EINE REISE IN DEN SÜDEN . . .
"Herzliche Grüße aus Italien" und andere Gedichte
"Io parlo per ver dire, non per odio d'altrui né per disprezzo."
"Wenn alle untreu werden dann bleiben wir doch treu... "
"Kennst du das Land, wo die Zitronen blüh'n?"
"Et in Arcadia Ego - auch ich in Arkadien!"
"In Paestum blühen keine Rosen . . ."
"Über allen Giebeln sind gruuu..."
"S(ono)P(azzi)Q(uesti)R(omani)"
"L'Italiano: lasciatemi cantare"
"Du mußt ein Schwein sein... "
"Canzone: Haß und Parolen"

[la bocca della verita]

EINE KAPITEL AUS DIKIGOROS' WEBSEITE
REISEN DURCH DIE VERGANGENHEIT
GESCHICHTEN AUS DER GESCHICHTE

Fortsetzung von Teil I

Im 18. Jahrhundert kamen die oberen Schichten des Bürgertums allmählich zu so viel Wohlstand, daß auch sie sich eine Reise in den Süden leisten konnten. Und da diese Reisen den Adeligen offenbar soviel "Bildung" einbrachten, wollten auch sie nicht mehr länger darauf verzichten. Schließlich verfügten auch sie inzwischen über ausgezeichnete Grundlagen, hatten Lateinisch - und womöglich sogar etwas Griechisch - gelernt und von den großartigen Gebäuden, Statuen und Gemälden gehört oder gelesen. Da es noch keine Wochenschau im Kino gab, geschweige denn Fernsehen oder Videos, konnte man sich das alles nur im Original ansehen, und dafür mußte man halt selber hinfahren. Das war freilich mit etlichen Unannehmlichkeiten verbunden, von denen man sich vorher so gar keinen Begriff gemacht hatte: Eisen- oder Autobahnen gab es noch nicht, geschweige denn Flugzeuge, man mußte mit der Postkutsche über holprige Wege zuckeln, nachts in üblen Spelunken absteigen und oft ziemlich miesen Fraß schlucken. Am schlimmsten von allem aber waren die Italiener selber, eine Bande von Räubern und Betrügern... So lesen sich jedenfalls die ersten Reiseberichte aus jener Zeit, die uns überliefert sind - oft ohne daß die Verfasser es beabsichtigten, denn denen war es selber peinlich: Die dachten durchweg, sie hätten als einzige persönliches Pech gehabt, und das mußte man den lieben Mitmenschen ja nicht gleich auf die Nase binden - im Gegenteil: Nach Hause durften nur die schönsten Nachrichten von der schönsten aller Urlaubs-Reisen gelangen (genau wie heute!); und da alle so dachten, glaubten allmählich immer mehr Leute an das Märchen vom "Land, wo die Zitronen blühen" und von "Arkadien" - das tatsächlich in Griechenland liegt und ziemlich unfruchtbar ist - aber wer wußte (oder weiß) das schon? Die meisten Deutschen wissen bis heute nicht, was es damit auf sich hat und zitieren meist den Spruch "Auch ich war in Arkadien", als ob es eine touristische Sehenswürdigkeit wäre, die man besucht hat. Tatsächlich lautet der Satz jedoch "Et in Arcadia Ego (Auch Ich in Arkadien)", und es handelt sich um eine im Italien des 18. Jahrhundert sehr beliebte Grabinschrift, die vielmehr meint: "Jetzt bin auch ich in Arkadien", d.h. auf dem trostlosen Leichenacker, den man heute "Friedhof" nennt. (Man kann im Küchen-Lateinischen - wie im Russischen - die Gegenwartsform von "sein" weg lassen, nicht aber die Vergangenheitsform; es ist also nicht "war" zu ergänzen", sondern "bin".) [Nachtrag: Ein fleißiger Leser von Dikigoros' Reisen durch die Vergangenheit hat ihn auf zweierlei aufmerksam gemacht: erstens, daß schon in Vergils "Aeneis" die Gegend um das heutige Rom - das Reich des Königs Euander - "Arkadien" heiße; zweitens, daß es in Rom seit dem Ende des 17. Jahrhunderts ein als "Kunstakademie" getarntes Bordell gab, dessen Stammkunden sich im Scherz "Arkadier" nannten; das sei nur deshalb seit 1945 allgemein in Vergessenheit geraten, weil der böse fascistische Diktator Mussolini anno 1925 auch diesen Sumpf trocken legen ließ und an seiner Stelle eine echte Akademie errichtete, die "Accademia letteraria italiana dell'Arcadia". Der erste Hinweis ist schlicht falsch. Nehmt Euch bitte mal das 8. Buch der "Aeneis" vor, liebe Leser. Dort ist nirgends von einem "Arkadien" die Rede - außer von dem in Griechenland, aus dem Euander stammte, weshalb sein Volk auch die "Arkadier" genannt wurde. Ihre Stadt in Italien nannten sie jedoch "Pallanteum", nach ihrem Ahnherrn Pallas. Den zweiten Hinweis wäre Dikigoros geneigt, ernster zu nehmen, wenn der Satz "auch ich war in Arkadien" erst von Goethe junior überliefert worden wäre, dessen Italien-Reise ja, wie wir heute wissen, eine reine Bordell-Tour war; aber der Satz ist eindeutig älter; und deshalb bleibt Dikigoros lieber bei den Grabsteinen.]

1740 fährt ein Mann aus Frankfurt am Main nach Italien, der das alles nicht wissen kann: Caspar Göthé. Sein Vater, ein tüchtiger Schneidermeister, der es als Hof-Couturier zu Geld gebracht hat, hat ihm schon eine solide "höhere" Bildung zukommen lassen: Jura-Studium in Gießen und Leipzig, Referendariat am Kammergericht, am Reichstag und beim Reichshofrat, Promotion mit einer beachtlichen rechtsvergleichenden Arbeit über römisches und deutsches Erbrecht. Und nun macht er eine fast zweijährige Reise durch Europa, davon fast ein Jahr durch Italien. Aus allen seinen Briefen, die er unterwegs nach Hause schreibt, spricht nur Negatives: Die Italiener seien allesamt Betrüger, die Unterkünfte primitiv und schmutzig (und dabei noch teuer), die Verpflegung mangelhaft, die Transportmittel unpünktlich und unbequem, die Sehenswürdigkeiten gleich null. Das soll Kunst sein? Außer Bernini ist das doch alles Schrott! Damit beweist Caspar immerhin guten Geschmack, was Architektur und Skulptur anbelangt. [Nachtrag: Owei, da hat Dikigoros ja in ein Wespennest gestochen. Also, allen Lesern, die ihm gemailt haben und mehr von italienischer Kunst verstehen als er selber, zum Gefallen: Selbstverständlich waren auch Leonardo da Vinci, Michelangelo und Raffael große Künstler, die nicht "nur Schrott" abgeliefert haben. Aber wenngleich Dikigoros nur ein Amateur im besten Sinne des Wortes ist, erlaubt er sich doch die Feststellung, daß die Künster, die in Rom und Florenz wirkten, in einer Ausschließlichkeit heraus gestellt werden, die objektiv nicht gerechtfertigt ist. Auch in Bologna, Parma oder Venedig gab es große Künstler; und zumal auf dem Gebiet der Malerei zieht er einen Giorgione, einen Tizian oder einen Parmigiano den zuvor genannten glatt vor.] Und obwohl Caspar beileibe nicht das ist, was man heute einen "Gesellschafts-Kritiker" nennen würde, stößt ihm auch sonst einiges übel auf: Zum Beispiel, daß die Italiener junge Knaben kastrieren, damit sie länger Sopran im Kirchenchor singen können (Mädchen dürfen nicht öffentlich auftreten, nicht mal im Kirchenchor, geschweige denn in Konzerten oder auf Theater-Bühnen, das wäre in den Augen der streng katholischen Italiener unmoralisch). Er empfindet die religiöse Heuchelei, die dahinter steckt, verabscheuenswert. Als er mit anderen über seine Ansichten und Einsichten spricht, sagen die ihm, er habe sich nicht genügend vorbereitet auf all die Wunder, die es in Italien zu entdecken gebe. Aber ist das denn die richtige Methode, ein Land mit vorgefaßten Meinungen (positiven oder negativen) zu bereisen, statt es unvoreingenommen auf sich wirken zu lassen und hinterher das, was einen besonders beeindruckt hat, zu vertiefen? Der tüchtige Doktor beider Rechte sieht das anders, und er macht aus seinem Herzen keine Mördergrube.

