Restrisiko oder Leichtsinn?

Anmerkungen zum Lawinenunglück im Jamtal

Von Luidger Röckrath

Vorbemerkung

Den folgenden Text habe ich einige Tage nach dem Unglück verfaßt und am 4.1.2000 also genau eine Woche später in der Newsgroup de.rec.alpinismus mit der folgenden Einleitung zur Diskussion gestellt:

Hallo Leute,
ich war dabei, zum Glueck nicht in der Gruppe, die verschuettet worden
ist, aber bei deren Bergung beteiligt. Keine schoene Erfahrung. Nachdem
ich mich heute wieder ueber die in der SZ (Reiseteil) kritiklos
wiedergegebenen Aeusserungen von Herrn Geyer vom Deutschen
Bergfuehrerverband ("Fahrlaessigkeit, wie urspruenglich behauptet, liegt
nicht vor.") geaegert habe, habe ich mich entschlossen, meine Bewertung
der Ereignisse hier zur Diskussion zu stellen. Also ihr Skitourenexperten,
wie seht ihr die Sache? Habe ich den Munter richtig verstanden?
Meine Konsequenz ist, dass man sich nie auf die sogenannten Experten
verlassen soll, sondern immer seinen eigenen kritischen Verstand
benutzen soll.
Luidger
Eine lebhafte und kontroverse Diskussion kam zustande, in deren Verlauf zahlreiche neue Gesichtspunkte und Perspektiven artikuliert wurden. Die Originaldiskussionbeiträge habe ich archiviert und ins Web gestellt und dazu eine leichter lesbare und thematisch gegliederte Zusammenfassung bei Streichung aller entbehrlichen Quotes erstellt.

Den folgenden Text habe ich inhaltlich nicht mehr verändert oder ergänzt. Er entspricht auch heute noch im wesentlichen meiner Einschätzung der Ereignisse. Es wurden lediglich einige Verweise ergänzt. Eine kürzere und aktualisierte Fassung, die auch meine Erwiderung zu den inzwischen von anderer Seite erfolgten Stellungnahmen enthält, findet sich hier.

Luidger Röckrath, 21.2.2000


Restrisiko oder Leichtsinn?

Anmerkungen zum Lawinenunglück im Jamtal

Am 28.12.1999 wurden 14 Teilnehmer einer geführten Skitouren- und Schneeschuhwandergruppe unweit der Jamtalhütte von einer Lawine verschüttet. Obwohl die anderen Teilnehmer unverzüglich mit der Ortung und Bergung der Verschütteten begannen und dabei vom Wirt und Personal der Jamtalhütte unterstützt wurden, konnten neun der Verschütteten nur noch tot geborgen werden. Insgesamt waren 38 Teilnehmer in 5 Gruppen mit je einem Bergführer am Morgen des 28.12.1999 gegen 8:30 zum Rußkopf (2693 m) aufgebrochen, obwohl es seit dem 26.12.1999 praktisch durchgehend bei stürmischen Winden geschneit hatte und die Lawinengefahr inzwischen als groß eingestuft wurde. Alle Teilnehmer hatte die Tourenwoche einschließlich Sylvesterparty mit Musik, Tanz und Feuerwerk beim DAV Summit Club, dem kommerziellen Ableger des Deutschen Alpenvereins, gebucht. Die Jamtalhütte, ansonsten zu dieser Jahreszeit geschlossen, war speziell für diese Tourenwoche mit Sylvesterfeier ausnahmsweise geöffnet worden. Die Mehrzahl der Teilnehmer (ca. 25 in 3 Gruppen) wollte das Schneeschuhwandern zum ersten Mal ausprobieren und war in bezug auf die Gefahren des winterlichen Hochgebirges völlig unerfahren. "Sie brauchen keine Schneeschuh-Erfahrung" verlautete der Prospekt des DAV Summit Club.

