Der Lawinenunfall im Jamtal am 28.12.1999

Die Suche nach den Ursachen der Katastrophe

Luidger Röckrath

Inhalt:


Einleitung

Als Augenzeuge und Betroffener des Lawinenunfalls im Jamtal am 28.12.1999 habe ich meine Beobachtungen und Bewertungen in den Tagen nach dem Unglück niedergeschrieben. Dieser Text befindet sich in der ursprünglichen, unveränderten Fassung hier. Der vorliegende Text ist zum einen knapper und stärker auf die wesentlichen Punkte, insbesondere auf die Ursachen der Katastrophe, konzentriert. Auf der anderen Seite wurden weitere Quellen sowie die zwischenzeitlich bekannt gewordenen Reaktionen des Veranstalters (DAV Summit Club), der Bergführerverbände und neutraler Kommentatoren berücksichtigt und erforderlichenfalls kommentiert. Ich habe mich bemüht, alle vorgetragenen Argumente zu berücksichtigen und sachlich zu würdigen.

Die Analyse der Ursachen hat vor allem zwei Fragen zu beantworten:

1. War es verantwortbar, den Hang in dem sich der Unfall ereignete, unter den konkreten Bedingungen zu begehen?

2. Sind bei der Begehung des Hanges erforderliche Sicherheitsvorkehrungen mißachtet worden?

zu Frage 1:

Alle maßgeblichen Entscheidungsverfahren, die für die Entscheidung "Stop or Go" (Antwort auf Frage 1) herangezogen werden können, müssen vor allem zwei wichtige Informationen verarbeiten. Die Topographie des Geländes, insbesondere seine Steilheit und Orientierung, sowie den Grad der Lawinengefahr nach der europäischen Gefahrenskala von 1-5. Es besteht Einigkeit in der praktischen Lawinenkunde für Tourengänger, daß je höher die Lawinengefahr ist, desto weniger steil darf das begangene Gelände sein. Wie die maßgeblichen Faktoren kombiniert und daraus eine Entscheidung abgeleitet werden kann, ist eine Frage des angewandten Entscheidungsverfahrens. Es werden in der einschlägigen Literatur verschiedene Verfahren angeboten und z.T. kontrovers diskutiert. Im vorliegenden Fall kommen jedoch alle zum gleichen Ergebnis, nämlich, daß die Begehung des Unfallhanges, der über 35 ° steil ist, bei der im Lawinenlagebericht angegebenen Gefahrenstufe 4 oder der von den Bergführern angenommenen Gefahrenstufe 3-4 nicht verantwortbar war.

zu Frage 2:

Auch wenn die Begehung des Hanges an sich verantwortbar gewesen wäre, hätten bestimmte Sicherheitsmaßnahmen beachtet werden müssen. Angesichts der Steilheit und der - für den Tourengänger im ungesicherten Gelände extrem hohen - Gefahrenstufe 3-4, war die Einhaltung von Entlastungsabständen eine unabdingbare Sicherheitsmaßnahme. Konsequenterweise hat die Staatsanwaltschaft Innsbruck auf die Mißachtung dieser Maßnahme ihre Anklage der Bergführer gestützt.

I.    Ablauf der Tour

Am 28.12.1999 wurden 14 Teilnehmer einer geführten Skitouren- und Schneeschuhwandergruppe unweit der Jamtalhütte (2165 m, Silvretta) von einer Lawine verschüttet, neun konnten nur noch tot geborgen werden. Insgesamt waren 38 Teilnehmer in 5 Gruppen mit je einem Bergführer am Morgen des 28.12.1999 gegen 8:30 von der Jamtalhütte (2165 m) zum Rußkopf (2693 m) aufgebrochen. Zwei Skitourengruppen und eine Schneeschuhgruppe mit insgesamt 3 Bergführern hatten sich kurz vor der Unfallstelle getroffen und gemeinsam mit über 20 Tourengängern den Hang ohne Abstände gequert. Die drei Bergführer gingen voran und blieben unverletzt. Die beiden anderen Gruppen - unter ihnen der Autor - kamen erst ca. 20 Minuten später an die Unfallstelle und halfen bei der Bergung der Verschütteten. Die Lawine, ein Schneebrett von ca. 70 m x 60 m x 30 cm, löste sich oberhalb der Spur.

