G U T F R I S S

[in memoriam]

[Menschen und Tiere...]

Die Geschichte eines Katers
aufgezeichnet von Jane

Heiligabend, der letzte im Jahrtausend. Aber nicht deshalb herrschte bei uns Weltuntergangstimmung. Eigentlich wollten wir Weihnachten zu dritt feiern, aber ich hatte zum zweiten Mal mein Baby verloren - Abort, aber nicht das, was die Mörder im weißen Kittel und ihre Helfershelfer so nennen, sondern das, was halt noch vor der Fehlgeburt liegt. Und wir machten uns beide heftige Vorwürfe, denn wir hatten nach dem Motto gehandelt: "Erst das Studium, dann der Beruf, dann das Leben genießen, und dann ist immer noch Zeit zum Kinderkriegen." Aber die Natur war unerbittlich; und auch wenn ich mich noch bedeutend jünger fühlte - ich war einfach zu alt geworden, der Körper wollte nicht mehr, es war zu spät, definitiv. Meine vermeintlich mißratene Schwester hatte es richtig gemacht, als sie auf Geld und Karriere pfiff, den Spruch "früh gefreit, spät gereut" ignorierte, heiratete und Kinder bekam. Zwar jammerte sie inzwischen gewaltig und beneidete mich um mein "schönes, freies Leben", aber umgekehrt beneidete ich sie viel mehr - nur, daß ich es ihr nicht auf die Nase band. Und erst meine Cousine, die brave Katholikin, die inzwischen vier Kinder und ebensoviele Enkel hatte... Und was hatte ich? Einen Mann, der wie jedes Jahr ein amerikanisches Weihnachtsessen machte: Truthahn mit Mais. "Wenn ich schon am 1. Weihnachtsfeiertag den fetten Schweinebraten mit Semmelknödeln bei meiner Mutter essen muß und am 2. die trockene Entenbrust mit Kartoffeln bei deiner Mutter, dann will ich wenigstens Heiligabend etwas Ordentliches haben," pflegte er zu sagen. Ich habe mir nie etwas aus Essen gemacht, vor allem nicht aus Selbstgekochtem. Chic essen gehen, das ist etwas anderes, und früher haben wir das auch regelmäßig getan, vorzugsweise Büffet. Aber Niko hat dann immer so viel gefuttert, daß er immer dicker geworden ist; und irgendwann hat er mal gesagt: "Jetzt ist aber Schluß; ab sofort koche ich selber, und nur noch gesunde Küche." War mir auch egal; es störte mich bloß, daß es dann bei solchen Gelegenheiten aus den Resten drei Tage nacheinander das Gleiche gab. Zwischen Weihnachten und Neujahr war das "Nudelsalat Hawaii", d.h. mit Putenbrust, Ananas und "Miracle Whip" (bloß keine Mayonnaise, wegen der Kalorien).


Wir hatten gerade zum Essen Platz genommen, als es plötzlich leise "miau" machte. Ein winziges schwarzes Kätzchen schaute unter dem Tisch hervor. "Wo kommt die denn her?" fragte Niko. - "Die muß sich mit rein geschlichen haben, als du eben den Abfall raus gebracht hast, wo hast du auch deine Augen?!" (Man muß dazu sagen, daß dieses Kätzchen ein ganz besonderes Geschick hatte, sich mit jemandem herein und hinaus zu mogeln, wir haben es irgendwann aufgegeben uns zu fragen, wieso es plötzlich weg und wieder da war, ohne daß wir es bemerkt hatten.) - "Was machen wird denn jetzt damit?" - "Vielleicht frißt sie was und geht dann wieder, sie muß doch irgendwo hin gehören?!" Niko warf ihr gönnerhaft eine Flügelspitze zu, und das Kätzchen fraß sie tatsächlich mit Haut und Knochen auf, dann schaute es uns mit großen Augen an, als wollte es sagen: "Und das soll alles sein?" Also bekam es erst die zweite Flügelspitze, dann spendierte ich ihm auch ein Stück Brust, und am Ende des Abends kugelte sich das Tierchen vor Glück auf dem Boden, streckte alle Viere von sich und schnurrte. Ich hatte es gleich ins Herz geschlossen, und Niko taufte es prompt auf den Namen "Gutfriß", denn sein Appetit war unübertrefflich. Ja, sein, denn es stellte sich heraus, daß es gar kein Kätzchen war, sondern ein Katerchen. Kurz vor Mitternacht ging er, und ich war richtig traurig.


