osteuropa (mit der unrühmlichen Ausnahme von Deutsch-Ossinesien). Dann gibt es Länder, in denen "das (einfache) Volk" überwiegend aus kleineren oder größeren Gaunern besteht, vom Halsabschneider im übertragenen bis zum nicht-übertragenen Sinn, die in ausländischen Reisenden nur zu rupfende Gänse oder zu scherende Schafe sehen und auch über Leichen gehen würden, wenn die sich nicht "freiwillig" rupfen oder scheren lassen. Bemerkenswerterweise kann man sich in diesen Ländern oft darauf verlassen, daß die Behörden und ihre Mitarbeiter einem zu Hilfe kommen und ihre schützende Hand über einen halten; dazu zähl(t)en z.B. die meisten Länder Lateinamerikas und des Mittelmeerraumes (von Portugal im Westen bis zur Türkei im Osten, aber das ist eine andere Geschichte).

Dann gibt es einige (wenige) Länder, in denen Bevölkerung und Regierung an einem Strang ziehen, z.B. Japan, wo sowohl die Regierung als auch jede(r) einzelne im "(einfachen) Volk" stets bemüht ist, den peinlichen Eindruck zu vermeiden, ein ausländischer Tourist würde etwa nicht korrekt behandelt, weil er ein "Gaijin" ist. Das ist schön; aber die Kehrseite der Medaille gibt es leider auch, z.B. Thailand, wo sowohl die Regierung als auch "das (einfache) Volk" aus Verbrechern besteht, die an besagtem Strick in unschöner Einigkeit so ziehen, daß sich der ausländische "Farang" (eine der vielen Verballhornungen von "Franke", die in Asien als Schimpfwort für Ausländer im Umlauf sind) in der Schlinge verfängt und im Idealfall erdrosselt wird (aber das ist eine andere Geschichte). Woran mag das liegen? Dikigoros ist wie gesagt kein Psychologe, aber es gibt Leute, die meinen, das läge an einer besonderen Art von Homogenität der letzteren Völker: In Lateinamerika herrsche eine überwiegend weiße Oberschicht über eine eingeborene, überwiegend aus Indios oder Mestizen bestehende Unterschicht; da fühle sich erstere natürlich mit weißen Ausländern solidarisch; in Japan oder Thailand sei das eben nicht der Fall, da kämen die Herrschenden "aus dem Volk". (Wobei mit "Herrschenden" natürlich nicht die vom Volk weit entrückten Gott-Könige bzw. Kaiser gemeint sind, sondern diejenigen, die tatsächlich die Macht ausüben, wenn auch in ihrem Namen.) Für Dikigoros erklärt das zwar nicht, wieso ein- und derselbe Sachverhalt in Japan und Thailand für ausländische Reisende so unterschiedliche, ja völlig entgegen gesetzte Folgen zeitigen kann; aber er läßt das einfach mal so stehen, damit der geneigte Leser in Ruhe und unvoreingenommen darüber nachdenken kann. Exkurs Ende.