Alle Teilnehmer hatte die Tourenwoche einschließlich Sylvesterparty mit Musik, Tanz und Feuerwerk beim DAV Summit Club, dem kommerziellen Ableger des Deutschen Alpenvereins, gebucht. Die Jamtalhütte, ansonsten zu dieser Jahreszeit geschlossen, war speziell für diese Tourenwoche mit Sylvesterfeier ausnahmsweise geöffnet worden. Der Großteil der Schneeschuhwanderer (ca. 25 in 3 Gruppen) waren Anfänger und mit den Gefahren des winterlichen Hochgebirges nicht vertraut.

Zum äußeren Ablauf der Tour vgl. die Stellungnahme des DAV vom 10.2.00 (abgedruckt im DAV Panorama Heft 2/2000 S. 6.).
 

II.    Topographie der Unfallstelle - Hangneigung - Bekannte Lawinengefährdung des Hanges

Die Lawine ging am Nordwesthang des Steinmannli (2353 m) nieder. Der Hang ist, wie sich aus der Alpenvereinskarte Silvrettagruppe leicht ermitteln läßt, deutlich steiler als 30 Grad.

Für die Beurteilung der Lawinengefahr ist nicht die Stelle entscheidend, an der sich der Skitourengeher befindet, sondern die steilste Stelle des Hangs.

    Munter, 3 x 3 Lawinen S. 137 f.
    Ratschläge für Tourengänger des Bayerischen Lawinenwarndienstes.

Michael Larcher (Stop or Go S. 23) betont mit Recht, daß gerade bei Stufe 4 der Verzicht wegen der Gefahr spontaner Großlawinen besonders weiträumig zu leisten ist.

In der ursprünglichen Pressemitteilung des DAV ist ausschließlich davon die Rede, daß die Stelle, an der sich die Tourengeher befanden, rund 25 Grad steil gewesen sei. Der Hinweis, daß es auf die steilste Stelle im Hang oberhalb der Spur ankommt, wird interessanterweise nicht gegeben. In seiner Stellungnahme vom 10.2.2000 räumt der DAV nunmehr ein:

"die Hangneigung beträgt im Bereich der Spur wenige Grad bis etwa 20 Grad Neigung und erreicht bis zum Anriss stellenweise 38 Grad Neigung."
Die Lawinengefährdung des Unfallhanges ist übrigens zumindest dem Hüttenwirt Gottlieb Lorenz bekannt gewesen und wahrscheinlich auch den lokal sehr erfahrenen Bergführern (einer stammt aus Kappl im Paznauntal). Im Jahr 1997 ereignet sich etwa 200 m weiter südlich im gleichen Hang (etwa gleiche Exposition und Steilheit) ein tödlicher Lawinenunfall (verschiedene Berichte, Karte und Foto).

III.    Beurteilung der Lawinengefahr am Unfalltag

1.    Der Lawinenlagebericht vom Unfalltag 7:30

Grosse Lawinengefahr (4) in der Silvretta am Unfalltag

Der Lagebericht des Lawinenwarndienstes Tirol vom Montag, den 27.12.1999 bewertete die Lawinengefahr in Nordtirol schon als überwiegend groß und warnte ausdrücklich:

"Hochalpine Tourenziele sollten generell ausgespart bleiben!"


Der am Unfalltag um 7:30 in der Früh, eine Stunde vor Aufbruch der Gruppe, ausgegebene Lagebericht gab für die Silvretta große Lawinengefahr an und warnte:

"Die Tourenmöglichkeiten sind derzeit eingeschränkt und erfordern Erfahrung in der Beurteilung der Lawinensituation. Eine Schneebrettauslösung ist schon durch eine Einzelperson in steilen Hängen aller Expositionen möglich!"


