"Die Bergführer sind genug gestraft"


Vorbemerkung

Frauke Brunner, Ärztin aus München, wurde am 28.12.1999 von der Lawine, die unweit der Jamtalhütte am Hang des Steinmannli abging, verschüttet und konnte als eine der letzten lebend und ohne größere Verletzungen geborgen werden. Sie war Teilnehmerin der vom DAV Summit Club angebotenen Skitourenwoche mit Sylvesterparty auf der Jamtalhütte. Sie gab der Zeitschrift alpin ein Interview, auf dessen Grundlage in der alpin März 2000 S. 76 ff. ein in der Ich-Form formulierter Erfahrungsbericht erschien. Leider hatte Frau Brunner vor der Veröffentlichung in der alpin keine Gelegenheit, den vom Redakteur aufgrund des aufgezeichneten Interviews formulierten Text auf Übertragungsfehler durchzusehen. Für diese Webseite stellte sie eine von ihr persönlich korrigierte und authorisierte Version des Textes zur Verfügung.
 
 

Verschüttet

Ich hatte Panik, aber habe mich reingefügt in die Übermacht der Natur. Habe gegen die Unruhe gekämpft und gedacht: Du bist jetzt im Zement, was willst du machen? Das ist das Ende. Und: Ahh, so wenig Luft. Dann bin ich eingeschlafen. Das war angenehm, die Biologie ist sehr hilfreich. Jetzt fragen mich immer alle Leute, wie schrecklich das Sterben ist und wie man zwei Stunden in der Lawine überlebt. Es ist nicht schrecklich. Vielleicht Ergebenheit plus Schrecken plus Kälte führen einen dann in diesen Schlaf. Ich war ganz allein im Unglück. Die Verbindung zu den anderen fehlte. Meine Botschaft nach draußen: Die sollen mich finden, aber ich wußte nicht, ob die Luft reicht. Ich hatte nur die Ventilation im Lockerschnee, in dem ja auch Sauerstoff ist, es war so wenig. Dann habe ich dieses Wenige angenommen, daß die Unruhe weggeht, die Wachzeit kann nicht länger gewesen sein als 20 Sekunden. Meine Kenntnisse, mit Panik umzugehen, haben mir geholfen. Ich habe Glück gehabt, weil ich in einen Steilhang reingefallen bin, mit viel Lockerschnee. 75 Minuten im Schnee. Gespürt habe ich die Lawinensonden. Die haben das ganze Bein ertastet, so wußten sie oben ungefähr, wie ich liege, doch konnte ich keinen kognitiven Zusammenhang herstellen, ich habe das als lästig empfunden, wie Fliegen auf der Haut. Eine Störung auf meinem Weg ins Jenseits. Dann haben sie mein Gesicht freigemacht und ich habe nur geschrien. Die 45 Minuten Ausgrabung, von denen weiß ich überhaupt nichts mehr. Man kann sich ja keinen Millimeter bewegen, nicht seine Lage verändern. Ich konnte von Glück sagen, ich saß eigentlich relativ bequem im Schneezement, wie auf einem Sessel.
 
 

Gerettet

Als ich endlich befreit war, wollten sie mich aufstellen, haben mich gefragt, ob ich gehen kann, mich gestützt und wir sind zu dritt hingefallen. Sie sollten mich doch liegen lassen, wegen der Schalenkälte. Mein Glück, daß ich so viel angezogen hatte. Dann kam ich in dieses Raupenfahrzeug [des Hüttenwirtes] rein, drinnen saßen die vier anderen Mumien, die ausgegraben worden sind. Man hatte ihnen gesagt, daß ihre Männer tot sind. Es war so furchtbar, auf den Schlag waren vier Frauen ohne ihre Partner. Einer verlor seine Frau, er hat sie selber ausgegraben. Und da hörte ich es: Es sind so viele tot, aber du lebst. Ich konnte bis zu dieser Konfrontation keine Zusammenhänge denken, aber der junge Bergführer [Anmerkung: ein junger Bergführeranwärter, der die Schneeschuhgruppe leitete, die etwa eine Viertelstunde nach dem Unglück an die Unglücksstelle kam und der u.a. die beiden Augenzeugen Angela Rosenlöcher und Luidger Röckrath angehörten.] holte mich in die Realität herüber. Mir wurde plötzlich klar: Das ist ja eine unheimliche Katastrophe. Dann sind wir heraufgebracht worden und ich wollte in mein Bett. lrgendwer fragte mich, ob ich eine Wärmflasche brauche. Nein, ich hab mich hingelegt und dann habe ich endlich geweint. Froh, daß ich lebe - wie hab ich schön geatmet. Eine Nacht der Tröstung folgte. Am Abend vorher hatten wir alle noch gefeiert mit Glühwein.

