Lawinenunglück bei der Jamtalhütte - 28. Dezember 1999

Entgegen meinem Beschluß mich in keiner Weise zum Lawinen-Unglück nahe der Jamtalhütte in der Silvretta in den Medien zu äußern - welcher auf den negativen Erfahrungen, die ich im Zuge des Vorfalles vom 28.12.99 mit den Medien gesammelt habe, basiert - äußere ich mich nun doch als Beteiligte. Die extrem einseitige, in keinster Weise objektive Sichtweise des Summit Club als Veranstalter der Schneeschuh-Tourenwoche auf der Jamtalhütte (s. verschiedene relevante Artikel in der Süddeutschen Zeitung) sowie die z.T. unsachlichen Meinungen, die u.a. in diversen Leserbriefen veröffentlicht wurden, drängen mich dazu, meine Sicht des Sachverhalts publik zu machen. Der letztendliche Auslöser für diesen Schritt war der Leserbrief von Herrn Rainer Bammer, der am 4.01.00 im Garmischer Tagblatt erschien.

Es erfüllt mich mit Wut, in welch anmaßender, fast höhnischer Art und Weise wir, die Teilnehmer der Schneeschuh-Tourenwoche auf der Jamtalhütte und damit auch die Verunglückten, ver- oder beurteilt werden, nach dem Motto ‘selbst schuld...’. In Unkenntnis der objektiven Fakten wird, entweder basierend auf dem zum Großteil falsch oder mangelhaft Dargestellten aus der Presse oder sich immer wieder an der Angebotsbeschreibung im Katalog des Summit Club entlang hangelnd, Meinung geäußert. Ich glaube, dass ich es v.a. den Verunglückten schuldig bin, einige Dinge ins rechte Licht zu rücken.

Ich frage mich wirklich, wieso das Buchen eines entsprechenden Touren-Angebotes beim Summit Club ausschließt, dass es sich bei dem jeweiligen Nachfrager um einen "erfahrenen Bergsteiger des Alpenvereins" handelt. Tatsächlich ist und war ein Großteil der 39 Teilnehmer, mich eingeschlossen, Mitglied beim DAV und zudem z.T. sehr erfahren, was alpine Kenntnisse und Fähigkeiten anbelangt. Auch ich möchte mich nicht als gänzlich unerfahren bezeichnen, wenngleich ich ausschliesslich über sommeralpinistische Kenntnisse verfüge. Jedoch bewege ich mich bereits seit einigen Jahren im hochalpinen Bereich und weiß deshalb - auch ergänzt durch mein geographisches Hintergrundwissen - sehr wohl die alpine Natur und deren Gefahren für den Menschen zu beurteilen.

Was nichts daran ändert, dass tatsächlich jeder buchen konnte - warum auch nicht - schließlich handelte es sich bei diesem Angebot um eine als Anfängerkurs ausgeschriebene Schneeschuh-Tourenwoche. Wer sich ein bißchen auskennt in der touristischen Angebotsgestaltung weiß, dass konkrete Angebotsbestandteile oft vor Ort den jeweiligen Bedingungen und/oder der Nachfrage angepaßt werden. So ist auch über ein Viertel der Gruppe auf eigenen Wunsch am 26.12.99 zur Hütte durch das Jamtal aufgestiegen und nicht gefahren, wie im Katalog angekündigt und seitens des oben aufgeführten Lesers kritisiert.

Es nervt mich wirklich extrem, in welch undifferenzierter Weise die kommerzielle Entwicklung des Alpinismus bzw. des Wintersports in den Alpen als Ursache für dieses Unglück herangezogen werden und wir in hämischer Weise als unerfahrene, sich Sicherheit erkaufende Touristen beurteilt werden.