Die Gefahrenstufen beziehen sich auf einheitliche Europäische Gefahrenskala; hilfreich ist auch die Interpretationshilfe zum Lawinenbulletin des schweizerischen EISLF.

Unser Bergführer (Florian B. aus Rosenheim) sagte am Vorabend, die Lawinengefahr betrage 3-4. Ob die Bergführer den letzten Lagebericht von Dienstag morgen vor dem Aufbruch konsultiert haben, ist mir nicht bekannt. Da die Hütte über Telefon und Fax verfügte, wäre dies möglich und angesichts der allgemein angespannten Lawinensituation auch dringend angezeigt gewesen. Nach einer leichten Beruhigung am Montag nachmittag hatte es in der Nacht auf Dienstag weiter kräftig geschneit und gestürmt; für die erfahrenen Bergführer war die weitere Verschärfung der Lawinensituation ohne weiteres erkennbar. Schon am Montag waren auf einer kleinen Tour zum Finanzerstein sehr häufig Wumm-Geräusche zu vernehmen, ein Warnsignal dringender Lawinengefahr. Am Tourentag mußte also von großer Lawinengefahr (Stufe 4) ausgegangen werden.

2.    Die Beurteilung der Lawinengefahr vor Ort

Der DAV beruft sich dagegen zum einen auf die Tatsache, daß der Lagebericht falsch sein könne, und zum anderen, daß von Bergführern und Hüttenwirt lokal nur Stufe 3 angenommen wurde. In ersten Stellungnahmen gab Herr Härter (stellvertretender Geschäftsführer des DAV Summit Club) an, daß die Lawinengefahr "gegen Null" eingeschätzt worden sei (vgl. Spiegel vom 3.1.2000 Ausflug zum Rußkopf, Rheinische Post), wobei allerdings unklar bleibt, auf welche Skala er sich mit dieser Aussage bezieht.

Dr. Stefan Beulke (Anwalt des DAV Summit Club und nach dem Unglück vor Ort) äußerte nach Gesprächen mit den Bergführern, daß die Lawinenwarnstufe 4 den fünf Bergführern drei davon aus Tirol bekannt gewesen sei (so Tiroler Tageszeitung vom 30.12.1999).

Stellungnahme des DAV vom 10.2.2000:

"Die örtliche Lawinensituation im Jamtal wurde von den Bergführern und dem Hüttenwirt mit erheblich = 3 eingestuft."
"Werner Munter schreibt in seinem Buch 3 x 3 Lawinen zu "Grenzen der Vorhersehbarkeit" und "Ermessensspielraum": "Die Anwendung des Lawinenlageberichts auf einen bestimmten Geländeabschnitt (Lokalisierung) lässt einen weiten Interpretationsspielraum. Zudem betragen die normalen lokalen Abweichungen vom regionalen Durchschnitt plus/minus eine Gefahrenstufe, was den Wert des Lawinenlageberichts stark relativiert." "
"In der Folge waren während der gesamten Tour keine Anzeichen von spontanen Lawinenabgängen zu erkennen, auch nicht an den wesentlich steileren und größeren Hängen der orographisch rechten Jamtalferner-Seitenmoräne (gleiche Orientierung wie der Unfallhang)."


Ebenso Peter Geyer (1. Vorsitzender des Verbands deutscher Berg- und Skiführer) in seiner Stellungnahme in der Alpin März 2000 S. 79.

