DER  NÜRNBERGER  PROZEß

von Fritz Stenzel (25. Juni 2012)

(aus der Reihe "Morbus ignorantia - Krankheit Unwissen")

(mit Anmerkungen und Links von Nikolas Dikigoros)

"Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft, und wer die
Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit." George Orwell

Vae victis!*

Wegen ihres Kampfes gegen die Todesstrafe erhielt die Usbekin Tamara Chikunova im September 2005 den Internationalen Menschenrechtspreis der Stadt Nürnberg. Oberbürgermeister Ulrich Maly (SPD) betonte bei dieser Gelegenheit – wieder einmal – die „unrühmliche Vergangenheit“ Nürnbergs als Stadt der NS-Reichsparteitage und der antisemitischen Rassegesetze. Auch Bundesinnenminister Otto Schily war zum Festakt erschienen und rief in seiner Rede zur weltweiten Ächtung von Folter und Todesstrafe auf.

Es ist gewiß keine NS-Verharmlosung, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, daß auf den braunen Parteitagen in der fränkischen Metropole weder gefoltert noch die Todesstrafe vollstreckt wurde. Auch die berüchtigten Nürnberger Gesetze aus dem Jahr 1935 gaben nichts Derartiges her. Hätten Maly und Schily eine zutreffende Verbindung zu Folter und Todesstrafe herstellen wollen, wäre eine andere zeitgeschichtliche Ableitung richtiger gewesen: In Nürnberg begann vor 60 Jahren - am 20. November 1945 - das Siegertribunal gegen deutsche Politiker und Militärs. Den Schlußpunkt setzte ein Jahr später der Henker, nachdem Angeklagte und auch Zeugen mißhandelt worden waren. Daran stört sich heutige Moral freilich nicht. Ihre Ausrichtung gegen Todesstrafe und Folter ist eine selektive; sie kommt allein Opfern zugute, die ins herrschende politische Weltbild passen.

Den Zug ins Heuchlerische zeigen auch die Jubiläumsartikel und -sendungen. Kein Wort der Kritik an jener unsäglichen Justizfarce, bei der sich die Sieger in der Doppelrolle als Ankläger und Richter gefielen, rückwirkende "Straftatbestände" konstruierten und damit alle Grundsätze zivilisierten Prozeßrechts auf den Kopf stellten. Die Urteile standen praktisch schon vorher fest. Auf der alliierten Konferenz von Teheran im November 1943 hatte Stalin gefordert, 50.000 deutsche Offiziere kurzerhand zu erschießen (wie es von den Sowjets drei Jahre zuvor an polnischen Gefangenen in Katyn praktiziert worden war). Auch Churchill setzte sich für summarische Hinrichtungen ein, hielt nur die vom Kremlherrscher vorgeschlagene Opferzahl für zu hoch. Schließlich einigten sich die Alliierten auf die Durchführung eines Schauprozesses. Er sollte den Rachegelüsten einen juristischen Tarnanstrich geben und zugleich den Besiegten alle Kriegsschuld aufbürden.

Am 8. August 1945 unterzeichneten die Siegermächte USA, UdSSR, Großbritannien und Frankreich ein "Abkommen über die Verfolgung der Hauptkriegsverbrecher" und erließen das Statut für einen Internationalen Militärgerichtshof (IMT). Schon die Bezeichnung war ein Schwindel. Die "Internationalität" beschränkte sich auf den Kreis der Signatarstaaten. Unabhängige Juristen aus neutralen Ländern waren unerwünscht. Sie hätten sich womöglich um Wahrheit und Gerechtigkeit bemüht. Vor allem wollten die Sieger keine ausgewogenen Erörterungen über die Vorgeschichte des Krieges (Polen war 1939 von Deutschen und Sowjets gemeinsam geteilt und besetzt worden). Auch durften alliierte Kriegsverbrechen in Nürnberg nicht zur Sprache kommen.