Wer beschreibt unser Erstaunen, als es am nächsten Morgen vor der Tür wieder "miau" machte, Gutfriß auf der Matte stand und uns erwartungsvoll anblickte. "Der will sicher noch etwas fressen." - "Unser schöner Puter!" - "Nun sei nicht so geizig, dann gibt es eben einen Tag weniger Nudelsalat," meinte ich - und ahnte nicht, daß es zwei Tage weniger Nudelsalat geben sollte. (Aber das war mir ja sowieso ganz recht :-) - "Wir müssen weg, wir können ihn doch nicht den ganzen Tag über hier lassen," sagte Niko. "Ach was, wieso denn nicht? Wir stellen ihm ein Tellerchen Milch und ein Tellerchen Wasser hin; heute abend sind wir ja wieder da." So geschah es denn auch, und Gutfriß erwartete uns schon an der Tür, hungrig auf die nächste Portion Puter. Die Milch und das Wasser hatte er nicht angerührt - wir rätselten, was er wohl trinken wollte, aber das bekamen wir erst später durch Zufall heraus. Kurz vor Mitternacht verabschiedete er sich wieder, um am nächsten Morgen erneut aufzutauchen, und dabei blieb es von da an.

Damit der Rätsel nicht genug: Gutfriß war von Anfang an stubenrein, d.h. er verrichtete sein Geschäft auf dem großen Sandhaufen, den ein Nachbar aus unerfindlichen Gründen in seinem Garten hatte, brauchte also keine Katzentoilette; er kratzte nicht an Wänden oder Möbelstücken (höchstens mal an der Tür, wenn er raus wollte bzw. mußte; denn er machte zwar Männchen, um an den Schlüssel zu gelangen, konnte ihn aber nicht umdrehen); er machte auch nie Anstalten, drinnen irgendetwas zu "markieren" - sein Revier war draußen, d.h. das sollte erst noch sein Revier werden. Denn während wir ursprünglichen gedacht hatten, daß Gutfriß nachts zu seinen "richtigen" Haltern zurück kehrte und sich nur tagsüber bei uns den Magen voll schlug, verhielt es sich in Wahrheit ganz anders: Während er sich tagsüber bei uns ausschlief, kämpfte er nachts um "sein" Revier, und das war hart genug, denn die Gegend war nicht nur voller Katzen, sondern auch das Revier von Kater Murr, dem großen, bösen Vieh einer anderen Nachbarin, Frau S.; und der duldete keine Konkurrenz neben sich.


Wenn Gutfriß das Haus verließ, wartete er immer schon auf ihn, um ihn gehörig zu verprügeln. Aber der verzog sich nicht etwa, sondern nahm das Martyrium standhaft auf sich, und kam jeden Morgen mit blutüberströmtem Kopf, ausgefransten Ohren und ausgerissenen Haarbüscheln - manchmal hatte er richtige Löcher im Fell - zurück. Zum Glück verheilte das immer recht schnell - nur die Ohrränder wuchsen nie wieder ganz zusammen, sie blieben ausgefranst -, und abends zog er aufs Neue in die Schlacht. Gutfriß war in diesem einen Punkt unverbesserlich: Aufs Dach kletterte er nie wieder, nachdem er einmal herunter gefallen war (übrigens ohne sich irgend etwas zu tun), auch die Haustür passierte er immer in Windeseile, nachdem er sich einmal den Schwanz darin eingeklemmt hatte, aber der Krieg gegen Murr ging weiter. In manchen Nächten fauchten und kreischten die beiden Kontrahenten draußen so laut, daß man kaum schlafen konnte - jedenfalls nicht bei offenem Fenster. Aber wir mischten uns nicht ein - es hätte ja keinen Zweck gehabt, wenn wir Murr verprügelt und die Nachbarn sich dann an Gutfriß gerächt hätten. Wir sprachen zwar bald kein Wort mehr mit einander, aber wir ließen die Tiger ihre Kämpfe alleine ausfechten.