Doch dann, nach seiner Rückkehr, geht eine merkwürdige Wandlung mit ihm vor: Erstmal nimmt er einen Namen an, den man auch im Ausland schreiben und aussprechen kann - aus "Göthé" wird "Goethe". Dann heiratet er die Tochter des Bürgermeisters und setzt sich zur Ruhe, verzichtet auf eine Karriere. Statt dessen trägt er eine riesige Bibliothek über Italien zusammen und beginnt zu schreiben - auf Italienisch, das er eigens zu diesem Zwecke erlernt -, 28 Jahre lang, eigentlich den Rest seines Lebens. Was heraus kommt, hat mit dem, was er einst in seinen Briefen geschrieben hat, nichts mehr zu tun (er kann ja nicht wissen, daß die später nochmal auftauchen, um die Nachwelt zu befremden). Statt dessen schreibt er all die hochgelehrten Reiseführer ab, deren Lektüre er vor Reiseantritt versäumt hatte (auch von denen kann er ja nicht wissen, daß sie erhalten bleiben und daß bösartige Germanisten das später einmal merken). Und der Treppenwitz an der Geschichte: Er veröffentlicht sein Italien-Buch in Brief-Form - so gesehen ist es eine üble Fälschung seiner eigenen, wahrheitsgemäßen Mitteilungen! Und so erfährt denn weiterhin niemand, wie es in Italien wirklich aussieht und was den Reisenden dort wirklich erwartet. Nein, es ist alles eitel Sonnenschein, im Land Arkadien, wo die Zitronen blühen. "Viaggio per l'Italia" wird ein Meilenstein der Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts und wirkt noch 200 Jahre später nach. In der Mitte des 20. Jahrhunderts weit verbreiteten, sechsbändigen "Geschichte der Kunst" von Leo Bruhns - noch ganz in Wort und Geist von "Blut und Boden" verfaßt - liest Dikigoros: "Von keiner Seite hat die deutsche Kunst mehr empfangen als von der italienischen. Was einst Antike und Christentum den Germanen gegeben hatten, das konnte am ehesten jenes Volk immer von neuem festigen, das auf antikem Boden am meisten Blut von den Römern und z.T. auch von den Griechen in seine Adern gerettet hatte. So haben unsere Großen, ein Dürer und Holbein, ein Goethe oder Humboldt, nicht das Christliche und Nordische an ihnen aufgesucht und sich angeeignet, sondern gerade das Antike." So so... Na, schaun wir mal, was "unsere Großen" im einzelnen so darunter verstanden, und da kommt uns der nächste Kandidat gerade recht - wenngleich ihn Bruhns (wohlweislich?) nicht mit erwähnt hat.

[Winckelmann]

1755 verschlägt es jemanden nach Italien, der zumindest das mit Arkadien besser wissen sollte: Jojo Winckelmann, dem der Ruf voraus- und nacheilt, er verstünde etwas vom alten Griechenland und vom alten Rom. Leider ein Irrtum. Nach Griechenland wird er sein Lebtag nicht kommen - also auch nicht nach Arkadien, das übrigens im Griechischen auf der dritten Silbe betont wird; aber Winckelmann weiß wohl nicht mal das, denn seit Erasmus von Rotterdam, dem Hofnarren Karls V., haben sich die Deutschen angewöhnt, ihre Sprache nicht nur mit allen möglichen und unmöglichen Fremdwörtern aus dem Griechischen und Lateinischen zu verhunzen, sondern diese auch durch die Bank falsch zu schreiben (z.B. mit "ph" für das griechische "f") und falsch auszusprechen (vor allem sie falsch zu betonen, nämlich meist auf der dritt- statt auf der vorletzten Silbe) - und sich dann noch etwas auf ihre "Bildung" einzubilden. (Als 500 Jahre später einige dieser Fremdwörter durch germanische Re-Importe aus dem Englischen wieder verdrängt werden, entblöden sich diese eingebildeten "Gebildeten" nicht, lautstark den "Ausverkauf der deutschen Sprache" zu beklagen). Und Italien? Jojo fährt hin und findet dort zwar nichts Antikes mehr (er ist enttäuscht, nicht mehr Statuen nackter Männer zu sehen), aber dafür etwas, das ihm viel wichtiger ist: Sexuelle Freizügigkeit. Winckelmann ist schwul (ein Grund, weshalb ihm die alten Griechen so sympathisch sind), und das gilt damals in Mitteleuropa noch als schweres Verbrechen, auf das seit 1656 die Todesstrafe steht: Verbrennung bei lebendigem Leibe. In Italien dagegen können sich "Männer mit italienischem Geschmack", wie man sie nennt, frei entfalten, ausleben, da sieht man über Nebensächlichkeiten wie Unterkunft und Verpflegung gerne mal hinweg. Nicht allerdings über die Stümperhaftigkeit, mit der die Italiener bei den Ausgrabungen von Pompeii und Herculaneum zu Werke gehen. Darüber schreibt Winckelmann ein böses Pamphlet - und wird daraufhin aus dem Königreich Neapel und Sizilien verbannt. Wieder zuhause, macht er es ähnlich wie Herr Göthé und schreibt ein schönes dickes Buch: "Geschichte der Kunst des Alterthums". Er braucht nicht ganz so lange dazu wie sein Zeitgenosse, "nur" neun Jahre, aber für Reisende steht ohnehin nichts Brauchbares drin - und wer liest schon Winckelmann? 1768 wird er in Norditalien von einem Strichjungen - der ihn irrtümlich für reich, also ausraubenswert hält - ermordet. Winckelmanns junger Freund Jo Riedesel, der ihn auf seinen Italien-Reisen begleitet hat, trifft es da schon besser: Zwar kennt den heute kein Germanist mehr; aber sein Reiseführer "Reise durch Sizilien und Groß-Griechenland" (damit ist Süd-Italien gemeint), der wenig später erscheint, wird für die nächsten Jahrzehnte ein Bestseller.

In den Jahren 1769-72 unternimmt ein junger Deutscher insgesamt drei Italien-Reisen. Johnny heißt er, oder genauer gesagt Ioannis, denn auch sein Vater hat einen Griechenfimmel und nennt seinen einzigen das Baby-Alter überlebenden Sohn "Ioannis Chrysostomos Theophilos"; anders als andere Deutsche vor und nach ihm hat er an seine Reisen nach Italien nur gute Erinnerungen: Erstmal reist er mit prall gefülltem Geldbeutel hin. (600 Gulden hat er als "Stipendium" mitbekommen - das ist mehr als das Jahresgehalt eines höheren Hofbeamten -, und das ist verdammt wichtig; niemand weiß das besser als er; denn auf einer wenige Jahre zuvor unternommenen Reise nach England war er schwer erkrankt, hatte bald kein Geld mehr für Nahrungsmittel, geschweige denn für Ärzte und Medikamente und wäre um ein Haar verreckt, in einem traurigen Kaff in der Nähe Londons, wo damals noch keine Legionäre aus aller Welt für die russisch-jüdische Mafia gegen den Ball traten, und dann hättet Ihr von ihm nicht mal in einer Fußnote der Dorfchronik von Chelsea etwas erfahren.) Dann wird er vom Papst persönlich empfangen, zum Ritter von der Goldenen Ananasvom Goldenen Sporn ernannt, als gerade mal 14-jähriger in die Filharmonische Akademie von Bologna und Roma aufgenommen; er feiert große Triumfe an der Mailänder Oper und wird einer der bedeutendsten Musiker aller Zeiten (manche meinen sogar der bedeutendste überhaupt; aber Dikigoros schätzt den späten Haydn und Beethoven noch höher ein - wobei er gerne einräumen will, daß Johnny, wenn er auch nur annähernd so alt geworden wäre wie Haydn, sie wahrscheinlich beide übertroffen hätte). Nanu, nie gehört, liebe Leser? Hat Dikigoros da schon wieder etwas verwechselt? Nein, durchaus nicht; aber jener Johnny hatte nicht nur einen überkandidelten, von Ehrgeiz zerfressenen Vater, sondern zum Glück auch eine halbwegs vernünftige Mutter, die aus St. Gilgen am Wolfgangsee stammte und durchsetzte, daß ihr Sohn neben den drei griechischen wenigstens auch einen deutschen Vornamen bekam, nämlich Wolfgang[o]; und er selber übersetzte "Theophilos [Gottlieb]" ins Italienische ("Amadeo", von der Nachwelt zu "Amadeus" latinisiert). Ihr meint, jene Italien-Reisen seien doch für das Wirken Mozarts nicht annähernd so wichtig gewesen wie sein späterer Aufenthalt in Wien? Ihr irrt. Dikigoros darf das schreiben, ohne daß man ihm darob Voreingenommenheit unterstellen kann - seine eigene Mutter war Wienerin, und er selber ist ein großer Fan und ein - wenngleich nicht ganz so großer - Kenner der "Wiener Klassik". Die letztere ist ohne Italien nicht denkbar - wohl aber ohne Wien: Haydn verließ die Stadt als Jugendlicher und kehrte erst nach seiner Pensionierung wieder zurück, als Mozart schon gestorben war (noch nicht 36-jährig, bettelarm, in einem anonymen Massengrab verscharrt) und als Beethoven nach eigenem Bekunden schon nichts mehr von ihm lernen konnte. Man kann sicher eine ganze Menge gegen die Italiener sagen; aber für zwei Dinge müssen wir ihnen ewig dankbar sein: die Regeln des modernen Schachspiels (wiewohl Dikigoros den Verdacht hegt, daß die kein "echter" Italiener erfunden hat, sondern ein in Italien lebender Jude - aber das ist eine andere Geschichte) und - die Musik der "Wiener" Klassik. Mozart hat seine Opern - mit ganz wenigen Ausnahmen - durchweg auf Italienisch geschrieben, und auch die Musik dazu war italienisch; er mag eine große Begabung mitgebracht haben und auch schon eine solide Grundausbildung durch seinen Vater; aber ohne Italien wäre aus dem "Wunderkind" wohl nicht viel mehr geworden als ein Dilettant, mit dem man den Engländern und Franzosen seiner Zeit hätte imponieren können, nicht aber der [Nach]Welt.