Ich erreichte die Unfallstelle mit meiner Schneeschuhgruppe ca. 15 Minuten nach dem Unfall und war zum Glück nur bei der Bergung der Opfer beteiligt. Als begeisterter Bergsteiger verbringe ich im Sommer und Herbst bei entsprechender Wetterlage praktisch jedes Wochenende auf Hoch- oder Klettertouren in den Alpen. Da ich kein Alpinskifahrer bin, erschien mir das in letzter Zeit wieder in Mode gekommene Schneeschuhwandern als eine interessante Möglichkeit, auch im Winter die Berge zu erleben. Aufgrund dieses persönlichen Hintergrundes verfügte ich über deutlich mehr allgemeine Alpinerfahrung als die Mehrzahl der anderen Teilnehmer. So war mir im Gegensatz zu diesen sehr wohl bewußt, daß beim Schneeschuhwandern die Lawinengefahr gleichermaßen zu berücksichtigen ist wie beim Skitourengehen. Ich hatte das hervorragende Buches des Schweizer Lawinenexperten Werner Munter gelesen und dadurch einen gewissen theoretischen Einblick in die Beurteilung der Lawinengefahr und deren Vermeidung gewonnen. Daß starke Neuschneefälle bei stürmischen Winden die Lawinengefahr hochschnellen lassen, war mir im Grundsatz bewußt. Andererseits wußte ich, daß auch bei mittleren Lawinenwarnstufen eingeschränkte Tourenmöglichkeiten bestehen, vorausgesetzt die Route wird entsprechend gewählt und besondere Sicherheitsvorkehrungen wie Entlastungs- und Sicherheitsabstände werden eingehalten. Ich vertraute daher darauf, daß die ortskundigen und erfahrenen Bergführer in der konkreten Situation die richtigen Entscheidungen treffen.

Nach dem schrecklichen Unfall habe ich überprüft, ob die Entscheidung der Bergführer, bei diesen Bedingungen die Tour zu unternehmen, vertretbar war. Nach der neueren Standardmethode zur Beurteilung der Lawinengefahr für Skibergsteiger, die der Schweizer Lawinenexperte Munter entwickelt hat, mußte ich zum eindeutig gegenteiligen Ergebnis kommen. Bei Lawinenwarnstufe 4 war es völlig unverantwortlich, den Hang, von dem die Lawine abging, zu betreten und dies dazu noch mit einer so großen Gruppe ohne Entlastungsabstände (vgl. eingehend weiter unten). Ich kann der bitteren Erkenntnis nicht ausweichen, daß es sträflicher Leichtsinn war, dem Urteil der Experten unreflektiert zu vertrauen und all die offenkundigen Warnsignale zu verdrängen. Ein sträflicher Leichtsinn, der in meinem Fall nur mit düsteren Erinnerungen bestraft wird, den andere jedoch mit dem Leben bezahlen mußten.

Leichtsinn oder unvermeidbares Restrisiko?

Die Vertreter der Bergführerverbände waren sofort mit der Erklärung zur Stelle, es habe sich um einen tragischen Unglücksfall gehandelt, für den die Bergführer keinerlei Verantwortung treffe. Man hätte unter den gegebenen Bedingungen genauso gehandelt. Sogar einzelne Teilnehmer, die der Katastrophe knapp entronnen waren, machten Aussagen gleichen Inhalts in die Kamera. Zeugt diese Einstellung im ersten Fall von offenkundigen Lobbyinteressen, offenbart sie im letzteren Fall eine erschreckende Gleichgültigkeit, um nicht zu sagen Dummheit. Angesichts solcher Äußerungen ist es kaum verwunderlich, wenn dem Bergsport in der Öffentlichkeit das Ettikett des Extremsports angehängt wird. Wer auch nicht einen Moment bereit ist, nach einer solchen Katastrophe sein Risikoverhalten zu überdenken, darf sich nicht wundern, als Adrenalinjunkie abgestempelt zu werden. Gerade der Respekt vor den Opfern gebietet, sich mit dem Unfallgeschehens auseinander zu setzen, nach seinen Ursachen zu forschen und aus dem Geschehenen zu lernen, damit sich Gleiches nicht wiederholt.