Ein anderes Rätsel löste sich dagegen auf einfache, wenngleich nicht besonders angenehme Art: das der Herkunft. Es stellte sich heraus, daß ein anderer Nachbar Gutfriß gekauft hatte, um ihn seiner Enkelin zu Weihnachten zu schenken; aber Tiere haben halt einen sicheren Instinkt; und Gutfriß muß gespürt haben, daß er bei uns besser aufgehoben war als bei der verzogenen kleinen Göre. Es gab zwar einigen Knatsch - aber Katzen kann man ja, anders als Hunden, keinen Herrn aufzwingen oder antrainieren, die wählen selber; und Gutfriß hatte uns gewählt, basta. Ich hatte ihn inzwischen so lieb gewonnen, daß er mir wie ein Kindesersatz geworden war; und ich wäre auch bereit gewesen, dem Nachbarn den Kaufpreis zu erstatten; aber das lehnte der beleidigt ab, ebenso unser Angebot, daß seine Enkelin uns ja mal besuchen könnte, um mit dem Kater zu spielen: "Wagen Sie es ja nicht, sich an meine Enkelin heran zu machen!" giftete er und verbot ihr jeglichen Umgang mit uns - kranker Typ mit kranker Fantasie. Aber all unsere anderen Bekannten und Verwandten waren begeistert von Gutfriß, der schnell zu einem stattlichen Kater heran wuchs, der tagsüber immer ganz friedlich auf dem Sofa oder einem Sessel lag (aber nie auf dem, den wir für ihn vorgesehen und hergerichtet hatten), döste und schnurrte, wenn man ihn streichelte. Niemand hätte geahnt, in welch eine Furie er sich nachts verwandelte. Inzwischen war auch ausgemacht, was er trank: Regenwasser aus Pfützen, denn das schmeckte besser als Leitungswasser. Noch besser aber schmeckte ihm - und das kam wie gesagt durch Zufall heraus, als Niko beim Kakaoanrühren mal etwas davon verschüttete - Kondensmilch. Seitdem stand immer ein Töpfchen für ihn bereit, und ohne eine Ration davon begab er sich abends nie in den Kampf. (Leider konnten wir ihm nie abgewöhnen, die Plastik-Töpfchen umzuwerfen, nachdem er sie zu 90% ausgeschlabbert hatte, um den Rest vom Küchenboden aufzulecken - vielleicht lag das auch daran, daß er seine erste Portion halt dort bekommen hatte.)