Wenn man mit Munter (3 x 3 Lawinen S. 136) davon ausgeht, daß das Lagebericht nur zu 65 % zutrifft und von den übrigen die eine Hälfte die Gefahr zu hoch und die andere zu niedrig ansetzt, beträgt die Wahrscheinlichkeit, daß die Gefahrenstufe vor Ort geringer als 4 war, allenfalls 17,5 %. Munter geht im übrigen von nationalen Lawinenbulletins. Nach seiner Ansicht wird die tägliche Herausgabe und Regionalisierung die Trefferquote deutlich erhöhen (Munter aaO). Der Tiroler Lagebericht vom Unfalltag war regional kleinräumig untergliedert und benannte die besonders gefährdeten Regionen, darunter das Tourengebiet, in dem sich die Jamtalhütte befindet (Silvretta). Schon der Bericht vom Vortag hatte die Gefahr als überwiegend groß eingestuft. Außerdem gab der Lawinenwarndienst am Unfalltag um 10:00 einen aktualisierten Bericht heraus, in dem allgemein vor großer Lawinengefahr (Stufe 4) gewarnt wurde. Diese ungewöhnliche Maßnahme zeigt, daß die Situation sich seit Beginn der anhaltenden und ergiebigen Schneefälle am 26.12.1999 ständig verschärfte. Eine Fehler des Lageberichts erscheint daher extrem unwahrscheinlich.

Mir ist nicht erkennbar, aufgrund welcher Umstände die Bergführer die Gefahr lokal niedriger eingestuft haben, als sie sich aus dem Lagebericht für das Tourengebiet um die Hütte, die Silvretta ergibt. Der DAV beruft sich auf das Fehlen von Anzeichen spontaner Lawinenaktivität. Spontane Schneebretter sind zwar ein zuverlässiges Alarmzeichen für erhöhte Lawinengefahr. Das Fehlen spontaner Lawinen ist aber keine Sicherheitszeichen und kein hinreichender Grund die allgemeine Einstufung zu reduzieren (vgl. Munter 3 x 3 Lawinen S. 146). Spontanaktivität ist auch nach der europäischen Gefahrenskala nicht zwingend mit grosser Lawinengefahr verbunden. Das eindeutigste Gefahrenzeichen für akute Lawinengefahr, Wumm-Geräusche (vgl. Munter aaO), war dagegen am Vortag und am Unfalltag häufig zu vernehmen. Es bestanden also keinerlei Anhaltspunkte, um von einer lokal geringeren Gefahrenstufe auszugehen, als sie im Lagebericht angegeben war. Vielmehr bestätigten die Gefahrenzeichen vor Ort (neben Wumm-Geräuschen, kritische Neuschneemengen, frische Triebschneeansammlungen erkennbar an abgeblasenen Rücken) die Einschätzung des offiziellen Tiroler Lawinenwarndienstes.

Horst Kleinhans aus Bad Dürrheim, ein erfahrener Skitourengeher, der in der ersten Gruppe mitging, schreibt treffend in seinem Leserbrief an die alpin (Heft 4/2000 S. 88):

"Toll, da passiert etwas, und die Profis stufen im Nachhinein die Gefahrenstufe um einen Grad ab. Wenn Herr Härter in einem Fachmagazin eine solche Aussage macht, dann erwarte ich eine Begründung für die Abstufung. Ich bin den ganzen Tag direkt an der Spitze der Skitourengruppe gewesen. Ich habe keine Aktion bemerkt, welche auch nur annäherungsweise darauf hingewiesen hat, daß da eine Beurteilung der Lawinensituation stattfindet."
IV.    Entscheidungskriterien für Skibergsteiger

1.    Verhaltensmaßregeln bei Gefahrenstufe 4
 

"Bei GROSS beschränken wir uns auf mäßig steiles Gelände (unter 30 °)"
heißt es bei Munter (3 x 3 Lawinen, S. 126), einem führenden Lawinenexperten am Eidgenössischen Institut für Schnee- und Lawinenforschung in Davos. Munters Formal 3 x 3 und die Reduktionsmethode sind inzwischen zur allgemeinen Lehrmeinung in der Ausbildung der alpinen Vereine und der Bergführer (vgl. z.B. DAV Panorama 2/99 S. 6) geworden. Darstellungen von Munters Methode im Web: Deutscher Skiverband.