Alle anderen Länder Südamerikas sind noch eher den Bach runter gegangen, passend zu den Iguaçú-Fällen. In Chile haben die Sozialisten erneut die Macht ergriffen; sie machen General Pinochet, dem mittlerweile 85-jährigen Greis, der sein Land ein Vierteljahrhundert vor diesem Verhängnis bewahrt hatte, den Schau-Prozeß; bald darauf wird auch Menem in Argentinien der Prozeß gemacht werden, und in Ermangelung Fujimoris - der ebenfalls zur Fahndung ausgeschrieben wird - in Perú seinen Ministern. Nur im Norden sieht es wenigstens finanziell etwas besser aus: In Venezuela wird Erdöl gefördert, und in Kolumbien wird in großem Stil Rauschgift angebaut, das von einer skrupellosen Mafia nach Nordamerika und Westeuropa exportiert wird. Aber von diesem schmutzigen Geld sieht das einfache Volk praktisch nichts, das zahlt bloß die Zeche in Form von wachsender Kriminalität. In solche Gegenden der Dritten Welt (man sagt nicht mehr "Schwellen-Länder", wenn man von Südamerika spricht, denn inzwischen hat auch der letzte Schönredner bemerkt, daß die niemals in der Lage sein werden, die Schwelle von der Armut zum Wohlstand auf breiter Front - das heißt für die Mehrheit der Bevölkerung - zu überschreiten) traut sich selbst Melone nicht mehr, der Ethno-Freak a.D., den in seinen besten Zeiten nicht mal die Bürgerkriege in Nicaragua und Kambodja hindern konnten, jene Länder zu bereisen - er vermittelte einfach gegen ein kleines Trinkgeld einen kurzfristigen lokalen Waffenstillstand, bis er die Ruinen der Tempel von Angkor Vat oder der Maya-Pyramiden besichtigt hatte und was ihn sonst so interessierte. Aber jene Zeiten sind vorbei. Er müßte inzwischen eigentlich "Tonne" heißen, so sehr ist er in die Breite gegangen; und er dürfte sich auch nicht mehr "Junggeselle" nennen, sondern höchstens "Altmeister", aber unverheiratet ist er nach wie vor, und Erfolg bei Frauen hat er auch noch mit seinem schönen, vollen, silbergrauen Haar (und seiner schönen, vollen - nicht nur mit Silber, sondern auch mit größeren Scheinen - Brieftasche).

"Du hast mir dieses Jahr noch gar keine Ansichtskarte geschickt," sagt Dikigoros, "machst du keine Geschäftsreisen mehr?" (Er meint damit: "Ich habe schon lange kein neues Mandat in einer Unterhaltssache mehr von dir bekommen; warum läßt du dich kaum noch bei mir sehen?") Obwohl Melone im Laufe der Jahrzehnte eine ungeheure Bibliothek an Reiseliteratur zusammen getragen hat - die größte, die Dikigoros je gesehen hat -, hat er sich doch immer noch die Zeit genommen, auch weiterhin durch die Weltgeschichte zu reisen. Aber nun rührt er mit gesenktem Blick in seiner Tasse herum, obwohl die längst leer ist, dann gibt er sich einen Ruck und sagt: "Mein Arbeitgeber hat Konkurs gemacht, schon vor einem Jahr; die Asienkrise hat uns das Genick gebrochen; ich konnte einfach nicht mehr genug Auslandsaufträge akquirieren. Und du glaubst doch nicht, daß ich auf eigene Kosten um die Welt jette? Ich kenne die Weiber inzwischen gut genug; die sind alle gleich, da kann ich auch zuhause bleiben." - "Bei den zickigen Deutschen?" - "Nein, entschuldige, aber du bist nicht mehr auf dem neuesten Stand. Wer heute noch als Sex-Tourist um die Welt reist, ist schön blöd. Die richtig guten Frauen kommen als Gastarbeiterinnen zu uns; was dort zurück bleibt, ist bloß der Schrott; das ist wie mit den Ossis." - "Wo kommen die denn plötzlich alle her?" - "Das müßtest du als Jurist doch am besten wissen: Sie haben das Ausländerrecht geändert, auf Druck der Emanzen-Verbände, die allen Ernstes glauben, daß alle ausländischen Nutten hier arme, ausgebeutete Ehefrauen waren, die von ihren bösen deutschen Männern verlassen wurden und aus Angst, abgeschoben zu werden, im Milieu untertauchen und auf den Strich gehen mußten; nach dem neuen Gesetz können sie schon nach drei Jahren eine unbefristete Aufenthalts-Genehmigung bekommen, in so genannten Härtefällen sogar noch früher. Dabei wird umgekehrt ein Schuh draus: Nun können die Zuhälter alle drei Jahre eine neue Scheinehe eingehen und noch mehr Nutten ins Land holen, und nur vom feinsten." - "Ach, und was hast du da im Moment so an der Angel?" - "Das wechselt. Polinnen, Tschechinnen, Ungarinnen, Rumäninnen... Und die Preise sind niedriger als je zuvor. Dafür käme ich nicht mal in Pattaya zum Zug. Die Angst vor AIDS hat den Markt völlig kippen lassen; das Angebot wird immer größer, die Nachfrage immer geringer, wie bei unseren Maschinen."