Eines Morgens kam Gußfriß nicht nach Hause. "Er ist jetzt zwei Jahre alt und geschlechtsreif; er wird eine Kätzin kennen gelernt haben," meinte Niko nur, "wenn er die satt hat, kommt er sicher bald wieder." Aber auch am nächsten Morgen kam kein Gutfriß, und am übernächsten Morgen auch nicht, und das nächtliche Fauchen und Kreischen hatte auch aufgehört - nun vermißte ich es beinahe schon. "Was können wir nur tun?" fragte ich Niko, aber der meinte nur: "Andere Leute hängen Zettel an die Bäume, aber du weißt doch, daß dabei nie etwas heraus kommt. Wenn ein Kater weg will, geht er halt weg, und wenn er überfahren worden ist, will ich es gar nicht wissen." Aber geschlechtsreif wird ein Kater schon mit einem Jahr; daß Gutfriß uns weg gelaufen war, hielt ich für ausgeschlossen; und überfahren hatte ihn bestimmt niemand; wir wohnen in einer Anliegerstraße mit vielen Katzen, und alle Autofahrer nehmen Rücksicht auf sie - es könnte ja die eigene sein. "Vielleicht hatte er die ständigen Prügel satt und hat sich ein anderes Revier erobert?" - "Das hätte er doch früher haben können." Am selben Abend lief uns auch noch Frau S. über den Weg, in Tränen aufgelöst: "Haben Sie nicht meinen guten Murr gesehen? Er ist seit drei Tagen spurlos verschwunden." - "Nein, und das ist sein Glück," meinte Niko böse, "sonst würde ich ihm endlich mal das Fell über die Ohren ziehen; unser armer Gutfriß, den er immer so übel zurichtet, ist nämlich auch verschwunden." - "Ach, mein guter Murr tut doch niemandem mehr etwas zuleide, er ist nun schon 17 Jahre alt, und immer muß er sein Revier gegen die frechen jungen Kater verteidigen, die ihm keine Ruhe lassen." - "Dann besteht ja Aussicht, daß er bald abkratzt," brummte Niko, "bloß für unseren armen Gutfriß kommt das vielleicht zu spät." - "Sie sind ja noch jung; aber mein guter Murr ist das einzige, was ich noch habe, seit man Mann letztes Jahr gestorben ist." Ich mußte mich beherrschen, um ihr nicht an den Kopf zu werfen, daß der Tod alter Menschen - und Tiere - der Lauf der Natur und nicht zu ändern ist; aber seine Kinder - und Ersatzkinder - möchte man doch nicht sterben sehen; sie hätte meine Verzweiflung wohl nicht verstanden.

Doch Wunder, oh Wunder: Am Morgen des 4. Tages stand Gutfriß wieder auf der Matte, als wäre nichts gewesen, machte "miau", stürzte sich auf seinen Freßnapf und fraß wie ein Scheunendrescher eine 3-Tages-Ration; dann legte er sich aufs Sofa und schlief 24 Stunden durch - es war das erste Mal, daß er bei uns übernachtete. "Er hat den Kampf aufgegeben," meinte Niko, "na dann viel Spaß, wenn er künftig auch noch jede Nacht bei uns herum hängt." Aber am nächsten Abend machte sich Gutfriß wieder auf den Weg, und am übernächsten Morgen kam er wieder, ohne eine Schramme, und konnte kein Wässerchen trüben.

Ein paar Tage später bemerkte ich in der hintersten Keller-Ecke ein halbtotes Etwas: eine halbverhungerte und halbverdurstete Katze - die mußte durchs offene Kellerfenster herein und irgendwie nicht wieder hinaus gekommen sein. Es war Sonntag, d.h. keine Tierarztpraxis hatte geöffnet, nur die Tierklinik auf der anderen Rheinseite; gegen Nikos Proteste setzte ich durch, daß wir mit dem armen Tier dorthin fuhren. Die Ärztin meinte allerdings auf meine Frage, ob man sie nicht mit ein paar Spritzen wieder aufpäppeln könnte: "Da hilft nur noch eine Spritze, die letzte." - "Kommt gar nicht in Frage," sagte Niko, "Euthanasie, und dafür sollen wir auch noch bezahlen! Nein, die nehmen wir wieder mit." Kaum wieder zuhause trafen wir Frau S.: "Sie wissen nicht zufällig, ob irgend jemand in der Nachbarschaft eine kleine Katze vermißt?" fragte Niko sie - der Groschen war bei uns beiden immer noch nicht gefallen. "Doch, ich, aber das hatte ich Ihnen doch schon erzählt!" - "Ja, Ihr großes, böses Mistvieh, aber wir haben hier eine andere gefunden, schauen Sie mal." Niko holte den Korb mit dem traurigen Etwas, das nicht mehr selber laufen konnte, und zeigt ihn der Nachbarin. Die erkannte ihn natürlich sofort wieder und brach gleich in Tränen aus: "Mein guter Murr, ach, mein guter, armer Murr!" - "Das ist doch nicht der große, böse Murr," sagte Niko, "den kennen wir doch!" Aber wir hatten nicht gewußt, wie schnell ein großer, böser Kater zu einem kleinen, armseligen Wesen schrumpfen kann, wenn er ein paar Tage nichts zu essen und zu trinken bekommen hat. Offenbar hatte Gutfriß seinen alternden Konkurrenten erstmals besiegt und durch das Kellerfenster gejagt, wo er ihn dann drei Tage und drei Nächte bewachte, ohne ihn raus zu lassen. Danach war Murr so geschwächt, daß er nicht mehr aus eigener Kraft raus klettern konnte, während Gutfriß - der ja draußen in den Pfützen genug zu trinken fand - sich problemlos zur Haustür begab und zurück meldete. Niko rekonstruierte den Ablauf der Ereignisse jedenfalls so, und dann war er herzlos genug, sich von Frau S. die Arztrechnung und sogar das Benzingeld erstatten zu lassen - "Ersatzanspruch aus berechtigter Geschäftsführung ohne Auftrag" nannte er das. Sie konnte freilich auch nichts mehr für ihren Murr tun als ihn mit einer Spritze einschläfern lassen.