Dies schließt auch die Frage nach der moralischen und rechtlichen Verantwortung ein. Die Schuldfrage wird im Ergebnis von den Gerichten in Zusammenarbeit mit den Sachverständigen zu klären sein. Nachdem der Veranstalter und die Vertreter von Bergführerverbänden sich geradezu überschlugen, den Bergführern unverzüglich einen Persilschein auszustellen, seien jedoch einige kritische Anmerkungen erlaubt.

Die Grenzlinie zwischen unvermeidbarem Restrisiko und Leichtsinn ist nicht leicht zu ziehen. Ein selbständiger Bergsteiger kann und muß selbst eigenverantwortlich entscheiden, welche Risiken er bei der Ausübung seines Hobbies eingehen will. Es würde dem Grundsatz der Eigenverantwortung widersprechen, wenn lediglich selbstgefährdendes Verhalten an allgemeingültigen Maßstäbe gemessen wird. Bei geführten Touren vertraut dagegen der Gast seine Sicherheit dem Bergführer an und erwartet, daß dieser ein Höchstmaß an Sicherheit garantiert. Der Bergführer muß demnach zwar situationsgebundenen, aber nach allgemein akzeptierten und rational nachprüfbaren Kriterien entscheiden.

Die Beurteilung der Lawinengefahr

Im verschneiten Hochgebirge ist das Risiko von Lawinen stets präsent. Die Lawinengefahr für ein bestimmtes Gebiet wird durch die 5 Warnstufen der einheitlichen europäischen Lawinengefahrenskala angegeben (1 = gering, 2 = mäßig, 3 = erheblich, 4 = groß, 5 = sehr groß). Der Lagebericht des Lawinenwarndienstes Tirol vom Montag, den 27.12.1999 bewertete die Lawinengefahr in Nordtirol schon als überwiegend groß und warnte ausdrücklich: "Hochalpine Tourenziele sollten generell ausgespart bleiben!" Der am Unfalltag um 7:30 in der Früh, eine Stunde vor Aufbruch der Gruppe, ausgegebene Lagebericht gab für die Silvretta große Lawinengefahr an und warnte: "Die Tourenmöglichkeiten sind derzeit eingeschränkt und erfordern Erfahrung in der Beurteilung der Lawinensituation. Eine Schneebrettauslösung ist schon durch eine Einzelperson in steilen Hängen aller Expositionen möglich!" Ob die Bergführer diesen letzten Lagebericht vor dem Aufbruch konsultiert haben, ist mir nicht bekannt. Da die Hütte über Telefon und Fax verfügte, wäre dies möglich und angesichts der allgemein angespannten Lawinensituation auch dringend angezeigt gewesen. Nach einer leichten Beruhigung am Montag nachmittag hatte es in der Nacht auf Dienstag weiter kräftig geschneit und gestürmt; für die erfahrenen Bergführer war die weitere Verschärfung der Lawinensituation ohne weiteres erkennbar. Am Tourentag mußte also von großer Lawinengefahr (Stufe 4) ausgegangen werden.

Lawinengefahr der zweithöchsten Stufe 4 stellt für Bergsteiger im hochalpinen Gelände stets eine große Gefahr dar. Die im Spiegel vom 3.1.2000 S. 121 zitierte Äußerung von Günther Härter vom DAV Summit Club, die Lawinengefahr sei "gegen Null" eingeschätzt worden, kann daher bei den Betroffenen nur ein verständnisloses Kopfschütteln auslösen. Allerdings gibt es keine Regel, daß ab einer bestimmten Stufe der Lawinengefahr keinerlei Touren mehr durchgeführt werden dürfen. Aber es versteht sich von selbst, daß bei einer derartig großen Lawinengefahr äußerste Sorgfalt auf die Routenwahl verwendet werden muß und zusätzliche Vorkehrungen wie das Einhalten von Sicherheits- oder Entlastungsabständen erforderlich ist.