Die deutsche Justiz blieb bei alldem außen vor. Während des Krieges hatten Wehrmachts- und SS-Gerichte Verbrechen durchaus geahndet. Tausende von Verfahren lassen sich nachweisen. Für die Konzentrationslager wurde 1943 eigens eine "Untersuchungskommission gegen Humanitätsverbrechen und Korruption" gebildet. Wie der Chef des Obersten SS- und Polizeigerichts, Dr. jur. Günther Reinecke, als Zeuge in Nürnberg aussagte, seien allein in seinem Zuständigkeitsbereich rund 800 Fälle untersucht worden, von denen etwa 200 durch ein Gerichtsurteil endeten. So wurde gegen SS-Angehörige der KZs Auschwitz, Buchenwald, Dachau, Herzogenbosch, Krakau-Plaszow, Lublin, Oranienburg und anderer Lager juristisch vorgegangen. Betroffen waren auch fünf KZ-Kommandanten. Gegen zwei von ihnen konnte das Verfahren noch vor Kriegsende abgeschlossen werden - mit der Todesstrafe. Einer der beiden wegen Häftlingsmordes Hingerichteten war Buchenwald-Kommandant Karl Koch.

Reinecke bestätigte in Nürnberg, daß es in manchen KZs "fürchterliche Gewalttaten" gegeben habe und fügte hinzu: "Wenn das Gerichtswesen er SS und Polizei in der Lage gewesen ist, gegen solche Zustände einzuschreiten, so nur deshalb, weil es sich hier eben nicht um eine konsequente Politik der SS handelte, sondern um verbrecherische Taten einzelner Personen und kleinerer Gruppen und einzelner höchstgestellter Vorgesetzten, nicht aber um die Taten der SS als Organisation. Um gegen diese Verbrechen anzukämpfen und um die SS von diesen verbrecherischen Elementen zu reinigen, ist das Gerichtswesen tätig geworden."

Alle ausnahmslos schuldig?

Mit differenzierten Aussagen, die Schuld nicht kollektiv, sondern individuell zuordneten, konnten die alliierten Richter in Nürnberg aber nichts anfangen. Ihnen stand der Sinn nach Pauschalurteilen. So wurde schließlich die gesamte SS zur "verbrecherischen Organisation" erklärt (mit Ausnahme der Reiter-SS, weil in ihr auch Prinz Bernhard, der Gemahl der niederländischen Königin Juliana, gedient hatte). (Und - angeblich - auch Kurt Waldheim. Wenn man den in Nürnberg angeklagt und hingerichtet hätte, dann wäre der Welt allerdings millionenfaches Leid erspart geblieben, Anm. Dikigoros) Bundesdeutsche Gerichte und Behörden machten sich später das Nürnberger Kollektivurteil nicht zu eigen. In den NS-Prozessen ging es stets um persönliche Verantwortung. Ehemalige SS-Angehörige, die keine Verbrechen begangen hatten, wurden zu Stützen des staatlichen und wirtschaftlichen Wiederaufbaus. Ohne sie wäre die deutsche Nachkriegsdemokratie kaum auf die Beine gekommen.

US-Präsident Truman hatte am 3. Mai 1945 den US-Bundesrichter Robert H. Jackson zum Organisator des IMT ernannt. Rund 1000 Mitarbeiter wurden rekrutiert, darunter zahlreiche Emigranten, die aus rassischen oder politischen Gründen Deutschland vor 1945 verlassen hatten und begreiflicherweise auf Abrechnung sannen. Ein auch nur halbwegs faires Verfahren konnte unter solchen Umständen nicht stattfinden. Der sowjetische Chefankläger, Generalmajor Iona T. Nikitschenko, Vizepräsident des Obersten Gerichtshofs der UdSSR und eine Schlüsselfigur schon bei den stalinistischen Schauprozessen der 1930er Jahre, brachte es auf den Punkt: "Daß die Naziführer Verbrecher sind, ist bereits eine feststehende Tatsache. Die Aufgabe des Gerichtshofes besteht lediglich darin, das Schuldmaß jedes Einzelnen festzustellen und die erforderliche Strafe zuzumessen."

Die westlichen Richter widersprachen der kommunistischen Rechtsphilosophie keineswegs. Auch Jackson, dem Ambitionen auf das Amt des US-Präsidenten nachgesagt wurden, wollte die ihm verhaßten Angeklagten unbedingt einer Verurteilung zuführen. Schuld oder Unschuld - das war gleichgültig. Sir Geoffrey Lawrence, Lordrichter seiner britischen Majestät, entblödete sich auch Jahre später nicht, die "Fähigkeit und Unparteilichkeit" seiner sowjetischen Kollegen zu lobpreisen, obwohl diese allen Ernstes versucht hatten, eigene Verbrechen - wie den Massenmord von Katyn - den Deutschen in die Schuhe zu schieben.