Für Gutfriß kamen schöne Jahre. Er behauptete sein Revier und weitete es noch aus - weit und breit traute sich kein Nachbar, einen Kater anzuschaffen; und wer es aus Unwissenheit doch tat, erlebte eine böse Überraschung. Frau B. zum Beispiel - sie war für Frau S. gekommen, die weg gezogen war, weil sie nicht mehr in dem Haus leben wollte, in dem sie ihren Mann und ihren Kater verloren hatte. Frau B. hatte reich geheiratet und bei der Scheidung einen Haufen Geld bekommen, von dem sie sich nicht nur ein Haus, sondern auch einen dicken BMW und eine sündhaft teure Designer-Katze kaufte, einen so genannten "Toyger". (Wir wußten bis dahin gar nicht, was das ist - es war eine relativ junge Neuzüchtung.) "Mecki" nannte sie ihn, aber Niko taufte ihn aus makabrem Anlaß in "Killroy" um, denn er sah aus wie ein kleiner Tiger. "Klein" war er allerdings für einen Kater nicht, jedenfalls größer und schwerer als Gutfriß und etwa gleich alt - fysisch war Gutfriß ihm also nicht gewachsen. Aber er war intelligenter als das blöde Retorten-Vieh. Erst wunderten wir uns über das schaurige "Uhuhuuu", das Stunden lang durch die Nacht schallte, denn in unsere Gegend hatte sich gerade mal eine einzige einsame Eule verirrt, und die hatte noch nie so oft und vor allem nicht so langandauernd geschrien. Dann schauten wir einfach mal nach - und siehe da: Die Eule war es gar nicht, sondern es war Gutfriß, der auf dem Garagendach saß und sie perfekt imitierte - und damit Killroy, der den Unterschied offenbar nicht bemerkte, in die Flucht schlug. Nach ein paar Wochen gab er entnervt auf und suchte sich ein anderes Revier - und Frau B. hing Zettel an die Bäume: "Schwarz-orange getigerter Kater entlaufen, hört auf den Namen 'Mecki', hohe Belohnung, Telefon: (...)" So gab es bald nur noch Gutfriß und seinen Katzenharem; und - wie ein Nachbar süßsauer bemerkte - den großen Vogelfriedhof, denn Gutfriß jagte nicht nur Fliegen und Spinnen, sondern auch Vögel mit bemerkenswertem Geschick - es mußte nicht immer gebratener Puter sein, denn den gab es ja auch bei uns nicht alle Tage. Gutfriß fürchtete nichts und niemanden - außer, daß ihm der Himmel auf den Kopf fallen könnte: Bei Gewitter flüchtete er immer in den Keller und versteckte sich hinter der Waschmaschine. Über die vielen verrückten Katzen, die er uns im Laufe der Zeit anschleppte, könnte man ein Buch schreiben: die rostrote Luna, die sich nachts bei Mondschein mitten auf die Straße setzte und doch nie überfahren wurde, die grau-weiße Diogenes, die am liebsten auf der dunklen Mülltonne lag, die noch die Restwärme der Sonnenstrahlen speicherte, die weiße Paloma (Niko nannte sie "Paloma blanca"), die wie eine Taube gurren konnte, wenn sie hungrig war und Essen schmarotzen wollte, und die schwarz-grau-braun getigerte Bagira, die auf Garagendächer und Bäume kletterte und sogar ohne Hilfe wieder herunter kam... Aber keine war so toll wie Gutfriß selber: Er lernte nicht nur verstehen, was man ihm sagte, sondern auch selber etwas zu sprechen - wie ein Bauchredner und nur einzelne Wörter, aber immerhin. Und er war extrem eifersüchtig auf Gegenstände, mit denen man sich statt seiner zu beschäftigen wagte - vor allem Bücher und/oder Computer-Tastaturen, auf die er sich dann demonstrativ legte.