Die oben genannte Regel findet sich auch in den Ratschlägen für Skitourengänger des Bayerischen Lawinenwarndienstes. Es handelt sich wohl um eine anerkannte Regel der praktischen Lawinenkunde für Skibergsteiger. Nach dieser Regel hätte der Hang nicht betreten werden dürfen.

Michael Larcher, Sicherheitsexperte des OeAV, hat eine Entscheidungsstrategie für Tourengeher entwickelt, die er als "Stop or Go" bezeichnet:

Bei der Entscheidungsfindung wird in einem erstem Check der Zusammenhang zwischen Hangneigung und Lawinengefahr berücksichtigt. Nach diesem sogenannten Munter-Baustein fordert Larcher bei Gefahrenstufe 3 Verzicht auf Gelände, das steiler als 35 ° ist, bei Gefahrenstufe 4 Verzicht auf Spitzkehrengelände. Hier liegt eine kleine Modifikation gegenüber Munter vor, da für Larcher Spitzkehrengelände schon bei etwa 27 ° Steilheit beginnt. Damit wird ein gewisser Sicherheitsabstand gegenüber der kritischen 30 °-Schwelle erreicht.

Wer gegen diesen ersten Filter verstoßen will, d.h. steiler gehen möchte, den trifft eine konkrete Rechtfertigungspflicht. Er muß Sicherheitszeichen benennen können, auf denen er seine konkrete Entscheidung stützt (Stop or Go S. 27). Konkrete Gefahrenzeichen können hingegen auf der zweiten Ebene weiteren Verzicht fordern. Am Unfalltag waren dagegen zahlreiche Gefahrenzeichen erkennbar (Wumm-Geräusche, kritische Neuschneemengen), so daß ein Abweichen von der 30 °-Regel nicht in Betracht kam.

Fazit:

Die Regel, bei grosser Lawinengefahr (= Gefahrenstufe 4)  auf Steilgelände über 30 ° zu verzichten, ist somit allgemeiner Standard der Ausbildung und Lawinenkunde.
 

2.    Verhaltensmaßregeln bei Gefahrenstufe unter 4 (GROSS)

Weitere Ausführungen zu Munters Formel 3 x 3 und der Reduktionsmethode erübrigen sich damit. Große Lawinengefahr kann nicht reduziert werden.

Würde man jedoch annehmen, daß die Lawinengefahr eine halbe Stufe geringer war, ergibt sich folgendes. Gefahrenstufe 3-4 entspricht einem Risikopotential von 12. Anwendbar ist allenfalls ein Reduktionsfaktor 4, vorausgesetzt die steilste Partie des Hanges ist weniger steil als 35 Grad. Der Hang ist nach der Alpenvereinskarte sicher steiler als 30 Grad. Reduktionsfaktoren, die die Hangexposition berücksichtigen, sind unanwendbar, da die kritischen Neuschneemengen deutlich überschritten war. Bei den in den Tagen vor dem Unglück gegebenen Bedingungen (stürmischer Wind, tiefe Temperaturen) bilden schon 20 cm Neuschnee in 1-3 Tagen eine kritische Neuschneemenge. Laut Lagebericht vom Montag waren in der Silvretta bei stürmischen Winden 40 cm Neuschnee gefallen. Es bleibt also ein Restrisiko von 3 (Risikopotential 12 geteilt RF 4), ein Wert der dreimal so hoch ist wie das akzeptierte Restrisiko von 1. Demnach hätte man den kritischen Hang unter diesen Bedingungen nicht betreten dürfen.

Selbst wenn man mit dem DAV davon ausgeht, daß lokal nur Gefahrenstufe 3 gegeben war, war es nicht zulässig den Hang ohne Entlastungsabstände zu betreten. Das Restrisiko betrug auch dann noch mindestens 2 und hätte nur durch die zusätzliche Einhaltung von Entlastungsabstände auf ein vertretbares Maß reduziert werden können.

