Der ungesühnte Völkermord
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Protest in Paris gegen den türkischen Genozid an
den Armeniern Foto: dpa
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Es war der erste Völkermord des 20.
Jahrhunderts: 1915/16 wurde rund eine Million Armenier erschossen,
erschlagen, gehängt. Bis heute leugnet die Türkei den Genozid.
Von Heinz Delvendahl
Im Schatten des Ersten Weltkriegs vollzog sich der erste
Völkermord des 20. Jahrhunderts. Mit List, unvorstellbarer
Grausamkeit und Konsequenz wurden 1915/16 im Osmanischen Reich
Hunderttausende von christlichen Armeniern ausgelöscht.
Verantwortlich war das schattenhafte Komitee für Einheit und
Fortschritt um Innenminister Talaat Pascha und Kriegsminister Enver
Pascha. Und das verbündete Deutsche Reich schwieg dazu.
In seinem sorgfältig dokumentierten, glänzend
geschriebenen Buch «Operation Nemesis» schildert der Filmemacher und
Journalist Rolf Hosfeld die Einzelheiten des Genozids. Schon unter
dem «roten Sultan» Abdul Hamid II. hatte es 1895/96
Armenier-Verfolgungen gegeben. Aber nach der jungtürkischen
Revolution 1908 steigerten sich Talaat und Enver in den Wahn, ihr
Land müsse von allen nicht-muslimischen, nicht-türkischen Elementen
«gesäubert» werden.
Todesmärsche in die Wüste
Als wichtigster «innerer Feind» wurden die 1,5
Millionen Armenier ausgemacht, die schon Jahrhunderte vor der
Ankunft der Seldschuken in Ostanatolien gesiedelt und es im
Osmanischen Reich als Bankiers, Anwälte, Ärzte, Apotheker, Lehrer,
Kaufleute, Unternehmer und Gewerbetreibende zu beneidetem Wohlstand
gebracht hatten.
Seit dem 24. April 1915 wurden sie zusammengetrieben und auf
Todesmärschen in die syrische Wüste gepeitscht, wenn sie nicht
vorher erschossen, erschlagen, gehängt oder ertränkt wurden.
Widerstand gegen die Deportationen gab es nur vereinzelt. Franz
Werfel hat 1933 anhand eines authentischen Falles in seinem Roman
«Die 40 Tage des Musa Dagh» den Armeniern ein Denkmal gesetzt.
Kurdische Mordorgien
Kurden beteiligten sich mit Raubüberfällen,
Vergewaltigungen und Mordorgien. Ihr Schicksal schlug 60 Jahre
später. An Sammelpunkten suchten sich türkische Offiziere und
Zivilisten wie auf Sklavenmärkten armenische Mädchen und junge
Frauen als Konkubinen und Mägde aus.
Deutsche Konsuln und Offiziere in türkischen Diensten, andere
Diplomaten und amerikanische Missionare wurden Zeugen der Gräuel und
berichteten nach Hause. Die deutsche Botschaft in Konstantinopel
beschwor die Reichsleitung in Berlin, bei dem Verbündeten vorstellig
zu werden. Doch Reichskanzler Bethmann-Hollweg winkte ab: Bis
Kriegsende würde die Türkei gebraucht, da könne man auf die Armenier
keine Rücksicht nehmen.
Zuflucht für Kriegsverbrecher in Berlin
Der Potsdamer Theologe Johannes Lepsius, Gründer
eines armenischen Hilfswerks, setzte Himmel und Hölle in Bewegung -
vergebens. Bei Kriegsende fanden die schlimmsten Kriegsverbrecher
mit deutscher Militärhilfe Zuflucht in Berlin. Armenische Rächer
übten in einer «Operation Nemesis» Selbstjustiz. So erschoss ein
armenischer Student am 15. März 1921 mitten in Berlin Talaat Pascha.
Türkei leugnet Massenmord
Je nach Zählweise fielen dem Genozid 800.000 bis
1,4 Millionen Armenier zum Opfer. 90 Jahre später leugnet die
moderne Türkei den Massenmord noch immer. Es sei Notwehr gewesen;
die Armenier hätten mit dem christlichen Zarenreich gemeinsame Sache
machen wollen, hätten Aufstände geplant. Als die französische
Nationalversammlung 2001 in einem einstimmig angenommenen Gesetz den
Völkermord an den Armeniern öffentlich anerkannte, beorderte Ankara
seinen Botschafter nach Hause.
«Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?» fragte
Hitler wenige Tage vor dem Überfall auf Polen rhetorisch vor
Wehrmachts- und SS-Generälen, denen er die Ausrottung der Polen
befahl.