Für uns Menschen kamen weniger schöne Jahre; die Welt um uns herum, unsere Welt, die, die wir gekannt hatten, fiel nach und nach in Scherben: Die da oben - "das Verbrecher-Regime, das die Macht in der BRDDR ergriffen hat", wie Niko sie nur noch nannte - regierten Deutschland und Europa langsam aber sicher vor die Wand, durch eine verfehlte Finanz- und Wirtschaftspolitik, durch eine verfehlte Familien- und Einwanderungspolitik und überhaupt auf jede nur erdenkliche Art und Weise; und unser persönliches Umfeld, in das wir uns hätten flüchten können, schrumpfte zusehens: Meine Eltern, mein Onkel, mein Schwiegervater, mein Schwager, viele alte Freunde und Bekannte starben, alle auf eine andere, immer noch schrecklichere Art und Weise, die mich über die Frage der "Euthanasie" und Sterbehilfe umdenken ließ, denn für fast alle waren die letzten Jahre eine Qual, die sie selber gerne abgekürzt hätten, wenn man sie denn gelassen hätte, und ihr Tod am Ende für alle Beteiligten eine Erlösung. Auch unsere Ehe hat darunter gelitten, denn Niko fing plötzlich an, mit ganz irrationaler Verbissenheit um das Leben seiner Mutter - die eigentlich gar nicht mehr wollte - zu kämpfen: "Deine Mutter haben die Ärzte im Krankenhaus zugrunde gerichtet, deinen Onkel haben sie im Heim zu Tode gepflegt, und deinen Vater zuhause; das passiert mir mit meiner Mutter nicht." Das kostete viel Zeit und Nerven, aber was sollte ich sagen? Daß er die Energie, die er dafür aufbrachte, eigentlich mir, seiner Frau, schuldete? Er schaffte es tatsächlich, Schwiegermutter wieder aus dem Krankenhaus heraus zu bekommen und zu Hause eine ordentliche Pflege für sie zu organisieren, sogar ganz legal - wieso hatte er das bei meinen Eltern und seinem Vater nicht gekonnt? "Weil ich erst aus unseren Fehlern gelernt habe, wie man es nicht machen darf," sagte er, "vorher weiß man doch von alledem nichts!" Aber natürlich ist es auch einfacher, wenn jemand im selben Ort wohnt und man den Pflegekräften täglich auf die Finger schauen kann, als wenn jemand 100 km weit weg ist, wie meine Eltern, und man höchstens einmal pro Woche zum Kontrollieren kommt. "Sie ist die letzte ihrer Generation in unserer Familie," sagte Niko, "sie hat ein Recht darauf zu erfahren, wie das, was diese ihre Generation aufgebaut hat, endet. Sie kann es noch mit erleben, und sie soll es noch mit erleben, damit sie weiß, daß sie nichts mehr versäumt, wenn sie abtritt."