Ich kannte von den Toten nur den Skitourengeher aus Schondorf. Der ist vor mir marschiert. Am anderen Ende der Lawine, da hat es eine Frau umgerissen. Die hatte den Bergführer angerufen. Dann hat er sich umgedreht, sie wurde vom Luftsog mitgerissen und sie rief: ,,Hilf mir, ich komm da nicht hoch." Er hat sie dann hochgezogen und wollte weitergehn, hat sich noch einmal umgedreht und dann hat er bemerkt, daß die Leute alle weg waren. So leise war diese Lawine! Wie, wenn man eine Kerze ausbläst. Natürlich konnte man auch wenig hören, weil viel Sturm war. Die Frau hat geschrien: ,,Wo ist denn mein Mann?" Den hat sie dann als ersten Toten ausgegraben.
 
 

Milleniumvirus

Die vielen Schneeschuhgeher sind völlig blödsinnig umgekommen, in einer Region die nicht für sie gemacht ist und die sie auch gar nicht angestrebt haben. Das Millenniumvirus! Das sagen auch erfahrene Bergmenschen, daß man in der Zeit des Hochwinters nicht rausgeht. Eine Hütte nicht aufsperren kann, bloß weil Jahrtausendwechsel ist. Ein Wahnsinn, es sollten ja noch 110 Silvestergäste kommen...

Aber ich hab ja das Unheil kommen sehen. Als wir aufgefellt haben, war so ein Durcheinander und es kam zu uns zwölf Skigehern von der Seite eine Kohorte Schneeschuhgeher in unsere Bahn rein. Die fertig waren mit dem Auffellen, haben die dann wieder überholt. Es war zweispurig und ich habe mir noch gedacht: Um Gotteswillen was ist das für ein Chaos. Es war halt unterhalb der Hütte, aber da hätte man auseinander gehen müssen. Und ich hab auch noch den Bergführer gefragt: ,,Wie schätzt denn du den Hang ein?" Der hat der bloß gesagt: ,,Des siehst ja, Steine und Schnee, da droben sieht man ja nichts." Ich meine, das ist keine Antwort von einem Bergführer. Das waren doch 300 Höhenmeter mehr, obwohl, es hat nur von der Kante an abgerissen. Ich hatte die Lawine nicht bemerkt, ganz schleichend, kein Wumm, kein Knall - nichts. Ich hatte Glück, weil ich mit den Füßen nach unten gefallen bin, die, die zu Tode gekommen sind, sie sind ja zum Teil mit dem Kopf auf Felsen aufgeschlagen.

Die Schneeschuhgeher waren Wanderer aus ganz Deutschland und haben zum Teil kaum Alpinkontakt gehabt. Das war auch mein Ärgernis, als ich erfaßte: Das sind ja 40 Personen! Ich kenne, wenn ich Skitouren gehe, Kleingruppen, sechs bis acht Leute. Und man ist immer beieinander. Ein Austausch zwischen Teilnehmern und Bergführern über Wetter und Schneelage, das fiel alles aus! Die Laien hatten auch keine Vorstellung. Die Bergführer haben sich nur um deren Ausrüstung gekümmert, ob sie Schals, Handschuhe dabei hätten. Ich habe so stark die Diskussion über Wetter und Schneesituation vermißt. Null Information! Am Tag vorher, dieser starke Orkan, wir waren drei Stunden draußen, es hat noch geheißen, wie heftig die Naturgewalten sind, wir waren froh, wieder drin zu sein. Am Nachmittag dann Lawinenbergungsunterricht, das hat sich ausgezahlt am anderen Tag ... Wie ich aufgefellt hatte und los bin, hab ich gedacht: Meine Münchner Freunde, mein Bergführer-Freund, die würden heute nicht rausgegangen sein. Und schwupp, war ich schon weg. Den Elementen ausgesetzt.