Ein in der Praxis bewährtes und inzwischen allgemein anerkanntes Entscheidungsverfahren hat der schweizerische Lawinenexperte Munter vom Eidgenössischen Institut für Schnee- und Lawinenforschung in Davos entwickelt. Seine Methode hat im Umgang mit der Lawinengefahr einen Paradigmenwechsel gegenüber der klassischen Beurteilung vollzogen. Eine vorzügliche, auch für den interessierten Laien verständliche Darstellung findet sich in dem Buch Werner Munter: 3 x 3 Lawinen, Entscheiden in kritischen Situationen. Munters Methode ist inzwischen zum Standard der Ausbildung und allgemein akzeptierte Lehrmeinung geworden. Es spricht für sich, daß das Buch unter der Ägide der Alpenvereine (DAV, OeAV, SAC) und des Verbandes deutscher Berg- und Skiführer e.V. herausgegeben wurde.

Munters Grundthese ist, daß die klassische Einzelhangbeurteilung nach gegrabenen Schneeprofilen wegen der Inhomogenität jeder Schneedecke sehr unzuverlässig oder nahezu unmöglich ist. Als Alternative hat er für Skibergsteiger ein Entscheidungsverfahren entwickelt, das mit wenigen objektiven Daten auskommt und aus der statistischen Analyse von Lawinenunglücken der letzten Zeit entwickelt worden ist. Ausgangspunkt ist der Lawinenlagebericht für das betreffende Tourengebiet. Jeder Warnstufe wird ein Risikopotential zugeordnet (gering = 2, mäßig = 4, erheblich = 8, groß = 16). Dieses Risikopotential wird durch die sogenannten Reduktionsfaktoren (RF) geteilt, die insbesondere die Steilheit und Exposition des begangenen Geländes und die Größe der Gruppe berücksichtigen. Der resultierende Wert ist das Restrisiko. Das akzeptable Restrisiko setzt Munter auf 1 fest mit der richtigen und vernünftigen Begründung, daß damit die Hälfte aller Lawinentoten unter Skibergsteigern in der Vergangenheit vermeidbar gewesen wäre.

Die Anwendung auf die Situation im Tourengebiet am Unfalltag ist recht einfach. Laut Lawinenlagebericht bestand große Lawinengefahr (4). Das entspricht einem Risikopotential von 16. Anwendbar ist allenfalls ein Reduktionsfaktor 4, vorausgesetzt die steilste Partie des Hanges ist weniger steil als 35 Grad. Der Hang ist nach der Alpenvereinskarte sicher steiler als 30 Grad. Reduktionsfaktoren, die die Hangexposition berücksichtigen, sind unanwendbar, da die kritischen Neuschneemengen deutlich überschritten war. Bei den in den Tagen vor dem Unglück gegebenen Bedingungen (stürmischer Wind, tiefe Temperaturen) bilden schon 20 cm Neuschnee in 1-3 Tagen eine kritische Neuschneemenge. Laut Lagebericht vom Montag waren in der Silvretta bei stürmischen Winden 40 cm Neuschnee gefallen. Es bleibt also ein Restrisiko von 4 (Risikopotential 16 geteilt RF 4), ein Wert der viermal so hoch ist wie das akzeptierte Restrisiko von 1. Demnach hätte man den kritischen Hang unter diesen Bedingungen niemals betreten dürfen.