[Exkurs. À propos Engländer und Franzosen: Selbstverständlich gab es nicht nur Deutsche, die nach Italien reisten und davon mehr oder weniger profitierten, sondern auch Angehörige anderer Nationalitäten, die uns z.T. recht interessante Reiseberichte hinterlassen haben, z.B. Montaigne und Stendhal, Evelyn und Lassels, Wordsworth und Coleridge, Byron und Shelley. Dikigoros kennt und schätzt sie durchaus; aber dies soll kein Panoptikum der Reisen aus aller Welt nach Italien sein, sondern nur ein Streifzug durch Reisen zwischen Deutschland und Italien; bitte seht ihm nach, daß er an dieser Stelle nicht mehr leisten kann und will. Und noch ein Exkurs auf Leseranfragen: Warum glaubt Dikigoros, daß Mozart, wenn er älter geworden wäre, sich so viel weiter entwickelt hätte? Nun, schon aus technischen Gründen: Die Instrumente des 19. Jahrhunderts, die Beethoven, Chopin, Liszt und ihre Epigonen zur Verfügung hatten, waren denen des 20. und 21. Jahrhunderts fast gleichwertig: Ein damaliges Pianoforte von guter Qualität stand einem heutigen Konzertflügel von Yamaha kaum nach. Im 18. Jahrhundert klimperte man dagegen noch auf Spinetts und Cembalos herum; der arme Mozart benutzte bis an sein Lebensende ein wackeliges Clavichord, Baujahr 1760, mit gerade mal 5 Oktaven; und selbst das Hammerklavier aus der Werkstatt des berühmten Anton Walter, das der reiche Mozart - der er für einige Jahre war - vorübergehend in Wien benutzte, hatte zwar einen etwas größeren Renonanzkörper, aber keine größere Klaviatur. Auf so etwas kann man schwerlich Wagner-Opern komponieren. Exkurs Ende.]

[Lessing]

1775 fährt wieder ein Deutscher nach Italien - nicht ganz freiwillig, sondern im Schlepptau des jungen Prinzen Leopold von Braunschweig, dessen Hauslehrer er ist. Eigentlich ist es eine sehr umfangreiche Reise, kurz, aber intensiv, und sie berührt alle wichtigen Orte: Mailand, Venedig, Bologna, Florenz, Rom, Pisa, Livorno, Turin, Loretto, Neapel... da fehlt eigentlich nichts, was Rang und Namen hatte! Lessing - der jetzt Mitte vierzig ist - ist zwar nicht gerade weltberühmt, aber er erfreut sich doch in literarischen Kreisen und im Bildungs-Bürgertum eines guten Rufs als Schriftsteller, Bühnen-Autor und Kritiker. Und nun hofft man natürlich darauf, auch von ihm etwas über seine Reise nach Italien zu lesen, zumal durchsickert, daß er ein Reisetagebuch geführt hat. Aber es kommt nichts. Jedenfalls nicht zu Lebzeiten. Man mag von Lessing halten, was man will (Dikigoros findet z.B. seine Theaterkritiken ebenso langweilig wie seine Theaterstücke); aber eines kann man dem Mann nicht absprechen: Zivilcourage. Er bricht als erster in Deutschland das Tabu, daß nur "adelige" Stoffe auf die Bühnen dürfen (nicht auch "bürgerliche"); er wagt als erster, schlechte Aufführungen einflußreicher Intendanten öffentlich zu kritisieren; und er wagt auch als erster, mit den üblichen Lobhudeleien über Italien Schluß zu machen. So findet er niemanden, der sein Reisetagebuch verlegt; erst 82 Jahre später wird es veröffentlicht und alles andere als ein Bestseller werden. Schamhaft läßt man es in seinen "Gesammelten Werken" weg; und noch 200 Jahre später schreibt ein - Lessing sonst durchaus wohl gesonnener - Biograf: "Wie kontrastiert das Tagebuch zu den ruhmvollen Nachrichten, die in deutschen Zeitungen über Lessings Reise zu lesen waren oder bei Tischgesellschaften die Runde machten! Aber Lessing, so mach doch wenigstens einmal die Augen auf! Lessing, so muß man wohl sagen, war in jenen Monaten nicht bei sich. Es galt für diese Reise gerade nicht, was Schubart geschrieben hatte: Solche Männer sollten reisen wie Lessing; denn die nehmen doch auch den Kopf mit..." Wirklich nicht? Was hatte Lessing denn nun konkret verbrochen? Er hatte die "Sehenswürdigkeiten" bloß "abgehakt", nach dem Motto: "Heute besichtigt: 1. Kirche, 2. Bibliothek, 3. Museum..." Und sich dann weniger vornehmen Themen gewidmet: Den Märkten mit ihren Liedersängern und Gauklern, den Freudenfeuern, den Trinkgewohnheiten der Italiener, der Kriminal-Statistik (!) und - den Kochrezepten. "Hätte man es nicht schwarz auf weiß, man könnte es für einen Handstreich seiner Gegner halten" schreibt der Biograf erbost zu Lessings Ausführungen über die Zubereitung von Gnocchi, ihre Herkunft und die Redensarten, die sie zum Thema haben. Aber lieber Biograf, kann Dikigoros da nur sagen: Ist das nicht alles viel interessanter als tote Gemäuer, Skulpturen und Pinseleien zu beschreiben (die schon so oft beschrieben wurden und noch so oft beschrieben werden sollen), und zeigt das nicht gerade doch, daß Lessing mit offenen Augen durch die Lande gefahren ist, statt nach vor-gefaßten Meinungen in vor-verfaßten und nach-gelesenen Reiseführern? Dikigoros kann da nur den Hut ziehen...