Auch ich sehe die ca. 150jährige (massen)touristische Entwicklung in den Alpen durchaus kritisch, aber sehr differenziert. Ich habe mich u.a. in meiner Magisterarbeit sehr detailliert mit dieser Entwicklung, ihren Ursachen und Auswirkungen auseinandergesetzt und glaube, mir somit ein Urteil erlauben zu können. Der real existierende Massentourismus vieler alpiner Regionen bringt erhebliche Probleme der unterschiedlichsten Art mit sich. Jedoch: diese Entwicklung hat den ehemaligen kleinen Bergbauerndörfern bzw. den von der Außenwelt abgeschnittenen Tälern auch sehr viel Positives gebracht. Abwanderung, Bevölkerungsrückgang, Armut konnten gestoppt bzw. beseitigt werden. Diese Entwicklung ist - in dieser Hinsicht zum Glück- irreversibel. Und all’ die nostalgische Idealisierung der ach so unkommerziellen alpinistischen Anfänge täuscht darüber hinweg, dass die alpinistische Entwicklung von Beginn an eine kommerzieller Natur war, wenn auch in anderen Maßstäben als heute. Franz Senn, Pfarrer im Ötztal, und einer der Wegbereiter des Alpinismus schlechthin, hatte v.a. ein Ziel: die durch ihn initiierte Bergführerausbildung der Ortsansässigen, sollte die Grundlage dafür sein, Auswärtige und damit Geld ins Tal zu holen und die touristische Entwicklung anzukurbeln. Senn sah von Beginn an im Tourismus eine Erwerbsalternative. Der umfassende Wegebau im Ötztal als auch sämtliche anderen infrastrukturellen Maßnahmen, konnten nur dadurch finanziert werden, dass der Tourismus Reichtum ins Tal brachte. Nur die breite Masse hat diese Entwicklung möglich gemacht, denn - das ist richtig - das Geld wird mit dieser verdient. Das ist so, fußend auf ganz normalen Marktmechanismen: eine hohe Nachfrage schafft ein entsprechend hohes Angebot oder lässt den Preis in die Höhe schnellen. Nach diesen Mechanismen funktioniert weltweit die (Tourismus)Wirtschaft. Und alle Formen des Alpinismus - egal ob im Sommer oder im Winter - sind letztendlich auch touristische. Auch wenn jemand in einer Dreier-Gruppe mit "verlässlichen Freunden" zu einer selbst organisierten Tour auf der Basis "seines eigenen alpinistischen Verstandes" startet. Denn auch dann nutzt er in irgendeiner Art und Weise die touristische Infrastruktur, z.B. die durch die Tourismusverbände im Talbereich unterhaltenen Wege, um in den hochalpinen Bereich zu kommen. Deren Entwicklung und Finanzierung war aber nur durch die breite Masse, sprich den Massentourismus, möglich. Der wachsende Angebotsausbau zog eine zunehmende Nachfrage nach sich und umgekehrt. Parallel dazu entstanden später als Nutznießer dieser Entwicklung Touren- und Kurs-Anbieter wie der Summit Club des DAV. Werbung und Sportindustrie haben ebenso von dieser Entwicklung profitiert und tun es noch.

Bestehende Angebote werden - vorausgesetzt es existiert eine Nachfrage - angenommen. Deswegen werden u.a. Wintertouren-Kurse des Summit Club durch lernwillige und an diesen interessierte Sommerbergsteiger gebucht. Das schließt jedoch nicht automatisch eine alpinistische Unkenntnis bzw. mangelnden Respekt vor dem Berg und seinen natürlichen Gefahren im Winter ein. Kritisiert man, dass Angebote wie die des Summit Club angenommen werden bzw. diejenigen, die diese Angebote nutzen, so läuft diese Kritik im Endeffekt darauf hinaus, dass die (hoch)alpinen Bereiche wieder einer kleinen Elite-Truppe von Top-Bergsteigern vorbehalten bleiben, die die Kenntnisse und Fähigkeiten besitzen ohne Führer und ohne Kurs-Veranstalter in die Berge bzw. auf Tour zu gehen... Alle anderen müssen "draussen" bleiben, da sie diese Fähigkeiten und Kenntnisse nicht besitzen und somit Leib und Leben aufs Spiel setzen. Die Alternative, einen Kurs, z.B. beim Summit Club, zu belegen bzw. sich in professionelle Hände zu begeben, um sich die besagten Fähigkeiten und Kenntnisse anzueignen, schließt sich von selbst aus, da sie verwerflich, weil kommerzieller Natur ist?! Dann muß die kleine Elite-Truppe von Top-Bergsteigern aber auch so konsequent sein und auf ihre Goretex-Jacken, High-Tech-Salomon-Bergstiefel und Deuter-"Air comfort"-Rucksäcke verzichten, denn ansonsten outet sie sich nämlich ebenso als Nutznießer und Unterstützer der kommerziellen alpinistischen Entwicklung und deren Errungenschaften.