"Brauchen die Leute eure Maschinen nicht mehr? Oder seid ihr bloß zu teuer geworden? Oder die Konkurrenz zu gut?" - "Nein nein, das ist es nicht. Aber du mußt mal sehen, was wir für Maschinen verkauft hatten. Die Produkte, für deren Bereitstellung die benötigt wurden, erzielen heute auf dem Weltmarkt kaum noch Umsatz, geschweige denn Gewinn." Melone doziert wie ein Universitäts-Professor, nicht wie ein besserer Klinkenputzer, was Dikigoros immer wieder mit bewunderndem Staunen vermerkt. "Sondern?" - "Die bauen heute lieber Rauschgift an, kaum Aufwand, geschweige denn maschineller, riesige Gewinne, alles mit billiger Handarbeit. Das neue Zentrum des weltweiten Rauschgift-Handels ist übrigens nicht mehr der Norden Südamerikas, sondern der Nordwesten Thailands. [Das war, bevor die USA Afģānistān "befreiten" und dort einen Marionetten-Präsidenten installierten, dessen Sohn den Rauschgiftanbau für sich monopolisierte, binnen weniger Jahren verzehnfachte und zur Nr. 1 in der Welt machte, Anm. Dikigoros] sich der dortige Hergestellt wird das Zeug in Myanmar und dann über die Grenze geschafft." - "In wo?" - "Myanmar, Burma." - "Barmā." - "Die Leute nennen es heute Myanmar." - "Und ich nenne es Barmā, wie die Inder, die das Land aufgebaut haben, bevor man sie nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben oder massakriert hat. Haben deine Eltern ihren Geburtsort Danzig genannt oder Gdansk, weil die Polen es heute so nennen?" Und so schließt sich also der Kreis zwischen Perú und Pattaya - denn dort, am größten Ausländer-Treffpunkt Asiens, in den Bars, Diskotheken, Puffs und Nacht-Clubs, wird das Zeug bevorzugt umgesetzt - und Posemuckel am Rhein, das nicht mehr Bundeshauptstadt ist, wo die beiden ergrauten Weltreisenden beim Kakao über den Lauf der Zeiten sinnieren.

Sie schweigen sich eine Weile an. "Warst du eigentlich nochmal in Perú?" - "Nein, warum?" - "Du hast mir damals vorgeworfen, daß ich mir die anderen Länder nicht angeschaut habe, von wegen der Mestizen und der Weißen und so." - "Das war doch kein Vorwurf, sondern nur eine Feststellung. Daß du nach so langer Zeit noch daran denkst..." - "Wer weiß, wie lange ich noch Zeit habe, daran zu denken. Es muß nicht immer alles stimmen, was man dir vor Ort erzählt. Zum Beispiel mit den Tupamarus hat man dir einen Bären aufgebunden." - "Inwiefern?" - "Du hast dir erzählen lassen, daß das Indios waren, die sich nach dem letzten Inka-Herrscher benannt haben. Aber tatsächlich waren es Mestizen, die sich nach diesem zweiten Tupac Amaru (Melone spricht ihn immer noch falsch aus, deshalb hat Dikigoros die Betonungszeichen hier weg gelassen :-) aus dem 18. Jahrhundert nannten. Der war auch Mestize, ein Hochstapler, der gar nicht vom ersten Tupac Amaru abstammte, und es ging ihm auch nicht um das Wohlergehen der Indios, das war nur vorgeschoben, sondern um die eigene Macht. Nachdem die Regierung seine Forderungen allesamt erfüllt hatte, hat er nämlich erst recht weiter gekämpft, bis sie ihn erwischt und völlig zu recht hingerichtet haben. Du siehst, ich hatte doch Recht mit den Mestizen; manchmal weiß ein studierter Ethnologe eben doch mehr als ein studierter Jurist." - "Nun, immerhin habe ich damals erfahren, aus welchen Beweggründen die Aufständischen so gehandelt haben. Die haben nämlich an das geglaubt, was sie mir damals erzählt haben. Und die Geschichte besteht nun mal hauptsächlich aus Irrtümern, die auf die Nachwelt wirken - das ist die historische Wirklichkeit, nicht irgendwelche "wahren" Fakten. Ich glaube kaum, daß die ihren Kampf eingestellt hätten, wenn du daher gekommen wärest und ihnen erzählt hättest, daß die Geschichte ganz anders war. Es ist nun mal so, nicht nur in Lateinamerika, daß es den meisten Revoluzzern gar nicht um das Wohlergehen derer geht, für die sie vorgeben, Revolution zu machen, sondern um die eigene Macht. Und was die Abstammung anbelangt: Die Peruaner stellen sich ihren Lieblings-Revoluzzer halt als Indio vor - schau Dir doch mal die Münze an, sieht er da aus wie ein Mestize?"