1783 treffen wir den bereits erwähnten Andrea Doria aus Genua wieder, freilich nicht in Italien, sondern in Bonn am Rhein. Dort wird nämlich ein Theaterstück uraufgeführt, das ein fahnenflüchtiger Militär-Arzt namens Fritz Schiller geschrieben hat. Er nennt den alten Dogen "Andreas" und macht zum Titelhelden dessen jungen Gegenspieler Fiesco (den er auf gut Deutsch "Fiesko" schreibt, lange vor der großen Rechtschreib-Reform von 1917, als die meisten "c" in "k" umgewandelt wurden, von Köln bis Koblenz und von Akkordeon bis Makkaroni). Wie er ausgerechnet auf dieses Thema gekommen ist, weiß Dikigoros nicht - Fritz ist nie in Italien gewesen. Was soll das also hier? Nun, Dikigoros schreibt ja nichts ohne Hintergedanken, und bei näherem Hinterfragen und Nachdenken will er nicht ausschließen, daß er Andrea Doria vielleicht doch Unrecht getan hat. Immerhin befreite er die Insel Korsika von den Franzosen - auf deren Seite Fiesco stand, während der Doge damals mit dem österreichischen Erzherzog, deutschen König und römischen Kaiser verbündet war. Fast zweieinhalb Jahrhunderte bleibt Korsika unter genuesischem Schutz, dann gelingt es den Franzosen, einen Aufstand anzuzetteln. Nach knapp vier Jahrzehnten Bürgerkrieg verkauft Genua die Insel entnervt an Frankreich. Ein Jahr später wird dem Führer des Aufstands ein Sohn geboren, der, während sie in Bonn gerade den "Fiesko" aufführen, ob seiner Tüchtigkeit auf einen Schlag vom Hauptmann zum General befördert wird. Er ist erst 24, jung und unternehmungslustig, und er wird dafür sorgen, daß in den nächsten drei Jahrzehnten zwischen Madrid und Moskau ziemlich viel herum gereist wird - freilich nicht zu Bildungszwecken, und für viele wird es eine Reise ohne Wiederkehr. Hätte Genua Mitte des 18. Jahrhunderts wieder einen gerissenen Schurken wie Andrea Doria zum Reiseleiter gehabt, wären Europa die Napoleonischen Kriege vielleicht erspart geblieben, denn als Genuese hätte Bonaparte schwerlich so viel Schaden anrichten können wie als Franzose. Aber noch ist es ja nicht so weit.

1786-87 erfüllt sich ein anderer Deutscher einen lang gehegten Traum: Johnny Goethe, genannt "Hätschel-Hannes", Sohn des alten Caspar und guter Freund von Fritz. Er hat sein Studium in Deutschland verbummelt (u.a. in Leipzig, wo er lieber Auerbachs Keller besucht hat als den Hörsaal) und keinen Abschluß geschafft; da ist er ins Ausland gereist, nach Frankreich - mangels jeglicher Fremdsprachen-Kenntnisse hat er Straßburg im damals noch deutschsprachigen Elsaß gewählt und dort die Lizenz zum Rechtsverdrehen erworben. Eigentlich ist das gar kein richtiger Abschluß (wie die Maîtrise oder das Doctorat), sondern nur eine Art Vor-Diplom. (Das bekommt dort jeder, der die Druckkosten für einen Aufsatz über ein beliebiges Thema bezahlt, und sei es nur so ein peinlich dummes Traktätchen, wie Johnny es abliefert; spätere Biografen haben das etwas verlegen damit erklärt, daß Goethe jun. wohl auch die Lächerlichkeit jener Prozedur erkannt und seine "Prüfer" habe veräppeln wollen.) Wieder in Deutschland behauptet Johnny gleichwohl kackfrech, er habe "promoviert" und nennt sich künftig "Dr. Goethe". Dann sucht er sich einen gleichgesinnten Tagedieb und findet ihn in dem jungen Duodez-Fürsten von Sachsen-Weimar (das eigentlich gar nicht in Sachsen, sondern in Thüringen liegt, aber was soll's); mit dem zusammen schikaniert er brave Bürger ("Stutzer" nennt er sie herablassend) und läßt sich von ihm aus Jux zum "Geheimen Rat" ernennen. (Die Ernennung ist so geheim, daß er nicht mal Gehalt dafür bekommt; denn der "Staat" Sachsen-Weimar hat kein Geld; Johnny lebt weiter vom väterlichen Wechsel.) So weit geht es ihm ganz gut - nur bei den Frauen kommt er nicht zum Zuge. (Er versucht es aber auch immer bei den falschen, die schon anderweitig vergeben sind!) Da hört er, daß es in Italien so schöne Bordelle mit exotisch-rassigen Frauen geben soll, nicht so kühl und spröde wie diese Deutschinnen; und da tut er das, was knapp 200 Jahre später Dikigoros' Freund Melone tun wird, als er hört, daß es in Thailand so schöne Puffs geben soll: Er fährt einfach mal hin und probiert sie aus. Na ja, ganz so einfach ist das auch wieder nicht. Da er vor vielen Jahren mal einen etwas überdrehten Liebes-Roman geschrieben hat (nach dem bis heute eine bestimmte Sorte "echte" Sahne-Bonbons benannt ist) und sich daher für einen berühmten Schriftsteller hält, fährt er "incognito" (das ist das italienische Wort für "unerkannt"), also geheim, wie es einem Geheimen Rat gebührt; und das ist - trotz des notorischen Schlapphuts, den aufzusetzen er sich angewöhnt - umso schwieriger, als er sich die Reise möglichst bequem machen will, also einen Haufen Lakaien und Bediensteter im Schlepptau hat.

Doch die Reise wird ein voller Erfolg: Johnny stößt sich mit Ende 30 endlich die Hörner ab - ein Autor des späten 20. Jahrhunderts spricht in wohl gesetzten Worten von einer "Entdeckung der Sinnlichkeit, der Natur- und Kunstschönheit ebenso wie der eigenen Sexualität." Aber warum muß es denn nur das sein? Wer weiß, wie viele Ideen zum "Faust" er seiner italienischen Maitresse "Faustine" verdankt?! Gut gelaunt kehrt Johnny zurück nach Weimar. Dort tischt er lauter Märchen auf, was für tolle Sehenswürdigkeiten er in Italien aufgesucht und gefunden habe - und alle fallen drauf rein. Dreißig Jahre später schreibt er auch ein Buch darüber mit dem Titel "Auch ich in Arkadien" (obwohl er da nie war, denn das liegt wie gesagt in Griechenland; aber immerhin hat man ihn Spaßes halber in die römische "Gesellschaft der Arkadier" aufgenommen), das allerdings nicht so umfangreich wird wie das seines Herrn Vater (obwohl er sich noch länger Zeit läßt als der - die Endfassung erscheint erst 1829, also 42 Jahre später, unter dem Titel "Italienische Reise"), geschweige denn ein Bestseller wie der - ebenfalls in Italien spielende - Räuber-Roman "Rinaldo Rinaldini" seines künftigen Schwagers Chris Vulpius. (Johnny hat zu Lebzeiten alle drei Ausageben seiner "Gesammelten Werke" aus eigener Tasche bezahlt und dabei immer kräftig Verlust gemacht - die Schuld daran gab er stets seinem Verleger Cotta; aber der konnte schwerlich etwas dafür; kaum jemand wollte das damals kaufen, geschweige denn lesen. Erst die Nachwelt sollte unkritisch alles, was er geschrieben hat - auch das, was er in späteren Jahren selber als "Schund" bezeichnet hat - zum "Meisterwerk" hoch jubeln. Vulpius' "Rinaldo" hat sich zu Lebzeiten der Autoren besser verkauft als alle Werke Goethes zusammen.) Über den eigentlichen Zweck seiner Reise schreibt er da freilich nichts, obwohl das Buch eigentlich mehr von ihm selber handelt als von Italien. Aber er schreibt ein Gedichtchen, das wohl nicht zuletzt deshalb so populär wurde, weil es nicht so lang war wie etwa "Die Glocke" seines Zeitgenossen und Freundes Fritze Schiller und daher leichter auswendig gelernt werden konnte. Es war das Lieblings-Gedicht von Dikigoros' Deutsch-Lehrer, und er kann es heute noch zitieren:

"Über allen Gipfeln ist Ruh'
In allen Wipfeln spürest du
Kaum einen Hauch
Die Vögel schweigen im Walde
Warte nur balde
Ruhest du auch."