Meine Intention, an der Schneeschuh-Tourenwoche des Summit Club teilzunehmen, lag darin, dass ich - sicherlich - Silvester 1999/2000 etwas Besonderes machen wollte, auch ganz bewußt keine Lust auf das ganze Party-Brimborium hatte. Ich wollte den Jahreswechsel gern in der Natur, in den Bergen verbringen. Zufällig stieß ich dann auf das Touren-Angebot des Summit Club und da ich grosses Interesse daran hatte, mal das Schneeschuhgehen auszuprobieren, kam diese Anfänger-Tourenwoche gerade recht. Es erschien attraktiv, eine nette Tourenwoche in schöner weißer Winterlandschaft mit Gleichgesinnten zu verbringen. Dass dann auf der Hütte auch eine Silvesterparty stattfinden sollte, war für mich nachrangig. Da die drei äquivalenten Angebote des Summit Club bereits im Frühsommer ausgebucht waren, ließ ich mich auf die drei Wartelisten setzen und rutschte dann zufälligerweise gerade auf der Warteliste für die Jamtalhütte nach, als im Oktober ein Platz frei wurde.

Fakt ist - und dies hat mich erst im Zuge des Unglückes sehr nachdenklich gestimmt - dass ich mit Unkenntnis über das Touren-Gebiet und dessen Winterbedingungen sowie ohne Vorbereitung, was die aktuelle Wettersituation und deren Auswirkungen anbelangt, auf diese Schneeschuh-Tourenwoche gestartet bin. Im Vertrauen auf den seriösen Anbieter und dessen hochqualifizierte Bergführer habe ich mich in keinster Weise vorher selbst informiert, beispielsweise den aktuellen Lawinenlagebericht angeschaut. Mittlerweile ist mir klar, dass es ein gefährlicher Trugschluß ist, zu glauben, dass eine geführte Tour - mag sie noch so vermeintlich professionell sein - eine gewisse eigene theoretische Vorbereitung unnötig macht. Die Naivität in bezug auf das vom Veranstalter, dem Summit Club, gegebene Sicherheitsversprechen habe ich zufällig nicht mit dem Leben bezahlt. Die anderen Überlebenden und ich haben Glück gehabt. Jedoch neun Menschen haben unter dieser Lawine ihr Leben gelassen. Dazu gehörten einige, die genau wie ich bisher nur über sommeralpinistische Erfahrungen verfügten, aber auch sehr erfahrene Winteralpinisten, jahrzehntelange Skitourengeher. Und auch die haben sich vertrauensvoll auf das Urteil unserer Bergführer verlassen und sind trotz der uns bekannten heiklen Wetter- bzw. Lawinensituation auf die Tour zum Rußkopf gestartet. Wem kann da die Schuld zugewiesen werden?