Die Nürnberger Anklage basierte auf folgenden Kernpunkten: Verschwörung zur Führung eines Angriffskrieges, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Vor allem der erste Punkt war eine Absurdität, zumal das Gericht den Beginn jener angeblichen Verschwörung auf den 30. Januar 1933 datierte, jenen Tag, an dem Hitler Reichskanzler wurde. Mit gleicher Berechtigung könnte man heute die gesamte US-Regierung des George W. Bush als Verschwörer zur Führung eines Angriffskrieges - gegen den Irak - auf die Anklagebank setzen. Auch Tony Blair und seine englischen Kabinettskollegen wären nach Nürnberger Logik für den Strick reif. (Das hat man doch auch getan: Im September 2011 richtete die "Globale Friedens-Stiftung" des malaysischen Präsidenten Mahathir in Kuala Lumpur ein "Kriegsverbrecher-Tribunal" ein, das nach immerhin viertägiger Verhandlung in absentia George Bush, Dick Cheney, Donald Rumsfeld und Tony Blair zum Tode verurteilte - wegen Kriegsverbrechen im Iraq, im Libanon und in "Palästina" - das hätte Stenzel im Juni 2012 eigentlich schon wissen müssen, Anm. Dikigoros)

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verurteilte das Völkerrecht den Krieg keineswegs als prinzipielles Verbrechen. Er war ein allseits gehandhabtes Mittel staatlicher Machtpolitik - weshalb Engländer und Franzosen am 3. September 1939 nicht zögerten, Deutschland den Krieg zu erklären. Der angebliche Beistand für Polen war propagandistischer Vorwand; sonst hätte man auch den in Ostpolen einmarschierenden Sowjets den Fehdehandschuh hinwerfen müssen. Doch die Westmächte fanden nichts dabei, sich bald darauf mit Stalin, Hitlers antipolnischem "Mitverschwörer", zu verbünden. Kein Wunder also, daß in Nürnberg sehr viel Wert darauf gelegt wurde, die zeitgeschichtlichen Hintergründe zu verschleiern. Man wollte sich unter keinen Umständen selber belasten.

"Man spuckte mir in den Mund"

Den Angeklagten wurde übel mitgespielt. Julius Streicher, als Ex-Herausgeber des antisemitischen "Stürmers" einem Teil der Bewacher besonders verhaßt, gab an, man habe ihn vier Tage lang nackt in seiner Zelle liegen lassen. "Man hat mich gezwungen, Negern die Füße zu küssen. Man hat mich gepeitscht. Man gab mir Speichel zu trinken. Man öffnete mir den Mund gewaltsam mit einem Stück Holz und spuckte mir in den Mund. Als ich ein Glas Wasser zu trinken begehrte, führte man mich zur Latrine und sagte, trinke!"

Man täte sich womöglich schwer, solche Bekundungen zu glauben, hätte man nicht die Bilder aus dem irakischen Abu Ghraib und anderen US-Gefangenenlagern vor Augen. Vor 60 Jahren war man nicht zimperlicher, mußte auch keine kritischen Medien fürchten. "Nazis" galten als vogelfrei. Um das nachzuvollziehen, muß man nicht einmal zu revisionistischer Literatur greifen. Richard Overy, Professor für Zeitgeschichte am Londoner King's College, ist völlig unverdächtig. 2002 erschien sein Buch "Interrogations [Verhöre]". Untertitel: "Die NS-Elite in den Händen der Alliierten".

Overy läßt an den Angeklagten kein gutes Haar, beschreibt diese aber auch als Opfer alliierter Willkür: "Eine von Jacksons ersten Aufgaben als Chefankläger bestand in der Anweisung an das War Department, den als Kriegsverbrecher verdächtigten Deutschen alle Rechte zu verweigern, die Kriegsgefangenen üblicherweise zustanden."