"Nachher ist man immer klüger", höre ich die Bergführer und ihre Interessenvertreter schon sagen. Dieser Einwand liegt allerdings völlig neben der Sache. Die hier vorgenommene Risikoanalyse nach Munter beruht ausschließlich auf Daten, die den Bergführern zur Zeit des Aufbruchs bekannt waren oder hätten bekannt sein müssen. Der Lawinenlagebericht war abrufbar, die topografischen Informationen aus den präzisen Alpenvereinskarten des Gebietes einfach ablesbar. Zu Munters Reduktionsmethode gibt es im übrigen ein kurzes übersichtliches Merkheft, daß man ohne weiteres auf Tour mitnehmen kann und anhand dessen alle hier verwendeten Verfahrensschritte einfach nachzuvollziehen sind.

Nichteinhaltung von Entlastungsabständen

Die Frage der Entlastungs- oder Sicherheitsabstände ist in dieser Situation zweitrangig. Die Einhaltung von Entlastungsabständen wird nur mit einem weiteren Reduktionsfaktor 2 berücksichtigt, hätte das Restrisiko also auch nicht auf das akzeptierte Maß drücken können. Aber selbst diese bei großer Lawinengefahr elementare Vorsichtsmaßnahme wurde von den Bergführern der verunglückten Gruppen mißachtet. Auch im Fall einer Spontanauslösung hätten Sicherheitsabstände das Ausmaß des Unglücks und damit die Chancen rechtzeitiger Bergung deutlich erhöht. Der Bergführer meiner Gruppe hatte dagegen schon im Aufstieg an der späteren Unfallstelle Entlastungsabstände von 10 Metern angeordnet. Dabei wurden wir von der später verunglückten Skitourengruppe, die oberhalb von uns im Hang ihre Spur ohne Entlastungsabstände legte, überholt.

Die völlige Unerfahrenheit der Teilnehmer

Das Verhalten der Bergführer wäre also nur entschuldbar, wenn die Teilnehmer ein höheres Risiko bewußt in Kauf genommen hätte. Auch insoweit finden sich aufschlußreiche Äußerungen bei Munter (aaO S. 125):

"Ich habe dieses akzeptierte Restrisiko auf 1 festgesetzt im Hinblick auf Verantwortungsträger, z.B. Jugend+Sport-Leiter, denen Jugendliche anvertraut werden, die nicht eigenverantwortlich entscheiden können. Ich kann mir aber gut vorstellen, daß Bergführer mit erfahrenen Gästen, die freiwillig und bewußt (nach entsprechender Aufklärung) bereit sind, höhere Risiken einzugehen, das akzeptierte Restrisiko ausnahmsweise überschreiten können." (Hervorhebungen im Original). Ein Großteil der Teilnehmer waren Schneeschuhwanderer ohne jede Erfahrung im winterlichen Hochgebirge, denen die Lawinengefahr allenfalls sehr grob bewußt war. Sie waren nicht in der Lage, die Bedeutung der verschiedenen Warnstufen des Lawinenlageberichts zu verstehen. Der Unterschied zwischen den äußerst seltenen siedlungsbedrohenden Katastrophenlawinen (so wie sie sich letztes Jahr in Paznauntal ereignet haben) und den viel kleineren, aber häufigeren Schneebrettern, die den Winterbergsteiger gefährden, dürfte den wenigsten bewußte gewesen sein. Die meisten Teilnehmer hatten am Vortag des Unglücks zum ersten mal ein Verschüttetensuchgerät in den Händen gehalten und damit erste Übungen in der Ortung von Verschütteten durchgeführt. Die Ausschreibung der Tour verlangte keinerlei Vorkenntnisse, nur eine ausreichende Kondition für Gehzeiten von 4 bis 7 Stunden.