[peruanische Münze auf Tupac Amaru]

"Du hattest auch in anderen Dingen Unrecht," insistiert Melone, "du und deine Frau, ihr habt mir immer vorgeworfen, daß ich zu Prostituierten gehe." Owei, denkt Dikigoros, General-Abrechnung - was hat er bloß heute? "Wir meinten ja nur, wo du doch früher immer gesagt hattest, mit 40 wolltest du heiraten, und nun bist du schon..." - "Ach, vergiß es," sagt Melone unwirsch, "das ist doch gar nicht der Punkt. Weswegen habt ihr eigentlich geheiratet?" - "Wie meinst du, warum wir überhaupt geheiratet haben, oder warum gerade wir beide?" - "Ja, letzteres natürlich. Sie hat kein Geld mit in die Ehe gebracht, du hältst sie finanziell kurz, und sonst paßt ihr auch nicht zusammen." - "Ja, weißt du..." Wie soll man das jemandem wie Melone erklären? Am besten mit Humor: "Ich glaube, ich habe sie geheiratet, weil sie damals ausgesehen hat wie France Gall." - "Aber singen kann sie bis heute nicht. Und weshalb hat sie dich geheiratet?" - "Wahrscheinlich weil ich damals ausgesehen habe wie William Hurt."

"Das ist doch kein Grund zu heiraten." - "Und weil ich mein Geld nicht in Kneipen, Bars und Puffs auf den Kopf haue." - "Danke." - "Bitte, du hast gefragt." - "Weißt du, in den Ländern, in denen wir hauptsächlich gereist sind, im katholischen Südamerika und in Asien, da muß eine Frau noch immer unberührt in die Ehe gehen. Es ist also geradezu unanständig, dort mit Nicht-Prostituierten zu schlafen." Dikigoros hat keine Lust, das auszudiskutieren und sagt nur: "Na, dann bin ich ja froh, daß wenigstens du immer anständig geblieben bist. Aber wie kommst du ausgerechnet jetzt darauf?" Melone kramt aus seiner Mappe eine Todesanzeige hervor: "Lulatsch ist tot." - "Wie das? Der war doch kaum älter als wir." - "Keine Ahnung. Nach langer, schwerer Krankheit steht da; na, der ist wenigstens in der schönen Überzeugung gestorben, daß er in den Himmel kommt. Das kann mir nicht passieren." Dikigoros fragt nicht nach, worauf sich der letzte Satz beziehen soll, auf die lange Krankheit oder das in-den-Himmel-kommen.