[Gedicht]

Ja, liebe Leser, Dikigoros weiß wohl, daß die Herren Germanistik-Professoren die Entstehung dieses Gedichtchens schon auf das Jahr 1780 ansetzen (obwohl es erst gut zwei Jahrzehnte später veröffentlicht wurde), aber das überzeugt ihn nicht: Er kennt die Original-Handschriften der meisten von Johnny's Gedichten (diese liegt im Düsseldorfer Goethe-Museum, was ihr oben abgebildet seht, ist bloß das Facsimile auf einer Medaille des 20. Jahrhunderts), und kein anderes unterscheidet sich so stark von all den übrigen, die durchweg in wohl gesetzter Handschrift zu Papier oder Pergament gebracht sind (typische Schreibtisch-Arbeiten), wie dieses: Schnell hin gekritzelt auf ein speckiges Stückchen Papier, ohne ordentliche Rand- und Zeilenführung, man sieht förmlich, wie da ein von der Postkutsche durchgerüttelter Reisender kurz vor Sonnenuntergang noch etwas zusammen schmiert und hofft, bald ein Gasthaus zu erreichen und ein Bett für seine Nachruhe zu finden. Aber weil nicht sein kann, was nicht sein darf, und weil die Herren Schreibtisch-Professoren sich solche Gedankengänge während einer anstrengenden Reise selber nicht vorstellen können, müssen sie in das Schweigen der Vögel am Abend ihren Tod und aus einer simplen Nacht-Ruhe ein Zur-ewigen-Ruhe-betten hinein lesen. Wie dem auch sei, einen lassen Johnny Goethes Berichte über Italien nicht ruhen: seinen alten Studien-Freund (sie haben sich in Straßburg kennen gelernt) Johnny Herder - der ist schon Mitte vierzig und will endlich auch mal etwas sehen von der großen weiten Welt. Bisher hat er nur zwei Reisen gemacht: Von Ostpreußen (wo er geboren ist) nach Livland (er schreibt es, wie es sich spricht, "Liefland"), um dort seinen ersten Job - Lehrer an der Domschule von Riga - anzutreten, und von Livland nach Nantes, um seinen zweiten Job anzutreten (darüber hat er sogar ein Buch geschrieben). Zurück in Deutschland läßt Johnny II sich vorübergehend in Bückeburg nieder (wo u.a. die Familie Chaijm wohnt, von der wir noch hören werden). Dort schreibt er ein optimistisches Buch, daß alle Menschen gleich seien, vor allem in kulturellen Hinsicht, oder es jedenfalls bald sein werden, nämlich durch Ausbreitung der gleichartigen europäischen Kultur über die ganze Welt. (Das glaubt er damals wirklich noch!) Dann läßt er sich in Weimar nieder. Kaum ist Johnny I wieder dorthin zurück gekehrt, macht sich Johnny II auf den Weg nach Italien. Im Gepäck hat er Jojo Winckelmanns "Geschichte der Kunst des Alterthums" (was sonst?), im Kopf seine krause "Philosophie" von der Gleichheit aller Menschen und Kulturen, und im Ohr Goethes schlecht gereimten Lobgesang auf "das Land, wo die Zitronen blüh'n":

"Kennst du das Land, wo die Zitronen blüh'n,
(Goethe schrieb selbstverständlich noch "Citronen", Anm. Dikigoros)
Im dunklen Laub die Gold-Orangen glüh'n,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,
Kennst du es wohl? Dahin, dahin,
Möcht' ich mit dir, oh mein Geliebter, zieh'n."
(Ausgerechnet den Schlußreim hat er verpfuscht, Anm. Dikigoros)

Aber Johnny II stellt bald fest, daß er da mit Zitronen gehandelt hat. (Das ist die wörtliche Übersetzung einer englischen Redewendung, für die Dikigoros kein deutsches Pendant gefunden hat; aber er nimmt mal an, daß der geneigte Leser weiß, was gemeint ist.) Das fängt schon bei der Organisation der Reise an: Der Domherr von Trier hat ihn eingeladen, ihn auf seiner Italien-Fahrt zu begleiten, Kost und Logis frei. Da Herder einerseits schon seit seiner Jugend von Italien träumt, aber andererseits ständig pleite ist, kommt ihm das gerade recht; und da er studierter Theologe ist, glaubt er natürlich, er solle seinen Gönner über die Erbaulichkeiten des Glaubens aufklären, über die christlichen Kirchen und was es sonst noch Schönes gibt in Italien, und ihn zu frommen Audienzen bei Bischöfen und Prälaten oder gar beim Heiligen Vater in Rom begleiten. Wer beschreibt jedoch sein Befremden, als der Domherr statt dessen seine Maitresse mit nimmt, mit der er sich während der ganzen Reise verlustiert, und Herder, den er nur als "Feigenblatt" dabei hat, sich selber überläßt. Der Ärger ist, daß der gar nichts mit sich anzufangen weiß. So verbringt er das knappe Jahr Italien-Reise damit, von morgens bis abends Briefe nach Deutschland zu schreiben und solche aus Deutschland zu lesen, was gar nicht so einfach ist, denn man muß sie erstmal bekommen, und wenn man auf Reisen ist, weiß der Postbote nie, wo er sie abliefern soll - zumal in Italien, wo nichts richtig organisiert ist und nichts richtig klappt. Das bemerkt Herder als erstes, und es regt ihn furchtbar auf. Als nächstes bemerkt er, daß die Italiener Italienisch sprechen, und nicht - wie er geglaubt haben mag - Alt-Griechisch, Küchen-Latein oder gar Deutsch. Das trifft ihn schwer: "Ohne Kenntnis der Landessprache zu reisen ist immer und überall, zumal in Italien, eine verdrießliche, lächerlich, kostbare (er meint "kostspielige", Anm. Dikigoros) und am Ende unvernünftige Sache..." Wohl wahr! Da begreift Herder zum erstenmal: "kein Land, kein Volk, keine Geschichte sind einander gleich," schreibt ein Biograf im 20. Jahrhundert altklug, "Herder begriff den Menschen als Angehörigen seines Volkes, und für die Völker Geschichte und geographische Bedingungen als das, was die wesentlichen Unterschiede konstituierte... Herder legte mit die Grundlagen für eine Erfassung des Andersseins." Sollte man das vielleicht mal unseren heutigen Politikern zu lesen geben?

Aber dazu sind die Briefe ja gar nicht gedacht, ebenso wenig das "Reisetagebuch", das eigentlich nur aus Stichwörtern besteht, anhand deren Herder abhakt, was er gesehen hat. Erst 200 Jahre später wird ein Verleger das ganze Sammelsurium unter dem Titel "Italienische Reise" herausgeben und kackfrech behaupten, es sei ein "einzigartiger Glücksfall", daß nicht Herder, sondern er selber, der Herausgeber, das nun tue, "ohne von nachträglichen Retuschen und Glättungen gelenkt oder gar irregeleitet zu werden." (Außer von seinen eigenen, versteht sich; aber natürlich hat er dabei Caspar Goethe im Hinterkopf.) Das ist nicht fair. Hatte Herder nicht immer wieder geschrieben: "Erzählt aber um Himmels Willen von alledem niemandem etwas, vor allem nicht Göthe..."? Besonders seiner Frau, der alten Klatschbase; und als sie sich ein paarmal verplappert hat, schreibt er ihr gar nichts mehr über Italien. Nein, "gar nichts" ist nicht ganz richtig: Praktisch in allen Briefen klagt er über das Geld, das er nicht hat, und von dem er glaubt, daß er sich damit ein schöneres Reise-Erlebnis kaufen könnte: "Diese Kärglichkeit habe ich nicht vorausgesehen; sonst hätte ich mich anders eingerichtet, oder die ganze Reise unterlassen." Er fühlt sich "als Bettler, der eine Reise nach Rom vor und hinter sich hat... Nun habe ich eine Reise getan, wie ich meinem Feinde nicht wünsche... Göthe hat gut reden; alle seine Ratschläge in Ansehung Roms taugen nicht... Göthe spricht über Rom wie ein Kind, deshalb ers denn auch so sehr preiset. Ich bin nicht Göthe..." Herder beginnt, Goethe zu hassen: Der ist in einer eigenen Kutsche gefahren und hatte es so natürlich viel bequemer; dann hat er ihm noch den falschen Tip gegeben, den schwarzen Gehrock zuhause zu lassen, da man auch im bloßen Frack in eine Gesellschaft kommen könne; nun stimmt das nicht, und Herder muß aus seiner ohnehin schon knapp bemessenen Reisekasse einen Gehrock in Italien finanzieren, wo er doppelt so teuer ist wie in Weimar... Jedenfalls als Ausländer, der man von den Italienern ja überall "geprellt werden muß". (Dikigoros fängt gleich an zu weinen und fragt sich nur, ob er das nicht selber schuld war: Johnny I hatte noch tief gestapelt und war in Italien als "unbekannter Maler" aufgetreten; Johnny II dagegen stapelte hoch und gab sich als "Bischof von Weimar" aus - den es gar nicht gab.) Und wofür das alles? "Im Grunde sind dies alles für mich Pfützen aus einem toten Meer, so sehr sich auch Göthe den Mund aufreißt, ihre Süßigkeit zu loben... Ich kann der Hauptstadt der Welt keinen Geschmack abgewinnen, vielmehr wird sie mir von Tage zu Tage mehr lästig." Die anderen Städte Italiens kommen nicht besser weg: "Übrigens ists entsetzlich teuer in Neapel," schreibt er von dort. (Zu allem Überfluß schneit es auch noch - was vielleicht alle 100 Jahre mal vorkommt - das kostet extra Kohle, welch ein Ärger.) Und aus Venedig: "Seit gestern Nachmittag bin ich hier. Heut morgend bei den Banquier, auf die Post, wo ich leider nichts von Dir fand" (er wartet auf einen Wechsel). Und aus Mailand: "Hier bin ich endlich in Mailand, liebes Herz, aber wie? daß ich auch hier keinen Brief von Dir finde?" In Florenz hat er wenigstens "die berühmte Venus, Niobe pp." besichtigt, in Pompeii "nebst einer Maccaroni-Fabrik auch die Herkulanischen Gemälde". Immerhinque.