Deutsche = Dreck

Das US-Internierungslager Mondorf-les-Bains in Luxemburg, wo Gefangene und Zeugen für den Nürnberger Prozeß präpariert wurden, trug den bezeichnenden Codenamen "Ashcan" (amerikanisch für "Mülleimer"). (Was ist das für eine merkwürdige Übersetzung? Dikigoros kannte dafür als Kind nur den Ausdruck "Asch-Eimer"!) Gleiches Behältnis heißt bei den Engländern "Dustbin" - und so benannten sie denn auch ihr Lager in Kransberg bei Frankfurt am Main. Die Deutschen galten als Dreck, als Abfall, und so wurden sie behandelt. Overy über Mondorf: "Die Gefangenen schliefen in nackten Räumen, die mit nichts als zwei Armeepritschen, Strohmatratzen (die zur Strafe für Fehlverhalten entzogen wurden), einem kleinen Tisch und einem einfachen Stuhl ausgestattet waren."

US-Gefängniskommandant Burton C. Andrus, später von Mondorf nach Nürnberg versetzt, lief mit einer Reitgerte herum. "Er wußte, wie man die Arschlöcher auf Vordermann hält," zitiert Overy ein amerikanisches Ermittlerteam, "und er sorgte dafür, daß sie uns die Antworten gaben, die wir hören wollten." Im Juni 1945 besuchte der britische Diplomat Ivone Kirkpatrick das US-Lager - und fand die schikanöse Behandlung der Gefangenen gut: "Es würde uns jede Menge Ärger ersparen," schrieb er an seinen Außenminister Anthony Eden, "wenn alle Ashcan-Insassen Massenselbstmord begingen."

Overy teilt seinen Lesern beschwichtigend mit, die Häftlinge seien nur "selten" körperlich mißhandelt worden - heißt: sie wurden. Zudem setzte man sie unter starken psychischen Druck. "Zu Beginn seiner Gefangenschaft bekam Fritz Sauckel wiederholt von seinen Vernehmern zu hören, wenn er ihnen nicht sagte, was sie wissen wollten, würden sie ihn den Russen ausliefern."

Irreführende Bilder

Die unter solchen Umständen protokollierten Aussagen dienten dann der Verurteilung und gelten unkritischen Historikern noch heute als glaubwürdige Quellen. Insgeheim wurden die Inhaftierten abgehört, ihre Gespräche tontechnisch aufgezeichnet und zu Papier gebracht. Daß es unter solchen Umständen kein Gleichgewicht zwischen Anklage und Verteidigung geben konnte, bedarf keiner weiteren Begründung, ist aber auch egal, weil das Gericht ohnehin nicht ausgewogen und ergebnisoffen verhandeln wollte.

Einen Nebeneffekt der Drangsalierungen beschreibt Overy so: "Nach Wochen der Haft war es leicht, die müden, schlecht gekleideten Gefangenen als Geschöpfe zu betrachten, die ihr Schicksal verdienten." Noch heute wirkt dieses Bild nach. Journalisten und Historiker beschreiben die Angeklagten rückblickend als Jammergestalten, bei deren Anblick man überhaupt nicht begreifen könne, wieso sie in Führungspositionen gelangt seien.

Dazu passen allerdings nicht die Ergebnisse eines Intelligenztestes, den der US-Gefängnispsychologe Dr. Gustave Gilbert mit den Angeklagten durchführte. Der durchschnittliche Intelligenzquotient liegt bekanntlich bei 100. Hjalmar Schacht und Arthur Seyß-Inquart erreichten mit je 143 einen Wert, der sie zu Genies stempelte. Hermann Göring und Karl Dönitz lagen mit jeweils 138 nur knapp dahinter. Dem Historiker Professor Werner Maser verdankt sich der ergänzende Hinweis: "Daß Adolf Hitler in einem solchen Test zumindest ebenso abgeschnitten hätte, muß infolge der inzwischen wissenschaftlich belegten Fakten als sicher gelten."

Hans Frank schaffte in Gilberts Untersuchungen 130. Wilhelm Keitel und Joachim von Ribbentrop: 129. Albert Speer: 128. Alfred Jodl: 127. Konstantin von Neurath: 125. Walter Funk: 124. Und sogar der als dumpf geltende Julius Streicher brachte es auf 106. Die Hirnleistung der Ankläger und Richter blieb ungetestet.