Zwei Wochen später bekommt Dikigoros Post vom Nachlaßgericht: Melone hat sich mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben genommen und Dikigoros zum Testamentsvollstrecker bestimmt, mit der undankbaren Aufgabe, seine unehelichen Kinder in aller Welt aufzuspüren und den Nachlaß gerecht unter sie zu verteilen. In einem Abschiedsbrief, den Dikigoros auf Melones Schreibtisch findet, unter einer meisterhaften Fotografie von Lulatsch, die sie beide Arm in Arm als junge Spunde in den Ruinen von Machu Picchu zeigt, liest er die Antwort auf seine nicht gestellte Frage: Melone hatte AIDS und keine Lust, sich noch lange mit seiner Krankheit herum zu quälen. "Das mußte ja mal so enden," meint Jane (die auch nicht mehr so wild ist wie früher und sich jetzt lieber mit ihrem "richtigen" Namen Erika nennt) und streichelt Gutfriß, den kleinen Kater mit dem großen Appetit, der zufrieden schnurrt, als wüßte er, daß er nun nicht mehr ausgesperrt wird, wenn Melone zu Besuch kommt, der eine Katzen-Allergie hatte und sich zu allem Überfluß auch nichts aus Truthahn machte, der zufällig das Leibgericht von Dikigoros und Gutfriß ist. Dikigoros sagt nichts. Er wirft einen kurzen, wehmütigen Blick in die Gebühren-Tabelle und überschlägt im Kopf, was ihm da an Honorar entgeht; dann schreibt er dem Nachlaßgericht, daß er das angetragene Amt des Testamentsvollstreckers nicht annehme.

* * * * *

[Gedenkmedaille auf den 400. Jahrestag der Entdeckung Amerikas durch 
Kolumbus...] [... und die Weltausstellung in Chicago] [Gedenkmünze auf den 400. Jahrestag der Entdeckung Brasiliens durch 
Cabral

Nachtrag. Anno 1892 wurde der 400. Jahrestag der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus weltweit groß gefeiert; in Chicago fand aus diesem Anlaß - oder jedenfalls unter diesem Motto - sogar eine Weltausstellung statt (aber das ist eine andere Geschichte); und fast ebenso groß wurde anno 1900 der 400. Jahrestag der Entdeckung Brasiliens durch Cabral gefeiert. Noch als Dikigoros zur Schule ging, galt die Entdeckung der "Neuen Welt" durch den weißen Mann als epochales Ereignis. Ja, Epoche machend im wahrsten Sinne des Wortes, denn damit, so lernte er damals, begann die "Neuzeit". [Früher hatte man in Deutschland auch schon mal das Jahr 1517 - Luthers Reformation - als Beginn der Neuzeit betrachtet; aber allmählich begannen die Deutschen sich Luthers zu schämen - war der nicht Antisemit gewesen, und hatten sich nicht auch die Nazis auf ihn berufen? Eben! Einige von Dikigoros' Lesern werden vielleicht noch die Zeit miterleben, in der die Schlacht von Mohacs anno 1526 als Beginn der "Neuzeit" gilt - als erster Schritt der Türken zur Eroberung Europas. Nein, zum 500. Jahrestag wird es wohl noch nicht ganz so weit sein, aber eine Generation später bestimmt.]

[spanische Gedenkmünze von 2006 auf Kolumbus' 500. Todestag]

Anno 1506 war Kolumbus gestorben. 500 Jahre später nahmen das einige wenige Zeitungen in Deutschland zum Anlaß, einen Dreizeiler (oder noch weniger) zu verfassen - andere nicht mal das. Der spanische Staat brachte eine Gedenkmünze heraus, die man in ihrer Peinlichkeit nur als "Freud'sche Fehlleistung" interpretieren kann: "Cristóbal Colón" steht nicht etwa in Europa und weist den Europäern den Weg nach Amerika; vielmehr steht er bereits in Amerika und scheint die Weißen - personifiziert durch die Köpfe des spanischen Königspaars in dem Medaillon über seinem ausgestreckten rechten Arm - aus dem Land, genauer gesagt aus dem Kontinent zu weisen wie einst Jahwe die Juden aus dem Paradies.