Aber was findet Herder denn nun so schlimm? Mit einem Wort: die Italiener! Auf dieser Reise lernt er sie verachten, und er beginnt, sich nicht mehr länger als Kosmopolit mit "klassischer" Bildung zu fühlen, sondern als Deutscher. (Wohlgemerkt: Herder wird Nationalist, aber kein "Nazi"; er gesteht allen anderen Völkern ihren Nationalismus ebenso zu, und er beginnt, sich nachhaltig mit fremden Sprachen und Liedern zu beschäftigen.) Über die Gründe schreibt Herder zunächst nur seinen Söhnen: "Die Stadt selbst ist ein Bettelnest, wie alle kleine Städte im Kirchenstaate, und die Straße dahin ist wie alle Gegenden um Rom wüste und öde. Aber die Natur hat alle menschliche Faulheit nicht zerstören können... In ganz Rom ist alles voll Müßiggänger, die Familien, die Geld haben, haben Alles; die anderen sind arm und müssen sich nähren, wie sie können und mögen. Die Häuser der Bürger und gemeinen Leute sehen entsetzlich schmutzig aus, und alle sorgen nur für den heutigen Tag. Das ganze Land um Rom herum ist unbebauet; da sieht man keine schöne Ochsen und Kühe, keine Gärten und Früchte, alles muß weit hergebracht werden..." Und schließlich auch Goethe (dem er zugleich durch die Blume vorwirft, die Augen vor alledem verschlossen und sich dem dortigen Schlendrian sogar noch angepaßt zu haben): "Wenn ich aus Italien komme, will ich mir von Dir erzählen lassen, was Du gesehen hast und ich hätte sehend sehen sollen und meinen Mund dazu nicht auftun. Ich fürchte, ich fürchte, Du taugst nicht mehr für Deutschland; ich aber bin nach Rom gereist, um ein echter Deutscher zu werden, und wenn ich könnte, würde ich eine neue Irruption (er meint "Invasion", Anm. Dikigoros) germanischer Völker in dies Land, zumal nach Rom, veranlassen. Die Italiener sollten mir dienen. Wenn ich nach Hause komme, will ich einen Aufsatz schreiben... mein Herz ist ganz zugefroren, und auf meiner Seele tauet nur Glatteis." Harte Worte; Herder ist gründlich desillusioniert; seine Träume von Italien haben sich nicht erfüllt. Doch aus dem "Aufsatz" wird nichts; nur ein Gedicht schreibt er - wie zum Trotz - über diese große Enttäuschung seines Lebens, auch wenn das nicht jeder Leser auf Anhieb erkennen mag:

"Nimmer, nimmer sollt ihr mir entschwinden,
Immer wird mein Herz euch wiederfinden,
Süße Träume, rein und zart und schön.
Nie wird euch mein Auge wiedersehen,
Doch ein Hauch wird lispelnd zu euch wehen:
Ich, auch ich war in Arkadien."
(Mit dem Reimen hat er es ebenso wenig wie Goethe, Anm. Dikigoros)

Eben, auch er war da, nicht in Arkadien, aber in Italien, und er hat mit eigenen Augen gesehen, daß er nichts versäumt hätte, wenn nicht. Und was er von den Aufschneidereien der Herren Goethe & Co. zu halten hat weiß er nun auch. Aber er nimmt dieses sein Wissen anno 1803 mit ins Grab, und die lieben Mitmenschen bleiben unwissend und dumm.

Das sind sie freilich selber schuld, denn im selben Jahr erscheint ein Reisebericht über Italien (der allerdings kaum beachtet, geschweige denn gekauft und gelesen wird), dessen Qualität in Deutschland nie und auf der Welt erst knapp 200 später - von Paul Theroux - wieder erreicht werden soll. Das Buch trägt den harmlosen Titel "Spaziergang nach Syrakus anno 1802", und der Autor heißt Johnny Seume - schon wieder ein Johnny. (Man könnte glatt meinen, alle bekannten Italien-Reisenden jener Zeit hießen so, denn das erste "Jo" von Jojo Winckelmann steht ebenfalls für Johnny; und auch Caspar Göthé hieß eigentlich Johnny. Aber wahrscheinlich liegt das bloß daran, daß das damals der häufigste Name in Deutschland war, denn die Kinder erhielten ihren Namen ja bei der Taufe; und wenn den Eltern nichts anderes einfiel, schlug der Pfarrer meist vor, sie nach Johnny dem Täufer zu nennen, und so geschah es dann eben.) Aber Seume reist anders nach Italien als die anderen Johnnies vor ihm; und wenn Dikigoros liest, wie dieser Mann als Enddreißiger von Sachsen bis Sizilien und zurück zu Fuß gewandert ist (mit Ausnahme einiger Strecken-Abschnitte, die wegen Überschwemmung der Wege nur per Floß oder Fähre zu bewältigen waren), dann schämt er sich schon ein wenig, daß er selber als junger Mensch so bequem war, Italien mit der Bahn zu bereisen. Seume hatte in jungen Jahren nicht die Möglichkeit, nach Italien zu reisen; als es endlich so weit ist, hat er schon einige andere Reisen hinter sich, die meisten mehr oder weniger unfreiwillig, aber selber nicht ganz unschuldig: Mit 19 hat er das Theologie-Studium in Leipzig hingeworfen, um Soldat zu werden. Britische Reiseveranstalter haben ihn aufgelesen und ihm seine erste größere Reise finanziert, nach Amerika, das gerade seine Reise in die Unabhängigkeit angetreten hat. Aber noch bevor Seume dort zum Einsatz kommt, ist die Reise beendet und Seume wieder in Europa, nur um diesmal preußischen Reiseveranstaltern in die Hände zu fallen. Er wird frei gekauft und geht wieder nach Leipzig. Diesmal studiert er brav zuende - aber nicht Theologie, sondern Jura, Geschichte und Fremdsprachen. Dann reist er - wie Herder - nach Livland, erst als Hauslehrer, dann als Soldat. Rußland beteiligt sich damals gerade an der Aufteilung Polens, und Seume geht als russischer Reiseleiter nach Warschau, gerät dort in Gefangenschaft polnischer Aufständischer und kehrt schließlich nach Leipzig zurück. Die Russen haben etwas gegen Reiseleiter, die in Gefangenschaft geraten und entlassen ihn ohne Pension. (Das ist also keine Erfindung der Kommunisten, auch wenn Stalin da anderthalb Jahrhunderte noch wesentlich rigoroser vorgehen soll: Er wird alle überlebenden russischen Kriegsgefangenen an die Wand stellen und ihren Tod nachher den Deutschen in die Schuhe schieben, die blöd genug sein werden, sich diesen Schuh anzuziehen und die Statistik ihrer angeblichen Verbrechen um ein paar Millionen weiterer Hirngespinste zu bereichern.)