Fazit:

Bei Gefahrenstufe 3 - 4 oder 4, hätte der Unfallhang überhaupt nicht betreten werden dürfen. Bei Gefahrenstufe 3 allenfalls unter Einhaltung von Entlastungsabständen, was jedoch nicht geschah.
 

V.    Nichteinhaltung von Entlastungsabständen und Sicherheitsabständen

Entlastungsabstände von 15 m sind ab 30 ° eine unverzichtbare Sicherheitsmaßnahme. Nach Larcher (Stop or Go S. 25) gehören sie zu den Standardmaßnahmen, das heißt zu den Handlungen, die unabhängig von der konkreten Gefahrensituation stets einzuhalten sind (vgl. auch Munter, 3 x 3 Lawinen S. 162 f.). Entlastungsabstände dienen der Entlastung der Schneedecke und sollen damit der Auslösung eines Schneebrettes durch die Tourengruppe vorbeugen. Üblich sind Abstände von etwa 15 m. Sicherheitsabstände sollen dagegen sicherstellen, daß sich immer nur eine Person im Gefahrenbereich befindet und damit durch eine eventuelle Lawine höchstens eine Person verschüttet wird. Die Gruppenteilnehmer bewegen sich einzeln von einer sicheren Insel (ein Rücken oder eine Kuppe z.B., das Kitzsteinhornunglück zeigt allerdings, daß die scheinbar sichere Insel unter außergewöhnlichen Umständen doch nicht so sicher sein kann.) zur nächsten. Entlastungsabstände wirken immer auch als Sicherheitsabstände, indem sie die Anzahl der Personen im Gefahrenbereich reduzieren. Im Fall der Jamtallawine hätte die Einhaltung von Entlastungsabständen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schon die Auslösung des Schneebretts verhindert. Ein Spontanauslösung oberhalb der Spur just in dem Augenblick, in dem sich die Mammutgruppe im Hang befand, erscheint sehr unwahrscheinlich. Zumindest hätte durch die Einhaltung von Abständen die Anzahl der Opfer deutlich reduziert werden können, da statt 14 nur 2-3 Tourengänger verschüttet worden wären, die eine erheblich größere Chance rechtzeitiger Lebendbergung gehabt hätten.

Die verunfallten Gruppen haben an der Unfallstelle keine Entlastungs- oder Sicherheitsabstände eingehalten. Die Einhaltung von Entlastungsabständen wird nur mit einem weiteren Reduktionsfaktor 2 berücksichtigt, hätte das Restrisiko also bei Gefahrenstufe 3-4 oder 4 auch nicht auf das akzeptierte Maß drücken können. Aber selbst diese bei großer Lawinengefahr elementare Vorsichtsmaßnahme wurde von den Bergführern der verunglückten Gruppen mißachtet. Auch im Fall einer Spontanauslösung hätten Sicherheitsabstände das Ausmaß des Unglücks und damit die Chancen rechtzeitiger Bergung deutlich erhöht. Der Bergführer meiner Gruppe - ein sehr umsichtiger und vernünftiger, 26 Jahre junger Bergführeranwärter - hatte dagegen schon im Aufstieg an der späteren Unfallstelle Entlastungsabstände von 10 Metern angeordnet und ihre Einhaltung strengstens überwacht. Dabei wurden wir von der später verunglückten Skitourengruppe, die oberhalb von uns im Hang ihre Spur ohne Entlastungsabstände legte, überholt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte den Bergführern der verschütteten Gruppen die offensichtliche Gefahr bewußt werden müssen. Sie hätten sich denken müssen, daß ihr Kollege nicht ohne Grund Entlastungsabstände anordnet.