[Hugo Chávez, Präsident von Venezuela] ['Lula' da Silva, Präsident von Brasilien] [Evo Morales, Präsident von Bolivien]
[Michelle Bachelet, Präsidentin von Chile] [Rafael Correa, Präsident von Ecuador]

Nein, Südamerika ist schon lange kein "Paradies" mehr - und ist es eigentlich nie gewesen -, aber ansonsten stimmt das Bild: Auch in den Ländern, die Dikigoros oben noch ausgenommen hatte, weil sie Bürgerwehren, einen Hugo Banzer oder einfach nur Erdöl hatten, sind jetzt mehr oder weniger verrückte Eingeborene an die Macht gekommen, die sich jeglicher Kategorisierung in politische Ismen widersetzen, ob sie ihre Anhänger nun mit erhobenem Arm, "Victory"-Zeichen, geballter Faust oder sonstwie grüßen. Man mag sie als "Sozialisten", "Kommunisten", "Links-Nationalisten" oder "National-Bolschewiken" bezeichnen - aber eigentlich trifft nur eine Bezeichnung auf sie zu: "Rassisten"; denn gemeinsam ist ihnen allen (neben ihrer Bewunderung für Fidel Castro, unter dem die einst so reiche Karibikperle Kuba zur Negerinsel und zum Armenhaus Amerikas geworden ist), daß sie die Weißen - egal ob In- oder Ausländer - enteignen; und das letztendliche Ziel (selbst derer, die selber noch weißes Blut, pardon, das ist ja - nicht nur bei Kommunisten - immer rot, weiße Gene im Körper haben) ist wohl, sie innerhalb Lateinamerikas auszurotten und jeden auswärtigen politischen oder wirtschaftlichen Verkehr mit ihnen zu beenden. Ein Land nach dem anderen fällt ihnen in die Hände: Den Anfang macht bereits im alten Jahrtausend - 1999 - Venezuela, wo ein Indio namens Hugo Chávez die Macht ergreift. Im Januar bzw. Mai 2003 folgen Brasilien mit 'Lula' da Silva und Argentinien mit Néstor Kirchner (hinter dem seine ehrgeizige Frau Christina steht, die ihn fünf Jahre später beerben wird). Im Oktober 2004 fällt Uruguay an die Tupamaros - die sich jetzt "Frente amplio" nennen - und ihren Führer Tabaré Vásquez. Im Januar bzw. März 2006 folgen Bolivien mit dem Indio Evo Morales (der als erste Amtshandlung den Rauschgiftanbau legalisiert) und Chile mit der Honecker-Freundin Michelle Bachelet, im Januar 2007 Ecuador mit Rafael Correa, am 20. April - Führers Geburtstag - 2008 Paraguay mit Fernando Lugo y Trugo. [Das wußtet Ihr alles nicht, liebe deutsche Leser? Das sollt Ihr auch gar nicht wissen, deshalb enthalten die Lügenmedien Massenmedien Qualitätsmedien Euch solche Nachrichten vor. Es genügt doch, wenn Ihr wißt, was die Politiker aller gut-demokratischen Parteien zum Holocaust gesagt haben, wie das letzte Fußballspiel Eures Vereins - oder gar Eurer "National"-Mannschaft - ausgegangen ist und ob die Wetterfrösche meinen, daß es in den nächsten Tagen regnet oder nicht oder doch. Und einmal wöchentlich die Lottozahlen! Warum VW und Bayer ihre Werke in Lateinamerika schließen, braucht Ihr nicht zu wissen, von den kleineren Unternehmen nicht einmal, daß sie es tun - wozu denn?] Ein einziges Land hat dem Ansturm bisher stand gehalten - ausgerechnet das, dem Dikigoros es am allerwenigsten zugetraut hätte: Bei der Präsidentschaftwahl von Perú verlor im Juni 2006 Ollanta Humala, der Anden-Pol-Pot, dessen Wahlprogramm ("Ethnocarcerismus" genannt) vorsah, die Nicht-Indios nicht nur entschädigungslos zu enteignen, sondern sie auch von der peruanischen Staatsbürgerschaft auszuschließen (früher meinte er auch mal, sie auszurotten, aber mit solchen Äußerungen hält er sich vorübergehend zurück), die allein den "Cobrizos", den Angehörigen der "kupferfarbenen" Rasse vorbehalten sei, und der sein Land mit dem anderen "Inkastaat" Bolivien "wiedervereinigen" wollte - im Einvernehmen mit seinem Freund Morales. Aber noch ist Perú nicht auf den Coca-Anbau angewiesen, denn einstweilen hält es das Gold von Cajamarca - und damit kehren wir zum Ausgangspunkt dieser Reise zurück - wirtschaftlich über Wasser. In den Bergen über der Stadt hat die Firma Yanacocha begonnen, in großem Stil Gold abzubauen; zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist sie zur größten Goldgewinnerin Lateinamerikas und zur größten Steuerzahlerin Perús geworden, die den Staatshaushalt praktisch alleine finanziert. Aber schon regt sich der - vom Ausland organisierte - Widerstand gegen diese "Ausbeutung", und Humala scheiterte ja nur ganz knapp und erst in der Stichwahl - im ersten Wahlgang hatte er noch die relative Mehrheit gewonnen -; und so gilt wohl auch in Perú der Spruch: "Aufgeschoben ist nicht aufgehoben!" (Wie lange der Aufschub dauern mag? Nehmt mal als Beispiel Ecuador, liebe Leser: Dort hätte diese Entwicklung beinahe ihren Anfang genommen, als der Chávez-Freund Abd'allah, pardon, auf Spanisch schreibt sich das ja "Abdala" Bucaram Präsident wurde. Aber damals - 1997 - war das Parlament noch auf Zack, diagnostizierte Bucaram zutreffend als geisteskrank und setzte ihn mit dieser Begründung ab. Wie lange dauerte es danach, bis sein Gesinnungsgenosse Correa an die Macht kam? Zehn Jahre. In höchstens zehn Jahren wird Humala in Perú herrschen - oder jemand noch schlimmeres.) [Nachtrag: Es hat nur fünf Jahre gedauert; im Juni 2011 wurde Humala zum Präsidenten gewählt - ohne daß die internationalen Monopol-Medien dem mehr als ein paar Dreizeiler gewidmet hätten. Es ging ja um nichts, oder um fast nichts: es war bloß das Todesurteil für alle weißen - und auch für viele nicht-weiße - Peruaner.]