Man sollte also meinen, daß Seume nun vom Reisen für den Rest seines Lebens die Nase voll hat und froh ist, in Ruhe seinem Job als Lektor beim Göschen-Verlag nachgehen zu können (er betreut u.a. die Werke Klopstocks und Wielands); aber irgendwie reizt es ihn, auch mal eine privat organisierte Reise zu unternehmen - wenn er nur das Geld dazu hätte, denn die anderen Reisen hat ja der Staat bezahlt. Da kommt ihm der Zufall in Gestalt von Johnny IV zu Hilfe, oder besser gesagt von Johnny 0, denn Gleim (der heute als Dichter völlig vergessen ist) ist wesentlich älter als Johnny I-III, schon über 80, und weiß, daß er eine Reise in den Süden nicht mehr überstehen würde. Er "leiht" Seume, der ihn auf seiner Harzreise in Halberstadt besucht (und beschwatzt), das nötige Geld - wohl wissend, daß er es nicht wiedersehen wird -, und so kann der sich endlich auf die Socken machen zu seiner ganz privaten Italien-Reise. "Auf die Socken machen" ist wörtlich zu nehmen, denn er geht wie gesagt zu Fuß, allen Unkenrufen zum Trotz. Wegelagerer? Räuber? Seume kleidet sich auf Reisen wie Dikigoros: praktisch und solide, aber unauffällig, bloß nicht zu teuer, um niemandem als lohnendes Opfer in die Augen zu stechen. Außerdem hat er über die Geschichte der Waffentechnik promoviert, und als altgedienter Soldat kennt er sich nicht nur auf dem Papier damit aus. Er wählt einen großen, eisenbeschlagenen Knotenstock als Reisebegleiter - diesen "Wanderstab" können ihm Zoll und Polizei ebenso wenig verbieten wie Dikigoros die armlange, mit schweren Batterien gefüllte Stabtaschenlampe aus solidem Eisen, die er auf seinen Reisen nicht nur wegen möglichen Stromausfalls stets mit sich führt. Wer ihm da zu nahe kommt, den macht er platt. Aber es hat noch nie jemand versucht, und bei Seume versucht es auch niemand... Über die faulen Kutschen-Reisenden kann Seume, der unermüdliche Wanderer, nur milde lächeln, vor allem wenn sie im Schlamm stecken bleiben, aussteigen und schieben müssen, während er leichten Fußes an ihnen vorbei zieht.

Nicht nur leichten Fußes: Seume belastet auch seinen Kopf nicht übermäßig mit "Sehenswürdigkeiten" wie "Kabinetten und Galerien", sondern er schaut die Leute an, und er schaut ihnen aufs Maul, wobei ihm seine vorzüglichen Sprachkenntnisse sehr zu statten kommen. Die Italiener halten ihn in der Regel für einen Franzosen, und da Napoleon auch in Italien gerade auf dem Höhepunkt seiner Macht steht, tun sie meist freundlich; wenn sie feindselig werden, kann er sich immer noch als Pole (er trägt einen polnischen Reiseanzug) oder Russe ausgeben, und notfalls sogar als Sachse; aber letzteres ist die Ausnahme, denn im Gegensatz zu all den anderen Deppen vor ihm, die ohne Sprachkenntnisse, also stumm und taub nach Italien gereist sind, spitzt er die Ohren und hört, daß die Deutschen bei den Italienern nicht sonderlich beliebt sind. Er wandert also erstmal durch Böhmen, Österreich und Slowenien nach Italien (das ist schon fast die halbe Strecke!), dann in Italien über Venedig, Bologna und Rom nach Neapel; von dort nimmt er eine Fähre nach Sizilien, und dann ist er auch schon fast am Ziel. Da er nicht einfach durch die Lande braust wie der heutige Reisende im Bus, auf der (Auto-)Bahn oder gar im Flugzeug, ist seine Reisebeschreibung eine Fundgrube für volkskundliche Beobachtungen in den verschiedenen Regionen Italiens, wie wir keine zweite aus jener Zeit haben, über Behausung und Bekleidung, Essen und Trinken, Sitten und Gebräuche. Dabei reist Seume durchaus nicht unbeleckt, sondern mit einer gewissen "klassischen" Bildung im Hinterkopf. Und er ist nicht mehr so naïv wie seine Vorgänger (die ja eigentlich keine Vor-Gänger, sondern bloß Vor-Fahrer gewesen sind), daß er in Italien Zitronen blühen sehen oder Arkadien suchen will. Er weiß sehr wohl, daß letzteres in Griechenland liegt, aber auch, daß es in Italien noch viel mehr Griechisches zu sehen gibt als in der türkischen Provinz gleichen Namens, zum Beispiel die alten Tempel von Paestum mit den berühmten Rosengärten. Dahin, dahin (um mich Johnny I zu reden) will er reisen; doch er wird mindestens so enttäuscht wie Johnny II mit seinem Traum von Arkadien; und wie jener verfaßt auch er ein Gedicht darüber:

"Ich eilte fort, hochglühend ward die Sonne,
Und fühlte schon voraus die Wonne,
Mit Paestums Rosen in der Hand,
An eines Tempels hohen Stufen,
Wo Maro einst begeistert stand,
Die Muse Maros anzurufen.
Die Tempel stiegen, groß und hehr,
Mir aus der Ferne schon entgegen,
Da ward die Gegend menschenleer
Und öd' und öder um mich her,
Und Wein wuchs wild auf meinen Wegen.
Da stand ich einsam an dem Tore
Und an dem hohen Säulengang,
Wo eh'mals dem entzückten Ohre
Ein voller Zug im vollen Chore
Das hohe Lob der Gottheit sang.
Verwüstung herrscht jetzt um die Mauer,
Wo einst die Glücklichen gewohnt,
Und mit geheimem tiefen Schauer
Sah ich umher und sahe nichts verschont;
Und meine Freunde ward nun Trauer...
Nur hier und da im hohen Grase wallt,
Den Menschensinn noch greller anzustoßen,
Dumpf murmelnd eine Mönchsgestalt.
Freund, denke Dir die Seelenlosen,
In Paestum blühen keine Rosen!"

"Ich gebe zu, daß in diesen Versen wenig Poesie ist, aber desto mehr ist darin lautere Wahrheit," schreibt Seume dazu in aller Bescheidenheit. Dikigoros ist zwar kein großer Lyrik-Kenner, aber er findet, daß darin bestimmt nicht weniger Poesie ist als in den Versen von Johnny I, der überhaupt sehr in seiner Achtung gesunken ist, seit er weiß, wie abfällig sich dieser eingebildete Lackaffe über Seumes Reisebeschreibungen geäußert hat - wohl aus Neid und Mißgunst, weil er selber Seume da nicht das Wasser reichen konnte. (Und weil er die Herausgabe von Wielands Gesammelten Werke in 30 Bänden betreute - darüber war Goethe so erbost, daß er Seumes Arbeitgeber Göschen den Verlegervertrag kündigte.) "Langweilig" seien sie - da hat er sie wohl mit seinen eigenen Reise-Büchern über Frankreich, Italien und die Schweiz verwechselt...

Exkurs. Ihr müßt Euch Johnny I ganz anders vorstellen, liebe Leser, als man ihn Euch auf den heute verbreiteten Bildern zeigt. Ihr kennt wahrscheinlich das Altersportrait mit Denkerstirn von Stieler oder das kolorierte Gemälde der Italienreise mit Schlapphut von Tischbein.

Aber das sind Idealisierungen, um nicht zu sagen, gemalte Lügen. Auf der Skizze des Tischbein-Bildes sah Johnny ganz anders aus, und auf den etwas später entstandenen Bildern von Lips und Meyer wirkte er eher etwas beschränkt, um nicht zu sagen dumm und primitiv, ebenso auf dem Altersbildnis von Schmeller. Ja, Dikigoros erlaubt sich, von solchen "Äußerlichkeiten" auf Johnny's Wesen zu schließen - war der doch selber ein erklärter Anhänger der "Physiognomie", der Lehre seines Freundes Lavater, wonach man den Charakter eines Menschen aus seinen Gesichtszügen erkennen kann. Exkurs Ende.

Beschränkt war er sicher - er hatte ja weiter nichts von der Welt gesehen als seine Heimatstadt Frankfurt, ein paar mitteleuropäische Provinzkäffer und ein paar italienische "Bettelnester" und Lasterhöhlen; und auch sein "Bücher-Wissen" beschränkte sich auf die eher bescheidenen Bestände der duodez-fürstlichen Bibliothek zu Weimar; wenn Johnny angesichts derer von "Weltliteratur" sprach, kann Dikigoros nur milde lächeln. Tatsächlich war Johnny wohl auch ziemlich dumm; denn "intelligent" kommt von "verstehen", und zumindest einer seiner Sätze aus "Auch ich in Arkadien" deutet darauf hin, daß er nichts vom Wesen seiner Mitmenschen verstanden hatte: "Es entsteht ein eigenes allgemeines Behagen, wenn man einer Nation ihre Geschichte auf eine geistreiche Weise wieder zur Erinnerung bringt..." (Wie es wirklich war - und ist -, sollte nur hundert Jahre später ein britischer Subaltern-Offizier schreiben, nachdem der die schon erwähnte Reise in die Pikardie, zur Somme, mitgemacht hatte: "Fakten sind lediglich Beiwerk zur Wahrheit, und wir laden keinen Gast an unseren Herd, der uns daran erinnert... Noch unwillkommener ist uns jemand, der sich einen Römischen Urlaub daraus macht...") Aber vielleicht hat Johnny's Verleger Cotta ja nur das "Un" vor "Behagen" versehentlich weg gelassen.