Eröffnet wurde der Prozeß am 20. November 1945 im Saal 600 des Nürnberger Justizpalastes. Rundherum zeugten Trümmerberge von dem alliierten Bombenterror gegen die deutsche Zivilbevölkerung. Die gesamte Weltpresse war vertreten, aber ihre Darstellungen lasen sich, als seien sie fast ausnahmslos aus der Anklageschrift kopiert worden. Nahezu allen Beobachtern erschien es geraten, sich der Sichtweise der Sieger anzuschließen. Niemand wollte auch nur publizistisch in die Nähe der Besiegten geraten. Die deutschen Blätter und Sender, die sich aus Nürnberg meldeten, waren Lizenzorgane der Besatzer, keine freien Stimmen, die es sich hätten leisten können, von den Erwartungen der neuen Herren auch nur um ein Jota abzuweichen.

Die plötzlich ausgebrochene Einheitsmeinung machte alles noch gespenstischer: Hatte es zuvor überhaupt eine Konfrontation unterschiedlicher Auffassungen und Zielsetzungen gegeben? Waren die Deutschen, die noch wenige Monate zuvor erbittert gegen ihre "Befreiung" gekämpft hatten, nur Sinnestäuschungen gewesen? Im Unterschied zu 1918, als die Sieger weitgehend außer Landes geblieben waren, sorgte nun ein rigides Besatzungsregime für stromlinienförmige Anpassung. Kritik an der alliierten Willkürjustiz konnte sich nur hinter vorgehaltener Hand artikulieren; offene Solidarität mit den Angeklagten wagte niemand. In Verordnung Nr. 40 hatte der Alliierte Kontrollrat "die Verbreitung von Artikeln verboten, die eine mißtrauische und feindliche Einstellung des deutschen Volkes gegenüber einer Besatzungsmacht hervorrufen."

Noch im Sterben gequält

Als fast ein Jahr nach Prozeßbeginn die Urteile ergingen - man schrieb den 1. Oktober 1946 -, klagten deutsche Kommentatoren nicht etwa über die in 12 Fällen ausgesprochene Todesstrafe, sondern äußerten sich "empört" über die drei Freisprüche (von Papen, Fritzsche, Schacht). Auch die langjährigen Haftstrafen seien viel zu milde ausgefallen. Eine besonders üble Rolle spielte der von den Amerikanern eingesetzte bayerische Ministerpräsident Wilhelm Hoegner (SPD). Er wohnte, zwei Wochen später, den Hinrichtungen als freiwilliger Zeuge bei, genüßlich rauchend. "Zigarette weg, German!" empörte sich ein US-Soldat. Dabei hatte sich der amerikanische Henker Woods alle Mühe gegeben, die Delinquenten auch noch beim Sterben zu quälen. Der Galgen war eine Fehlkonstruktion mit zu niedriger Fallhöhe. Den Todeskandidaten wurde nicht das Genick gebrochen, sondern minutenlanges Ersticken zugefügt. Photos von den Leichen zeigen blutverschmierte Köpfe, die auf den Rand der zu kleinen Falltür geschlagen waren.

Kein Grab für die Toten

Zwei der zum Tode Verurteilten hatten sich der Prozedur entziehen können: Martin Bormanns war man gar nicht erst habhaft geworden, und Hermann Göring verabschiedete sich mittels einer Zyankalikapsel von dieser Welt - was seine Bewacher nicht daran hinderte, den toten Reichsmarschall dekorativ unter den Galgen zu legen. Fast alle der zehn Hingerichteten bekannten sich in ihren letzten Worten zu Deutschland. Die Leichen wurden ins KZ Dachau geschafft und dort verbrannt. Die Asche verschüttete man heimlich im Münchner Conwentzbach; man gönnte den Toten kein Grab. Ihr Blut mußte in Nürnberg von den Mitverurteilten eigenhändig weggeschrubbt werden.

Auf die drei Freigesprochenen wartete ein Spießrutenlauf. Politiker wie Hoegner führten sich alliierter auf als die Alliierten und sorgten für neue Haftbefehle. Das war selbst den Amerikanern zu viel; sie unterbanden den Übereifer ihrer Kollaborateure. Auch den Verteidigern wollten deutsche "Vergangenheitsbewältiger" ans Leder, worauf der Alliierte Kontrollrat die Anwälte ausdrücklich unter seinen Schutz stellte. Schon damals offenbarte sich eine Form neudeutscher Würdelosigkeit, die sogar im Lager der Sieger auf Befremden stieß. Gewiß: Man wollte jeden Rest eines möglichen Widerstandswillens brechen und die Deutschen im Zuge eines ausgeklügelten "Re-education"-Programms umerziehen. Aber ein solches Maß an bereitwilliger Unterwerfung hatte man nicht erwartet. (Fast 60 Jahre später sollte daraus US-Präsident Bush den Trugschluß ziehen, auch die Iraker würden sich innerhalb kürzester Zeit der anglo-amerikanischen Besatzungsmacht widerstandslos beugen.)