Ein großes Experiment geht zuende. (Dikigoros schreibt bewußt nicht "ein großartiges Experiment" - denn das war es nicht, abgesehen von den wenigen Ausnahmen, über die er berichtet hat.) Das Experiment, den Europäern für ihren Bevölkerungs-Überschuß eine "Neue Welt" zu erschließen - Amerika. Die weißen Frauen haben den Kontinent, den die weißen Männer einst eroberten, verloren - durch ihre Gebärfaulheit. Der alte Bevölkerungs-Überschuß ist aufgebraucht, neuer kommt nicht mehr nach, ganz im Gegenteil: Inzwischen müssen sich die aussterbenden Europäer auf ihrem eigenen Kontinent der Invasion des Bevölkerungs-Überschusses der "Dritten Welt" erwehren (oder müßten es - ob sie es noch rechzeitig tun ist eine andere Frage). Also ist es vielleicht gut so, daß es mit Südamerika gekommen ist wie es gekommen ist (und wohl in absehbarer Zeit auch mit Nordamerika kommen wird, aber das ist eine andere Geschichte) - vorausgesetzt, die Weißen sind klug genug, daraus die einzig richtige Konsequenz zu ziehen, nämlich dem schlechten Geld, das sie in Südamerika schon gelassen haben, kein gutes mehr hinterher zu werfen, weder als Investoren noch als Touristen. Mögen die Leute dort in ihrem eigenen Saft schmoren und sich selber zum Affen machen - und sei es zum Plüsch-Affen.

[Brasiliens Präsident 'Lula' da Silva als Plüschaffe]


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