Von einer nach entsprechender Aufklärung erfolgten, freiwilligen und bewußten Einwilligung in die über das allgemein akzeptierte Maß erheblich hinausgehende Gefährdung kann demnach keine Rede sein. Eine über die Mitteilung der Tatsache, daß die Lawinengefahr zwischen 3 und 4 liege, hinausgehende Aufklärung fand nicht statt. Die Teilnehmer vertrauten blindlings darauf, daß die Bergführer auch unter diesen Bedingungen durch entsprechende Spurwahl eine sichere Durchführung der Tour gewährleisten würden. Nur der erfahrene Gast kann nach entsprechender Aufklärung, wie Munter mit Recht betont, in die höhere Gefährdung einwilligen. Diese kognitive Einwilligungsfähigkeit fehlte den meisten Teilnehmern. Der Anfänger, der eine Reise mit dem DAV Summit Club bucht, vertraut mit Recht darauf, daß die akzeptierten Sicherheitsstandards eher konservativ im Sinne größtmöglicher Sicherheit angewandt werden. Die Lawine macht zwar keinerlei Unterschied zwischen dem blutigen Anfänger und dem erfahrenen Alpinisten, aber nur der erfahrene Alpinist kann eigenverantwortlich seine Risikobereitschaft bestimmen, während der Anfänger sich der sachkundigen Beurteilung durch den Bergführer nach den generell akzeptierten Maßstäben anvertraut.

Verantwortung des Veranstalters im Vorfeld

Die 6-Tage-Wettervorhersage des ORF am Tag vor der Abreise (Samstag, 25.12.1999) war eindeutig. Starke Neuschneefälle für die nächsten Tage wurden angekündigt, lediglich für den Dienstag eine leichte Beruhigung. Der Lawinenlagebericht von Samstag gab Warnstufe 2 an, warnte aber gleichzeitig davor, daß mit den zu erwartenden Neuschneefällen ein Anstieg auf mindestens 3 zu erwarten sei. Starke Neuschneefälle bei stürmischen Winden lassen die Lawinengefahr sofort hochschnellen. "Der Wind ist der Baumeister der Lawinen" heißt es nicht umsonst bei den Alpenbewohnern. Damit war schon vor der Anreise völlig klar, daß die Tourenmöglichkeiten sehr stark eingeschränkt sein würden, wenn nicht sogar völlig ausgeschlossen. Warum hat der DAV Summit Club die Tourenwoche unter diesen Bedingungen nicht abgesagt? Standen kommerzielle Interessen im Vordergrund? Warum hat man die Teilnehmer nicht zumindest auf diese Umstände hingewiesen und ihnen den Rücktritt angeboten?

Nicht umsonst ist die Jamtalhütte normalerweise im Hochwinter geschlossen und öffnet erst wieder Mitte Februar für die Skitourensaison. Der Hochwinter ist wie unter Skitourengänger allgemein bekannt ist im Hinblick auf die Lawinensituation die gefährlichste Zeit. Hatte man bei der Planung des Tourenprogramms vielleicht auf günstige Bedingungen gehofft, hätte man, als diese Hoffnung sich schon vor der Anreise als trügerisch erwiesen hatte, die Konsequenzen ziehen müssen. Es war jederzeit mit der Sperrung des Hüttenzustiegs durch das Jamtal, ein stark lawinengefährdetes V-Tal mit steilen Hängen, zu rechnen. Hatte man eine Hubschrauberevakuierung der auf der Hütte eingeschlossenen Gäste von vornherein billigend in Kauf genommen?

"Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode."

Eine weitere Gruppe des DAV Summit Club von über 100 Personen sollte am Mittwoch nach dem Unglück auf der Hütte eintreffen. Der Hüttenzustieg durch das Jamtal war von der örtlichen Lawinenkommission schon am Montag wegen Lawinengefahr gesperrt worden. Dennoch erwog der für die zweite Gruppe verantwortliche Bergführer des DAV Summit Club Herdegen, diese Gruppe mit Hubschraubern einfliegen zu lassen (so in einem Interview im österreichischen Rundfunk am Mittwoch nach dem Unglück). Dieses Verhalten des für die Sicherheit von 100 Gästen verantwortlichen Bergführers zeigt in erschreckender Weise, wie weit die hemmungslose Kommerzialisierung der Berge schon fortgeschritten ist.

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