Interessanterweise wird auf diesen Punkt in der Stellungnahme des DAV vom 10.2.00 mit keinem Wort eingegangen. Die Nichteinhaltung von Entlastungsabständen war ein eindeutiges Führungsversagen. Auch die schlechten Wetterverhältnisse und der Erschöpfung der Tourenteilnehmer können dieses Verhalten nicht erklären, geschweige denn rechtfertigen. Wie schon ausgeführt, hat die später verunfallte Gruppe schon im Aufstieg den späteren Unfallhang ohne Abstände gequert. Es war also nicht die Erschöpfung und der verständliche Wunsch, rasch zur Hütte zurück zu kommen, sondern die angesichts aller offenkundigen Gefahrenzeichen völlig unverständliche Verkennung der akuten Lawinengefahr, die zu dieser fatalen Fehlentscheidung führte.

Der Schweizerische Bundesgericht hat in seiner letztinstanzlichen Entscheidung über das Lawinenunglück vom 1. April 1988 am Mot San Lorenzo in Graubünden den Bergführer allein wegen der unterlassenen Anordnung von Entlastungsabständen in einem Steilhang (~ 38 °) bei nur mässiger Lawinengefahr der fahrlässigen Tötung für schuldig befunden (BGE 118 IV 130, 137 ff. Erwägung 5). Zitat (S. 140):

"Damit verletzte er nach dem oben Gesagten seine Sorgfaltspflicht. Zwar durfte er grundsätzlich den Steilhang mit seiner Gruppe begehen, hätte dabei aber Entlastungs- bzw. Sicherheitsabstände von mindestens 10 Metern zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern einhalten müssen."
Die Staatsanwaltschaft Innsbruck hat zwischenzeitlich gestützt auf das Gutachten von Michael Larcher Anklage gegen die drei Bergführer erhoben und dies vornehmlich mit der Mißachtung von Entlastungsabständen begründet (vgl. eine entsprechende Äußerung des Alpinreferenten der Staatsanwaltschaft Innsbruck Dr. Robert Wallner gegenüber der österreichischen Tageszeitung Kurier vom 8.7.2000).

VI.    Notwendigkeit der Beurteilung der Situation aus der Perspektive des Handelnden

Selbstverständlich kann die Vermeidbarkeit dieses tragischen Unfalls nur aus der Perspektive beurteilt werden, in der sich die handelnden Bergführer befanden. Unerkennbare Gefahren können nicht vermieden werden. Informationen, die damals nicht verfügbar waren und auch nicht hätten beschafft werden können, dürfen daher nicht berücksichtigt werden.

Der DAV Summit Club führt dazu in seiner Stellungnahme vom 10.2.00 aus:

"Beim Versuch, die Entscheidungen der betroffenen Bergführer zu beurteilen, muss der Grundsatz der ex-ante-Betrachtung (mit dem Wissen vor dem Unfallereignis) angewandt werden. Man sollte sich dazu in die Person der Bergführer versetzen und nach Einbeziehung aller möglichen Gefahrenhinweise und Informationen, die im Jamtal gegeben waren, die Frage beantworten: War das Schneebrett exakt an diesem Ort und zu diesem Zeitpunkt für die Bergführer erkennbar? Offenbar nicht, sonst hätten die Bergführer nicht als erste die ansteigende Querung zur Hütte begangen.

Von einer Vorverurteilung nach dem Muster: "Ausgegebene große Lawinengefahr (4) plus Hang steiler als 30° = Fahrlässigkeit der Bergführer" wird abgeraten. Dies wäre eine zu schnelle und zu einfache Gefahrenanalyse aus der ex-post-Sichtweise (mit dem Wissen um das Unfallereignis) und würde der komplexen Situation am Unfalltag nicht gerecht werden."

Jeder verantwortungsbewußte Bergführer sollte den Lawinenlagebericht und die Karte vor Beginn der Tour zu Rate ziehen. Ohne Konsultierung dieser unentbehrlichen Planungshilfsmittel ist eine verantwortungsvolle Skitourenplanung schlechterdings nicht denkbar. Darauf wird auch in der einschlägigen fachlichen und juristischen Literatur eindringlich hingewiesen (vgl. Literaturhinweise).