Zurück zu Seume. Einige Jahre später macht er noch eine Reise (diesmal nicht zu Fuß, dafür ist der Weg - Polen, Rußland und Skandinavien - selbst für ihn zu weit) und schreibt darüber wieder ein ähnliches Buch, das er "Mein Sommer" nennt. (Die Zensur setzt es prompt auf den Index, da er unliebsame politische Überlegungen anzustellen und auszusprechen wagt.) Er ahnt nicht, daß es schon sein Herbst ist. Seume stirbt früh, als Mittvierziger, arm an Geld und Ruhm, in einem böhmischen Dorf; aber er hat sicher mehr gesehen von der Welt im allgemeinen und von Italien im besonderen und vielleicht mehr aus seinem Leben gemacht als viele, die älter und vermeintlich reicher geworden sind; und was er hinterlassen hat, schätzt Dikigoros allemal höher ein als die gesammelten Werke von Johnny I. Was gab es doch für tolle Typen in Sachsen, bevor das zu Ossiland wurde! Erstaunt nimmt Dikigoros zur Kenntnis, daß Seumes "Spaziergang nach Syrakus" sogar in der DDR erscheinen durfte, auf ziemlich miesem Papier zwar, aber immerhin. Da hat der Zensor offenbar gearbeitet wie alle Ossis: schludrig und verantwortungslos - welch ein Glück, denn die ach-so-klugen und verantwortungsvollen Wessis haben nie geruht, das Italien-Buch von diesem blöden Ossi, dem "Loser aus Leipzig" (so nennen sie ihn auf einer Web-Seite, obwohl er gar nicht aus Leipzig, sondern aus Poserna bei Weißenfels stammte), neu aufzulegen. (Nur Seumes Rußland-Buch ist 1987 von einem kleinen Außenseiter-Verlag in Westdeutschland noch einmal herausgebracht worden, als Nachdruck der 2. Auflage von 1810.)

[Büste Schinkels]

Nur ein Jahr nach Seume nutzt ein junger Mann (er ist Anfang 20) eine Feuer-Pause zwischen zwei Napoleonischen Kriegen (und eine Erbschaft, die ihm die notwendigen finanziellen Mittel verschafft), um zwei Jahre durch Italien zu reisen. Er heißt wie Dikigoros' Schwiegervater und stammt aus dem selbem Kaff, in dem der zur Schule gegangen ist - die Welt ist klein. Und scharfsinnige Biografen sollen später schreiben, daß er im schönen Italien die geistigen Anregungen für seine künstlerischen Schöpfungen erhalten habe. Nun versteht Dikigoros nicht allzu viel von Architektur, er weiß nur, daß der "klassizistische" Stil bei den Modernen nicht mehr allzu hoch im Kurs steht; aber wenn er Schinkels "Reisen nach Italien" (er ist noch zweimal dort gewesen, als Mitt- und Endvierziger) liest und die Zeichnungen sieht, die er dazu angefertigt hat, dann drängt sich ihm der Verdacht auf, daß er dort nicht etwa Anregungen empfangen hat, wie er später bauen sollte, sondern eher im Gegenteil, wie er es nicht machen wollte. Aber lassen wir das - die deutsche Begeisterung für Italien ist ohnehin merklich abgeflaut. (Nein, liebe Leser, die Ihr in irgend welchen klugen Büchern gefunden habt, daß damals doch die Humboldts, die Schlegels und andere deutsche "Geistesgrößen" in Italien waren - vergeßt es! Ein Diplomat, der seinen Hintern am Schreibtisch absitzt und nur Umgang mit seines gleichen hat, lernt ein Land nicht kennen. Auch wenn Wilhelm v. Humboldt, der preußische Gesandter in Rom - also im Vatikan -, damals ein Büchlein über "Latium und Hellas" - wo er nie gewesen ist - schreibt, so hat er doch von Italien ebenso wenig gesehen wie von Griechenland; und insgeheim rümpft er nur die Nase über seinen Bruder Alexander, der fünf Jahre seines Lebens "geopfert" hat, um in Lateinamerika herum zu reisen - aber das ist eine andere Geschichte.) Jetzt, in der Zeit der Romantik, sucht man seine eigenen Wurzeln bei den Germanen im Mittelalter, nicht in der römischen Antike oder Renaissance. Statt nach Italien zu reisen, bleibt man zuhause und nährt sich redlich. Bezeichnend für diese Stimmung sind die selbstironischen Memoiren eines gewissen Josef von Eichendorff ("Aus dem Leben eines Taugenichts"), in denen er einen neuen Text auf die bekannte Melodie der Frundsberger schreibt:

"Nach Süden nun sich lenken die Vög'lein allzumal,
Viel' Wand'rer lustig schwenken den Hut im Morgenstrahl.
Das sind die Herren Studenten..."

Die Herren Studenten singen es augenzwinkernd mit - es wird eines der erfolgreichsten deutschen Studenten-Lieder aller Zeiten, noch Dikigoros und seine Kommilitonen haben es 150 Jahre später gesungen -, aber sie denken gar nicht daran, lustig nach Süden zu wandern (das überlassen sie getrost den Vög'lein), denn ihnen ist die lateinische Pointe nicht entgangen:

"Et habeat bonam pacem qui sedet post fornacem
(Und der hat seine Ruhe, der hinter'm Ofen sitzt)..."

Nach Jahrzehnten der Napoleonischen Reisen haben die Deutschen gerne ihre Ruhe und bleiben schön hinter'm Ofen sitzen. "Biedermeier-Zeit" werden das später leicht verächtlich solche Leute nennen, die nicht mehr wissen, daß früher Menschen - auch auf Reisen - an Gicht, Rheuma und Erfrierungen litten oder sogar starben und deshalb froh waren über ein warmes Plätzchen zuhause am Ofen; Zentralheizung gab es noch nicht. Wenn einem im Winter besonders kalt ist, stellt man zusätzlich eine Tanne (oder, wenn das Geld knapper war, eine Fichte) in die Bude und zündet ein paar Kerzen an. (Erst damals entwickelte sich diese "private" Form des Weihnachtsfests in den eigenen vier Wänden!) Und wenn der Winter zu Ende geht, läuft man vor Freude durch die Straßen, zieht auf Karren Narrenschiffe hinter sich her, trinkt und singt. (Auch diese Form des Karnevalfeierns entstand erst damals, vor Freude darüber, daß der verfluchte Krieg endlich vorbei war, deshalb waren und sind seine Hochburgen im Rheinland, wo man am meisten Grund hatte, den Abzug der französischen Besatzer zu feiern, und deshalb trägt man dazu bis heute die Reise-Uniformen der Soldaten von damals. Den Rest guckte man sich bei den Italienern ab, genauer gesagt bei den Venezianern - die damals für einige Zeit unter Habsburger Herrschaft kamen -, davon zeugt schon der Name [carro navale = schiff-förmiger Karren]. Woher die es hatten, darüber streiten die Gelehrten, vielleicht ist der Karneval aus den alt-römischen Saturnalien entstanden, aber da will sich Dikigoros nicht festlegen.) Und wenn es wieder Frühling und wärmer wird, dann läuft man nicht nach Sizilien und turnt dort herum, sondern stellt sich einen Barren oder ein Reck auf die grüne Wiese und ergeht sich in "Leibesübungen", wie sie der Turnvater Jahn entwickelt hat. (Der ist damals ein ziemlich junger, progressiver Mann und trägt noch längst nicht den langen Rauschebart, mit dem er heute meist dargestellt wird; den wird er sich erst wachsen lassen, als er ein alter Mann und MdP - Mitglied der Paulskirchenversammlung - ist).

[F. L. Jahn]

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