Eines Morgens im Sommer kam Gutfriß wieder blutend und mit zerrupftem Fell nach Hause - zum ersten Mal seit rund zehn Jahren. "Oh, oh, das ist kein gutes Zeichen," sagte Niko, "es muß einen neuen Kater geben, der ein Stück vom Revierkuchen abhaben will." - "Diese blöden Männer, warum müssen sie ständig streiten? Das Revier ist doch für andere völlig wertlos; andere Kater würden wir ja nicht füttern! Und Gutfriß bekäme auch nicht weniger zu essen, wenn er ein paar Quadratmeter abgeben würde" - "Die Kater können ja nicht wissen, daß die Katzen hier alle sterilisiert sind, ihre Kämpfe also für die Katz' sind; aber auf seine alten Tage kannst du ihm das wohl nicht mehr abgewöhnen." So war es; aber fürs erste konnte sich Gutfriß mit seinen knapp 12 Jahren noch behaupten; die Wunden verheilten zwar etwas langsamer als früher; aber sie waren auch nicht ganz so schlimm wie damals. Manchmal, wenn sie noch ausheilen mußten, übernachtete er nun wieder bei uns; aber er war ein pflegeleichter Gast: Morgens und abends ging er kurz auf den Sandhaufen und kam dann gleich wieder zurück, um sich vom Nichtstun auszuruhen; und ich konnte dabei bedeutend ruhiger schlafen.

Das Jahr geht zuende. Gutfriß ist wieder nicht nach Hause gekommen. Nicht einmal, nicht zweimal, nicht dreimal, sondern nun schon seit einer Woche. Dafür tapst jetzt ein anderer schwarzer Kater durch die Gegend, auf den ersten Blick unserem Gutfriß sehr ähnlich, aber wenn er aus dem Gebüsch kommt, sieht man, daß er vier weiße Pfoten hat, als ob er durch Mehl gelatscht wäre, wie häßlich! Wir wissen beide, was das bedeutet, aber wir wollen nicht nachforschen, auch nicht in den Kellern der Nachbarschaft. "Der Lauf der Natur..." - das sagt sich so leicht, wenn man am richtigen Ende sitzt; aber das andere, das dicke Ende kommt halt doch irgendwann. Beim Tode "meiner" Menschen hatte ich nicht mehr die Kraft, zu weinen - und eigentlich auch keinen Grund, denn es war wie gesagt für alle eine Erlösung; aber um Gutfriß habe ich schon viele Tränen vergossen. Dieses Weihnachten wird das traurigste meines Lebens sein.