Wieso nach Ansicht des DAV die an der Hangsteilheit und dem Lagebericht orientierte Beurteilung eine Gefahrenanalyse aus der ex-post-Sicht sein soll, ist mir schleierhaft. Karte und Lagebericht lagen den Bergführern vor. Das Argument der zu starken Vereinfachung einer komplexen Situation ist wenig hilfreich, soweit der DAV Summit Club sich weigert, die nach seiner Ansicht zusätzlich zu berücksichtigenden Faktoren zu benennen. Einfach die Gefahrenstufe um eine Stufe herabzusetzen, ohne eine Begründung dafür geben zu können, warum die amtliche Beurteilung für das konkrete und recht kleine Gebiet unzutreffend gewesen sein soll, ist eine Strategie, sich gegen jegliche Kritik zu immunisieren. Argumente, die nicht vorgetragen werden, sind nicht erwiderungsfähig.
 

VII.    Mißachtung sonstiger Sicherheitsmaßnahmen

Der DAV Summit Club wies stets darauf hin, daß die Teilnehmer mit der modernsten Sicherheitsausrüstung ausgerüstet worden seien. Dazu bleibt anzumerken, daß die älteren VS-Geräte z.T. noch über die Skimausfunktion verfügten, was nach Auskunft von Herrn Kleinhans bei manchen Teilnehmern während der Ortung zu Verwirrung führte.

Im übrigen hatte der DAV Summit Club keine ABS-Lawinen-Airbag-Systeme an die Teilnehmer verteilt. Ob eine Verkehrsnorm besteht, die bei geführten Touren in lawinengefährdete Gebiete eine derartige Ausrüstung vorschreibt, ist allerdings nicht unumstritten. Der Entwickler und Hersteller dieses Systems, das als einziges eine Lawinenverschüttung verhindern kann (Peter Aschauer), sieht hier verständlicherweise ein gravierendes Versäumnis des Veranstalters (vgl. alpin April 2000 S. 87)
 

VIII.    Literaturhinweise

Ein Pressespiegel findet sich hier.

Munter, Werner:
3 x 3 Lawinen. Entscheiden in kritischen Situationen
Zweite Auflage, Garmisch-Partenkirchen, 1999

Larcher, Michael:
Stop or Go - Entscheidungsstrategie für Tourengeher
in: Berg & Steigen, Zeitschrift für Risikomanagement im Bergsport
Heft 4/1999 S. 21 ff.
zu beziehen über den OeAV, Wilhelm-Greil-Str. 15, 6010 Innsbruck,
Tel: +43-512-59547-30, fax: +43-512-575528
e-mail: [email protected]

Die Jamtal-Tragödie
Augenzeugenbericht einer Verschütteten (Frauke Brunner), Stellungnahmen vom Alpenverein, Geyer (1. Vorsitzender VdBS), Hajo Netzer (Bergführer) u.a.
Alpin März 2000, S. 76 ff.
dazu zahlreiche Leserbriefe im Heft April 2000, S. 87 ff.

Dietl, Korbinian:
Unfallhaftung beim Expeditions- und Trekkingbergsteigen.
Zugleich ein Beitrag zum Reiserecht für den Bereich der Bergreisen sowie zum Sporthaftungsrecht für den Bereich des Bergsports
Salzburger Studien zum Europäischen Privatrecht, Heft 6, Peter Lang, 2000

Beulke, Stefan:
Die Haftung des Bergführers bei beruflicher und privater Ausübung des Bergsports
VVF, 1994, Reihe:  Rechtswissenschaftliche Forschung und Entwicklung
Zugleich Dissertation Regensburg

Röckrath, 18.1.2000, 20.2.2000, zuletzt überarbeitet und ergänzt 5.9.2000

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