Die Stimmung beim Abstieg war schon schlecht gewesen. Alle froren, manche hatten kleine Erfrierungen an der Backe. Keine Sicht. Den Schneeschuhgehern hat es Angst gemacht, das kam jetzt im Nachgespräch heraus, sie fanden es befremdlich, daß zwei Bergführer sich über die Karte beugen, mit Kompaß herausfinden müssen, wie es überhaupt weitergeht. So schlecht war die Sicht beim Runtergehen. Unsere Skigruppe hat gewartet und unser Führer hat Funkkontakt gesucht zu den Schneeschuhgehern, die da nicht weiter wußten. Der Funkkontakt war sehr schlecht, nach etwa fünf Minuten hieß es von den anderen beiden Gruppen zu unserem Führer: ,,Schau, daß du weiterkommst, wir kommen schon zurecht." Dann sind wir weitergezogen und diese Truppe ist hinter uns geblieben - später die wichtigste Helfertruppe. Deren junger Führer [Anmerkung s.o.] hat eine sehr verantwortungsvolle Einstellung gehabt. Ich habe ihn gefragt danach, haben wir jetzt das losgetreten? Da meinte er etwa, kann sein, kann nicht sein, nur soll man in einen solchen Hang getrennt reingehen. Dann sind vielleicht vier Personen unter der Lawine und nur zwei sind tot und nicht neun.
 

Ursachen?

Ursachen? Ich habe heute den Eindruck des schwachen Menschen und des schwächeren Bergführers, ich kenne sehr eiserne, überlegte, differenzierte Bergführer. Die sagen, auch wenn das Volk noch so drückt, ,,schau dir das Wetter an, willst du da rausgehen?" Wir sind in eine Undurchsichtigkeit marschiert. Ich hatte den Eindruck, die Führer sind Vollzugsorgane für eine große Organisation, aber nicht ausgerüstet, Verantwortung auch als Druck zurückzugeben: Wir wollen euch schöne Ferien bereiten und euch sicher nach Hause bringen.

Es bestand überhaupt keine Notwendigkeit, am Dienstag loszugehen. Das Wetter war schlecht und wir waren schon vom Vortag geschreckt. Es war dichter Schneefall und ich fragte den Führer, wie er das Wetter einschätze. Weil ich nicht wieder in so einer Situation wie am Vortag marschieren wollte. Er: ,,Wir sind an der Wetterscheide. Ich orientiere mich nach dem Wetter von der Silvretta, der Schweiz, aber von Norden kommt eine Kaltfront, schlechtes Wetter, es wird sich zeigen, was passiert." Es ist schlechter, immer finsterer geworden, von Viertelstund auf Viertelstund, der Sturm nahm zu.

Jetzt muß ich mich selber beim Schopf packen: Nämlich, daß ich dann ehrgeizig bin und nicht sage: Wir wollen umkehren. Sondern das freut mich dann grad, ich bin ein Kämpfer. Und so sind wir weitermarschiert und ich dachte eben nur: Das wird schon hinhauen. Es hat mir nicht gefallen, es war sehr stürmisch, ungemütlich. Die Rußkopfhütte hat sich verborgen, obwohl wir ganz kurz davor standen. Da muß der verantwortungsbewußte Tourengeher sagen: Ich kehr um! In der Hütte sagte ein junger Tourengeher zu mir: ,,Das g'fallt mir net!" Und ich habe auch noch zu ihm gesagt: ,,Warum bist dann hier, wenn's dir nicht g'fallt." Mir gefällt es, Sturm und Kälte zu trotzen. Immerhin habe ich aber nachgemacht was er tat: Alles anzuziehen, was da war.

Ich - mit meiner Haltung, ich steckte später in der Lawine, und er, mit den Bedenken, er war mein Ausgraber. Das gibt mir sehr zu denken. Darum denke ich jetzt auch über den Ehrgeiz der Führer nach. Die wollten gute Meldungen nach Hause bringen, jeden Tag was gemacht, obwohl die Verhältnisse schlecht waren. Ich habe unseren Führer danach befragt: ,,Hast du denn überlegt, daß du vielleicht nicht rausgegangen wärst?" Er hat das verneint, kein Gedanke, daß er nicht rausgegangen wäre. Einer der Führer war über die Einteilung, mit Schneeschuhen rausgehen zu müssen, nicht glücklich. Es besteht auch keine Notwendigkeit, daß eine Schneeschuhgruppe bei solchem Wetter so hoch geht. Ein Bergführer, den ich später traf, sagte zu mir: ,,Euch hätt ich über Galtür nicht rausgelassen, bei so vielen Leuten, die von weit her gekommen sind und in vielen Fällen Nichtalpinisten sind, Muß es ein Alternativprogramm geben."