* * * * *

Nachtrag Dikigoros. Man kann nicht ewig trauern. Zwei Monate, nachdem ihre Schwiegermutter gestorben war ("ein Katzenjahr", wie sie das nannte) fuhr Jane ins Tierheim, nein, nicht in ein Tierheim, vielmehr klapperte sie in den nächsten Tagen und Wochen alle Tierheime der näheren und weiteren Umgebung ab, denn sie wußte genau, was sie suchte. Schließlich wurde sie fündig und brachte - im Käfig - ein Vieh mit nach Hause, das immer wieder ins Heim zurück gebracht worden war, weil es mit keinem Menschen auskam, und dort eine Einzelzelle bewohnt hatte, weil es auch mit keinem anderen Tier auskam. Dikigoros taufte es spontan auf den Namen "Kater Karlo", nach dem bösartigen Gegenspieler von Mickymaus bei Walt Disney. Eine Woche tigerte er im Treppenhaus auf und ab. (Die Zimmer hatte ihm Dikigoros schon nach einem Tag verwehrt, weil er über Tische und Bänke - und selbst die höchsten Schränke - ging, alles umwarf, was nicht niet- und nagelfest war und an allen Wänden und Möbeln kratzen wollte.) Dann durfte er seine erste Nacht draußen verbringen. Morgens kam er zurück, mit ein paar leichten Schrammen, zwei Vögeln und einer Maus. Am nächsten Tag hingen im ganzen Viertel Zettel: "Kater Leo, schwarz mit weißen Pfötchen, wird seit gestern vermißt. Hinweise bitte an..." Eine Woche später ward Leo in einem anderen Stadtviertel gesichtet und zwangsrepatriiert. Am nächsten Morgen war er erneut verschwunden und tauchte nie wieder auf. Auch die Eichhörnchen, die immer im Hof und auf dem Garagendach gespielt hatten, machten sich rar. Normalerweise sind sie zu flink für Katzen; aber es gibt wohl Ausnahmen: Kater Karlo hat Hinterläufe wie ein junges Känguruh, mit denen er leicht 5 m aus dem Stand springt, und er schleicht sich völlig lautlos an. (Er ist auch sonst kaum zu hören, miaut nie und schnurrt nur ganz selten und leise, und auch das nur bei Dikigoros, nicht bei seiner Frau; wenn er sich bemerkbar machen will, klopft er ganz sachte mit der Schwanzspitze an die Tür.) Bald wurde ihm das Revier zu klein, und er begab sich ins Nachbarrevier. Dort herrschte Kater Rico, ein rauher Geselle, was auch nötig war, denn sein Reich grenzte an das letzte größere Stück Natur im Ortsteil, wo die ausgewilderten Katzen und Kater lebten, die nicht nur ihren Haltern entkommen waren, sondern auch den städtischen Häschern, deren Aufgabe es war, streunende Katzen und Hunde einzufangen. Wer sich da behaupten will... Aber auch Rico war mittlerweile in die Jahre gekommen, und bald verschwand er ebenfalls von der Bildfläche. Dann blieb auch Karlo weg - einen Tag, 2 Tage, 3 Tage, eine ganze Woche. "Er wird sich in die Wildnis vorgewagt haben; dort hat er entweder seinen Meister gefunden, oder es hat ihm so gut gefallen, daß er gleich dort geblieben ist." - "Oder andere Menschen, die ihn nicht so rabiat aussperren wie du," meinte Jane bekümmert. Aber das hielt Dikigoros für ausgeschlossen: Karlo ließ andere Menschen nicht an sich heran; er hatte selbst die nette junge Nachbarin gekratzt und gebissen, die ihm nichts, aber auch gar nichts zuleide getan hatte - zweimal schon. (Gutfriß war mit allen Menschen im Viertel gut Freund gewesen, hatte sich von allen streicheln lassen und immer ausgiebig geschnurrt.) Am Morgen des 8. Tages tauchte Kater Karlo wieder auf, wie gehabt: mit zwei Vögeln und einer Maus. Ein Nachbar, der zufällig vorbei kam, meinte empört: "Stehen Rotkehlchen nicht unter Naturschutz?" - "Soll ich dem blöden Vieh etwa lesen und schreiben beibringen und ihm meine Gesetzessammlung zur Lektüre vorsetzen?" knurrte Dikigoros. (Er ersparte sich den Hinweis, daß Kater Karlo jedes Stück Papier, das er in die Krallen bekam, augenblicklich zerfetzte und die Fetzen dann im ganzen Haus verteilte.) Von nun an war er die meiste Zeit unterwegs. Er kam zwar täglich vorbei, aber wohl nur um zu sehen, ob sich keine Konkurrenz eingenistet hatte, meist für 1-2 Stunden, manchmal auch nur für 10 Minuten, die gerade reichten, um ein Töpfchen Kondensmilch zu schlecken - die einzige Vorliebe, die er mit Gutfriß teilte. Und abends begleitete er seine Menschen - ebenfalls wie einst Gutfriß - zum Einkaufen, bis zur Reviergrenze. (Woher sollte Dikigoros sonst wissen, wo die verläuft :-) Es hat sich also alles irgendwie eingerenkt: Jane hat ihre Rache, und das Viertel hat einen neuen König der Haustiere; doch so schön wie früher ist es halt nicht mehr. Aber was ist schon noch so schön wie früher? Wir leben in einer schrecklichen Zeit; und wie Jane mit Galgenhumor zu sagen pflegt: "Die Kater sind eben auch nicht mehr, was sie mal waren!"


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