Was ist von "Nürnberg" geblieben? Gibt es seitdem weniger Kriege und weniger Verbrechen? Leider nicht. Denn natürlich wissen alle, daß es bei militärischen Konflikten zwischen Staaten in erster Linie darauf ankommt, wer am Ende die Oberhand behält. Noch nie haben Besiegte oder auch nur Neutrale über Sieger zu Gericht sitzen können. Dem Völkerrecht fehlt die bewaffnete Macht. Deshalb wird sich auch die Vision eines allseits anerkannten Internationalen Strafgerichtshofes nicht erfüllen. Besonders die Amerikaner denken keineswegs daran, sich fremder Jurisdiktion zu unterwerfen. Sie haben aus der Geschichte vor allem eines gelernt: Kriege darf man führen, nur nicht verlieren! Das ist die Botschaft aus Nürnberg.

Die in Nürnberg Angeklagten und Ihre Urteile

Karl Dönitz, Reichspräsident und Großadmiral: 10 Jahre Haft
Hermann Göring, Reichsmarschall und Luftfahrtminister: Todesstrafe
Rudolf Heß, Stellvertreter des Führers: lebenslänglich
Joachim von Ribbentrop, Reichsaußenminister: Todesstrafe
Dr. Hjalmar Schacht, Reichsbankpräsident: Freispruch
Walther Funk, Reichswirtschaftsminister: lebenslänglich
Dr. Wilhelm Frick, Reichsinnenminister: Todesstrafe
Albert Speer, Rüstungsminister: 20 Jahre Haft
Alfred Rosenberg, Reichsminister für die besetzten Ostgebiete: Todesstrafe
Dr. Ernst Kaltenbrunner, Chef des Reichssicherheitshauptamtes: Todesstrafe
Fritz Sauckel, Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz: Todesstrafe
Wilhelm Keitel, Generalfeldmarschall, Chef des OKW: Todesstrafe
Alfred Jodl, Generaloberst, Chef des Wehrmachtsführungsstabes: Todesstrafe
Erich Raeder, Großadmiral, Oberbefehlshaber der Kriegsmarine: lebenslänglich
Dr. Hans Frank, Reichsminister, Generalgouverneur von Polen: Todesstrafe
Arthur Seyß-lnquart, Reichskommissar der Niederlande: Todesstrafe
Konstantin Freiherr von Neurath, Reichsprotektor von Böhmen und Mähren: 15 Jahre Haft
Baldur von Schirach, Reichsjugendführer, Gauleiter von Wien: 20 Jahre Haft
Julius Streicher, Gauleiter von Franken, Herausgeber des "Stürmer": Todesstrafe
Franz von Papen, Reichskanzler 1932, Vizekanzler 1933/1934: Freispruch
Hans Fritzsche, Rundfunkkommentator: Freispruch
Martin Bormann, Chef der Reichskanzlei: Todesstrafe (in Abwesenheit)


*Im Jahre 387 v. Chr. eroberten die Kelten Rom. Mit einer hohen Lösegeldzahlung, so berichtet der Historiker Livius, erkauften die Römer den Abzug des Feindes. Als die in Gold zu zahlende Summe abgewogen wurde, protestierten die Besiegten gegen die falschen Gewichte der Sieger. Daraufhin warf der keltische Heerführer Brennus mit den Worten "Vae victis!" ("Wehe den Besiegten!") auch noch sein Schwert auf die Waagschale. Der höhnische Ruf wurde schon bald sprichwörtlich und kennzeichnet seitdem die auch 1945 bewiesene Willkür des Siegers. (Schön, daß "Brennus" - übrigens das keltische Wort für "[An-]Führer"; aber die Nachgeborenen hatten wohl vergessen, daß die alten Römer noch keine Minuskeln kannten, und hielten es deshalb für einen Namen - so gut Lateinisch konnte, Anm. Dikigoros)


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