Nochmal muß ich mich an die eigene Nase fassen, daß ich dem Jahrtausendvirus aufgesessen bin. Aber: Ich wußte nicht, daß so viele Schneeschuhgeher da sein würden, und daß wir mit denen so gemischt sein würden. Kurz vor dem Unglück: Wir waren zwei Skitourengruppen, zweimal sechs Personen und zwei Bergführer und die Schneeschuhgeher, die unten waren, die haben wir oberhalb überholt und dann haben sich die Bergführer nach vorne geschlagen und gesagt: Wir spuren jetzt. Was schlecht ist, weil die Gruppen sehr verschieden waren, eine geübte und eine etwas schwächere. Von der einen Gruppe fällt dann mal jemand zurück, kein Kontakt mehr mit dem Bergführer.
 

Zur Route

Zur Route: Beim Raufgehen sind wir den Schlenker voll ausgegangen. Wir hätten auch runterwärts ganz im Tal bleiben müssen, an der Jam; wir haben auch noch ein oder zweimal den Fluß gekreuzt. Dann sind sie, um Weg zu sparen, in den Hang rein! Natürlich beabsichtigt kein Bergführer, Menschen in eine Lawine zu führen. Aber es gibt eben Tage, an denen man nicht rausgehen darf, und das haben die nicht eingehalten! Es war nicht überlegt und vorsichtig genug, mit so vielen Leuten. Es war ja gar nicht zum Fahren, kein Gefälle, wenn man die Spur nicht hielt, war man in der Watte. Die Bergführer haben darüber vorher zu wenig debattiert, waren mit uns nicht im Kontakt, saßen zusammen an einem Tisch. Der Umsichtigste war der Aspirant. Die Erlebnisse sollen eine Lehre für die Bergsteiger sein. Auch für mich. Ich mach bald wieder eine Skitour, aber: Ich werde sehr vorsichtig sein. Viel mehr nachdenken, viel mehr ausfallen lassen.

Den Bergführern möcht ich sagen: Sie sollen mutig sein, aber auch restriktiv: Heute wird nicht rausgegangen, auch bei Druck, wenn die Gäste schon ein, zwei Tage gehockt sind, sie sollten den Mut ihrer eigenen Autonomie und des Wissens nie verlassen, niemandem zuliebe! Weil sie den Auftrag haben, Leben zu erhalten und uns zum Spaß zu führen. Das beinhaltet, dass manches auch nicht stattfindet.

Das Risiko Mensch soll so klein wie möglich sein. Dann haben wir nur noch die unwägbare Natur. Es wird uns ja jetzt Abenteuerlust vorgeworfen. Es ist so etwas Schönes für uns, daß wir in eine Unwägbarkeit des Lebens gehen, in eine auferlegte Askese, wir wollen uns bewähren, Anstrengungen auf uns nehmen.

In der Nacht danach entstand im gegenseitigen Trostspenden so viel Nähe und Menschlichkeit, wie man das selten im Leben erlebt.
 

Nachtreffen

Bei einem Treffen zu sechst in München, vier Wochen nach dem Unglück, hat ein Teilnehmer seine Wut gezeigt, daß neun Menschen zu Tode gekommen sind. Er hat seine erfrorenen Fingerkuppen hochgehalten und gerufen, er gehe jetzt gegen den Veranstalter vor, klage verwirkte Ferien ein. Das ist nicht mein Denken. Ich habe eine Sonderposition, weil ich gerettet bin, die Bergführer haben mich mit ausgegraben, insofern werde ich denen nichts anlasten! Dass sie halt menschlich versagt haben, so wie ich als Arzt auch ab und zu versage - das klage ich nicht an. Da sollen noch mal pro Person tausend Mark eingeklagt werden, das wollen die dann sammeln und einer Witwe schicken. Ich mach das nicht. Weil ich gegen diese Versorger-Mentalität bin, und zweitens ist meine Lage eine andere. Ich sehe auch keine Verhältnismäßigkeit zwischen den erfrorenen Fingern und den Toten, die nichts einklagen können. Und die Bergführer - in ihrer Reue - die sind genug gestraft!
 

Frauke Brunner, München 24.2.2000

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