Nach bisher publizierter Ansicht des Summit Club auf keinen Fall dem Veranstalter, also ihm selbst, noch seinen Bergführern, da diese - wie mehrmals betont - so hoch qualifiziert sind. Hoch qualifizierte Ärzte begehen auch sog. "Kunstfehler", durch die Menschen sterben. Es ist nicht meine Aufgabe, unseren Bergführern die Schuld an diesem Unglück zuzuweisen. Ob sie evtl. fahrlässig gehandelt haben, werden die Ergebnisse der laufenden Ermittlungen zeigen. Die Bergführer sind mit dem Tod der neun Menschen, die sich ihnen anvertraut hatten, bestraft genug und tun mir leid. Allerdings will und kann ich mich auch nicht mit dem immer wieder durch den Summit Club zitierten "unkalkulierbaren Restrisiko" abspeisen lassen. Dieses sog. "Restrisiko" war in unserem konkreten Fall sehr wohl kalkulierbar. Es bestand am Vorabend des 28.12. Lawinenwarnstufe 3 (erheblich), worüber wir auch in Kenntnis gesetzt wurden. Wie ich im Nachhinein in Erfahrung gebracht habe, bestand am Morgen des 28.12. vor Antritt der Tour zum Rußkopf bereits Lawinenwarnstufe 4 (gross) und damit die zweithöchste auf der Lawinengefahrenskala. Darüber wurden wir nicht in Kenntnis gesetzt. Es hieß wie bereits am Vorabend: wir haben aufgrund der aktuellen Lawinenwarnstufe eingeschränkte Tourenmöglichkeiten, aber bei Kenntnis des Geländes und unter Berücksichtigung verschiedener Faktoren sind durchaus Touren möglich. Die Tour zum Rußkopf wurde aufgrund dessen ausgewählt, dass sie sich durch Hangneigungen unter 30° und insgesamt ein eher flaches Gelände auszeichnet. Bei Lawinenwarnstufe 4 ist jedoch bereits mit Spontanabgängen von Lawinen zu rechnen, deren Ursachen vielfältig sind und nicht nur in der entsprechenden Hangneigung liegen. Ob es sich bei der Unglücks-Lawine um einen Spontanabgang handelte oder diese durch die Gruppe von über 20 Leuten, die den betreffenden Hang (der zudem eine Hangneigung über 30° hat, wie aus der Alpenvereinskarte ersichtlich) ohne nennenswerte Entlastungsabstände geschnitten hat, selbst ausgelöst wurde, wird man vielleicht nicht mehr nachweisen können. Das ist auch irrelevant für meine Meinung, dass man an diesem Tag, fußend auf dem tagesaktuellen amtlichen Lawinenlagebericht, keine Tour hätte unternehmen dürfen. Das gesamte Konzept dieser Schneeschuh-Tourenwoche ist in Frage zu stellen. In diesem durch Gebietskenner im Hochwinter als extrem lawinengefährdet charakterisierten Bereich der Silvretta sollten um diese Zeit jegliche Touren unterlassen, zumindest aber auf gar keinen Fall durch so grosse Gruppen durchgeführt werden. Damit zusammenhängend ist zudem die exklusive Öffnung der Jamtalhütte - die um diese Zeit normalerweise geschlossen ist - kritisch zu hinterfragen. Hinzu kommt, dass bereits in den Tagen vor unserem Tourenantritt, sich das gesamte Gebiet, insbesondere das Jamtal und der hochalpine Bereich um die Hütte, durch schlechte Wetterbedingungen, mit starkem Neuschneezuwachs und stürmische Verfrachtungen des Schnees, auszeichnete und somit die Lawinengefahr in kürzester Zeit überproportional anstieg. Spätestens dies hätte den Summit Club dazu veranlassen müssen, die komplette Woche abzusagen - diese Chance wurde nicht ergriffen. Im Gegenteil: statt uns direkt bei unserer Ankunft in Galtür über die aktuelle Gefahrensituation aufzuklären, wurde unserem Wunsch, durch das Jamtal selbst zur Hütte aufzusteigen, entsprochen. Am nächsten Morgen, dem 27.12., wurde das Jamtal durch die örtliche Lawinenkommission gesperrt. Das bedeutet, dass wir bereits am Vortag während des Hüttenaufstieges einer hohen Gefahr ausgesetzt waren. Hier komme ich nicht umhin, von Fahrlässigkeit zu sprechen.

Zu keiner Zeit, da auch dieses oft ins Feld geführt wird, herrschte auf die Bergführer ein Druck seitens der Gruppe oder einzelner Teilnehmer. Keiner von uns hätte etwas dagegen einzuwenden gehabt, wenn nur einer der Bergführer am Morgen des 28.12. zu uns gesagt hätte, dass die Lawinenlage zu gefährlich ist, das Risiko einer Tour nicht zu verantworten und wir deshalb auf der Hütte bleiben müssen. Inwiefern ein Druck seitens des Summit Club bestanden hat, kann ich nicht beurteilen. Bisher habe ich keine Antwort auf die Frage gefunden, wieso unsere offenbar bestens ausgebildeten, z.T. jahrzehntelang tätigen fünf Bergführer trotz aller objektiv vorhandenen, vorsichtig ausgedrückt, ungünstigen Bedingungen für die Tour zum Rußkopf mit einer 38köpfigen Gruppe diese Tour angetreten sind.

Was bleibt, sind quälende, unbeantwortete Fragen und die schreckliche Erfahrung, wie es ist, den Tod von neun Menschen mitzuerleben; mit Entsetzen, Trauer, Sprachlosigkeit klarkommen zu müssen und dabei irgendwie selbst die traumatischen Minuten, Stunden und Tage zu verarbeiten.

 

 

Garmisch-Partenkirchen, 10. Januar 2000 Angela Rosenlöcher, Geographin

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